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ABHANDLUNGEN ZUR MUSIKWISSENSCHAFT Christian Dammann Bonjour Lolo! Französische Lohengrin-Parodien 1886–1900

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A B H A N D L U N G E N Z U R MUS I KW I S S E N S CHA F T

Christian Dammann

Bonjour Lolo! Französische Lohengrin-Parodien 1886–1900

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Abhandlungen zur Musikwissenschaft

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Christian Dammann

Bonjour Lolo!Französische »Lohengrin«-Parodien 1886–1900

J.B. Metzler Verlag

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Der AutorChristian Dammann studierte Dirigieren und Musikwissenschaft an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf sowie Romanistik an der RWTH Aachen und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 2007 ist er als Solorepetitor an der Deutschen Oper am RheinDüsseldorf/Duisburg tätig.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-476-04617-8ISBN 978-3-476-04618-5 (eBook)

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertungaußerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlagesunzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DEund ist Teil von Springer [email protected]

Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

J.B. Metzler, Stuttgart© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018

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für Annette und Casimir

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WAGNER (Richard). Ricaner quand on entend son nom,

et faire des plaisanteries sur la musique de l’avenir.

(Gustave Flaubert: Dictionnaire des idées reçues ou Catalogue des opinions chics)

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Inhalt IX

InhaltInhaltInhalt

1 Einleitung....................................................................................11.1 Grundlegendes zum Terminus „Parodie“ in der Musikwissenschaft .............11.2 Vorgehensweise in dieser Studie ...................................................................41.3 Forschungsstand.............................................................................................6

2 Aufführungs- und Übersetzungsgeschichte ..................................92.1 Die Lohengrin-Uraufführung in Weimar am 28. August 1850 und ihre

Rezeption in Frankreich .................................................................................92.2 Die Neuordnung der französischen Theaterlandschaft in den 1860er Jahren

als Chance für Wagner-Aufführungen .........................................................102.3 Nuitters erste Lohengrin-Übersetzung (1867)..............................................112.4 Carvalhos gescheiterte Projekte durch das Théâtre-Lyrique und durch das

Théâtre de la Renaissance (1867–1868).......................................................132.5 Der Weg zur ersten französischsprachigen Aufführung in Brüssel am 22.

März 1870 und deren Auswirkungen ...........................................................142.6 Der Deutsch-Französische Krieg und die Neuausrichtung der Künste in

Frankreich ....................................................................................................162.7 Wagners Reaktion auf den deutsch-französischen Krieg.............................182.8 Die französische Lohengrin-Rezeption abseits der Theater in den 1870er

Jahren ...........................................................................................................202.9 Die erste Lohengrin-Aufführung in Frankreich (1881) und die konkur-

rierende Übersetzung Wilders auf dem Konzertpodium (um 1880) ............212.10 Nationalistischer Widerstand gegen Wagner in Paris (1881/82) .................232.11 Nationalistischer Widerstand gegen Wagner in der Provinz (1883/84)

und die Übersetzung von Saint-Saëns..........................................................242.12 Die vereitelte Aufführung an der Opéra-Comique (1886),

Kritik an Nuitters Übersetzung ....................................................................252.13 Die Pariser Erstaufführung im Éden-Théâtre am 3. Mai 1887

mit Nuitters überarbeiteter Übersetzung ......................................................262.14 Projekte in der Provinz zwischen 1886 und 1890 ........................................302.15 Der Weg zur Premiere an der Opéra am 16. September 1891 .....................31

2.15.1 Abstimmung mit dem Ministerium...................................................312.15.2 Eine unerwartete szenische Aufführung des Brautgemaches am

30. Oktober 1890 ..............................................................................32

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X Inhalt

2.15.3 Der Triumph von Lohengrin in der Provinz und die weiterenVorbereitungen an der Opéra............................................................32

2.15.4 Trotz Kalkül: eine hitzige Premiere und ihre Nachwirkungen .........33

3 Charakteristika der beiden Lohengrin-Übersetzungen Nuitters .. 373.1 Die Behandlung der Eigennamen.................................................................373.2 Die Veränderung der Rollenbilder: Der christliche Gott .............................383.3 Die Veränderung der Rollenbilder: Elsa ......................................................383.4 Die Veränderung der Rollenbilder: Lohengrin ............................................393.5 Die Veränderung der Rollenbilder: König Heinrich ....................................40

4 Erste Parodien (1860–1876)....................................................... 434.1 Die drei Pariser Konzerte Wagners in der Kritik der Presse (1860) ............434.2 Offenbachs parodistische Kritik der drei Konzerte (1860) ..........................454.3 Parodistische Reaktionen auf Tannhäuser (1861/62) ..................................474.4 Weitere Anspielungen auf Wagner bei Offenbach und Hervé und erste

parodistische Anspielungen auf Lohengrin in den 1860er Jahren................504.5 Parodien auf die Pariser Erstaufführung von Rienzi (1869)

und die ersten Bayreuther Festspiele (1876) ................................................52

5 Lohengrin à l’Alcazar (1886) ...................................................... 545.1 Entstehungs- und Aufführungsgeschichte....................................................545.2 Handlung......................................................................................................565.3 Musik ...........................................................................................................58

5.3.1 1. Tableau: Die Vorstellung des Königs ...........................................595.3.2 2. Tableau: Balkonarie und Zug zum Münster .................................625.3.3 3. Tableau: Brautlied und Brautgemach ...........................................66

5.4 Kommentar ..................................................................................................70

6 Loiehencrin (1891) ..................................................................... 73

7 Lohengrin à l’Eldorado (1891) .................................................... 757.1 Entstehungs- und Aufführungsgeschichte....................................................757.2 Handlung......................................................................................................777.3 Musik ...........................................................................................................80

7.3.1 1. Tableau .........................................................................................807.3.2 2. Tableau .........................................................................................83

7.4 Kommentar ..................................................................................................847.5 Lohengrin-Parodien in Pariser Revuen (1891/92)........................................86

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Inhalt XI

8 Maître Lohengrin (1892)............................................................ 88

9 Le petit Lohengrin (1892) ........................................................... 909.1 Entstehungs- und Aufführungsgeschichte....................................................90

9.1.1 Rezension und Verbreitung ..............................................................919.2 Handlung......................................................................................................929.3 Musik ...........................................................................................................94

9.3.1 Nummer 15: Air du Toréador – Lohengrins Warnung .....................989.3.2 Nummer 17: La Boiteuse – Das Frageverbot....................................999.3.3 Nummer 30: Comica Serenada – Das Brautgemach ......................102

9.4 Kommentar ................................................................................................1079.5 Lohengrin, Chansonnette comique.............................................................112

10 Eine Lohengrin-Parodie für Marionetten aus Angers (1892)...... 114

11 Lolo-Beau-Grain (1892)............................................................ 115

12 Lyoner Guignol-Parodien auf Lohengrin ................................... 11712.1 Entstehungs- und Aufführungsgeschichte..................................................11712.2 Lohengrin-Rousset .....................................................................................12012.3 Lohengrin-Tardy ........................................................................................12112.4 Lohengrin-D.-Vlentin ................................................................................12412.5 Lohengrin-Valentin....................................................................................126

12.5.1 Handlung ........................................................................................12612.5.2 Musik ..............................................................................................13212.5.3 Kommentar .....................................................................................144

13Monsieur Lohengrin (1896)...................................................... 14613.1 Entstehungs- und Aufführungsgeschichte..................................................146

