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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature Ortserkundungen Nur langsam kommt die Erinnerung Sippenhaft im Kinderheim Borntal Autor: Karl-Heinz Heinemann Regie: Anna Panknin Redaktion: Birgit Morgenrath Produktion: DLF 2016 Erstsendung: Dienstag, 16.08.2016, 19.15 Uhr Autor (Sprecher ):Josef Tratnik Sprecherin: Kerstin Fischer Zitator: Volker Risch Zitatorin: Julia Schäfle
Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ©
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Atmo Einfahrt mit dem Auto
O-Ton Böhm
Ja, wir sind eben auf das Gelände des Borntals zugefahren, sind, nachdem wir aus Bad
Sachsa an den Neubaugebieten vorbeigekommen sind, sind wir jetzt genau an der Ecke, wo
das Gelände des Borntals anfängt. Auf der linken Seite, ist jetzt ein Eingang gewesen, der
insbesondere zu der Klinik geführt hat, und daneben steht eines von den ursprünglichen
zehn Häusern, die in diesem typischen Harzstil/Heimatstil gebaut sind.
Musik
Autor
Am Waldrand endet die asphaltierte Straße, wir biegen in einen Fahrweg ein, der hinauf führt
zum Empfangsgebäude des ehemaligen Kinderheims Borntal in Bad Sachsa im Südharz.
Hier habe ich die ersten Jahre meiner Kindheit verbracht. Mein Vater war dort Verwalter in
der unmittelbaren Nachkriegszeit. Ich erinnere mich an lange Fußmärsche vom Heimgelände
in die Gemeinde, vorbei an Hydranten, die mir als mannshoch im Gedächtnis geblieben sind.
Alles ist relativ. Heute ist die lange Allee in den Ort weitgehend zugebaut, sodass das
Borntal kein abgeschiedener Fleck mehr ist, sondern praktisch am Ortsrand liegt.
Atmo Vogelgezwitscher
Autor
Mit Ralph Böhm, dem Archivar der Gemeinde, komme ich an den Ort meiner frühen Kindheit
zurück.
O-Ton Böhm
Ja, jetzt stehen wir einfach… direkt am Verwaltungsgebäude, am Haupteingang des
Borntalgeländes. Sehen direkt vis-a-vis die Häuser Eins, Zwei und Drei, die jetzt von fern
aussehen, als wären sie in richtig gutem Zustand. Das sind halt drei Häuser von ehedem
zehn Häusern, die hier gestanden haben, mindestens zwei sind schon verschwunden, hier
zur Linken hat ehedem ein Haus gestanden…
Autor
Die Häuser liegen verstreut zwischen Waldstücken und Wiesen, in einer Hügellandschaft,
dazwischen fließt ein Bach. Gerade wird der Wald kräftig gerodet, denn ein Investor will aus
dem lange brach liegenden idyllischen Landstück eine Ferienanlage machen.
3
Sprecherin
Das ist der vorläufige Endpunkt der Geschichte dieses Ortes, die 1944 ihren tragischen
Höhepunkt hatte.
Musik
Ansage
Nur langsam kommt die Erinnerung
Sippenhaft im Kinderheim Borntal
Ein Feature von Karl-Heinz Heinemann
O-Ton Stauffenberg
Wir waren die ersten, wir wurden verteilt auf die Häuser entsprechend dem normalen
Schema des Heims. Haus eins: Buben zehn und drüber, Haus zwei: Buben sechs bis zehn,
also meine Brüder und mein Vetter Alfred kamen in dieses Haus zwei, und so ging es weiter.
Haus sieben waren die Mädchen, zehn und drüber.
Sprecherin
Berthold Graf von Stauffenberg, der älteste Sohn des Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf
von Stauffenberg, war elf Jahre alt, als er im August 1944 in das Kinderheim im Borntal
gebracht wurde. Hier wurden die Stauffenberg-Geschwister zusammen mit 42 anderen
Kindern von NS-Gegnern in Sippenhaft genommen. Von der zwei Wochen alten Dagmar
Hansen bis zum 15 Jahre alten Wilhelm Graf von Schwerin. Sie mussten Monate dort
verbringen, einige von ihnen blieben bis zum Juni 1945.
Kurz nach den Stauffenbergs kamen die drei jüngeren Kinder Caesar von Hofackers, eines
Cousins von Graf Stauffenberg, der in Paris den Widerstand organisieren sollte. Christa von
Hofacker, mit 13 Jahren das älteste der drei nach Bad Sachsa gebrachten Hofacker-Kinder,
hat anderthalb Jahre nach ihrer Befreiung ihre Erlebnisse in einem Tagebuch festgehalten.
Zitatorin Tagebuch
Das Heim lag ganz am Waldrand und bestand aus zehn reizenden Schwarzwaldhäusern!
Von außen wirklich nett – aber darauf konnte ich damals nicht achten. Mit kurzem „Heil
Hitler“ wurden wir im Büro begrüßt, dann kamen drei Kindergärtnerinnen und jede nahm
einen von uns mit. Wir waren getrennt worden.
4
Autor
Von diesem Abschnitt der Geschichte des Kinderheims, in dem ich 1947 geboren bin, hatte
ich bis in die 1990er-Jahre nichts gewusst. Als mein Vater dort im September 1945 als
Verwalter anfing, hatten die Kinder des Widerstands den Ort schon verlassen. Gesprochen
hat er nie darüber, auch nicht mit meinem vier Jahre älteren Bruder Gerd:
O-Ton Gerd H.
Ich kann mich ehrlich gesagt nicht mehr dran erinnern. Der hat von solchen Dingen nichts
erzählt. Obwohl er mit Sicherheit davon wusste. Mit Sicherheit.
Atmo Schritte
Autor
Geschichte tauchte damals in ganz anderen Zusammenhängen auf, erinnert er sich, als ich
mit ihm gemeinsam über das Gelände gehe:
O-Ton Gerd H.
Da halb unten stand ein wunderschöner alter Walnussbaum, und neben diesem
Walnussbaum waren Riesenspuren von amerikanischen Panzern. Und wenn wir bei dem
Thema schon sind, eines Tages sind Gernot und ich da drüben im Wald gewesen und
kamen mit der Panzerfaust zurück. Die war noch scharf.
