(buch-rezension in der ausgabe 01/2015) - tredition€¦ · ane allman, ry cooder, blind willie...

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Richard Koechli: Dem Blues auf den Fersen. Roman. Tredition Verlag, Hamburg 2014. 200 Seiten. Fr. 43.90 DER KOECHLI-CODE Richard Koechli (52) ist ein preisgekrönter Blueser, jüngst gewann er den Filmpreis für die Musik zu «Der Goalie bin ig». Der Luzerner Mu- siker ist auch bereits bekannt für profunde Sach- bücher, ebenfalls preisgekrönt. Und jetzt ein Ro- man. Worum es geht? Den Blues natürlich. Wer da erzählt, als eine Art Reisebegleiter und Proto- kollführer, ist Autor Richard Koechli selber. Doch auch im Protagonisten Fred Loosli, einem weissen nordamerikanischen Blueser, lassen sich unschwer die Züge des Autors erkennen. Loosli ist auf dem Weg zu einem wichtigen Festi- valauftritt, als er in eine Krise gerät. Eine Krank- heit sucht ihn gar heim. Loosli will es ergründen, das wahre Wesen des Blues, das letzte Geheim- nis. «Es muss irgendeine tiefe Weisheit geben, einen Code, den die ganz grossen Bluesmusiker alle kennen oder kannten – und für sich behiel- ten.» Nichts mehr als die Wahrheit, wider die Klischees. Und was zum Teufel hat es wirklich auf sich mit der mythenumrankten blueshistori- schen Episode von einem gewissen Robert John- son am Scheideweg? So begleiten wir Loosli «auf seiner Expedition ins unergründliche Reich des Blues». Das geht nicht geradeaus oder chronologisch. Immer wie- der sind da Abschweifungen und Kommentare; Koechli, an Looslis Seite, referiert und reflektiert. Der eigentliche Erkenntnisweg wird begleitet von Ausführungen zur Bluesgeschichte und Mi- ni-Porträts von prägenden Musikernamen: J.J. Cale, Dylan, Mark Knopfler, Kurt Cobain, Keith Richards, Stevie Ray Vaughan, Eric Clapton, Du- ane Allman, Ry Cooder, Blind Willie Johnson, Charley Patton, Memphis Minnie, John Lee Hooker. Ein Dutzend Verweise bietet das Buch auf die musikalische Praxis, als multimedialer Service mit QR-Codes zu den entsprechenden Ton- und Bilddokumenten (auch via Homepage verlinkt: www.richardkoechli.ch). Der Text spart nicht mit Spitzen gegen Musik- business, Musikhochschulen und instrumenta- len «Spitzensport». Gegensätze zu «Mojo» oder der geforderten Inspiration. Was wirklich zählt, erfährt Loosli am Ende in einer grossen Traum- rede. Aus dem Himmel richtet der legendäre Ro- bert Johnson (1911–1938) sein Wort an den Blues-Adepten Loosli. Wird der Blues-Code ge- knackt? (hau) ERLESEN (Buch-Rezension in der Ausgabe 01/2015)

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Page 1: (Buch-Rezension in der Ausgabe 01/2015) - tredition€¦ · ane Allman, Ry Cooder, Blind Willie Johnson, Charley Patton, Memphis Minnie, John Lee Hooker. Ein Dutzend Verweise bietet

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ERLESEN

Giorgio Orelli: Un giorno della vita. Erzählungen / Racconti. Aus dem Italienischen von Julia Dengg. Limmat Verlag, Zürich 2014. 247 Seiten. Fr. 38.90

Pablo Haller: Leda. Langgedicht. Gonzo Verlag, Mainz 2014. 16 Seiten. Fr. 3.40

Richard Koechli: Dem Blues auf den Fersen. Roman. Tredition Verlag, Hamburg 2014. 200 Seiten. Fr. 43.90