13.1.1 Monsieur Lohengrin in Paris ..........................................................14613.1.2 Monsieur Lohengrin in Toulouse ...................................................15113.1.3 Monsieur Lohengrin in Brüssel ......................................................15113.1.4 Pläne für Monsieur Lohengrin in Aix-en-Provence........................15313.1.5 Monsieur Lohengrins Giro d’Italia .................................................153

13.2 Handlung....................................................................................................154

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XII Inhalt

13.3 Musik .........................................................................................................16013.3.1 1. Akt ..............................................................................................16113.3.2 2. Akt ..............................................................................................16913.3.3 3. Akt ..............................................................................................176

13.4 Kommentar ................................................................................................17713.5 Paris qui roule (1897)................................................................................17913.6 Das Medium Film: Neue Möglichkeiten zum kreativen Umgang mit

Wagners Musik und zur Parodie ................................................................181

14 Parodierezeption – Das Café-Concert und sein Publikum.......... 183

15 Zusammenfassung................................................................... 18815.1 Die Auswirkungen der Aufführungsgeschichte auf die Parodien ..............18815.2 Die Sexualisierung der Handlung ..............................................................18915.3 Die Auswirkungen des französischen Laizismus .......................................19115.4 Le roi Henri: Repräsentant der Dritten Republik statt deutscher König ....19315.5 Die Anspielungen auf Wagner ...................................................................19415.6 Die francitéWagners .................................................................................195

16Übersichtstafeln ...................................................................... 19716.1 Zeittafel französischer Lohengrin-Parodien...............................................19716.2 Nicht-französische Lohengrin-Parodien ....................................................20316.3 Gegenüberstellung der Handlung von Lohengrin und den Parodien .........207

17 Literaturverzeichnis................................................................. 212

18Abbildungsverzeichnis und -nachweis...................................... 229

19 Personenregister ..................................................................... 231

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Abkürzungen und Konventionen XIII

Abkürzungen und KonventionenAbkürzungen und KonventionenEA ErstaufführungKA KlavierauszugLib LibrettoLV Lohengrin-ValentinML Monsieur LohengrinN1 1. Lohengrin-Übersetzung von Charles Nuitter (1867)N2 2. Lohengrin-Übersetzung von Charles Nuitter (1887)PL Le petit LohengrinUA UraufführungWA WiederaufnahmeZlib Zensurlibretto

Bei Verweisen auf Richard Wagners Lohengrin wird auf die Erwähnung des Opernti-tels verzichtet und nur der Akt (römisch beziffert) und die Szene bzw. die Taktzahl(jeweils arabisch beziffert) angegeben, z. B. I, 1 = 1. Akt,1. Szene und I, T. 1 = 1. Akt, 1. Takt.

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1.1 Grundlegendes zum Terminus „Parodie“ in der Musikwissenschaft 1

1 Einleitung1 Einleitung

1.1 Grundlegendes zum Terminus „Parodie“ in derMusikwissenschaft

1.1 Grundlegendes zum Terminus „Parodie“ in der MusikwissenschaftFür das nahezu zeitgleich mit der Entstehung der französischen Oper aufkommendePhänomen, auf diese neue Kunstform in einer sie verspottenden Art und Weise miteinem eigenen Bühnenstück zu reagieren, fand von Anfang an der Terminus „Parodie“Verwendung. Die Erhabenheit und Größe der Götter und Helden der mythologischenStoffe der tragédies en musique auf ein menschliches Maß zurückzuführen und dabeivor allem ihre charakterlichen Schwächen herauszukehren, inspirierte Theatermacherund Komödianten zu scharfzüngigen, schlagfertigen und anzüglichen Erwiderungen.Ihre Neuschöpfungen bedienten das Bedürfnis nach Unterhaltung gemäß dem jeweili-gen Zeitgeschmack und befriedigten – mitunter auf einem schmalen Pfad zwischenSchicklichkeit und Krudität lavierend – eine Schaulust, die Zuschauer aller gesell-schaftlichen Schichten zu ihnen trieb. Auch andere Formen des französischen Musik-theaters wie pastorale oder ballet und später auch die aus den Parodien hervorgegan-gene opéra-comique wurden zur Zielscheibe und zogen Stücke nach sich, die ihrerseitswieder zur Aufführung kamen und so dem Kenner des Originals mit allen Mitteln desTheaters das komische Potential der Vorlage präsentieren sollten. Der Vorgang desParodierens erstreckte sich dabei nicht nur auf den Text und die Musik, sondern auchauf alle szenischen Komponenten wie Bühnenbild, Requisiten, Kostüme, Maske,Lichteffekte und anderes mehr.

Es mag in dieser Vielfalt begründet sein, dass die Musikwissenschaft – und zwaranscheinend im Besonderen die deutschsprachige Musikwissenschaft – Schwierigkei-ten hat, den Fachausdruck „Parodie“ auch auf diese Stücke anzuwenden.1 Für sie be-

1 Die apodiktische Haltung wird dadurch verstärkt, dass fünf große deutschsprachige Lexika le-diglich zwei verschiedene Artikel zum Lemma „Parodie“ aufweisen und somit einem Autor undeinem Autorenpaar ein weitreichender Einfluss zukommt. Ludwig Finscher und Georg vonDadelsen verfassten für die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG) von 1962 den ArtikelParodie und Kontrafaktur, der nur leicht überarbeitet – und mit Einschleichung einer falscherOrthographie – in die MGG2 übernommen wurde und Gernot Gruber und Rainer Cadenbachteilten sich die Aufgabe 1981 bei ihrem Artikel Parodie für Das große Lexikon der Musik, dersowohl 1998 in das Metzler Sachlexikon Musik als auch 22005 in das ebenfalls bei J. B. Metzlererschienene Musiklexikon übernommen wurde. Die Lehrmeinung zur Parodie formen also imdeutschsprachigen Raum bis heute Texte, die wie im Falle von Finscher und von Dadelsen über50 Jahre sowie wie im Falle von Gruber und Cadenbach fast 40 Jahre alt sind. Aber auch andern-orts ist es um eine weitgefasste Anwendung des Parodiebegriffs in Bezug auf musikalische Sach-verhalte mit einer nicht-ernsten Intention schlecht bestellt. In Werner Brauns Artikeln Parodieim Riemann Musiklexikon von 1967 und im Riemann Musik Lexikon (aktualisierte Neuauflagein 5 Bänden) von 2012 wird die satirische Komponente des Begriffs lediglich gestreift, bei Jo-chen Briegers Artikel Parodie/Kontrafaktur für das Lexikon der systematischen Musikwissen-schaft von 2010 dagegen völlig ausgeblendet. Von Opernparodien ist in diesen drei Einträgenkeine Rede.

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2 1 Einleitung

deutet „Parodie“ im Sinne der antiken Terminologie „die Übertragbarkeit von Melo-dien und die Komposition von Melodien nach älteren Vorbildern“2, wie sie vor allemin der Vokalpolyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts gepflegt wurde. „Parodieren“ istdieser Auffassung nach die „ernste, umbildende und weiterführende Anknüpfung aneine geprägte Aussage“3 und nicht die „komische Veränderung geistiger Aussagen un-ter Wahrung der ursprünglichen Aussageform“4. Abweichend von dem allgemeinenSprachgebrauch und der Applizierung des Terminus „Parodie“ in anderen Geisteswis-senschaften, legt die deutschsprachige Musikwissenschaft nicht nur Wert auf die Un-terscheidung zwischen ernster und komischer Parodie, sondern erklärt darüber hinausdie zweitgenannte für sekundär und implizit für weniger relevant und minderwertig.Eingeräumt wird allerdings, dass seit dem 17. Jahrhundert „Parodie“ mehr und mehrin jenem allgemeineren Sinne verstanden worden ist, und ebenso wenig wird überse-hen, dass die komische Parodie insbesondere in der „Travestierung von Opern“5 ihrvornehmliches Betätigungsfeld gefunden hat.