Autor
Bad Sachsa lag kurz hinter der Zonengrenze. Wir konnten hinüber auf den Brocken gucken,
mit den Türmen, in denen die Sowjets ihre Antennenanlagen aufgebaut hatten. Nun, nach
über 70 Jahren, ist es mir möglich, den von meinem Vater und anderen verschwiegenen
Spuren der Nazi-Vergangenheit in Bad Sachsa nachzugehen. Der Bürgermeister von Bad
Sachsa, Axel Hartmann:
O-Ton Hartmann
Aber irgendwie war das ein Tabuthema. Ich habe immer den Eindruck gehabt, da will
niemand darüber sprechen. Aber jetzt ist eine neue Zeit, jetzt ist das lange her, 70 Jahre her,
und jetzt ist es, denke ich, ist es allerhöchste Zeit, dass jetzt die Stadt Bad Sachsa hier ihrer
Verpflichtung nachkommt, eine würdige Gedenkstätte für dieses Ereignis zu errichten.
5
Sprecherin
Nicht nur die Bürger von Bad Sachsa, sondern auch die damals Inhaftierten wollten sich erst
einmal nicht erinnern. Aber die Geschichte der Aufarbeitung ist Teil der Geschichte des
Borntals.
Autor
Für uns, meinen Bruder und mich, war dieses abgeschiedene Tal eine Idylle:
O-Ton Gerd
Das war eigentlich die schönste Phase meiner Kindheit, insofern, als wir immer in der Natur
waren, immer etwas zu tun hatten und mit Schule hatten wir uns fast überhaupt nicht
beschäftigt. Das war schön.
Musik
Sprecherin
Die Geschichte des Heims beginnt 1936. Der Bremer Kaufmann Daniel Schnakenberg war
um die vorletzte Jahrhundertwende in die USA ausgewandert. Er hatte seiner Heimatstadt
10000 Dollar vermacht. Aus diesem Kapital entstand die Daniel-Schnakenberg-Stiftung, und
die kaufte das Borntal, etwa acht Hektar Land, um dort ein Kindererholungsheim zu
errichten.
Begeistert schrieben die Bad Sachsaer Nachrichten am 18. Juli 1936, dass im Sommer wie
im Winter jeweils bis zu 200 Bremer Kinder…
Zitator
… aus bedürftigen rassisch wertvollen Bremer Familien zur Erholung hierherkommen. Alle
Erfahrungen der Kinderheime und Jugendpflege wurden hier in die praktische Wirklichkeit
umgesetzt. Zwischen je zwei Schlafräumen befindet sich das Zimmer der Pflegerin, sodass
sie in der Nacht alles durch ein kleines Fenster übersehen kann.
Sprecherin
Zur Einweihung war Reichsjugendführer Baldur von Schirach angesagt, der dann aber doch
nicht kam. Die Lokalzeitung berichtete über das rege Lagerleben der Hitlerjugend auf dem
Gelände. Per Bahn reisten Hunderte Jugendliche an, die Bevölkerung wurde aufgefordert,
diese Trupps bei ihrem Zug durch den Ort ins Borntal begeistert zu empfangen. 1938
übergab der Bremer Senat das Heim aus dem Stiftungseigentum an die NSV, die
Nationalsozialistische Volksfürsorge.
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Akzent / Atmo/ Nachricht: „Mordanschlag gegen den Führer“
Auf den Führer wurde heute ein Sprengstoffanschlag verübt ….
Sprecherin
Am 20. Juli 1944 zündete Claus Schenk Graf von Stauffenberg im so genannten
Führerhauptquartier eine Bombe, die er in einer Aktentasche eingeschmuggelt hatte. Ein
letzter, verzweifelter Versuch einer Gruppe von Offizieren, dem Schrecken noch aus eigener
Kraft ein Ende zu setzen, der bekanntlich scheiterte. Stauffenberg und sein engster Kreis
wurden noch am selben Tag in Berlin erschossen, andere am Attentat Beteiligte oder darin
Eingeweihte wurden aus der Wehrmacht ausgestoßen, so dass der berüchtigte Roland
Freisler mit seinem Volksgerichtshof freie Hand hatte: Er lieferte die Attentäter, wie von Hitler
gefordert, dem Henker aus. Doch dabei sollte es nicht bleiben. Heinrich Himmler beschrieb
am 3. August auf einer Gauleitertagung, wie er Sippenhaft als quasi „urgermanisches“
Prinzip anwenden wollte:
Zitator
Sie brauchen nur die germanischen Sagas nachzulesen. Wenn sie eine Familie in die Acht
taten und für vogelfrei erklärten, dann war man maßlos konsequent. Die Familie
Stauffenberg wird ausgelöscht werden bis ins letzte Glied.
Sprecherin
Dazu kam es nicht. Aber die Familien der Attentäter kamen in Sippenhaft, die Frauen und
älteren Kinder zum Teil in Konzentrationslager, die jüngeren Kinder, von denen eines nicht
einmal zwei Wochen alt war, nach Bad Sachsa. Das Borntal eignete sich dafür aus zwei
Gründen: Bad Sachsa gehörte damals noch zum Kreis Nordhausen in Thüringen. Dort lag
auch die KZ-Außenstelle Dora Mittelbau, in der die von Wernher von Braun entwickelte V2
zusammengebaut wurde. Dieses Gebiet wurde vom Reichssicherheitshauptamt
genauestens kontrolliert.
Hinzu kam, dass das Heim außerhalb des Ortes lag und dass das Personal aufgrund der
Gründungsgeschichte aus Bremen kam, also kaum Kontakte zu den Ortsbewohnern hatte,
die ganze Aktion daher recht klandestin verlaufen konnte.
Christa von Hofacker wurde in Haus sieben untergebracht, zusammen mit zwei weiteren
Mädchen. Heute lebt die über 80-jährige in der Nähe von Los Angeles, wo ich mit ihr
telefonieren konnte.
O-Ton Miller
7
Es war ein ganz schön großes Haus, die Zimmer waren winzig klein, aber die
Aufenthaltsräume waren geräumig. Nein, die Unterbringung war absolut, ich meine, das war
alles in Ordnung. Wir wurden auch nicht schlecht behandelt, es waren Kriegszeiten, und es
gab nicht genug zu essen und so, aber das ging allen anderen auch so. Und man war
wirklich auch nicht anspruchsvoll.