DER KOECHLI-CODERichard Koechli (52) ist ein preisgekrönter

Blueser, jüngst gewann er den Filmpreis für die Musik zu «Der Goalie bin ig». Der Luzerner Mu-siker ist auch bereits bekannt für profunde Sach-bücher, ebenfalls preisgekrönt. Und jetzt ein Ro-man. Worum es geht? Den Blues natürlich. Wer da erzählt, als eine Art Reisebegleiter und Proto-kollführer, ist Autor Richard Koechli selber. Doch auch im Protagonisten Fred Loosli, einem weissen nordamerikanischen Blueser, lassen sich unschwer die Züge des Autors erkennen. Loosli ist auf dem Weg zu einem wichtigen Festi-valauftritt, als er in eine Krise gerät. Eine Krank-heit sucht ihn gar heim. Loosli will es ergründen, das wahre Wesen des Blues, das letzte Geheim-nis. «Es muss irgendeine tiefe Weisheit geben, einen Code, den die ganz grossen Bluesmusiker alle kennen oder kannten – und für sich behiel-ten.» Nichts mehr als die Wahrheit, wider die Klischees. Und was zum Teufel hat es wirklich auf sich mit der mythenumrankten blueshistori-schen Episode von einem gewissen Robert John-son am Scheideweg?

So begleiten wir Loosli «auf seiner Expedition ins unergründliche Reich des Blues». Das geht nicht geradeaus oder chronologisch. Immer wie-der sind da Abschweifungen und Kommentare; Koechli, an Looslis Seite, referiert und reflektiert. Der eigentliche Erkenntnisweg wird begleitet von Ausführungen zur Bluesgeschichte und Mi-ni-Porträts von prägenden Musikernamen: J.J. Cale, Dylan, Mark Knopfler, Kurt Cobain, Keith Richards, Stevie Ray Vaughan, Eric Clapton, Du-ane Allman, Ry Cooder, Blind Willie Johnson, Charley Patton, Memphis Minnie, John Lee Hooker. Ein Dutzend Verweise bietet das Buch auf die musikalische Praxis, als multimedialer Service mit QR-Codes zu den entsprechenden Ton- und Bilddokumenten (auch via Homepage verlinkt: www.richardkoechli.ch).

Der Text spart nicht mit Spitzen gegen Musik-business, Musikhochschulen und instrumenta-len «Spitzensport». Gegensätze zu «Mojo» oder der geforderten Inspiration. Was wirklich zählt, erfährt Loosli am Ende in einer grossen Traum-rede. Aus dem Himmel richtet der legendäre Ro-bert Johnson (1911–1938) sein Wort an den Blues-Adepten Loosli. Wird der Blues-Code ge-knackt? (hau)

WORTMÄCHTIGE LIEBESGESCHICHTE

Czeslaw Milosz, der 1911 in dem Dorf Šeteniai geboren wurde, das damals dem russischen Za-renreich angehörte und heute in Litauen liegt, erzählte einmal davon, wie er verfolgt werde von den Ereignissen und Empfindungen, die ihn täg-lich umgeben. Der polnische Literatur-Nobel-preisträger schrieb während seiner Warschauer Zeit im Jahr 1945: «Ich höre Stimmen, sehe Lä-cheln. Ich kann nichts/ Schreiben, weil fünf Hände/ nach meiner Feder greifen/ Und ihre Ge-schichte zu schreiben befehlen,/ Die ihres Le-bens und ihres Todes».

Im neuen, vom Luzerner Autor Pablo Haller publizierten Gedichtband «Leda» findet sich die-se Wesensart von Milosz. Die Dringlichkeit zum Schreiben schwingt in den Passagen bedeu-tungsstark mit. Sprachmächtig und drängend schildert Haller in seinem neuen Gedichtband – 2013 überzeugte der talentierte Jung-Autor mit dem Werk «Südwestwärts 1&2: Road-Poem» – die tragische Geschichte von Leda und ihrem Verehrer. Leda, die aus einer Immigrantenfami-lie aus Sarajevo stammt, verfällt dem Rausch(-gift) und endet schliesslich im frühzeitigen Tod. Fassungslos, aber wortgewaltig steht ihr Partner dem Verlust gegenüber: «leda, dein hals/ weiss wie der einer gänsin/ blassblau durchschim-mernde adern/ zwei klitzekleine stiche/ wie ba-byvampirzähnchen, leda/ weg! leda!/ der poe-tischste aller tode:/ ins wasser gehen/ ein unfall/ sagten sie/ ein unfall/ & ich kriegte mich kaum ein vor lachen – ein unfall!/ gottverdammt, leda!»

