archithese 2.13 - age of cool

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archithese Cool: Wagnis einer Definition Vom Dandy des 19. bis zum Hipster des 21. Jahrhunderts Martini Modernism: Los Angeles und die Fünfzigerjahre A conversation with Dion Neutra Ezra Stoller’s Industrial Cool Nietzsche und das Pathos der Distanz Rino Tamis Cinema Corso in Lugano Über den Degré Zero und Graue Architektur Von der Neuen Sachlichkeit zur autogerechten Stadt Das Schwabylon in München Stadtumbau in Berlin City West Bonjour Tristesse: Wie cool ist die Pappelallee? Architektur und Street Art Ein Gespräch mit Rafael Horzon und Mathias Rust Preston Scott Cohen: Erweiterung des Museum of Art, Tel Aviv Delugan Meissl Associated Architects: Tiroler Festspielhaus, Erl prs architects: Mehrfamilienhaus, Lausanne 2.2013 Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Age of Cool

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Page 1: archithese 2.13 - Age of Cool

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architheseCool: Wagnis einer Definition

Vom Dandy des 19. bis zum Hipster des 21. Jahrhunderts

Martini Modernism: Los Angeles und die Fünfzigerjahre

A conversation with Dion Neutra

Ezra Stoller’s Industrial Cool

Nietzsche und das Pathos der Distanz

Rino Tamis Cinema Corso in Lugano

Über den Degré Zero und Graue Architektur

Von der Neuen Sachlichkeit zur autogerechten Stadt

Das Schwabylon in München

Stadtumbau in Berlin City West

Bonjour Tristesse: Wie cool ist die Pappelallee?

Architektur und Street Art

Ein Gespräch mit Rafael Horzon und Mathias Rust

Preston Scott Cohen: Erweiterung des Museum of Art,

Tel Aviv

Delugan Meissl Associated Architects: Tiroler

Festspielhaus, Erl

prs architects: Mehrfamilienhaus, Lausanne

2.2013

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Age of Cool

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Page 2: archithese 2.13 - Age of Cool

archithese 2.2013 März/April 43 . Jahrgang CHF 28.–

Titelbild: «Production Anticipation», Philip Morris Research Tower, Richmond Virginia. Architect: Ulrich Franzen, 1972 (Ezra Stoller © Esto)

4 Editorial

A R C H I T E K T U R A K T U E L L

10 Barock und/oder Moderne?

Preston Scott Cohen: Erweiterung des Tel Aviv

Museum of Art

Hubertus Adam

18 Klare Kante, klarer Klang

Delugan Meissl Associated Architects:

Festspielhaus Erl

Hannes Mayer

24 Subtile Extrusion

prs architects: Mehrfamilienhaus, Lausanne

Frédéric Frank

A R C H I T E K T U R

30 Cool I

Tom Holert

33 Cool II

Vom Dandy des 19. bis zum Hipster des 21. Jahrhunderts

Ulla Haselstein

38 Martini Modernism

Los Angeles und die Fünfzigerjahre

Klaus Leuschel

44 Cool in Retrospect

A conversation with Dion Neutra about his father

and their architecture

Hannes Mayer

48 Frozen Dynamics

Ezra Stoller’s Industrial Cool

Nina Rappaport

54 Alle Schaffenden aber sind hart

Friedrich Nietzsche und die Konstruktion

des Künstlerselbverständnisses um 1900

Hubertus Adam

60 Il nuovo Cinema Corso

Eine Entdeckung in Lugano

Eleonora Bourgoin und Eberhard Tröger

68 Degré Zéro

Über «Graue» und gewöhnliche Architektur

Benedikt Boucsein

74 Tausendjähriges Reich und Tausendfüßler

Die kühle Kontinuität des Verkehrs von der

Neuen Sachlichkeit bis zur autogerechten Stadt

Hannes Mayer

78 Der Bau zu Schwabel

Schwabylon – Eine Münchner Geschichte

Julia Höck

82 Kalte Krieger und dicke Torten

Frontbericht aus Westberlin

Florian Dreher

88 Bonjour Tristesse oder: Wie cool ist die Pappelallee?

Eine ästhetische Spekulation

Christian Gänshirt

94 «Degenerierte» Coolness: Vom Keller zum Dach

Über das strapazierte Verhältnis von Architektur

und Street Art

Rémi Jaccard

96 Sternstunden der Menschheit

Rafael Horzon und Mathias Rust im Gespräch

mit Stephan Trüby

R U B R I K E N

102 fsai

106 Neues aus der Industrie

114 Lieferbare Hefte

116 Vorschau und Impressum

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10 archithese 2.2013

A R C H I T E K T U R A K T U E L L

Barock und /oder Moderne?