Von den ca. 18 Textspalten des Artikels „Parodie“ in der MGG2 ist aber nur weni-ger als eine der Opernparodie gewidmet und darin wird kaum mehr als eine unver-knüpfte Aneinanderreihung von Fakten geboten, die dem komplexen Sachverhalt dem-entsprechend viel schuldig bleibt. Französische Lexika liefern diesbezüglich zwarauch nicht mehr Informationen, nehmen aber von vornherein eine andere Sichtweiseein. Die Definition der Parodie in der Encyclopédie de la musique von 1961 erwähntdie vokalpolyphonen Parodieverfahren des 15. und 16. Jahrhunderts mit keinemWort,sondern entfaltet den Begriff nahezu ausschließlich gemäß der allgemein üblichenAuffassung: „Dans l’acceptation commune, le mot parodie est associé à une idée desatire, de caricature“6. Auch Barthélemy/Schneider und Fauquet fassen die Parodie alsUmwandlung eines literarischen oder musikalischen Textes auf, der üblicherweise mitder Intention verbunden ist, die ernste Aussage der Vorlage ins Heiter-Komische zudrehen.7 Der NGroveD zeichnet sich durch eine distanziertere Haltung aus und widmet– um an der Terminologie derMGG festzuhalten – ernster und heiterer Parodie jeweilseinen eigenen Eintrag, wobei der Darstellung der ernsten mit ca. 3 Spalten ungefährdoppelt so viel Raum zukommt wie derjenigen der heiteren.8 Das Harvard Dictionaryof Music (42003) hält zwar nur einen kurzen Eintrag zu diesem Begriff bereit, jedochstellt es die Ausführungen zu Opernparodien an den Anfang.

Es wäre sicherlich lohnend, diese Stichproben genauer zu untersuchen und zu hin-terfragen, wieso dem Leser aus den deutschsprachigen Lexika beinahe ein Tonfall der

2 MGG2, Sachteil Bd. 7, [Sp.] 1394.3 Ebd.4 Ebd.5 Ebd.6 Seydoux 1961, 394.7 Barthélemy/Schneider 1992, 530 und 532. Fauquet 2003g, 939f.8 Vgl. The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Second Edition (NGroveD2), der – wie

auch die MGG2 – die Artikel aus der ersten Edition übernimmt. Zu den großen Lexika, die keineigenes Lemma zur „Parodie“ aufweisen, zählen beispielsweise das Handwörterbuch der musi-kalischen Terminologie von 1971–2006, The New Oxford Companion to Music von 1983 undder Dizionario enciclopedio della musica e dei musicisti von 1988.

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1.1 Grundlegendes zum Terminus „Parodie“ in der Musikwissenschaft 3

Entrüstung entgegenschlägt, wenn dort die als geradezu fehlerhaft deklarierte Anwen-dung des Terminus „Parodie“ auf ironisch intendierte Kompositionen thematisiertwird. Steckt dahinter die lange Zeit tradierte Verachtung von Werken minderer Quali-tät aus einem unterhaltenden Genre, die es beispielsweise mit den Messen eines Jo-squin natürlich nicht im Entferntesten aufnehmen können (es aber auch gar nicht wol-len)?

Die grundsätzlichen kompositorischen Vorgehensweisen jedenfalls sind identisch:Eine Opernparodie ohne Umtextierung und Umkomposition ist wohl kaum denkbar.Auch was die Quantität der Stücke und deren Aufführungszahlen betrifft, führte dieOpernparodie alles andere als ein Schattendasein, florierte sie doch kontinuierlich bisins 20. Jahrhundert hinein gewissermaßen überall dort, wo auch Opern aufgeführt wur-den. In der jüngsten Vergangenheit sind – namentlich in Frankreich – zur Opernparo-die vermehrt musikwissenschaftliche Untersuchungen erschienen, die sich allerdingsvor allem mit dem 18. oder frühen 19. Jahrhundert befassen und zumeist nur Einzelas-pekte herausgreifen.9 Auch sie stellen den Gebrauch des Terminus „Parodie“ für dieseStücke nicht in Frage, sodass er auch im weiteren Verlauf dieser Studie zur Anwen-dung kommen wird, zumal auch in Bezug auf Richard Wagner in der Literatur offen-sichtlich Konsens darüber besteht, die Stücke, die als Reaktion auf seine Bühnenwerkeentstanden sind, als Parodien bzw. – die französische Terminologie ist da präziser –als parodies dramatiques d’opéra zu bezeichnen. Es sei betont, dass reine Literatur-dramen sowie ausschließlich lesend zu rezipierende Mischformen aus Text und Bildo. ä., die in Frankreich zwar ebenfalls die Gattungsbezeichnung „Parodie“ tragen kön-nen, keine parodie dramatique d’opéra und demzufolge nicht Gegenstand dieser Un-tersuchung sind. Ebenso kann aus empirischen Gründen ein musikloses Theaterstückals parodistische Reaktion auf eine Oper ausgeschlossen werden, da Theaterauffüh-rungen ohne jegliche Musik im 19. Jahrhundert nahezu undenkbar waren und eineOpernparodie ohne Musik ein geradezu absurdes Phänomen wäre, das erst noch nach-gewiesen werden müsste.

Eine sinnvolle Binnendifferenzierung des Terminus parodie dramatique d’opérakann über eine Reihe von Begriffspaaren von sich ausschließenden Einzelkomponen-ten erfolgen. Erstens ist in Bezug auf den Text einer parodie dramatique d’opéra zuhinterfragen, ob sie den ganzen Handlungsverlauf des parodiertenWerkes –wenn auchmit Auslassungen – oder nur eine einzelne Episode herausgreift, ob also eine parodiedramatique d’opéra intégrale oder eine parodie dramatique d’opéra partielle vorliegt.Daran anknüpfend wäre zu klären, ob die Parodie auch Momente enthält, in denen dieparodierte Oper, ein bestimmter Zweig des Musiktheaters oder gar die Gattung Operim weitesten Sinne kritisch reflektiert wird. Sofern diese Komponente enthalten ist,bietet es sich an, von einer parodie dramatique d’opéra intégrale de réflexion bzw.parodie dramatique d’opéra partielle de réflexion zu sprechen. Schließlich bleibt hin-sichtlich des Textes zu klären, ob die Parodie eigenständig oder Teil eines größerenWerk- und Aufführungskontextes, also beispielsweise eines Pasticcios, ist und manzwischen einer parodie dramatique d’opéra intégrale bzw. partielle (de réflexion) in-dépendante bzw. intégrée differenzieren muss.

9 Vgl. beispielsweise Beaucé 2013, le Blanc/Schneider 2014, Beaucé/Rubellin 2015.

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4 1 Einleitung

Zweitens ist hinsichtlich der Darstellung des Stückes zu unterscheiden, ob die Pa-rodie Menschen auf der Bühne zeigen will oder ob mit Puppen gearbeitet wird undfolglich eine parodie dramatique d’opéra pour acteurs humains bzw. pour marionnet-tes vorliegt.10

Drittens müssen noch die Hauptaspekte der Rezeption von Parodien abgegrenztund die Stücke danach eingeteilt werden, ob sie lediglich in einem privaten Rahmenoder öffentlich und somit prinzipiell zugänglich für jedermann aufgeführt wurden, wasdie Termini parodie dramatique d’opéra pour un auditoire privé bzw. public erfassen.Zwar sind Parodien oft stärker als andere Bühnenwerke an einen bestimmten Auffüh-rungsort und demzufolge an ein in lokaler Hinsicht bestimmtes Publikum gebunden,doch nicht selten werden auch diese Stücke an anderen Orten nachgespielt, was zu-meist Eingriffe in den Text erfordert, um an dem anderen Theater, in der anderen Stadt,in der anderen Region oder sogar in dem anderen Land (mit gleicher oder möglicher-weise fremder Sprache) verstanden zu werden. Diese Parodien sollen als parodie dra-matique d’opéra locale bzw. itinérante bezeichnet werden.