Die emotionale Wahrhaftigkeit, die das Ge-dicht antreibt, ist in jeder Passage spürbar. Wie in einer immensen Galerie wandelt der Leser durch Zeiten, Orte und Stimmungen. Das anspruchs-volle Werk, das von rasanten Sprints und einer zarten Tonalität gekennzeichnet ist, lebt von der inneren Spannung zwischen dem einfühlsamen Verehrer und Leda, die in dem Band direkt ange-sprochen wird. Der Band, der als Liebesgeschich-te, eindringliches Aperçu zweier Lebensschick-sale, und in Zeiten prominenter ausländerpoliti-schen Debatten auch als hochaktuelle politische Lyrik gelesen werden kann, besticht durch eine faszinierend feinsinnige Dichtkunst, die die Le-serseele durchrüttelt und nachhaltig zu verzau-bern weiss. (bb)

EINE ENTDECKUNGMit der Literatur aus dem Tessin ist das ja so

eine Sache. Wir kennen sie nicht. Oder zumin-dest kaum. Mit dem Tessin verbinden wir die Sonne, Milde im Winter, Filmfestival im Som-mer, ein bisschen Folklore, Risotto im grossen Kessel und ein Boccalino.

Der Limmat Verlag bemüht sich, Tessiner Lite-ratur auch dem deutschsprachigen Raum zu-gänglich zu machen. Und er hält mit dem Erzähl-band «Un giorno della vita» geradezu eine Ent-deckung bereit. Es lässt nämlich Giorgio Orelli, der gemeinhin fast ausschliesslich als – herausra-gender – Lyriker wahrgenommen wurde, auf Deutsch als Erzähler erkunden.

Giorgio Orelli, 1921–2013, lebte als Lyriker und Literaturwissenschafter in Bellinzona und lehrte italienische Literatur am Gymnasium in Bellinzona. Er beschäftigte sich intensiv mit Goethe und Goethe-Übersetzungen. 1988 er-hielt er den Grossen Schiller-Preis. Das Unwissen über ihn als Erzähler lag nicht zuletzt auch an Giorgio Orelli selber, hat er sich doch lange ge-weigert, die Erzählungen für eine Neuauflage oder eine Übersetzung freizugeben. Er wollte die Erzählsammlung überarbeiten und erweitern. Darum liegen sie erst jetzt, mehr als 50 Jahre nach ihrer Veröffentlichung und ein Jahr nach Orellis Tod, erstmals in deutscher Sprache vor. «Un giorno della vita», worin 13 Prosastücke, die ab den späten 1940er-Jahren entstanden sind, versammelt sind, macht als zweisprachige Aus-gabe die Originale wieder zugänglich. Dabei ist «Un giorno della vita», also ein Tag des Lebens, als Buchtitel Programm: Für Orelli enthielt jeder Tag das ganze Leben und sollte deshalb mit Auf-merksamkeit sich selbst und der Wirklichkeit gegenüber gelebt werden.

Was in Orellis Prosa wiederzufinden ist: Peti-tessen aus dem dörflich-ländlichen Alltag, wie er sie auch in seiner Lyrik zu beschreiben vermoch-te, Allzumenschliches, fein ziseliert. Das Harte, Unausweichliche wird nicht ausgespart, doch zugleich immer mit einer verstehenden Milde betrachtet, bisweilen gar mit wohlwollender Iro-nie. Meist sind junge Männer unterwegs, mit dem Auto, dem Fahrrad, zu Fuss. Sie sitzen am Fluss, gehen durch Quartiere, baden im See. Alte Frauen finden, die Männer sollten heiraten, und wissen meist auch bestens, wen. (rb)

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ERLESEN

Giorgio Orelli: Un giorno della vita. Erzählungen / Racconti. Aus dem Italienischen von Julia Dengg. Limmat Verlag, Zürich 2014. 247 Seiten. Fr. 38.90

Pablo Haller: Leda. Langgedicht. Gonzo Verlag, Mainz 2014. 16 Seiten. Fr. 3.40

Richard Koechli: Dem Blues auf den Fersen. Roman. Tredition Verlag, Hamburg 2014. 200 Seiten. Fr. 43.90