fähr dort, wo später einmal Tel Aviv gegründet

wurde. Andere denken an ein gestrandetes Raum-

schiff. Doch dem Architekten Preston Scott Cohen

ging es eher um eine Hommage an die Stadt, die

seit ihrer Gründung neben dem historischen Hafen

von Jaffa mit Modernität verbunden ist. Der libe-

rale, weltoffene Geist und die Zukunftsgewissheit

verkörpern sich seit den Zwanzigerjahren in den auf

einem Masterplan von Patrick Geddes errichteten

Bauten der Moderne, die Tel Aviv den Beinamen

der «Weissen Stadt» einbringen sollten. Auch nach

der Staatsgründung Israels – und in den letzten

Jahren erst recht – wurde die Stadt Tel Aviv zur

Dauerrivalin des nur eine Stunde entfernten Jeru-

salem: hier Party, dort Religion; hier Zukunft, dort

Vergangenheit; hier Liberalität, dort Orthodoxie

(der rivalisierenden Glaubensgemeinschaften); hier

die Offenheit des Meeres, dort die engen Gassen,

PRESTON SCOTT COHEN: ERWEITERUNG

TEL AVIV MUSEUM OF ART, 2010

2003 gewann der in Boston ansässige Archi-

tekt Preston Scott Cohen den Wettbewerb

für eine Erweiterung des Tel Aviv Museum

of Art; acht Jahre später wurde das Gebäude

eingeweiht. Ohne Zweifel stellt es ein be-

deutendes Bauwerk in der Stadt dar, die in

jüngster Zeit vor allem architektonisches

Mittelmass hervorgebracht hat; gleichwohl

ist die Umsetzung digital modellierter Geo-

metrien zu unausgereift und widersprüch-

lich, als dass sie wirklich überzeugen könnte.

Autor: Hubertus Adam

Manche Besucher fühlen sich bei der Erweiterung

des Tel Aviv Museum of Art an den biblischen Wal

erinnert, der Jona verschlungen haben soll – unge-

die durch die Übermacht der Historie beinahe er-

drückt zu werden scheinen. Nahezu inakzeptabel

war daher für Cohen der Wunsch der Auftraggeber,

die zur Zeit des Wettbewerbs noch nicht näher

spezifizierte Fassade mit honigfarbenem Stein, wie

er das Stadtbild von Jerusalem prägt, zu verklei-

den. Nachdem man grosse Mock-ups aufgestellt

hatte, kam ihm schliesslich die Tatsache zu Hilfe,

dass sich eine Aussenhaut aus präfabrizierten Be-

tonelementen als deutlich kostengünstiger erwies.

Tel Aviv, so wurden der Architekt und sein

israelischer Partner Amit Nemlich nicht müde zu

erklären, sei die Stadt der Moderne schlechthin

und Beton der dafür adäquate Werkstoff.

Kombination zweier Geometrien

Das Tel Aviv Museum of Art wurde 1932 gegründet

und besitzt die wichtigste Sammlung moderner is-

1

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1 Haupteingang an der

Südseite des Herta and

Paul Amir Building

(alle Fotos: Amit Geron)

2 Situationsplan

raelischer und internationaler Kunst des Landes.

Zunächst im Dizengoff House ansässig, bezog es

1971 einen Neubau, den Dan Eytan und Yitzchak

Yashar im besonders für Israel typischen Beton-

Brutalismus der Zeit errichteten. Zusammen mit

Gerichtsgebäude und Bibliothek, die den weitläufi-

gen, zum Shaul-Hamelech-Boulevard hin orientier-

ten Vorplatz umfassen, bildet das Museum einen

Komplex öffentlicher Bauten, der später durch das

postmoderne Performing Arts Center von Yacov

Rechter ergänzt wurde. In diesem überzeugt pri-

mär das von Ron Arad ausgestattete Opernfoyer.