1.2 Vorgehensweise in dieser Studie1.2 Vorgehensweise in dieser StudieDie französischen Lohengrin-Parodien aus den 1880er und 1890er Jahren sind zwarnicht die erste Reaktion dieser Art auf eine Oper Wagners bzw. auf seine Musik oderseine Person jenseits des Rheins, aber es bietet sich an, sie unabhängig von Parodienauf seine anderen Werke zu untersuchen, da sie in besonderer Weise mit der sehr un-gewöhnlichen französischen Wagnerrezeption verbunden sind. Deswegen wird zuerstdie Aufführungsgeschichte von Lohengrin in Frankreich dargestellt, die sich über meh-rere Jahrzehnte vor allem durch nicht verwirklichte Projekte auszeichnet. ÄsthetischeVorbehalte und ein durch die Kriegsniederlage von 1870/71 gekränkter Nationalstolzstehen szenischen Aufführungen seinerWerke imWege. Landesweit bestand unter denTheaterdirektoren unausgesprochenerweise Einigkeit dahingehend, dass angesichts ei-ner stagnierenden Weiterentwicklung des französischen Opernschaffens und des gro-ßen Erfolges, der Wagners Musikdramen international beschieden war, der Lohengrindas geeignete Werk wäre, um die für nötig befundene Erneuerung des Repertoires ein-zuleiten. Hierfür bedurfte es natürlich zunächst einer sangbaren Übersetzung, dennauch wenn es Überlegungen zu Aufführungen in Originalsprache oder auf Italienischgegeben hat, war eine dauerhafte Verankerung des Werkes im französischen Opern-betrieb nur in der Landessprache zu erzielen. Aufführungs- und Übersetzungsge-schichte sind daher sinnvollerweise nicht voneinander zu trennen, sondern miteinanderverzahnt darzustellen. Das Wissen um ihre wechselseitige Beeinflussung ist für dasVerständnis der Parodien von eminenter Bedeutung, da die Begleitumstände der Auf-führung von Lohengrin in die Parodien miteingeflossen sind und diese nicht alle aufder gleichen Übersetzung basieren. Die wichtigsten Eigenheiten und Unterschiede der

10 Opernparodien für Marionetten sind in Frankreich ab 1726 nachzuweisen (vgl. Beaucé 2013,33).

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1.2 Vorgehensweise in dieser Studie 5

beiden Übersetzungen von Charles Nuitter – auf ihnen beruhen die Parodien – werdendeshalb im Anschluss daran zusammengetragen.

Da sich oft schon mit der Bekanntgabe eines Aufführungsvorhabens Widerständedagegen formierten, entwickelten die Theaterdirektoren Strategien, um Protestkund-gebungen und gewaltsame Ausschreitungen zu verhindern, was allerdings mehr als einMal misslang. Erst 1891 wendete sich das Blatt und Wagner gehörte bis zum ErstenWeltkrieg zu den meistgespielten Komponisten auf französischen Bühnen. Auch dieneun Bühnenwerke, die neben Lohengrin heute den Kanon der Bayreuther Festspielekonstituieren, begeisterten das Publikum landesweit und zogen ihrerseits weitere Pa-rodien nach sich, die nicht Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit sind und zu einemspäteren Zeitpunkt Thema einer eigenen Studie werden sollen. Allerdings wird denersten in Frankreich nachweisbaren parodistischen Reaktionen ein eigenes Kapitel ge-widmet, denn schon seit Mitte des Jahrhunderts hafteten Wagner und seiner Musikvorgefasste Etiketten an, die geradezu leitmotivartig auch die parodistische Wagner-Rezeption einschließlich der Lohengrin-Parodien durchziehen. Sorgten bereits dieNeuartigkeit seiner Tonsprache, seine theoretischen Schriften und sein exaltierter Cha-rakter in den 1850er Jahren für Diskussionsstoff, so riefen spätestens seine Auftritteauf einer Pariser Bühne als Dirigent seiner eigenen Kompositionen die Parodisten aufden Plan.

Im Analyseteil werden schwerpunktmäßig fünf Parodien (Lohengrin à l’Alcazar,Lohengrin à l’Eldorado, Le petit Lohengrin, Lohengrin-Valentin und Monsieur Lo-hengrin) in chronologischer Reihenfolge untersucht, wobei die Zugänglichkeit desMaterials die Auswahl bestimmt hat. Von den genannten Stücken konnte nämlich zu-mindest ein Zensurlibretto aufgefunden werden, aus dem sich Rückschlüsse auf dieMusik ziehen lassen. Die Archives nationales de France verwahren die Zensurlibrettivon Lohengrin à l’Alcazar und Lohengrin à l’Eldorado und die Bibliothèque royalede Bruxelles besitzt ein Exemplar vor Le petit Lohengrin. Das Manuskript von Lohen-grin-Valentin befindet sich im Institut International de la Marionnette in Charleville-Mézières und die übrigen Quellen zu den Guignol-Stücken (Vers de Guignol11 vonRousset, Tardy und Valentin sowie das Zensurlibretto von Lohengrin-Tardy) habensich in den Beständen des Centre de documentation des musées Gadagne in Lyon er-halten. Lediglich von Monsieur Lohengrin gibt es ein vollständiges gedrucktes Text-buch – nur als Leihmaterial aus Großbritannien zu beziehen – und einen gedrucktenKlavierauszug.

Die einzelnen Analysen gliedern sich in jeweils vier Unterkapitel: Entstehungs-und Aufführungsgeschichte der betreffenden Parodie, Inhaltsangabe, Analyse der Mu-sik, Kommentar. Zuerst ermöglichen es hauptsächlich Ankündigungen und Rezensio-nen der Presse, mehr über die Aufführungskontexte (gleichzeitige oder zeitnahe Lo-hengrin-Aufführungen in derselben Stadt, Vorstellungsanzahl und Einbindung der Pa-rodie in den Spielbetrieb des Theaters) zu erfahren. Daran schließt sich eine Inhaltsan-gabe an, die strikt die Szenenfolge der Parodie wiedergibt. In der eigentlichen Analysewerden die musikalischen Momente der Parodie herausgegriffen und Lohengrin ge-genübergestellt. Wo keine Angaben zur Musik vorliegen, können oftmals aus der

11 Zur Begriffsklärung Vers de Guignol siehe Fußnote 349.

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6 1 Einleitung

Struktur des in Versen verfassten Textes Rückschlüsse gezogen werden, ob an derfraglichen Stelle eine neukomponierte oder bereits bestehende Musik – sei sie vonWagner oder anderer Hand – erklungen sein könnte. In einem Kommentar werdenschließlich weitere Aspekte herausgestellt, die bei der bloßen Fokussierung auf dieMusiknummern durch das Raster fallen würden, aber wichtige Erkenntnisse über diejeweilige Parodie und die Intentionen ihrer Autoren liefern, die im Abgleich mit denanderen Stücken vielfältige Parallelen erkennen lassen.

In einem eigenen Kapitel werden abschließend die Erkenntnisse aus den Auffüh-rungskontexten der Parodien daraufhin befragt, wer eigentlich diese Stücke rezipierthat und welche Tragweite diese Rezeption gehabt haben mag.