DER KOECHLI-CODERichard Koechli (52) ist ein preisgekrönter

Blueser, jüngst gewann er den Filmpreis für die Musik zu «Der Goalie bin ig». Der Luzerner Mu-siker ist auch bereits bekannt für profunde Sach-bücher, ebenfalls preisgekrönt. Und jetzt ein Ro-man. Worum es geht? Den Blues natürlich. Wer da erzählt, als eine Art Reisebegleiter und Proto-kollführer, ist Autor Richard Koechli selber. Doch auch im Protagonisten Fred Loosli, einem weissen nordamerikanischen Blueser, lassen sich unschwer die Züge des Autors erkennen. Loosli ist auf dem Weg zu einem wichtigen Festi-valauftritt, als er in eine Krise gerät. Eine Krank-heit sucht ihn gar heim. Loosli will es ergründen, das wahre Wesen des Blues, das letzte Geheim-nis. «Es muss irgendeine tiefe Weisheit geben, einen Code, den die ganz grossen Bluesmusiker alle kennen oder kannten – und für sich behiel-ten.» Nichts mehr als die Wahrheit, wider die Klischees. Und was zum Teufel hat es wirklich auf sich mit der mythenumrankten blueshistori-schen Episode von einem gewissen Robert John-son am Scheideweg?

So begleiten wir Loosli «auf seiner Expedition ins unergründliche Reich des Blues». Das geht nicht geradeaus oder chronologisch. Immer wie-der sind da Abschweifungen und Kommentare; Koechli, an Looslis Seite, referiert und reflektiert. Der eigentliche Erkenntnisweg wird begleitet von Ausführungen zur Bluesgeschichte und Mi-ni-Porträts von prägenden Musikernamen: J.J. Cale, Dylan, Mark Knopfler, Kurt Cobain, Keith Richards, Stevie Ray Vaughan, Eric Clapton, Du-ane Allman, Ry Cooder, Blind Willie Johnson, Charley Patton, Memphis Minnie, John Lee Hooker. Ein Dutzend Verweise bietet das Buch auf die musikalische Praxis, als multimedialer Service mit QR-Codes zu den entsprechenden Ton- und Bilddokumenten (auch via Homepage verlinkt: www.richardkoechli.ch).

Der Text spart nicht mit Spitzen gegen Musik-business, Musikhochschulen und instrumenta-len «Spitzensport». Gegensätze zu «Mojo» oder der geforderten Inspiration. Was wirklich zählt, erfährt Loosli am Ende in einer grossen Traum-rede. Aus dem Himmel richtet der legendäre Ro-bert Johnson (1911–1938) sein Wort an den Blues-Adepten Loosli. Wird der Blues-Code ge-knackt? (hau)

WORTMÄCHTIGE LIEBESGESCHICHTE

Czeslaw Milosz, der 1911 in dem Dorf Šeteniai geboren wurde, das damals dem russischen Za-renreich angehörte und heute in Litauen liegt, erzählte einmal davon, wie er verfolgt werde von den Ereignissen und Empfindungen, die ihn täg-lich umgeben. Der polnische Literatur-Nobel-preisträger schrieb während seiner Warschauer Zeit im Jahr 1945: «Ich höre Stimmen, sehe Lä-cheln. Ich kann nichts/ Schreiben, weil fünf Hände/ nach meiner Feder greifen/ Und ihre Ge-schichte zu schreiben befehlen,/ Die ihres Le-bens und ihres Todes».

Im neuen, vom Luzerner Autor Pablo Haller publizierten Gedichtband «Leda» findet sich die-se Wesensart von Milosz. Die Dringlichkeit zum Schreiben schwingt in den Passagen bedeu-tungsstark mit. Sprachmächtig und drängend schildert Haller in seinem neuen Gedichtband – 2013 überzeugte der talentierte Jung-Autor mit dem Werk «Südwestwärts 1&2: Road-Poem» – die tragische Geschichte von Leda und ihrem Verehrer. Leda, die aus einer Immigrantenfami-lie aus Sarajevo stammt, verfällt dem Rausch(-gift) und endet schliesslich im frühzeitigen Tod. Fassungslos, aber wortgewaltig steht ihr Partner dem Verlust gegenüber: «leda, dein hals/ weiss wie der einer gänsin/ blassblau durchschim-mernde adern/ zwei klitzekleine stiche/ wie ba-byvampirzähnchen, leda/ weg! leda!/ der poe-tischste aller tode:/ ins wasser gehen/ ein unfall/ sagten sie/ ein unfall/ & ich kriegte mich kaum ein vor lachen – ein unfall!/ gottverdammt, leda!»