Musik
Sprecherin
In der Liste der 46 Borntaler Kinder finden sich die Namen vieler adliger Offiziersfamilien:
Von Freytag-Loringhoven, von Hagen, von Hase, von Tresckow, von Trott zu Solz, die
Grafen Stauffenberg, Schwerin und Lehndorff. Aber es waren nicht nur Kinder aus der
Gruppe des 20. Juli, sondern auch zum Beispiel Ingrid und Ute von Seydlitz. Ihr Vater, ein
mit dem Ritterkreuz dekorierter General, gründete nach seiner Gefangennahme im Kessel
von Stalingrad den Bund deutscher Offiziere und wollte auf der Seite der Alliierten eine
deutsche Freiwilligenarmee aufstellen. Später kamen noch die Enkel des ehemaligen
Leipziger Oberbürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler dazu.
Für viele der Kinder endete die Sippenhaft bereits nach drei Monaten im November 1944,
nachdem ihre Mütter frei gelassen worden waren. Andere blieben mehr als ein dreiviertel
Jahr bis in den Juni 1945. Einige waren noch zu jung, um diese Zeit bewusst erleben zu
können, und dennoch hat der Aufenthalt seine Spuren bei ihnen hinterlassen.
Autor
Berthold Graf Stauffenberg, heute ein pensionierter General der Bundeswehr, war damals
zusammen mit den anderen älteren Jungen im Haus eins untergebracht. Bei meinem
Rundgang mit dem Stadtarchivar Ralph Böhm betreten wir das Haus, das vor wenigen
Monaten noch mehr oder weniger im alten Zustand war:
Atmo Treppensteigen
Autor
Die Bilder im Treppenhaus stammen von den Kindern, die noch in den achtziger Jahren hier
untergebracht waren.
Fortsetzung O-Ton Böhm
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Ich kann mich erinnern, dass das hier Schlafräume waren, da bin ich sicher bei diesen
beiden. Das sind die, die jeweils mit zum Balkon führen und im Prinzip das noch
wiedergeben, wie es auch vor 70 Jahren hier ausgesehen hat.
Autor
Unterricht gab es nicht für die schulpflichtigen Kinder. Was haben sie dann den ganzen Tag
gemacht?
Ich frage Berthold Graf Stauffenberg, den ich in seinem Altersdomizil im schwäbischen
Oppenweiler besuche:
O-Ton Stauffenberg
Das ist eine sehr gute Frage, die ich mir auch selber stelle. Also irgendwie ist der Tag rum
gegangen. Mit Spielen, es gab sehr wenig zu lesen, ich habe schon früh immer gern
gelesen. Es gab natürlich auch keine Zeitungen. Und ja…., da haben wir Spiele gemacht,
haben gebastelt, irgendwie. Spazieren gehen konnten wir schon. Außerhalb des Geländes,
aber natürlich immer nur begleitet und wir kannten uns dort ja auch nicht aus.
Sprecherin
Schlecht behandelt wurden sie nicht. Sie bekamen genug zu essen. Aus dem Alltag
berichten sie Geschichten, die auch Heimkinder in den fünfziger und sechziger Jahren
erleben konnten. Zum Beispiel, was Frauke Hansen von ihrem Bruder Karsten erzählt. Ihr
beider Vater Georg Alexander Hansen war 1944 als Nachfolger des Admirals Wilhelm
Canaris Chef der Militärspionage und gehörte zum engsten Kreis um Graf Stauffenberg. Am
Attentat selbst war er nicht beteiligt:
O-Ton Frauke Hansen
Mein jüngster Bruder Karsten, der hat auch eine sehr ungute Erinnerung an Bad Sachsa. Sie
mussten immer in großen Schlafsälen Mittagsschlaf halten. Und er musste aber mal
fürchterlich auf die Toilette, sie durften aber eigentlich nicht aufstehen. Und da ist er leise auf
den Balkon gegangen und hat zwischen die Balkonstäbe … .gepinkelt, praktisch. Und das
muss aber unten jemanden von dem Personal auf den Kopf gefallen…gegangen sein. Und
da kamen die wild, erbost nach oben und haben gefragt, wer das war, und Karsten hat sich
eben gemeldet, dass er das war, weil er so musste, so nötig. Und da musste er antreten vor
den versammelten Kindern um den Fahnenmast, den es natürlich gab in Bad Sachsa, das ist
ganz klar, das war ein ja, ein Platz, mit Fahnenmast, und dort sollte er als Sechsjähriger am
Fahnenmast hoch klettern. Und alle haben ja….gejohlt, weil er es natürlich nicht geschafft
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hat usw. und das war für ihn - auch bis heute eigentlich - hat ihn das schon geprägt, muss
ich sagen, ja.
Sprecherin
Auch Albrecht von Hagen war am Attentat auf Hitler beteiligt. Er lernte als Offizier Claus Graf
von Stauffenberg während des Afrikafeldzugs kennen. Er besorgte den Sprengstoff für den
Anschlag. Am 8. August wurde er in Plötzensee gehängt. Der elfjährige Sohn Albrecht war
am 20. Juli an der Ostsee in einem Pimpfenlager, also beim nationalsozialistischen Jungvolk.
Autor
Als der kleine Albrecht nach Langen, dem Sitz der von Hagens, zurückkam, organisierte sein
Großvater Gerhard angesichts des Attentats gerade eine Solidaritätsdemonstration für Adolf
Hitler:
O-Ton Hagen
Das Antreten des Kriegervereins war alljährlich eine große Sache. Alles, was da noch an
deutschen Männern vorhanden war, hatte anzutreten und musste dann zu einem
Kriegerdenkmal, das sich neben der Kirche befand, marschieren, und dann wurden kräftige
Reden gehalten und wir Kinder, wir liefen mit und schauten uns dieses Schauspiel sehr
genüsslich an.
Sprecherin
Der Pimpf Albrecht von Hagen landete in Bad Sachsa, ohne zu wissen, warum.