Auch wenn das Tel Aviv Museum of Art inzwi-

schen durch einen Erweiterungsbau (von Dan Ey-

tan) und einen Skulpturengarten ergänzt worden

war, herrschte um das Jahr 2000 erneut Raumnot,

sodass man sich zu einer grossmassstäblichen

Erweiterung entschloss, wodurch die Fläche von

2

20 m

“BEIT ARIELA” PUBLIC LIBRARY

SHAUL HAMELECH BLVD.

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TEL AVIV MUSEUM OF ART

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PERFORMING ARTS CENTER

CAMERI THEATER

GARAGEELEVATOR

AMIR BUILDING TEL AVIV MUSEUM OF ART

OPERA SQUARE

SCULPTURE GARDEN

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48 archithese 2.2013

FROZEN DYNAMICS

Ezra Stoller’s Industrial Cool Ezra Stoller (1915–2004), renowned American photographer, applied a keen artistic eye to the

modern world of architecture and commerce. Primarily known for his crisp formal depictions of modern architecture, Stoller’s

oeuvre also included a prolific artistic documentation of industry and production. His photographs of man’s relationship to

machine, industrial production, and architecture reveal the zeitgeist of an optimistic post-war America.

Author: Nina Rappaport

Research of the Stoller archive in the past focused solely on

the architectural work. Only just recently has it been ex-

plored in depth,1 finding that the architecture and interior

works are interspersed with industrial and commercial pro-

jects for annual reports, product catalogues, and editorial

assignments, which form a more complete understanding of

Stoller’s oeuvre.

Stoller did not promote himself as an artist, nor was it his

ambition to become one. He did not even title his works – as

an artist would – if the photographs were to be on exhibition.

He considered himself a commercial photographer with a

modernist and functionalist aesthetic, who understood the

architect’s intent. Stoller became renowned for the technical

precision and striking composition of his imagery. Gradually,

architects took notice. As early as 1942, firms such as Skid-

more, Owings & Merrill, specifically Gordon Bunshaft, hired

him to photograph, as did Frank Lloyd Wright, Pietro Bel-

luschi, Alvar Aalto, Eero Saarinen, Marcel Breuer, Paul Ru-

dolph, Louis I. Kahn, Richard Meier, and I. M. Pei, among

others. These early contacts with architects led to commis-

sions from Architectural Forum, and in the 1950s Stoller be-

came a leader in the burgeoning field of architectural pho-

tography, which in the US also included Julius Shulman, Ken

Hedrich, Balthazar Korab, and Joseph Molitor, each with

their own interests and territories.

Stoller’s creative instruments were large-format view cam-

eras – first the 8 × 10, then the 4 × 5, and in his more candid

factory photos he uses a smaller 2 × 2. Stoller’s working

process allowed for what Cartier-Bresson called “the deci-

sive moment”, in that he carefully planned a shot but em-

braced the unexpected. The resulting images are sharply

focused with a large depth of field and few distortions – it

was exacting work. This precise technique, combined with

a strong sense of composition allowed Stoller to create al-

most hyperreal depictions of the world in constructed

compositions.

Industrial Cool

For a photographer of the time the challenge was to depict

industry and its functionality through the abstraction of a

two-dimensional surface in a way that on the one hand re-

vealed what a thing was, and also demonstrated its social

essence as well as serving the client’s goal. The manufactur-

ing process was usually invisible to the consumer. Factories

were often sequestered, situated in separate zones and re-

moved from everyday urban life, and thus became secrets to

unfold. This made their off-limit interiors more enticing and

mysterious, while to the worker, life in the factory was mun-

dane and an oppressive, quotidian reality.

