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Modul A1: Kognitive Prozesse (SS 2013)

Sprache III. Neuropsychologie der Sprache

Thomas Goschke

1

Fachrichtung Psychologie Professur Allgemeine Psychologie

Broca Aphasie

© Elsevier

Paul Broca (1824–1880)

Preserved brain of Broca’s first patient. Damaged region in the dotted red square

3

Patient, der unfähig war zu sprechen (außer ‘tan…tan…tan’); andere kognitive Fähigkeiten weitgehend intakt

Autopsie zeigte Schädigung im linken posterioren Frontalhirn (“Broca Areal”)

Einer der ersten Belege für die anatomische Lokalisation höherer kognitiver (sprachlicher) Funktionen

Aber: Sprache beruht auf einem komplexen Netzwerk weit verteilter Hirnregionen!

Genaue Funktion des “Broca-Areals” ist bis heute Gegenstand der Forschung

Broca Aphasie

Langsame, nicht flüssige Sprache

Stark beeinträchtigte Fähigkeit, synaktisch korrekte Sätze zu produzieren (große Variationsbreite!)

• Mitunter nur Äußerung einzelner Silben oder Worte

• Mitunter einfache Sätze, wobei Funktionsworte oder grammatische Markierungen ausgelassen werden

Sprechen erfordert große Anstrengung, erfolgt oft stoßweise

Wortfindungsstörungen und beeinträchtigte Artikulation

Beispiel:

• Therapeut: Konnten Sie gestern die Sonne genießen?

• Frau N.: Ja ... Garten ... Sohn ... Schi ... toch ... äh ... Sohn und ... Schiebetochte ... Faul ... nein ... Faumen fülken ... nein ... Korb Faumen ... Garten ... ich Sonne sitzen, dann ... hause ... Kuchen backen ... Sohn gerne Faulmenchuchen ...

• Aus: Lutz, L. (1992). Das Schweigen verstehen. Berlin: Springer.

Bis zu gewissem Grad intaktes Sprachverstehen

Aber: Beeinträchtigung, wenn Bedeutung nur unter Berücksichtung grammatikalischer Strukturen erschlossen werden kann (Agrammatismus)

An Example of Broca’s Aphasia

“cookie jar… fall over… chair… water… empty…”

From Goodglass and Kaplan (1972).

Sprachprobleme bei der Broca Aphasie

(a) Sprache ist langsam und erfordert große Anstrengung; Fehlen von Funktionswörtern (“Telegrammstil”)

(b) Artikulationsprobleme aufgrund von Defiziten in der Steuerung des Artikulationsapparats (z.B. Zungenmuskulatur)

(c) Mitunter Schwierigkeit beim Verstehen reversilbler Sätze, deren Verständnis die korrekte syntaktische Zuweisung von thematischen Rollen erfordert (z.B. wer schlug wen?)

Regionen, deren Verletzung zur Broca Aphasie führt

Banich, M. (2011). © 2011 Cengage Learning. Gazzaniga et al, 2010. © W. W. Norton

Wernicke Aphasie

Wernicke untersuchte um 1870 Schlaganfallpatienten

• Pt. sprachen flüssig, aber produzierten sinnlose Wörter und Sätze

• Pt. zeigten stark beeinträchtigtes Sprachverständnis

Autopsie ergab Läsionen im linken posterioren superioren Temporalkortex (benachbart zu auditorischen Kortexregionen)

Wernicke vermutete dort Sitz eine auditorischen Wortspeichers

Carl Wernicke 1848-1905

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Regionen, deren Verletzung zur Wernicke Aphasie führt

Banich, M. (2011). © 2011 Cengage Learning.

Sprachprobleme bei der Wernicke Aphasie

Flüssige Sprache und grammatisch korrekte Sprache

• Z.B. für Personen, die kein Holländisch sprechen, klingt die Äußerung (b) normal

Aber:

• Sprache ist oft ohne Bedeutung

• Probleme beim Verstehen von Sprache

• Semantische Fehler (z.B. “Television” statt “Telefon”)

• Mitunter Worte, die nicht in der jeweiligen Sprache existierten (“Jargon”)

Wernicke Aphasie

Beispiel: • Th.: Da wo Sie wohnen, haben Sie da auch einen Garten ?

• Pat.: Ha ah, das seh ich sofort hier

• Th.: Ja, haben Sie da auch einen Garten? Da, wo Sie wohnen ?

• Pat.: Ja, gäh äh ka ur ein geomer, ein teomer vin annern te eh

• Th.: Ja ...

• Pat.: Nech, also, mein schön kerger küksil im Sommer, jetzt um diese Zeit...

• Th.: Ja ...

• Pat.: Gehabt un so auch heute den bron denn ein ein für äh na et den oder oder für mich denn für - Gott, wie schwer ist das denn !

• Th.: Ich kann Sie immer noch nicht gut verstehen, leider ! Ich möchte so gern, aber da kommen immer andere Wörter ...

• Pat.: Ich weiß, aber aber ein mies da hab ich denn manches manches manches so gelies gehakkert ja, ach ja, sach ich da stehn für halle sarge was ich wusste ...

Aus: Lutz, L. (1992). Das Schweigen verstehen. Berlin: Springer.