Die emotionale Wahrhaftigkeit, die das Ge-dicht antreibt, ist in jeder Passage spürbar. Wie in einer immensen Galerie wandelt der Leser durch Zeiten, Orte und Stimmungen. Das anspruchs-volle Werk, das von rasanten Sprints und einer zarten Tonalität gekennzeichnet ist, lebt von der inneren Spannung zwischen dem einfühlsamen Verehrer und Leda, die in dem Band direkt ange-sprochen wird. Der Band, der als Liebesgeschich-te, eindringliches Aperçu zweier Lebensschick-sale, und in Zeiten prominenter ausländerpoliti-schen Debatten auch als hochaktuelle politische Lyrik gelesen werden kann, besticht durch eine faszinierend feinsinnige Dichtkunst, die die Le-serseele durchrüttelt und nachhaltig zu verzau-bern weiss. (bb)

EINE ENTDECKUNGMit der Literatur aus dem Tessin ist das ja so

eine Sache. Wir kennen sie nicht. Oder zumin-dest kaum. Mit dem Tessin verbinden wir die Sonne, Milde im Winter, Filmfestival im Som-mer, ein bisschen Folklore, Risotto im grossen Kessel und ein Boccalino.

Der Limmat Verlag bemüht sich, Tessiner Lite-ratur auch dem deutschsprachigen Raum zu-gänglich zu machen. Und er hält mit dem Erzähl-band «Un giorno della vita» geradezu eine Ent-deckung bereit. Es lässt nämlich Giorgio Orelli, der gemeinhin fast ausschliesslich als – herausra-gender – Lyriker wahrgenommen wurde, auf Deutsch als Erzähler erkunden.

Giorgio Orelli, 1921–2013, lebte als Lyriker und Literaturwissenschafter in Bellinzona und lehrte italienische Literatur am Gymnasium in Bellinzona. Er beschäftigte sich intensiv mit Goethe und Goethe-Übersetzungen. 1988 er-hielt er den Grossen Schiller-Preis. Das Unwissen über ihn als Erzähler lag nicht zuletzt auch an Giorgio Orelli selber, hat er sich doch lange ge-weigert, die Erzählungen für eine Neuauflage oder eine Übersetzung freizugeben. Er wollte die Erzählsammlung überarbeiten und erweitern. Darum liegen sie erst jetzt, mehr als 50 Jahre nach ihrer Veröffentlichung und ein Jahr nach Orellis Tod, erstmals in deutscher Sprache vor. «Un giorno della vita», worin 13 Prosastücke, die ab den späten 1940er-Jahren entstanden sind, versammelt sind, macht als zweisprachige Aus-gabe die Originale wieder zugänglich. Dabei ist «Un giorno della vita», also ein Tag des Lebens, als Buchtitel Programm: Für Orelli enthielt jeder Tag das ganze Leben und sollte deshalb mit Auf-merksamkeit sich selbst und der Wirklichkeit gegenüber gelebt werden.

Was in Orellis Prosa wiederzufinden ist: Peti-tessen aus dem dörflich-ländlichen Alltag, wie er sie auch in seiner Lyrik zu beschreiben vermoch-te, Allzumenschliches, fein ziseliert. Das Harte, Unausweichliche wird nicht ausgespart, doch zugleich immer mit einer verstehenden Milde betrachtet, bisweilen gar mit wohlwollender Iro-nie. Meist sind junge Männer unterwegs, mit dem Auto, dem Fahrrad, zu Fuss. Sie sitzen am Fluss, gehen durch Quartiere, baden im See. Alte Frauen finden, die Männer sollten heiraten, und wissen meist auch bestens, wen. (rb)

(Buch-Rezension in der Ausgabe 01/2015)