Now, after Stoller’s industrial photographs have been

separated from their original context, they have become

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1 2

more than a nostalgic look at the past, or historic document,

but works of art in the genre of industrial photography.2

Susan Sontag so aptly stated, “Photographs are, of course,

artifacts. But their appeal is that they also seem, in a world

littered with photographic relics, to have the status of found

objects – unpremeditated slices of the world. Thus, they

trade simultaneously on the prestige of art and the magic of

the real.”3

In the early twentieth century the black and white photo-

graph was a tool for manufacturers: efficiency analysis,

documentation and promotion of the factory within the cor-

poration itself – for advertising purposes as well as for jour-

nalism. Essential for both the development of photography

and motion picture was the technique of human motion cap-

ture used by Muybridge, Marey, and then also Frank and

Lillian Gilbreth. The Gilbreths would attach lights to work-

ers’ hands as they completed a task, which they would pho-

tograph so that the traces of light would show in their move-

ment. Frederick Taylor embraced these techniques to

analyse and increase efficiency in worker tasks. His studies

would be the basis for a rational and efficient workflow man-

agement system that was presented in his book The Princi-

ples of Scientific Management, first published in 1911.

Industrial subjects also became part of a new art form as

seen in the work of Albert Renger-Patzsch (1897–1966), Mar-

garet Bourke-White (1904–1971), and the Bechers – Bernd

(1931–2007) and Hilla (born 1934). Renger-Patzsch was influ-

ential in the “Neue Sachlichkeit” (New Objectivity) photo-

graphic movement. Like Stoller, Renger-Patzsch never consid-

ered himself an artist and deliberately distanced himself

from the categorisation. He tended to photograph objects in

groupings, capturing their industrial power and robust phys-

icality without sentimentality. He was straightforward in his

approach, wanting to call his book Things, instead of The

World is Beautiful, as it was later titled. “Unwittingly, he made

photography a method of phenomenological reduction involv-

ing an intuition of the thing in its essential givenness.”4

A continuation of this phenomenological approach forms

the collaborative work of the Bechers, who photographed the

industrial landscapes of Germany. They compiled typologies

of functionalist architecture of the vernacular and everyday

infrastructure, such as water towers, mine shafts, smoke-

stacks, and coal furnaces. They photographed straight

ahead, always at the same angles, crisp and precise but with-

out shadows, and without workers. They considered their

work documentation but ended up monumentalising the in-

dustrial fact as an artifact and an art. Photographed with an

attention to detail as rigorous as the functionality of the ma-

chines portrayed, their composite studies parallel guide-

books by horticulturists: each specimen, in a series or a

grouping, became significant for its minute and grand vari-

ations in black and white grids.

1 TWA Terminal

at Idlewild (JFK)

Airport, Queens,

New York. Archi-

tect: Eero Saarinen,

1962

(Ezra Stoller © Esto)

2 Manufacturers

Trust Company,

510 Fifth Avenue,

New York. Archi-

tecture: Skidmore,

Owings & Merrill,

with bank vault

designed by Henry

Dreyfus, 1954

(Ezra Stoller © Esto)

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60 archithese 2.2013

IL NUOVO CINEMA CORSO

Eine Entdeckung in Lugano Im Jahr 1956 schufen die Gebrüder Tami mit dem Cinema Corso in Lugano einen atem-

beraubenden Ort für besondere Filme. Während das Kino von heute den damaligen Zauber längst verloren hat, behielt

das Cinema Corso seinen Charme und trotzt den grossen Multiplexkinos.

Autoren: Eleonora Bourgoin und Eberhard Tröger

Kaum eine Zeit repräsentiert die Haltung einer eleganten

Coolness besser als die späten Fünfzigerjahre. Und kaum ein

Genre konnte dieses Gefühl besser transportieren als das

Kino. Es war die grosse Zeit der Filme mit James Dean, Liz

Taylor, Anna Magnani, Sophia Loren, Marcello Mastroianni

und vielen anderen. Nach den Notjahren des Krieges, in

denen das Kino vornehmlich die Funktion eines Informa-

tions- und Propagandamediums hatte und die Filme Trost

spenden sollten, sehnten sich die Menschen nun wieder

nach Luxus, Leichtigkeit und Genuss.

Auch die italienische Schweiz erwachte wieder zu neuem

Leben. Viele italienische Künstler und Intellektuelle waren

im Krieg dorthin geflüchtet und Lugano war damals durch

seine begünstigte Lage und seine Nähe zu Mailand ein be-

deutender und kultivierter Ort von internationalem Rang.

Vor diesem Hintergrund wurde 1944/1945 das internationale

Filmfestival in Lugano gegründet, das im Folgejahr nach

Locarno wechselte, wo es bis heute stattfindet.