1.3 Forschungsstand1.3 Forschungsstand1887, also vier Jahre nach Wagners Tod, erschien mit Richard Wagner jugé en Francevon Georges Servières eine der ersten Untersuchungen über Wagner und Frankreich,die vor allem auf einer kritischen Auswertung von Quellen basiert und die Ereignissevon Wagners erstem Parisaufenthalt von 1839 bis 1842 bis einschließlich 1886 behan-delt und auch mit Lohengrin à l’Alcazar auf die wohl erste französische parodie dra-matique d’opéra intégrale bezüglich Lohengrin hinweist.12 Die Rezeption Wagners inFrankreich ist aber nicht nur schon früh nach wissenschaftlichenMaßstäben untersuchtworden, sondern auch kontinuierlich und hat eine Fülle von Literatur hervorgebracht,von der man annehmen könnte, sie hätte alle Aspekte zur Genüge ausgeschöpft. Aberselbst nach den zahlreichen Neuerscheinungen anlässlich des Jubiläumsjahrs 2013 hatdas Interesse an diesem besonderen deutsch-französischen Verhältnis bis heute nichtnachgelassen wie beispielsweise an Mrozowicki 2016 zu sehen ist: Seine Untersu-chung umfasst 1241 Seiten in zwei Bänden und beschränkt sich dabei gerade einmalauf die Jahre von 1883 bis1893.

Der Forschungsstand hinsichtlich der geplanten und verwirklichten Lohengrin-Aufführungen in Frankreich zwischen 1850 – dem Jahr der Uraufführung in Weimar– und 1891 – dem Jahr der ersten Aufführungen in der französischen Provinz und ander Opéra de Paris (im weiteren Verlauf kurz Opéra genannt)– zeichnet trotz einerFülle von Veröffentlichungen kein umfassendes Bild nach, weil oftmals der Fokus nurauf die großen Vorhaben der Pariser Theater gelegt wird und die kleineren Städte außerAcht gelassen werden. Aber selbst die näheren Begleitumstände der Premiere an derOpéra am 16. September 1891 – ein Meilenstein der französischen Musikgeschichte –sind noch immer nicht hinreichend aufgearbeitet worden. Auch in dieser Studie müs-sen diesbezüglich viele Fragen offenbleiben, aber die anscheinend erstmals herange-

12 Grand-Carteret 1892 erwähnt außerdem Loiehencrin und Lohengrin à l’Eldorado (vgl. ebd.328f.).

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1.3 Forschungsstand 7

zogenen handschriftlichen Aufzeichnungen Nuitters aus diesen Tagen (Fonds Nuit-ter/149 Pièce 3 (4ff), verwahrt in der Bibliothèque nationale de France) liefern zumin-dest punktuell neue Einsichten.13

Um Untersuchungen zu den französischen Lohengrin-Übersetzungen ist es eben-falls schlecht bestellt, denn offensichtlich sind sie noch nicht einmal ansatzweise ana-lysiert worden, obwohl sie zahlenmäßig gering im Vergleich zu Übersetzungen ande-rer Opern Wagners sind. Überhaupt sind die Übersetzungen der Bühnenwerke Wag-ners in die Sprache Molières nur in Einzeldarstellungen von Aufsatzlänge abgehandeltworden, die zwar ihre Meriten haben, dem Umfang und der Komplexität des Gegen-standes jedoch nur sehr bedingt gerecht werden können.14

Eine systematische Aufstellung und Auswertung der ersten parodistischen Reakti-onen in Form von parodies dramatiques d’opéra auf Wagner als Person und auf seineMusik ist anscheinend gleichfalls noch nicht in Angriff genommen worden. Zwar nen-nen insbesondere Wild/Kahane 1983 einige Revuen und eigenständige Parodien ausden 1860er Jahren, aber sie werden nicht zu den unter anderem von Offenbach undHervé in ihren Stücken enthaltenen textlichen und musikalischen Seitenhieben aufWagner in Beziehung gesetzt. Offenbachs Sinfonie de l’avenir als wohl erste franzö-sische Parodie in dramatischer Form ist in ihrer gedruckten Fassung hinlänglich be-kannt, aber diese weicht stark von der ursprünglichen bei der Zensurbehörde einge-reichten Erstfassung ab, von deren Existenz die Forschung bisher anscheinend keineKenntnis hatte.

Schließlich muss auch der Gegenstand der parodies dramatiques d’opéra in Bezugauf Wagner im nicht-deutschsprachigen Bereich als weitgehend unerforscht bezeich-net werden. De Courville 1923 dürfte zwar einer der frühesten Beiträge über französi-sche Wagner-Parodien sein, allerdings decken sich die von ihm untersuchten Stückenicht mit der hier zuvor aufgestellten Definition einer parodie dramatique d’opéra,denn er bespricht die von Dietsch vertonte französische Übersetzung des FliegendenHolländers und Lecocqs Lesedrama Le sabre de mon père – eine rein literarische Pa-rodie auf Die Walküre. Den Tannhäuser-Parodien widmet Ferran 1951 einige Zeilenin seinem Aufsatz, aber eine eigenständige fundierte Auseinandersetzung mit diesenStücken liefert erst Rowden 2017. Die aus einer literaturwissenschaftlichen Perspek-tive heraus verfasste Arbeit zu deutschsprachigen Wagner-Parodien von AndreaSchneider aus dem Jahr 1996 hat offensichtlich in den zwanzig Jahren nach ihrem Er-scheinen im deutsch-österreichischen Raum kaum zu einer weiteren Vertiefung ange-regt, geschweige denn andernorts großes Interesse geweckt, nachzuforschen, wie esum dieses Repertoire im eigenen Land, also beispielsweise in Frankreich, England,

13 Zu ausführlichen Darstellungen der Aufführungsgeschichte von Wagner und insbesondere desLohengrin in Frankreich vgl. Eckart-Bäcker 1965, Pistone 1980, Huebner 1981, Walsh 1981,Turbow 1984, Bernard 1986, Giesberg 1987, Brody 1988, 21–59, Patureau 1991, Chauvin 1998,Huebner 1999a, 11–21, Schwartz 1999a und 1999b, Barioz 2002, Leblanc 2005, Gramma-tico 2010, Carneloup 2011, du Quenoy 2011, Auclair 2013, Ellis 2013, Mrozowicki 2013, Si-mon 2015, Mrozowicki 2016.

14 Zu den Übersetzungen von Wagners Operntexten ins Französische vgl. Jam/Loubinoux 1999,Gouiffès 2004, Pistone 2005, Schneider 2009, Candoni 2010,Mrozowicki 2014, Schneider 2015,Schneider 2016.