O-Ton Hagen
Ich war stolzer Pimpf. Sport, Räuber und Gendarm, ein herrliches Spiel. Der erste Streifen,
ich war eigentlich ein gut aussehender blonder junger Mann, so wie man sich deutsche
Kinder vorstellt.
Sprecherin
Dort, im Haus eins, war Berthold von Stauffenberg sein Bettnachbar. Der bedächtige
Katholik aus Schwaben war anders als er, der Sohn ostelbischer Junker.
O-Ton Hagen
Er ist ja auch ein ganz anderer Typ. Wir beide auf einer Bank zwei Tage, das geht irgendwie
nicht. Habe ich so den Eindruck.
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Und dann kam irgendwann heraus, der Stauffenberg, der Vater, wollte Hitler umbringen. Das
haben wahrscheinlich die Zeitungen geschrieben. Und das war mir gar nicht so lieb. Dass ich
da neben einem Sohn eines Verbrechers lag!
Sprecherin
Und offenbar hatte der kleine Hitlerjunge den jungen Stauffenberg auf seine zupackende Art
auch spüren lassen, was er davon hielt. Dass auch sein eigener Vater an diesem
Attentatsversuch beteiligt war, erfuhr der Junge erst nach der Rückkehr aus dem
Kinderheim. Und begriff viel später, was das bedeutet hatte.
O-Ton Hagen
Und wir haben darüber auch, … uns, als wir uns dann mal getroffen haben, auch darüber
unterhalten. Dann haben wir miteinander darüber gesprochen und ich habe auch keinen
Hehl daraus gemacht, das war damals eine Sauerei.
Sprecherin
Die Kinder in Borntal wurden nicht explizit bestraft. Im Gegenteil, erinnert sich Albrecht von
Hagen:
O-Ton von Hagen
Da war zu wenig los! Die Langeweile treibt einen ja dann dazu, etwas anzufangen,
irgendetwas, was man damals gerade konnte oder durfte. Na, Räuber und Gendarm spielen
beispielsweise. Und Versteck spielen und hinterm Haus Eins sind ja, war ja ein bisschen
Freigelände und das konnten wir so als ausgiebigen Kindergarten, eigentlich so wie Kita
heute, konnten wir das eigentlich benutzen.
Musikakzent historisch/Fahnenappell
Sprecherin
Das Alltagsleben in Borntal war nicht durch Drill, sondern durch Langeweile geprägt, zumal
die Kinder ja nicht unterrichtet wurden. Die Kindergärtnerinnen waren selbst kaum älter als
18 Jahre. Christa von Hofacker, Tochter Caesar von Hofackers, der den Umsturzversuch in
Paris leitete, heute Miller:
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O-Ton Miller
Ich wurde dann auch von den Kindergärtnerinnen dazu angeleitet, für die Kleinen zu sorgen
und sie mal zu vertreten, wenn sie mit der Heimleitung eine Besprechung hatten oder so,
dann war ich die Aufsichtsfigur. Aber das war für mich absolut nur gut.
Sprecherin
Sie erhielt ein eigenes kleines Zimmer, das sie sich einrichten konnte. Zu Weihnachten
bekam sie von der Heimleitung eine Hündin geschenkt. Das Gelände war nicht besonders
gesichert oder bewacht. Die Gefahr, dass die Kinder sich davon machen könnten, war gering
– sie hätten ja nicht gewusst, wohin.
Belastend war dagegen die plötzliche und vor allem für die Kleineren völlig unerklärliche
Trennung von den Eltern. Zu der Ungewissheit, was denn aus den Eltern würde und ob sie
sie jemals wiedersähen, kam in Bad Sachsa die Trennung von den Geschwistern.
O-Ton Christa von Hofacker
Meine kleinen Geschwister wussten das nicht. Zunächst hatten sie nicht nur fürchterliches
Heimweh, sondern sie konnten es einfach nicht verstehen, weil sie das Gefühl hatten,
unsere Mutter hat uns verlassen!
Autor
Christa Hockafer Miller lebt seit den fünfziger Jahren in den USA. Damals, so erzählt sie
weiter, durfte sie nicht mit ihrem neunjährigen Bruder und der sechsjährigen Schwester
sprechen, die in anderen Häusern des Heims untergebracht waren.
O-Ton Christa Hofacker Miller
Wir waren total abgeschlossen! Wir durften nicht raus, wir durften mit niemandem anderen
sprechen, wir hatten keine Verbindung nach zuhause, wir hatten kein Geld, wir hatten kein
nichts. Es wurde uns alles abgenommen.
Sprecherin
Frauke Hansen war erst ein Jahr alt, als sie nach Bad Sachsa kam und ihre Schwester
gerade einmal zehn Tage.
O-Ton Frauke Hansen
Meine Brüder wussten nur, sie durften zu ihren Schwestern nicht direkt hin. Sie durften sie
nur immer durch ein Fenster sehen. Ab und zu mal. Und dann wussten sie nicht, warum
ihnen zwei kleine Mädchen gezeigt wurden und das war alles. So dass mein mittlerer Bruder
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auch immer wieder sagt, warum und weshalb wir dahin sollten und die Mädchen angucken
sollten, hat uns keiner erklärt. Dass das Schwestern waren, das wussten sie also in dem
Moment auch nicht.
Sprecherin
Ihre drei Brüder waren zwischen sechs und zwölf Jahre alt. Ihr jüngster Bruder Carsten,
damals sechs Jahre alt, hat seine Erlebnisse inzwischen in einer Broschüre festgehalten,
und ihre Heimatgemeinde Rangsdorf hat im Borntal sogar eine Gedenktafel aufgestellt. Aber
nicht alle aus ihrer Familie setzen sich so aktiv mit diesem Teil ihrer Geschichte auseinander:
O-Ton Frauke Hansen
Mein mittlerer Bruder zum Beispiel, der spricht überhaupt nicht über diese Sache, nee. Gar
nicht, auch mit uns nicht. Und jeder von uns macht das anders mit sich aus, muss ich sagen.
Sprecherin
Sehr irritierend für die Kinder war auch, dass sie ihre Namen ablegen mussten und ihnen
neue zugeteilt wurden.. Die Stauffenbergs sollten „Meister“ heißen, Christa von Hofacker
bekam den Namen „Franke“. Es war streng verboten, die echten Namen zu erwähnen.