Mehr als zehn Jahre später unternahmen die Brüder Pier

Olinto Tami als Kinobetreiber und Rino Tami als Architekt

mit der Eröffnung des neuen Cinema Corso den kongenialen

Versuch, Lugano wieder ins Zentrum des cineastischen

Geschehens im Tessin zu rücken. Gerade in diesen Jahren

erreichte das italienische Kino seine vielleicht bedeutendste

Blütezeit.

Das spektakuläre Corso vereint in selten gelungener und

expressiver Weise die spezielle Filmkultur und die Architek-

tur der Zeit zu einem Gesamtereignis. Wer durch den un-

scheinbaren Ladeneingang in dem zur Strasse hin strengen

und zurückhaltenden Bau das elegante Foyer betritt, den

erwartet eine grosse Überraschung, die im Kinosaal noch

gesteigert wird. Wie futuristische Projektionsstrahlen bilden

schwarze, weisse und rote Dreiecke einen atemberaubenden

kristallinen Raum, der in seiner Kraft und Komplexität den

neuesten computer-geshapten Werken einer Zaha Hadid

oder eines Daniel Libeskind auch heute noch die Schau steh-

len dürfte. Diese Gestaltung repräsentierte den Übergang

vom Schwarz-Weiss- zum Farbfilm und feierte den Kinobe-

such als Ereignis.

Mit dem Cinema Corso verwirklichte Rino Tami sein viel-

leicht opulentestes und persönlichstes, aber erstaunlicher-

weise auch sein unbekanntestes Werk.

«Im Kino zu leben, bedeutet immer in der Zukunft zu leben.»

Giancarlo Tami

Im Cinema Corso gab es keine Filmpremieren mit rotem

Teppich und grossen Stars. Als es am 30. Oktober 1956 um

15.30 Uhr eröffnet wurde, waren keine berühmten Schau-

spielerinnen und Regisseure anwesend. Dafür war die

mondäne Stadtgesellschaft und sämtliche Würdenträger mit

Rang und Namen da, um die Eröffnung des ersten modernen

Kinos von Lugano gebührend zu feiern. Anstatt mit per

Kurbel zu bedienenden Filmvorführgeräten war es mit voll-

automatischen Projektoren ausgestattet, und es gab eine

Lüftungsanlage, wie man sie noch nicht gesehen hatte, dazu

ein hochmodernes Brandschutzsystem. Die Zeitungen lobten

das Cinema Corso als Filmtheater, das in der Lage wäre, der

erbarmungslosen Konkurrenz des Fernsehens standzuhal-

ten. «Das Corso», schrieb die Gazzetta Ticinese, «ist mit

seiner Architektur, der Einrichtung und dem Modernismus

seiner Ausstattung dazu bestimmt, diese Schlacht zu gewin-

nen. Dieses neue Lichtspielhaus mit seinem richtungswei-

senden, wunderbar auf das prägende geometrische Element

des Dreiecks angewandten Modernismus erweckt mit dem

ansprechenden Zusammenspiel von Farbe, Form und Licht

ein Gefühl der Vertrautheit. Dadurch fällt der Modernismus,

der seine Gestaltung auszeichnet, nicht zu sehr ins Ge-

wicht.» Das Cinema Corso wird Teil der Geschichte Luganos.

Nicht nur aufgrund seiner Schönheit oder seiner neuartigen

Architektur, sondern auch wegen seines Standorts.

Als die Bauherrenfamilie Lucchini 1952 die Brüder Carlo

und Rino Tami mit der Planung beauftragte, ging es nicht

einfach darum, zwei Gebäude mit Geschäften, Büros und

Wohnungen zu errichten (den Palazzo la Piccionaia, in dem

sich auch das Kino befindet, und den daran anschliessenden

Palazzo il Cardo). Es ging darum, ein Stück Lugano zu schaf-

fen. Nur wenige Jahre zuvor war die Via Pioda entstanden

und nun tragen diese Strasse und die beiden von den Brüdern

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2

1

3

1 Das schlichte

Gebäude an der Via

Pioda mit dem

Cinema Corso im

Erdgeschoss,

Mitte der Fünf-

zigerjahre

(Fotos 1+4, Abb. 3: Mendrisio, Archivio del Moderno, Fondo Rino Tami)