Broca und Wernicke Aphasie

Klassisches Theorie der Sprachverarbeitung: Wernicke-Lichtheim-Modell

Annahme: Sprachverständnis und Sprachproduktion beruhen auf separaten Gehirnregionen

• Wernicke-Areal: Auditorischer Wortspeicher

• Broca-Areal: Planung / Programmierung der Sprachproduktion

• Speicher für konzeptuelles Wissen

Sprachverstehen

• Informationfluss vom auditorischen Kortex Wernicke Areal (1) über Fasciculus arcuatus (2) Broca Areal (3) und konzeptuelles System

Sprachproduktion

• Aktivierte Konzepte Aktivierung von phonologischen Wortrepräsentationen im Wernicke Areal Aktivierung von motorischen Programmen im Broca-Areal

Läsionen einer der Regionen oder deren Verbindungen unterschiedliche Aphasien

Sprachzentren aus Wernicke’s (1876) Artikel über Aphasie: A = Wernicke’s sensorisches Sprachzentrum B = Broca Areal Pc = Wernicke’s Areal für Bedeutungsrepräsentation

Probleme der klassischen Interpretation von Brocas und Wernickes Areal/Aphasie

Große Variabilität in den Läsionsorten aphasischer Patienten (De Bleser, 1988)

Viele Patienten, die Kriterien einer Broca Aphasie erfüllen, haben Läsionen im Temporallappen und nicht im Broca Areal (Dronkers, 1996)

Pt. mit Läsionen im Broca-Areal zeigen mitunter keine Broca-Aphasie (Dronkers, 1996)

Neben lateralen kortikalen Regionen sind tiefer liegende Kortexregionen (z.B. Insula) sowie subkortikale Regionen (z.B. Basalganglien) an der Sprachverarbeitung beteiligt

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Kortikales Mapping von Sprachfunktionen im linken zerebralen Kortex

Elektrische Reizung verschiedener Kortexareale bei epileptischen Patienten

Lokalisation von Sprachregionen während neurochirgurischer Operationen

19 Penfield, W., & Jasper, H. (1954). Epilepsy and the functional anatomy of the human brain. Boston: Little Brown. Penfield, W., & Perrot, P. (1963). The brain’s record of auditory and visual experience. Brain, 86, 595–696.

Kortikales Mapping von Sprachfunktionen im linken zerebralen Kortex

Orte, an denen elektrische Stimulation in Penfields Untersuchungen aus den 30er Jahren zu Sprachstörungen führte

Penfield & Roberts, 1959

Ojeman et al., 1989

Variabilität der Lokalisation von Sprachfunktionen: Prozentsatz von Patienten (N=117), in denen eine Stimulation zu Benennungsfehlern führte

Probleme der klassischen Interpretation von Brocas und Wernickes Areal/Aphasie

Beide Aphasien sind häufig mit grammatischen Fehlern und Wortfindungsstörungen assoziiert (Dick et al., 2001)

Interpretation der Broca-Aphasie als reine “Sprachproduktionsstörung” kann zentrale Symptome (z.B. Agrammatismus) nicht erklären

Auch Broca Aphasiker haben mitunter Probleme beim Sprachverstehen

Wernicke Aphasiker haben häufig auch Probleme bei der Sprachproduktion (z.B. Neologismen)

Aktuelle Forschung: Statt grober Einteilung von Aphasien und Zuordnung zu spezifischen Hirnnregion

Analyse spezifischer kognitiver Beeinträchtigungen, die Sprachstörungen zugrundeliegen

Analyse von verteilten neuronalen Netzwerken, die diesen Funktionen zugrundeliegen

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Verlust von gespeichertem sprachlichem Wissen oder beeinträchtigte Verarbeitungsprozesse?

Broca-Aphasie

• Häufige Fehler bei Zuordnung von Bildern zu komplexeren Sätzen

Z.B. „Der Junge wurde von dem Mädchen getreten“

• Aber: Pt. konnten syntaktisch korrekte von inkorrekten Sätzen unterscheiden (Linebarger et al., 1983)

Wernicke-Aphasie

• Starke Beeinträchtigung bei Urteilen über die Bedeutung von Worten

• Aber: Pt. zeigten normale semantische Priming-Effekte in lexikalischen Entscheidungsaufgaben

Syntaktisches bzw. semantisch Wissen scheint erhalten zu sein

Beeinträchtigungen könnten darauf beruhen, dass die Echtzeitverarbeitung linguistischer Informationen gestört ist

Verzögerte N400 bei Aphasikern mit stark beeinträchtigtem Sprachverständnis Hinweis auf verlangsamte semantische Integration

Gazzaniga et al. (2010). © W. W. Norton

N400 bei aphasischen Patienten (Swaab, Brown & Hagoort, 1997)

Ein neurokognitives Modell der Sprachverarbeitung (Friederici, 2011, 2012)

Hagoorts (2005) Memory–Unification–Control Model

Hagoort, P. (2005). Trends in Cognitive Sciences, 9, 416-423.

Gedächtnis (memory) • Linker Temporallappen • Speicherung und Abruf von von

Wortinformation aus dem mentalen Lexikon / konzeptuellen System

Integration (unification) • Linker inferiorer frontaler Gyrus • Integration phonologischer, lexikalischer,

semantischer und syntaktischer Information in einer Repräsentation der Gesamtäußerung

• Subregionen für semantische Integration (BA 45 u. 47), syntaktische Integration (BA 44 u. 45) und phonologische Integration (BA 44; Teile von BA 6)

Kontrolle • Lateraler präfrontaler Kortex • Verbindung von Sprache und

Handlungssteuerung im Kontext kommunikativer Akte

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