Natürlich ließ sich dieses Schweigegebot nicht bei den Kindern durchsetzen.
Friedrich-Wilhelm von Hase, Sohn des damaligen Stadtkommandanten von Berlin:
O-Ton Friedrich-Wilhelm von Hase:
Ich weiß nur, dass ich mich mit den Freytag Loringhovens, die dort auch waren, der Vater
war bei Canaris, angefreundet habe und da hat mir der eine gesagt, du, willst du mal wissen
wie ich heiße? Denn die haben mich unbenannt, hier in meiner Lederhosen steht es drin:
Freytag Loringhoven, nicht wahr.
Sprecherin
Der Namensverlust war ein Angriff auf die Identität der Kinder. Auch Fotos von ihren Eltern
und Geschwistern wurden konfisziert. Eine der Kindergärtnerinnen, zu denen Christa von
Hofacker ein engeres Verhältnis entwickelt hatte, verriet ihr die Absicht Himmlers: Die älteren
sollten in „Napolas“, die NS-Elite-Erziehungsanstalten, deportiert, die jüngeren von
linientreuen SS-Familien adoptiert werden.
O-Ton Christa Hofacker Miller
Prinzipiell waren wir für die Nazis zu jung, und im Grunde zu reines deutsches Blut, um mit
zu vernichten. Sie wollten uns einfach besser erziehen in NS Familien und zu guten
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deutschen Bürgern machen, nicht. Ich meine, die meisten von uns waren blond und
blauäugig.
Sprecherin
Doch dazu kam es nicht mehr. Viele Kinder hatten schon im November 1944 wieder zu ihren
Müttern zurückkehren dürfen, es blieben 18 übrig, und die wurden in Haus 3
zusammengelegt. Die anderen Häuser wurden von der Wehrmacht beschlagnahmt. Berthold
Graf Stauffenberg:
O-Ton Stauffenberg
Ich kann mich nur erinnern an Wehrmachtsoffiziere, ein SS Offizier, der lief da auch immer
rum. Die haben da so Kabel gelegt überall usw.
Sprecherin
Was die Kinder nicht wussten: Der Stab des Generals Walter Dornberger quartierte sich im
Borntal ein. Eine Gruppe von Ingenieuren, die die sogenannten „Wunderwaffen“ V 1 und V 2
entwickelten. Prominentes Mitglied dieses Stabes war Wernher von Braun.
O-Ton Christa Hofacker Miller
Das waren ja vor allen Dingen die Stauffenbergs, Militärsöhne, und die kannten sich mit
Uniformen und Schulterklappen und Streifen an den Hosen fantastisch aus und wir hingen
immer dann zum Fenster heraus, wenn die morgens oder mittags in die Kantine zum Essen
marschierten und dann wurden wir aufgeklärt, wer ein General war, ein Oberst oder
Leutnant.
Sprecherin
In den USA hatte sie Jahre später eine denkwürdige Begegnung. Bei einem Abendessen
kam sie mit jemandem ins Gespräch, der im Stab Wernher von Brauns in Los Alamos an der
Apollo-Rakete arbeitete.
O-Ton Christa Hofacker Miller
… und dann kamen wir irgendwie auch auf Bad Sachsa. Und dann sagte er, nein, um Gottes
willen, Christa, dann wart ihr diese taubstummen Kinder, von denen wir keine Ahnung
hatten, wer sie waren. Und das war der mit dem General Dornberger während dieser Zeit in
Bad Sachsa einquartiert. Und das ist für mich immer so eine schicksalhafte Sache, wenn
man Jahre und Jahre später auf einem anderen Kontinent, wenn Sie da jemanden kennen
lernen, der unmittelbar am eigenen Leben beteiligt war.
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Sprecherin
Ostern 1945 sollten die noch verbliebenen Kinder ins KZ Buchenwald deportiert werden; sie
dachten, es ginge nach Hause. Doch ein Bombenangriff zerstörte den Bahnhof in
Nordhausen vollständig. Darum wurden die Kinder zurück nach Bad Sachsa gebracht.
Atmo Akzent – historische Radionachricht
Musik
Sprecherin
Schließlich, am 12. April 1945, marschierten 4000 amerikanische Soldaten nach Bad Sachsa
ein. Christa Miller, damals Hofacker, schrieb in ihr Tagebuch:
Zitatorin Tagebuch
Gott sei Dank hatte die ganze Wehrmacht einen Tag vorher das Heim verlassen. So verlief
alles verhältnismäßig ruhig. Das Haus wurde, nachdem die Soldaten gesehen hatten, dass
hier ein childrens Home war, nicht besonders durchsucht. Ich dachte damals nie an eine
Befreiung durch die Amerikaner, mir waren sie grässlich, denn sie waren ja die Feinde der
Deutschen!
Sprecherin
Am 4. Mai kam der von den Amerikanern eingesetzte Bürgermeister Müller zu ihnen hinaus
ins Borntal. Er war als Sozialdemokrat von den Nazis verfolgt worden und hatte das KZ
Buchenwald überlebt.
Zitatorin Tagebuch
Er hielt eine feierliche Ansprache, in der er uns klar machte, dass wir von nun ab unter
seinem Schutz stünden, dass er für unsere Kleidung sorgen wollte und dass er vor allem
sich für unsere baldige Heimkehr einzusetzen gedachte. Er sagte wörtlich: ‚Und jetzt heißt ihr
wieder so wie früher, ihr braucht euch eurer Namen und eurer Väter nicht zu schämen, denn
sie waren Helden!‘ Die Erwachsenen sagten kein Wort dazu.
O-Ton Christa Hofacker Miller
Das war wirklich ein sehr großes Ereignis damals in meinem Leben. Dass wir nicht nur
freigesprochen worden, sondern auch unsere Eltern anerkannt wurden.
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Sprecherin
Für die Kinder, die noch in Bad Sachsa waren, änderte sich zunächst wenig. Berthold von
Stauffenberg:
O-Ton Stauffenberg
Personal blieb das gleiche. Wie gesagt, die kamen aus Bremen, die zwei
Kindergärtnerinnen, die wir noch hatten, die wussten gar nicht wie sie da hinkommen. Es
gab ja keine Züge, andere Transportmittel sowieso nicht.