2 Der Ladenein-

gang zum Kino

heute

(Fotos 2, 5–9: Jacqueline Haener)

3 Grundriss EG

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68 archithese 2.2013

DEGRÉ ZÉRO

Über Graue und gewöhnliche Architektur Von 1945 bis 1960 wurde die westdeutsche Nachkriegsarchitektur von

der «grauen» Architektur geprägt. Die darin zum Ausdruck kommende Zurückhaltung findet sich im Begriff des degré zéro

wieder, der eine Architektur jenseits des Formwillens beschreibt. Nach dem Verschwinden der grauen Architektur Ende

der Sechzigerjahre stellt sich heute die Frage nach einer zeitgenössischen Renaissance des degré zéro im Wechselspiel

mit dem Aussergewöhnlichen.

Autor: Benedikt Boucsein

In der zeitgenössischen Architektur steht «cool» – zumin-

dest suggeriert dies der Blick in einschlägige Hochglanz-

magazine und Blogs – für spektakuläre und futuristische

Bauten. Coole Gebäude haben grossflächige Glasfassaden,

spektakuläre Formen und aufwendige Auskragungen, geben

im Sinne der sustainability überschüssige Energie an die

Umgebung ab und haben oft eine begrünte Fassade. Coole

Architektur ist gebaute, oft auch ungebaute Science-Fiction,

die vor allem durch Aussergewöhnlichkeit begeistert.

Ganz andere Bilder verbinden sich mit dem Begriff degré

zéro – bzw. degree zero – der etymologisch nah an der Cool-

ness ist. Obwohl es durchaus unterschiedliche Interpretati-

onen des Begriffs gibt, kreist der degré zéro in seiner Ver-

wendung meist um architektonische Zurückhaltung. Er

verbindet sich mit einer Haltung, die es als Tugend ansieht,

Architektur gleichsam unsichtbar zu machen und Besonder-

heiten erst dem zweiten Blick zu offenbaren. Der degré zéro

erweist sich dabei keineswegs als eine Eintagsfliege, son-

dern aktualisiert sich immer wieder neu.

In seiner heutigen Verbreitung ist der Begriff auf den Phi-

losophen Roland Barthes zurückzuführen. In seinem 1954

erschienenen Band Le degré zéro de l’écriture setzte dieser

sich mit Fragen zur Literatur seiner Zeit auseinander.1 Sech-

zig Jahre später kann man durchaus Parallelen zur Gegen-

wartsarchitektur feststellen, wenn man entsprechende Wör-

ter in Barthes’ Text ersetzt: «[Architecture] has thus moved

through all the states of gradual solidification: beginning as

the object of perception, then of technique, and finally as a

murder, it has reached its final avatar today as absence […],

finding no other purity than in the absence of all sign, and

proposing at long last the accomplishment of the Orphean

dream: an [architect] without [architecture].»2 Abwesenheit

und Reinheit sind hier zentrale Begriffe, ebenso wie die Ano-

nymisierung und Entpersonalisierung der Architektur bis

hin zur «Architektur ohne Architekten». Im Folgenden wird

sich zeigen, dass diese Themen tatsächlich eng miteinander

verbunden sind, wenn es um den degré zéro geht.

Eine der pointiertesten Haltungen der Gegenwart, die

sich architektonisch mit den Themen der Abwesenheit und

Reinheit auseinandersetzt, nehmen Kazuyo Sejima und

Ryue Nishizawa mit ihrem Büro SANAA ein. Entsprechend

kann in ihrer Arbeit attestiert werden, dass in ihr der degré

zéro eine wichtige Rolle spielt: «I am of course referring to

that ‹degree zero› […] of opposition to a position, of the doc-

trine of anti-indoctrination. […] Architecture should provide

for people’s attention not to be permanently attached to the

imminent. […] The limits of architectural function are to

allow for sleep, for a detachment from the surroundings, it

is about disappearing and remaining as a latent frame-

work.»3 Der Aspekt der Neutralität, transportiert über

reines Weiss und die reichliche Verwendung von Glas, er-

scheint in diesem Licht als eine demokratische und tolerante

Grundhaltung, in der Architekt oder Architektin – schein-

bar – abwesend sind. Diese Haltung bezieht sich allerdings

vornehmlich auf den Innenraum. Gegenüber der umliegen-

den Stadt scheint es Sejima und Nishizawa vor allem darum

zu gehen, den inneren degré zéro zeichenhaft nach aussen

zu tragen, auch wenn ein Gebäude dadurch aus seiner

Umgebung heraussticht.