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8 1 Einleitung

den USA, Australien, Italien, Spanien und Dänemark, bestellt gewesen sein mag, Län-dern, in denen es zumindest eigenständige Lohengrin-Parodien gegeben hat (siehe Ka-pitel 16.2).15 Hinweise auf dramatische Parodien seiner Opern fehlen zwar in der wis-senschaftlichen Literatur über Richard Wagner nicht gänzlich, aber es ist zu konstatie-ren, dass diese vor allem instrumentalisiert werden, um den Gedankengang des Textesaufzulockern und den Leser mit einem ihm bis dato hoffentlich unbekannten Kuriosumzu überraschen. Eine ernsthafte Problematisierung und Auseinandersetzung mit die-sem ausgesprochen komplexen Thema findet nicht statt und man begnügt sich allent-halben damit, ungeprüft und unsystematisch aus leicht erreichbarer Literatur einigeklangvolle Werktitel zu übernehmen und diese für sich sprechen zu lassen, statt neueEinsichten zu gewinnen. Auch die Einträge in aktuellen Wagner-Lexika (Southon2010b, Frey 2012, Groote 2012 und Baker 2013) zeichnen sich durch eine Vermi-schung von literarischen, zeichnerischen, musikalischen und filmischen Reaktionen insatirischer, karikaturistischer oder parodistischer Art auf Wagners Werke aus, die eineaperçu-hafte Annäherung an den Gegenstand nicht überschreiten. Exemplarisch sei aufSouthon 2010b verwiesen, der in seinem Unterkapitel „Opéras parodiques“ zuerst dendeutschsprachigen Parodien von Johann Nestroy und Oscar Straus einigen Raum gibt,dann einen kurzen Abriss zu den Revuen und frühen Tannhäuser-Parodien im Parisder 1860er Jahre anschließt und am Ende pauschal über die letzten Jahrzehnte desJahrhunderts – diejenigen also, in denen in Frankreich die meisten parodies drama-tiques d’opéra auf OpernWagners entstanden – urteilt, dass aus dieser Zeit kaum mehrals die Titel einiger Parodien überliefert seien.16 Zwar zählt er u. a. noch dreiWalküre-Parodien und eine Meistersinger-Parodie – die nebenbei bemerkt im Druck erschien –auf, fällt aber insgesamt weit hinter den Wissensstand von Travers 1941 zurück, der25 französische Wagner-Parodien – darunter sieben Lohengrin-Parodien – nachweistund für die meisten davon auch Angaben zu Autor(en), Aufführungsdatum und Auf-führungsort machen kann.17 Nicht zuletzt verkennt Southon so den hohen Stellenwertder Opernparodie in Frankeich insgesamt, die – es sei wiederholt – von Anfang an mitder Entstehung der französischen Oper verbunden ist und deren Entwicklung kontinu-ierlich begleitet hat.Monsieur Lohengrin findet zumindest gelegentlich Erwähnung inOperettenführern, aber vermutlich weniger um seiner selbst willen, sondern weil dasStück von Edmond Audran vertont wurde und deshalb der Vollständigkeit halber imWerkverzeichnis eines zu seiner Zeit vielgespielten Operettenkomponisten geführtwird, obwohl es nicht im Entferntesten an die Popularität von La Mascotte oder MissHelyett heranreichen konnte. Reel 2001 und Gier 2014 haben dem Stück einige Auf-merksamkeit gewidmet, aber ähnlich wie Aron 1998, der sich zu Le petit Lohengringeäußert hat, schien ihnen nicht das ganze Stück vorgelegen zu haben.

15 Zu den deutschsprachigen Wagner-Parodien siehe Borchmeyer/Kohler 1983, Eger 1986, Janés1988, Schneider 1996. Zu Lohengrin-Parodien in Madrid vgl. Suárez García 2017.

16 Vgl. Southon 2010b, 1561.17 Zu einigen französischen Stücktiteln geben neben Travers 1941 auch Stieger 1975, Wicks 1979

und Aron/Espagnon 2009 Auskunft. Vgl. auch Soubies 1891, 80 und 90 sowie Soubies 1896, 64.

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2.1 Die Lohengrin-Uraufführung und ihre Rezeption in Frankreich 9

2 Aufführungs- und Übersetzungsgeschichte2 Aufführungs- und Übersetzungsgeschichte

2.1 Die Lohengrin-Uraufführung in Weimar am28. August 1850 und ihre Rezeption in Frankreich

2.1 Die Lohengrin-Uraufführung und ihre Rezeption in FrankreichDie Uraufführung des Lohengrin fand am 28. August 1850 unter der Leitung von FranzLiszt im Rahmen der Festlichkeiten zu Ehren Herders und Goethes in Weimar statt,die ihren äußeren Anlass in der Enthüllung des Herder-Denkmals – des erstenWeimarer Dichter-Denkmals – und dem 101. Geburtstag Goethes hatten, mit dem dieBürger der Stadt an der Ilm an die großen Jubiläumsfeiern des Vorjahres anknüpfenwollten. Diese singuläre Aufführung – singulär, da über zeitnahe Folgevorstellungennicht berichtet wird18 – markiert gleichzeitig den Beginn der französischen undbelgischen Lohengrin-Rezeption, denn einflussreiche Persönlichkeiten desfranzösischsprachigen Geisteslebens haben sich aus Paris und Brüssel auf den Weg indas Großherzogtum gemacht – die Presse hatte auf die bevorstehende Aufführungeiner neuen Oper von Richard Wagner hingewiesen.19 Unter den Zuschauern imHoftheater befanden sich Giacomo Meyerbeer, François-Joseph Fétis und JulesJanin.20 Die Basis für die sich in den 1850er Jahren ausbildende Wagnerrezeption und-begeisterung namhafter französischer Schriftsteller legten Gérard de Nerval und Lisztmit ihren Berichten über die Premiere in La Presse vom 18. und 19. September bzw.in Le Journal des débats politiques et littéraires vom 22. Oktober.21 Bemerkenswertist allerdings, dass Nerval verspätet in Weimar eintraf und die Aufführung selbst nichtgesehen hat.22 Wie Gann 1978, 50 außerdem zu entnehmen ist, hat Nerval seinenArtikel zu großen Teilen nicht selbst verfasst, sondern aus Aufzeichnungen von LisztsPrivatsekretär zusammengestellt.23 Nichtsdestotrotz findet diese mit dem NamenNerval verbundene und schwerpunktmäßig literarische Auseinandersetzung mit demWerk Wagners ihre Fortsetzung im Schaffen eines Charles Baudelaire oder StéphaneMallarmé – um aus einer Vielzahl von Namen nur die wohl bekanntesten undeinflussreichsten zu nennen.

Als Pionier einer kritischen Position gegenüber Wagner gilt für denfranzösischsprachigen Raum Fétis, der 1852 zwischen dem 6. Juni und 8. August miteiner Reihe von sieben Artikeln in La Revue et Gazette musicale de Paris eine veritable

18 Bis zur Niederlegung seines Amtes als Chefdirigent am Weimarer Hoftheater 1858 führte LisztLohengrin dort 16 Mal auf (vgl. Huschke 2010, 90–111, hier insbesondere S. 92).

19 Vgl. La Revue et Gazette musicale de Paris vom 11. August 1850 in Mrozowicki 2013, 104.20 Vgl. Glasenapp 51905, 439.21 Vgl. Mrozowicki 2013, 104–109. Janin griff dabei zensierend in den Bericht Liszts ein (vgl. ebd.

S. 109).22 Piacard 2010c, 1419 vermutet, dass Nerval am 31. August in Weimar eingetroffen ist. Laut

Walker 1989, 125, Anm. 30 kam er krankheitsbedingt nicht rechtzeitig zur Vorstellung, Dolan2013, 27 gibt ein Zugunglück als Grund für die Verspätung an. Auch in neuerer Literatur hältsich hartnäckig der Fehler, dass Nerval eine Aufführung gesehen hat. Vgl. Lucke-Kaminiarz2010, 228, Hartmann 2012, 835.