Sprecherin
Und auch sie, die Stauffenbergs und die Hofackers, mussten noch bis Juni warten, bis sie
nach Hause zurückkehren konnten. Die überlebenden Mütter waren als Himmlers
Sonderhäftlinge aus Buchenwald nach Südtirol gebracht worden, wo die SS sie als
Faustpfand für die von den Nazis erhofften Waffenstillstandsverhandlungen am Pragser
Wildsee festgehalten hatte. Nach Ihrer Befreiung brachten die Amerikaner sie nach Capri,
zur Erholung, und um sie zu befragen.
O-Ton Christa Hofacker Miller
Die Stauffenbergs sind streng katholisch und die hatten sich mit dem Papst in Verbindung
gesetzt und der Vatikansender war damals der einzige, der funktionierte, und die gaben
Suchmeldungen auf. Und die Suchmeldung, auf die reagierte jemand in Bad Sachsa, und
sagte, sie sollten sich doch einmal diese Kinder am Waldrand anschauen, niemand wüsste
wer sie seien, und man sähe sie draußen, aber sie sprachen nicht, sie wussten nicht, ob wir
Taubstumme waren oder was und dann haben die da mal nachgeforscht, und dann kam der
Bürgermeister. Und dann wurden wir gefragt, ob wir unsere Namen noch wüssten, und dann
kam das heraus.
Sprecherin
Alle fanden sich wieder in ihren Familien. In Familien ohne Väter. Die waren größtenteils
umgebracht worden. Und die Kinder hatten sie oft nur ein paarmal während eines Urlaubs
zuhause erlebt. Dieses Schicksal, ohne Vater aufwachsen zu müssen, teilen die Kinder des
20. Juli mit Millionen anderen, deren Väter im Zweiten Weltkrieg umgekommen waren.
Autor
Die Söhne des 20. Juli wollen deshalb auch nur ungern von einem Trauma sprechen, das sie
erlitten hätten. Berthold Stauffenberg zum Beispiel, der pensionierte Bundeswehrgeneral:
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O-Ton Stauffenberg
Ich habe das nie so empfunden. Natürlich beeinflusst das einen irgendwo. Wie die Zeit
danach, wie die Zeit davor, ja. Das kann sich natürlich von den Jüngeren heute keiner
vorstellen, wie das damals war. Auch nicht, wie es nach dem Krieg war, in der französischen
Zone, wo es eigentlich sehr wenig zu essen gab, ja.
Zitatorin
„Ist nicht eine tiefe Wunde in unser Leben gerissen worden, die nur langsam wieder zuheilt?“
Sprecherin
fragte dagegen Christa von Hofacker in einer Schlussbetrachtung in ihrem Tagebuch. Und
so sieht sie es auch heute noch, mehr als siebzig Jahre später:
O-Ton Christa Hofacker Miller
Ich glaube, dass es ein absolut prägendes Erlebnis war. Ein unvergessliches, aber eins, mit
dem man leben gelernt hat. Ich glaube schon, dass ich mit zwölf Jahren damals von der
Gestapo mitgenommen wurde mit meinen kleinen Geschwistern und noch ein Kind war und
mit 13 erst als Erwachsene zurückkam, dass ich diese ganze Zeit des Teenagers, der
Jugend, übersprungen habe.
Sprecherin
Die besondere Rolle ihrer Väter wirkte sich weiter in der Nachkriegszeit aus. Alle, bis auf
Berthold Stauffenberg, berichten von Anfeindungen, denen sie als Kinder angeblicher
„Verbrecher“ und „Verräter“ ausgesetzt waren, etwa in der Schule. Frauke Hansen, die
damals ein Kleinkind war, erzählt, wie sie mit ihren Brüdern im November 1944 in ihren
Heimatort zurückkam:
O-Ton Hansen
Und mein mittlerer Bruder kann sich auch genau erinnern, als wir in Michelau aus dem Zug
ausstiegen, das ist dann so eine kleine Dorfstation, da war das halbe Dorf versammelt am
Bahnhof und hat geschrien: Ach, da sind ja die Verräter Kinder, die sollte man gleich auch
aufhängen. Und das hat ihn also auch sehr geprägt, muss ich sagen.
Sprecherin
Die Widerstandskämpfer des 20. Juli hatten mit ihrem Verhalten gezeigt, dass es
Alternativen zur Anpassung und zum Mitmachen gab. Und so gehören sie einerseits zur
Legitimation einer deutschen Demokratie: Es waren nicht alle Nazis. Und zugleich sind sie
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eine Provokation, nicht zuletzt für die vielen Richter, Offiziere, Beamten und Lehrer, Ärzte
und Professoren, die eben willige Vollstrecker der Nazidiktatur waren und in der
Bundesrepublik Unterschlupf fanden. Darum sind die Zeiten, in denen die Kinder des 20. Juli
als „Verräterkinder“ beschimpft wurden, immer noch nicht vorbei. Frauke Hansen, heute
Physiotherapeutin:
O-Ton Hansen
Mir hat auch ein Patient gesagt bei der Verabschiedung, es tut mir leid, Frau Hansen, aber,
ihr Vater ist und bleibt für mich ein Verräter. Das war erst vor zwei, drei Jahren.
Autor
Die beiden Frauen, mit denen ich sprechen konnte, verehren ihre Väter und sprechen gern
und hochachtungsvoll über sie.
Es fällt ihnen leichter als den Jungen, meint Christa Hofacker Miller:
O-Ton Christa Hofacker Miller:
Ich glaube übrigens, dass das für Jungens und Mädchen auch anders ist. Die Buben haben
vielleicht eine größere Schwierigkeit, einen überdimensionalen Vater gehabt zu haben. Und
das kommt natürlich wahrscheinlich auch darauf an in den einzelnen Familien, wie das
behandelt worden ist. Und ob die Kinder ihre Väter als Menschen gekannt haben oder
aufgewachsen sind nur mit dieser Vorstellung des überragenden Vaters.