Die «gewöhnliche» Architektur

Eine diesbezüglich fundamental andere Position vertritt, ins-

besondere im Kontext der europäischen Stadt, die «gewöhn-

liche» Architektur.4 Diese Haltung hat ihren Ausgangspunkt

bei Aldo Rossis und Robert Venturis Überlegungen zum Ver-

hältnis von Stadt und Gebäude und begreift die Stadt als

Hintergrund für die verschiedenen Lebenswelten der Men-

schen, die sich darin entfalten, treffen, austauschen und

weiterentwickeln.

Aus dem Gedanken heraus, diesen Hintergrund kontinu-

ierlich weiterzuentwickeln, stellt der jeweilige Kontext den

wichtigsten Bezugspunkt für die «gewöhnliche» Architektur

dar. Gegenüber dem Strassenraum wird ein Ausdruck ge-

sucht, der in diesem gleichsam untertaucht, ohne vollständig

zu verschwinden. So wäre für Roger Diener der Idealfall

«eine Fassade, die schliesslich ebenso sehr der Stadt wie

dem Gebäude selbst gehört», eine Fassade, deren Fenster

durch ihre Banalität «die Realität des Alltags in die Bauten»

einbringen.5 Architektur soll vertraut wirken, Form und Aus-

druck sich aus den Bedingungen des Kontextes ergeben.

Damit «kommt eine Suche nach einem ‹degré zéro› zum

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69

1

1 Thomas Struth,

Düsselstraße,

Düsseldorf, 1979

(Foto: © Thomas Struth)

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82 archithese 2.2013

KALTE KRIEGER UND DICKE TORTEN

Frontbericht aus Westberlin Die westliche Halbstadt des ehemals geteilten Berlins befindet sich seit Ende der

Neunzigerjahre inmitten eines gewaltigen Stadtumbauprozesses. Das einstige Schaufenster des Westens, rund um

den Breitscheidplatz und den Kurfürstendamm, ist mit der Eröffnung des Waldorf Astoria Hotels, dem sogenannten

Zoofenster, neu bestückt worden und soll der vernachlässigten City West seit der Wiedervereinigung zu neuem

Glanz verhelfen. Dabei scheinen die Vorzeigeprojekte der Nachkriegsmoderne nicht mehr in das neue Bild der Stadt

zu passen und fristen im Abseits ihr tristes Dasein.

1

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Page 13: archithese 2.13 - Age of Cool

83

Autor: Florian Dreher

Mit dem Aufstieg zur kaiserlichen Residenzstadt um 1875

und den Eingemeindungen zu Groß-Berlin am Anfang des

20. Jahrhunderts begannen in Berlin vielerorts repräsenta-

tive Ausbaumassnahmen, die der Prämisse von Wilhelm II.

mit Prunk und Gloria folgten sowie der Weltmacht einen

Platz an der Sonne garantierten sollten. So ist die städtebau-

liche Transformation des spärlichen Knüppeldamms, der

zum Jagdschloss Grunewald führte, zum repräsentativen

Boulevard «Kurfürstendamm» nach Vorbild der Champs-

Elysées auf den Architekten des Deutschen Kaiserreichs,

Otto von Bismarck, zurückzuführen.

Was sich anfangs noch als lukratives Spekulationsobjekt

und opulente Wohnstube des aufstrebenden Bürgertums

darstellte, entwickelte sich rasant zur pulsierenden Vergnü-

gungsmeile der leichten Muse, westlich des Regierungssit-

zes im Herzen der neuen Mitte von Groß-Berlin.

Nach den dramatischen Zerstörungen des Zweiten Welt-

kriegs und der vollzogenen Teilung Berlins sollte sich hier

der neue Mittelpunkt der westlichen Welt auch baulich als

«Schaufenster» mit Propagandafunktion manifestieren.