23 Vgl. Dolan 2013, 44, Anm. 15.

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10 2 Aufführungs- und Übersetzungsgeschichte

Diatribe vorlegte, in der ästhetische Vorbehalte mit bloßer Polemik vermischt werden.So erhebt Fétis mit Bezug auf Wagners Musik immer wieder den Vorwurf des Fehlensvon Melodie und Rhythmus (z. B. im Artikel vom 27. Juni) und unterstellt demKomponisten einen kranken Geist (im Artikel vom 11. Juli).24

Noch im selben Jahr traten ein Monsieur Philipront aus Brüssel und Charles-LouisHanssens – Kapellmeister und Direktor des Théâtre de la Monnaie – an Wagner heran,um ihn zu überzeugen, dort Lohengrin in einer französischen Übersetzungaufzuführen. Der Weimarer Erfolg und das in der belgischen Geschichte verwurzelteSujet der Handlung schienen ihnen der Garant für eine erfolgreiche Übernahme, aberLiszt, der in Wagners Auftrag verhandelte, befürchtete, dass die Oper nicht mit dererforderlichen Sorgfalt übersetzt und einstudiert und das Werk daher in einerentstellten Form gezeigt würde.25 In Straßburg scheiterte 1855 aus finanziellenGründen das Vorhaben, Lohengrin von einer umherziehenden deutschenOperncompagnie in Originalsprache darzubieten und somit im französischenSprachraum zu etablieren.26

2.2 Die Neuordnung der französischen Theaterlandschaft inden 1860er Jahren als Chance für Wagner-Aufführungen

2.2 Die Neuordnung der französischen TheaterlandschaftWeitere Nachweise über französische Aufführungsvorhaben können erst wieder fürdie zweite Hälfte der 1860er Jahre erbracht werden und sind vor dem Hintergrund derneugewonnenen Freiheit der Theater zu sehen, die ein Erlass Napoleons III. vom6. Januar 1864 mit Wirkung zum 1. Juli desselben Jahres ermöglichte.27 Bis zu diesemTag regelten im Wesentlichen zwei Instanzen – die Zensurbehörde und dasPrivilegiensystem – die französische Theaterlandschaft. Um das theateraffinste VolkEuropas zu kontrollieren und um zu verhindern, dass sich aufrührerische Ideen von derBühne über den Zuschauerraum auf die Straße verbreiteten, wurden die Inhaltesämtlicher Bühnenstücke bis 1906 (mit zwei kurzen Unterbrechungen von 1830–1835und 1848–1850) auf Sittlichkeit und politische Konformität überprüft und außerdemwar vorgegeben, welches Repertoire auf welcher Bühne gezeigt werden durfte.28DieseHierarchie der Theater basierte auf einer Form des Privilegiensystems, das in seinenGrundstrukturen bereits im ancien régime zur Anwendung kam, zur Zeit derRevolution abgeschafft wurde und durch die entsprechenden Dekrete Napoleons von1806 und 1809 wieder in Kraft trat. So war es bezogen auf Paris beispielsweise seitihrer Gründung 1669 ausschließlich der Académie de Musique – also der Opéra –vorbehalten, Opern aufzuführen, bei denen durchgehend auf Französisch gesungen

24 Vgl. Mrozowicki 2013, 114–121. Eckart-Bäcker 1965, 84 fasst die wichtigsten Punkte der Wag-nerkritik von Fétis zusammen und betont deren Tragweite über die folgenden sechs Jahrzehntehinweg, d. h. bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

25 Vgl. Gubin/Van der Hoeven 1998, 5 und Wagner 2003, 66–68.26 Vgl. Ellis 2013, 123.27 Vgl. Walsh 1981, 173.28 Vgl. Yon 2003, 229 und Caradec/Weill 2007, 142–155.

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2.3 Nuitters erste Lohengrin-Übersetzung (1867) 11

wurde.29 Unabhängig davon, in wieweit weitere Vorgaben gegriffen hätten, diebeispielsweise die Anzahl der auf der Bühne handelnden Personen oder das Genrefestgelegt hatten, wäre es alleine schon aus diesem Grund bis 1864 für kein anderesTheater der Hauptstadt ernsthaft denkbar gewesen, Lohengrin auf den Spielplan zusetzen, ohne das Stück vorher durch die Einfügung von gesprochenen Passagengrundlegend umzuarbeiten und natürlich zu übersetzen. Nicht-französischsprachigeAufführungen wurden nur dem Pariser Théâtre-Italien für das italienische Repertoirekonzediert. Mit der Aufhebung des Privilegiensystems war es nun theoretischjedermann möglich, ein Theater zu gründen und aufzuführen, was ihm beliebte,solange es mit den Vorgaben der Zensur konform war und er die Urheber- bzw.Aufführungsrechte innehatte. Weiterhin entfielen auch die Fristen, die an einer Bühneeinzuhalten waren, wenn ein Werk gezeigt werden sollte, das erst kurz zuvor an eineranderen Bühne zu sehen war.30

2.3 Nuitters erste Lohengrin-Übersetzung (1867)2.3 Nuitters erste Lohengrin-Übersetzung (1867)Anders als beispielsweise die Opern Verdis, die in Originalsprache auch im Théâtre-Italien gespielt werden konnten, waren Wagners Werke bis zur Aufhebung der Thea-tervorschriften 1864 ins Französische zu übersetzen und durften aufgrund ihrer Stoff-wahl und formalen Disposition in Paris nur auf der Bühne der Opéra gezeigt werden.Die endgültige Gestalt der Tannhäuser-Übersetzung für die Aufführung 1861 stammtvon Charles Nuitter, den Alphonse Royer, der Direktor der Opéra, im Sommer 1860damit betraute, die Übersetzung von Edmond Roche und Richard Lindau zu revidie-ren.31 Roche und auch Wagner, der Nuitter bereits bei Émile Ollivier kennen gelernthatte, wirkten in dieser letzten Phase der Übersetzungsarbeit mit, Lindau dagegenstrebte einen Prozess an, um seine Urheberrechte an dem Text geltend zu machen.1861 widmeten sich Wagner und Nuitter noch einer Übersetzung des Holländers.32Aus der gemeinsamen Arbeit erwuchs ein geradezu freundschaftliches Verhältnis undNuitter blieb ein wichtiger Kontakt Wagners in Paris, dem er Zeit seines Lebens einegroße Wertschätzung entgegenbrachte und der sogar Aufführungsverträge (insbeson-dere für Lohengrin) in seinem Namen aushandelte.33 Auch nach Wagners Tod 1883hielt Nuitter den Briefverkehr nach Bayreuth zu Cosima und ihrem Verwalter Adolfvon Gross aufrecht. Eine Position Nuitters gegenüber Wagners Werken bzw. seinerMusik lässt sich aus seinen Briefen und Aufzeichnungen kaum entnehmen: Zu rar ge-sät und dabei wenig aufschlussreich sind diesbezüglich seine Äußerungen. 1863 be-gann er mit einer Übersetzung des Lohengrin, die er zwischen dem 3. April und

29 Vgl. Wild 2003c, 694f.30 Vgl. Döhring/Henze-Döhring 1997, 191.31 Vgl. hierzu und im Folgenden Gressel 2002, 68 sowie Jost 2004, 479–492 undMrozowicki 2013,

201–203.32 Vgl. Jost/Feist/Reynal 2002, 33.33 Vgl. Gressel 2002, 79.