Musik
Sprecherin
Nach Kriegsende wurden die Häuser im Borntal für verschiedene Zwecke genutzt: Zunächst
als Landeskrankenhaus für mangelernährte und an Tuberkulose erkrankte Kinder. 1952
wurde das Heim wieder der ursprünglichen Besitzerin, der Bremer Schnakenberg-Stiftung
übertragen. Die verpachtete es an das evangelische Diakonissen-Mutterhaus Kinderheil, das
nach seiner Vertreibung aus Pommern seinen Sitz in Bad Harzburg hatte. Jetzt kamen
chronisch kranke Kinder, etwa Asthmatiker zur Kur in die gute Luft. Und statt tuberkulösen
Kindern wurden nun adipöse behandelt – das Krankheitsbild änderte sich vom
Nachkriegselend zum Wirtschaftswunder. In den siebziger Jahren kamen Kinder der
vietnamesischen Boat People und nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Tschernobyl
verstrahlte Patienten zur Erholung.
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Mit der deutschen Wiedervereinigung schließlich kam das Ende der fünfzigjährigen
Geschichte des Kinderheims und späteren Kinderkrankenhauses in Bad Sachsa. In den
benachbarten Gemeinden Wernigerode oder Quedlinburg zum Beispiel entstanden die von
Helmut Kohl versprochenen blühenden Landschaften, im Westen, und dazu gehört ganz
knapp das Borntal, breitete sich Öde aus. Die Diakonissen zogen sich zurück.
Doch nun haben niederländische Investoren das Gelände gekauft. Rolie Tromp, ihr Vertreter,
hat ein Büro in Bad Sachsa.:
O-Ton Tromp
Wir wollen gerne einen Park machen für Urlaub, und auch mit Infrastruktur, vielleicht mit
einem kleinen Schwimmbad, und einem Restaurant usw.
Sprecherin
Bis in die neunziger Jahre wurde in Bad Sachsa über die seltsame Geschichte des Borntals
nicht gesprochen. Auch, wenn das Kinderheim außerhalb des Ortes lag, es gab Lieferanten,
und schließlich hatten die Bewohner ja die glorreiche Eröffnung 1936 gebührend gefeiert.
Die langjährige Bürgermeisterin Helene Hoffmann:
O-Ton Hoffmann
Ich kann mir das schon vorstellen, weil ich allgemein die Hypothese hätte, dass die Zeit von
1933-45, egal, welche Rolle man darin gespielt hat oder welche Rolle die Familie gespielt
hat, die Herkunftsfamilie, aus der man stammte, dass das ein Zeitraum war, über den
prinzipiell nicht so gerne gesprochen wurde wie beispielsweise über die so genannten
goldenen Zwanzigerjahre.
Sprecher
In den neunziger Jahren wandte sich die Forschungsgemeinschaft 20. Juli an die
Bürgermeisterin: Sie wollten gern ein Treffen in Bad Sachsa organisieren. In dieser in den
siebziger Jahren gegründeten Vereinigung haben sich Nachfahren der Widerständler des 20.
Juli mit anderen Interessenten zusammengeschlossen. Friedrich von Jagow aus der
Enkelgeneration ist heute Vorsitzender der Forschungsgemeinschaft:
O-Ton von Jagow
Für die Kinder und auch für deren Kinder, sprich die Enkelgeneration, ist es ein wesentlicher
Bestandteil der Lebensumstände und des Lebens an sich, weil damit einmal auf der rein
rationalen und nachher emotionalen Ebene, fertig zu werden; was sich dort abgespielt hat,
für die Kinder, die Ermordung des Vaters, das Erlebnis der äußerst schwierigen Situation
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nach der Ermordung im Jahr 44 ich schätze mal bzw. nach 45, die nach dem Krieg äußerst
schwierige materielle Situation, mit alldem, was danach noch gekommen ist. Das ist in deren
DNA, wenn Sie so wollen, eingebrannt.
Sprecher
1998 kamen dann die im Borntal inhaftierten Kinder zum ersten Mal zurück:
O-Ton Hoffmann
98, der erste Kontakt zur Forschungsgemeinschaft, er hat es mir dann näher gebracht, und
2001 kamen die dann noch einmal mit der Gruppe, es war eine gewollte Distanz zu spüren
zu dem Ort, an dem die Unterbringung stattgefunden hatte. Sie wollten nicht im Bad
Sachsaer Stadtgebiet untergebracht werden, sondern haben 1998 und 2001 in Tettenborn in
der Bildungsstätte gelebt, und sind dann 1998 noch gar nicht emotional in der Lage
gewesen, ins Borntal zu gehen und sich das Gelände anzuschauen.
Autor
Frauke Hansen war 1998 dabei. Sie war 1944 erst ein Jahr alt.
O-Ton Hansen:
Ich habe aus heiterem Himmel dermaßen Weinkrämpfe bekommen, ich weiß nicht. Mein
Bruder sagte mir dann nur, also der Arzt, das ist auch eine Art, damit zurecht zu kommen.
Und auch heute, wenn ich noch mehr über meinen Vater reden muss oder erzähle, da kann
es durchaus sein, oder ich sehe sein Bild, dass ich dann in Tränen ausbreche, ne. Also, das
ist eine Sache, und ich habe lange, lange schwere Albträume gehabt, muss ich sagen. Ich
war zweimal im Kinderheim, als kleines Mädchen, da habe ich so geschrien, die ganze Zeit,
dass meine Mutter uns abholen musste, und wir wieder nachhause mussten. Und ein
anderes Mal bin ich bei Coburg in einem Kinderheim gewesen, da bin ich ausgerissen.
Immer wieder wollte ich nicht in so einem Heim sein. Irgendwie war das dann doch so, dass
es mich geprägt hatte, dieser Aufenthalt in Bad Sachsa. Und ich muss auch sagen, wenn
man heute die Häuser so sieht, ich weiß nicht, wie die damals waren, aber es muss düster
gewesen sein.
Sprecher
Ganz anders reagiert Ex-General Berthold Graf Stauffenberg, der älteste Sohn des Hitler-
Attentäters. Er hatte schon 1975 mit seiner Familie Bad Sachsa besucht. Zu den Treffen der
20.-Juli-Kinder kam er nur einmal, und da gab es Auseinandersetzungen darüber, ob und
wie man sich erinnern soll. Er ist auch nicht in der Forschungsgemeinschaft:
20
O-Ton Stauffenberg
Ich bin nicht Mitglied, aber meine Frau ist Mitglied. Wir Stauffenbergs hatten immer einen
Horror davor, Berufsverfolgte zu werden.