Hilfe für den Wiederaufbau versprachen vor allem die Fi-

nanzmittel der Alliierten, wie der Marshallplan (European

Recovery Program), oder der Bundesregierung mit dem Not-

opfer Berlin (ab 1948) sowie das Gesetz zur Förderung der

Wirtschaft von Groß-Berlin (ab 1950), das den Standort mit

Insellage fern der Bonner Republik fördern sollte. Neben der

gezielten Kulturpolitik der Alliierten, unter anderem durch

die Positionierung moderner Kunst in Form der Abstraktion

als Gegenpol zum sowjetischen Realismus, diente auch der

International Style, wie am Beispiel der Interbau von 1957

im Hansaviertel, als politisches Signal beziehungsweise

Leitbild und stellte sich dem Zuckerbäcker-Stil der Stalin-

allee im Osten entgegen. In seiner Leuchtturm-Funktion

sollte der Kurfürstendamm als Erfolgsmodell des Westens in

der Nachkriegszeit wieder aus den staubigen Ruinen aufer-

stehen.

Kalte Krieger

Als von symbolischer Bedeutung sind hierbei die Wettbe-

werbe von 1948 «Rund um den Zoo» mit visionären Planun-

gen eines City-Flughafens direkt am Bahnhof Zoo sowie die

Beiträge zur Wiederherstellung der zerstörten Kaiser-Wil-

helm-Gedächtniskirche zu betrachten. Nur noch in ihren

Grundmauern existent und ihrer neobyzantischen Pracht

beraubt, sah man im Wettbewerb die restliche Abtragung

des Franz-Heinrich-Schwechten-Baus voraus. Egon Eier-

manns prämierte Arbeit zeigte ein strenges und einfach wir-

kendes Haus von archetypischer Gestalt im Zusammenspiel

mit einem beigestellten Kampanile auf dem neuen Breit-

scheidplatz. Die Entrüstung der Bevölkerung über die beab-

sichtigte Tabula rasa bewirkte eine ungewollte Überarbei-

tung des Entwurfs, in der der Kirchentorso als Mahnmal und

historischer Baustein im neuen Ensemble erhalten bleiben

sollte. Mit Blick auf Eiermanns zuvor von 1951 bis 1953 er-

richtete Matthäuskirche in Pforzheim, könnte man eine Vor-

stellung von seinem Erstentwurf für Berlin bekommen. Ne-

ben Formsteinen mit farbigen Glassplitterintarsien besticht

der Bau durch seine reduzierte und prägnante Stahlbeton-

konstruktion. Pforzheim sollte also jenes Vorbild liefern, wel-

ches Eiermann in der Überarbeitung zu perfektionieren ver-

mochte. Der Siegerentwurf wich einem Arrangement aus

einem oktogonalen Baukörper (Baptisterium) mit einem

Kampanile von gleicher Form, ergänzt durch eine quader-

förmige angegliederte Sakristei von niedrigerer Höhe, in die

sich ein zurechtgestutzter Turmbau des Vorgängerbaus in-

tegrierte. Es ist vielleicht das Zusammenwirken aller Fakto-

ren dieses einmaligen Ensembles, vielleicht vergleichbar in

der Bedeutung mit dem Wiederaufbau der Coventry Cathe-

dral von Basil Spence, das es letzten Endes zum Symbol des

Neuanfangs werden liess und schliesslich dazu führte, dass

es auf keiner Berliner Grand Tour in Zeiten des Kalten Krie-

ges fehlen durfte.

Der schwarze Stahlbau erhielt eine vorgehängte naturbe-

lassene Betonwabenfassade sowie eine zusätzliche innere

Schale, um den lauten Verkehrslärm aus dem Kirchenraum

auszusperren. Bestanden noch beim Pforzheimer Musterbau

die Formsteine aus Anteilen von Kriegstrümmersteinen, zei-

gen sich nun bei der Gedächtniskirche die Betonfertigteile

2

1 Egon Eiermann,

Kaiser-Wilhelm-

Gedächtniskirche,

Berlin 1963

(saai, Südwestdeut-sches Archiv für Architektur und Ingenieurbau Karlsruhe, Werk-archiv Egon Eier-mann, Foto: Horstheinz Neuen-dorff, Baden-Baden)

2 Models und

Designer posieren

um 1960 vor der

Gedächtniskirche

(Foto: B. Pofahl)

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