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12 2 Aufführungs- und Übersetzungsgeschichte

15. August 1867 abschloss und an Wagner schickte, der sie in einem Brief vom22. März 1868 für gut befand.34

Ob Nuitters Motivation, den Lohengrin zu übersetzen, einen äußeren Anlass hatte,wie beispielsweise einen Auftrag oder eine Vereinbarung mit Wagner, oder ob sie sichallein aus künstlerischer Überzeugung und Idealismus speiste, wie dies in etwa zeit-gleich in Italien Salvatore de Marchesi für sich in Anspruch nahm, der Lohengrin insItalienische übersetzt hatte, ließ sich nicht klären.35 Mit dem Antritt seines Amtes alsArchivar der Opéra 1866 – eines Postens, der im neugebauten Palais Garnier eigensfür ihn geschaffen wurde – beendete er endgültig seine Tätigkeit als Rechtsanwalt, dieer bereits seit den 1850er Jahren mehr und mehr vernachlässigte, um nebenher als Lib-rettist für Opern und Ballette sowie als Übersetzer von Opern aus dem Deutschen undItalienischen in Erscheinung zu treten. An Erfahrung und Wissen um die Lukrativitätund die Erfordernisse des Opernbetriebs dürfte es ihm daher kaum gemangelt haben,sodass anzunehmen ist, dass auch die Aussicht auf Tantiemen aus Übersetzungen vonWerken, die bereits an vielen Theatern für volle Kassen sorgten, ihn zu dieser Beschäf-tigung angetrieben hat. Zu Nuitters Vorgehensweise bei seiner Übersetzungsarbeit istwenig überliefert, aber in Bezug auf seine Übertragung aus demDeutschen ist zunächstfestzuhalten, dass er, wenn überhaupt, nur über sehr geringe Kenntnisse dieser Spracheverfügte und allenfalls davon profitieren konnte, dass er bei seinem Vater Rat einholenkonnte, der lange Zeit in Deutschland gelebt hatte.36 Candoni schränkt die TätigkeitNuitters auf die bloße Umformulierung einer Prosaübersetzung in Verse ein und ziehtdafür eine Selbstaussage Nuitters heran, der in Bezug auf Tannhäuser schrieb, dassWagner selbst der eigentliche Übersetzer sei und weiterer Mitarbeiter nur für die An-ordnung derWorte gemäß den Regeln der französischen Prosodie bedurft habe.37Mög-lich ist, dass Nuitter im Falle Lohengrins die 1861 erschienene Prosaübersetzung vonPaul Challemel-Lacour herangezogen hat, der einzigen, die zu diesem Zeitpunkt ge-druckt vorlag.38

34 Vgl. ebd., 69 und Jost/Feist/Reynal 2002, 84.35 Unter Heranziehung folgender Passage aus Armand Feldmans Nuitter-Biographie stellt Gressel

die idealistische Haltung Nuitters dar, „Il se mit par pure admiration, par passion, sans aucunevue intéressée, à traduire Tannhäuser et Lohengrin (Armand Feldman. 1900. Truinet, CharlesNuitter. Paris, Impr. Le Cerf, zitiert nach Gressel 2002, 70). Zu Marchesi, dem ersten Übersetzerder Werke Wagners ins Italienische und seiner Überzeugung „die Diffusion Wagnerscher Werkein Italien zu ermöglichen“ (Jung 1973, 402), vgl. ebd.

36 Vgl. Gressel 2002, 62 und Jost 2004, 484. Ein von Gressel herangezogener unveröffentlichterBrief Hugo Piersons steht in seiner Beurteilung von Nuitters Deutschkenntnissen isoliert, denndort heißt es, dass Nuitter ein Freund und Kenner der deutschen Literatur sei, der mit seinerMeisterschaft diese schwierige, aber reiche Sprache beherrsche (vgl. Gressel 2002, 63).

37 Candoni 2010, 2123.38 Vgl. Wagner 1861. Der im Buch nicht genannte Übersetzer heißt Paul Challemel-Lacour, laut

Jost 2004, 482, Anm. 4 erschien das Werk bereits im Dezember 1860, laut Turbow 1984, 147bereits im November 1860.

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2.4 Carvalhos gescheiterte Projekte (1867-1868) 13

2.4 Carvalhos gescheiterte Projekte durch das Théâtre-Lyrique und durch das Théâtre de la Renaissance39 (1867–1868)

2.4 Carvalhos gescheiterte Projekte (1867-1868)Mehrere der zwischen 1867 und 1886 letztlich zwar nicht zustande gekommenenProjekte sind mit dem Namen Léon Carvalho verbunden, der nach einer kurzenKarriere als Bariton vor allem als Theaterdirektor tätig war und 1856 erstmals dieLeitung des Théâtre-Lyrique in Paris übernahm. Gerüchte machten 1865/66 – d. h.während seiner zweiten Direktionszeit – die Runde, dass durch seine Operncompagnie,die die Salle du Théâtre-Lyrique an der Place du Châtelet bespielte, Vorbereitungenfür Aufführungen des Lohengrin getroffen würden. Man glaubte ebenfalls zu wissen,dass Wagner im Winter für einen längeren Aufenthalt nach Paris kommen und dieProduktion mit vorbereiten würde. Tatsächlich verbrachte er aber die kalte Jahreszeitin Tribschen.40 Erst im darauffolgenden Jahr, also im November 1867, begannenProben für Lohengrin, die aber in Ermangelung eines geeigneten Tenors alsbald wiederabgebrochen wurden, und auch Hans von Bülow, den man für die Supervision derProben gewinnen wollte, kam bei diesem Projekt letztendlich nicht zum Einsatz.41 Am26. Januar 1868 berichtete Léon Leroy in La Liberté über den Vertrag zwischenCarvalho und Nuitter, der eine Aufführung des Lohengrin durch das Théâtre-Lyriquebeschloss und zu dem Wagner seine Zustimmung erteilt hatte. Carvalho erhielt dieExklusivrechte an diesem Werk unter der Bedingung, dass die Aufführung binnenJahresfrist, d. h. bis zum 26. Januar 1869, stattfände. Geplant war eine ersteVorstellung sogar schon für Anfang Mai 1868.42 Die bereits im Dezember 1867 in derPresse bekannt gegebenen finanziellen Schwierigkeiten Carvalhos führten am 4. Mai1868 zu einem vorzeitigen Saisonende des Théâtre-Lyrique und zwei Tage darauferklärte er seinen Bankrott. Um die finanzielle Lage des Théâtre-Lyrique zustabilisieren, hatte er 1868 sein Ensemble verdoppelt, um durch zusätzlicheAufführungen an einer zweiten Spielstätte seine Einnahmen zu steigern. Ab dem7. Mai ruhte aber auch die Arbeit dieses unter dem Namen Théâtre de la Renaissanceagierenden Teils seines Ensembles in der Salle Ventadour. Der Exklusivvertrag derAufführungsrechte an Lohengrin mit Nuitter wurde am 22. August vorzeitigwiderrufen und Wagner entzog Carvalho jegliche weitere Unterstützung.43 Trotzdemplante Carvalho für die Wiederaufnahme des Spielbetriebs des Théâtre de laRenaissance im Herbst sowohl Le Timbre d’argent von Saint-Saëns als auch

39 Als „Théâtre de la Renaissance“ wurde 1868 ein Opernunternehmen Carvalhos bezeichnet, dasdie Salle Ventadour an den spielfreien Tagen (Montag, Mittwoch, Freitag) des Théâtre-Italiennutzen durfte. Der Marschall Vaillant hatte M. Bagier – dem Direktor des Théâtre-Italien – einediesbezügliche Erlaubnis erteilt. Bagier aber legte Wert darauf, dass Carvalhos Truppe untereinem eigenen Namen dort auftreten sollte. Das Théâtre de la Renaissance eröffnete am 16. März1868 mit Gounods Faust (vgl. Walsh 1981, 267). Es ist nicht zu verwechseln mit dem heute nochexistierenden Theatergebäude namens Théâtre de la Renaissance an der Porte Saint-Martin.

40 Vgl. Walsh 1981, 205.41 Vgl. Walsh 1981, 228 bzw. 251.42 Vgl. ebd., 251.43 Vgl. ebd., 232 bzw. 238.