Sprecher
Auch in seiner Bundeswehrzeit hat er sich auf den obligatorischen Gedenkveranstaltungen
rar gemacht.
O-Ton Stauffenberg
Da gab es natürlich auch Vorstellungen über eine Gedenkstätte, die man dort machen
könnte, aber es gibt schon viel zu viele Gedenkstätten.
Diese ganze Geschichte ist bei den Familien ja auch höchst unterschiedlich angekommen.
Ich sage das mit einer gewissen Arroganz. Unsere Familie hatte auch vorher schon im
öffentlichen Leben gestanden, auch über die Jahrhunderte Verantwortung getragen und nun
war das eben ein weiterer Punkt. Und in unserem Familiengedächtnis spielt mein Vater
natürlich eine große Rolle. Aber nicht die einzige. Für andere Familien war das ganz anders,
die wurden dann plötzlich in die Geschichte gestoßen und wussten gar nicht wie ihnen
geschah.
Sprecher
Die damalige Bürgermeisterin Helene Hoffmann, eine Psychologin, erinnert sich an das
letzte Treffen im Jahr 2014:
O-Ton Hoffmann
Es hat eine richtige verbale Auseinandersetzung gegeben, also plötzlich habe ich
Spannungen gespürt, weil es im Raum war, und es hat sich daran entladen, wie geht man
mit dieser Geschichte um? Versucht man das aufzuarbeiten, mit allen Konsequenzen
aufzuarbeiten? Auch, dass es einen selbst natürlich ganz stark betrifft. Oder lässt man es so
stehen, wie es in der Öffentlichkeit war, in dem Sinne, es war ein Stauffenberg-Attentat. Und
das ganze Netzwerk, was ja auch ein Netzwerk der Betroffenen dann war, bleibt mehr oder
weniger im Hintergrund. Also es hat da richtig, richtig gerappelt.
Sprecher
Auf der einen Seite Stauffenberg und auf der anderen nicht nur Frauke Hansen, sondern
auch die anderen, die das Geschehen in zahlreichen Autobiografien und Büchern verarbeitet
haben, wie etwa Friedrich Wilhelm von Hase mit seinem Sammelband „Hitlers Rache“. Sie
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sind davon überzeugt, dass dem Borntal in Bad Sachsa ein prominenter Platz im Gedächtnis
des Landes gebührt. Auch Offizierssohn Albrecht von Hagen sieht das so:
O-Ton von Hagen
Die Diskussion, die Schwerin und mich und auch Stauffenberg voneinander in der Ansicht
trennten, begann damals schon mit: Bad Sachsa ist wichtiger als das, was wir heute über
Bad Sachsa denken und wie wir Bad Sachsa erinnerungstechnisch behandeln. Das ging
damals los.
Autor
In Bad Sachsa dagegen ist man sich einig. Der Archivar Ralph Böhm und sein Vorgänger
Günter König, Helene Hoffmann und ihr Nachfolger von der CDU, Axel Hartmann, wollen
eine Gedenkstätte am Ort errichten.
Auch in der Stadtöffentlichkeit gibt es daran ein Interesse: Als die Forschungsgemeinschaft
und die Stadt im September 2014 zu einer Veranstaltung einluden, musste man von einem
Raum für 50 Personen in den großen Kursaal für 200 Zuhörer umziehen.
Aber es werden wohl nicht einmal ein oder zwei Häuser im Borntal äußerlich unverändert
bleiben, wie Albrecht von Hagen und Friedrich Wilhelm von Hase gehofft hatten. Obwohl
Rolie Tromp, der neue Investor nichts dagegen hätte. Er ist in Tel Aviv geboren, seine Eltern
waren vor den Nazis geflohen und nach Palästina ausgewandert.
O-Ton Tromp
Ja, ich muss mal sagen, wenn man etwas kauft in Deutschland mit alten Gebäuden, dann ist
es eine Möglichkeit, dass das eine Geschichte auch mitbringt mit dem Krieg. Aber dass das
zu tun hat mit Kindern von Stauffenbergoffizieren, das haben wir nicht gewusst. Das war
vielleicht ein Schreck.
Autor
Doch alte Gebäude zu restaurieren ist kostspielig.
O-Ton Tromp
Wir versuchen sowieso, zwei oder drei alte Gebäude stehen zu lassen, aber, wie ich gesagt
habe, die Kosten sind sehr hoch. Wir brauchen etwas Unterstützung.
Sprecherin
Da ginge es um einige hunderttausend Euro, und die wird es nicht geben. Dennoch: nicht
nur die in der Forschungsgemeinschaft organisierten Nachfahren des 20. Juli, sondern auch
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die Stadt Bad Sachsa und die Stiftung Deutscher Widerstand sind daran interessiert, die
Erinnerung an das Geschehen im Borntal wach zu halten.
Noch in diesem Jahr soll in der Touristen-Information in Bad Sachsa die Geschichte des
Borntals in einem gesonderten Raum dokumentiert werden. Stadtarchivar Ralph Böhm:
O-Ton Böhm
Das war aus meiner Sicht so, dass man offenbar 70 Jahre gebraucht hat, um sein eigenes
Schicksal anzunehmen und ansatzweise zu verarbeiten, damit umgehen zu können. Das war
die eine Seite, das von den Kindern aus diese veränderte Stimmung herübergekommen ist,
aber auch von der Stadt Bad Sachsa eben mittlerweile ein Prozess stattgefunden hat, so
dass man das auch als ihr Ding ansehen kann. Es ist ihre Sache. Es gehört zu unserer
Geschichte von Bad Sachsa eben mit dazu.
Musik
Absage
Nur langsam kommt die Erinnerung
Sippenhaft im Kinderheim Borntal
Ein Feature von Karl-Heinz Heinemann
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2016.
Es sprachen: Kerstin Fischer
Volker Risch
Julia Schäfle
und Josef Tratnik
Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Thomas Widdig
Regie: Anna Panknin
Redaktion: Birgit Morgenrath
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