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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Der Tumorpatient in der Intensivstation:
When is it enough?
13. St.Galler IPS Symposium
13. Januar 2009
Dr. med. R. Lussmann
1 Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Ziele der Intensivmedizin
Illustratives Fallbeispiel
Prognose / Wahrscheinlichkeiten / Scores
Doktrin der remedia extraordinaria
Wann ist die Intensivtherapie futile?
Problemfeld Information
Problemfeld unterschiedliche Perspektiven
Mögliches Vorgehen
Fallbeispiel
Zusammenfassung
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Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Der Lussmann-Index
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Alter x Auswurfsfraktion
Anzahl Medis x MAP
+Kreatinin x Diagnosen
BMI x Laktat
= < 1
Keine IPS Aufnahme oder Therapieabbruch
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
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Zweck der Intensivmedizin
Die Intensivmedizin liefert die Mittel zur
Diagnose, Monitoring, Prävention und
Behandlung des Multiorganversagens bei
schwerkranken Patienten
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Graf & Janssens, CCM 2005; 33: 901 - 902
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
IPS Behandlung sollte durchgeführt werden in der Erwartung eines Benefits, der zu akzeptablen Kosten erreicht werden kann.
Keine IPS Behandlung in Situationen, wenn potentieller Schaden grösser als erwarteter Benefit ist.
Expertenpanel empfiehlt, dass in UK IPS nur angeboten werden sollte für solche, die ein erwartetes Überleben oder ein Überlebenspotential mit guter Chance haben, nicht für jene, die eine ungewisse Prognose haben oder bald versterben, trotz Maximaltherapie oder bei denen ein baldiger Tod zu erwarten ist.
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Intensive Care in the UK, King‘s Fund Panel, Anaesthesia,
1989Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
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Illustratives Fallbeispiel
zum Einstieg
Herr W. G., 1954
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG6
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Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
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Fallvorstellung I
52 jähriger Mann
Rektumkarzinom:
Chemotherapie 08/05 – 01/06
Rektosigmoidoskopie 01/06: Primärtu nicht nachweisbar
CT 01/06: Aszitesbildung bei Va Peritonealkarzinose
Progrediente Nierenstauung rechts 01/06
Wiederaufnahme Chemotherapie 04/06
Doppel-J Einlage bei Hydronephrose rechts 05/06
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Fallvorstellung II
Kolonperforation bei Dickdarmileus
Kolonresektion mit endständiger Ileostomie 05.06.06
Kurativ geplante Tumorresektion:
totale Peritonektomie, Cholezystektomie, RITA Segment II/IV, Lymphadenektomie periaortal und periiliacal, hypertherme intraoperative intraperitoneale Chemotherapie 13.6.06
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22.06.06Laparotomie, Lavage, Dünndarmteilresektion und Ureternaht bei
Dünndarm- und Ureterleck links
24.06.06Laparotomie, Spülung und Venen-Umstechung bei akuter Nachblutung
aus präsakraler Vene
30.06.06 Nephrostomie links
01.07.06Revisionslaparotomie, Lavage, Ureterligatur links, intraoperative
Gastroskopie und Clipping bei anämisierend blutendem Ulkus bei
mehreren Ulzera im Corpus ventriculi
05.07.06 Port à cath-Entfernung bei Candida-Sepsis
06.07.06Revisionslaparotomie bei intraabdomineller Blutung ohne Nachweis einer
Blutungsquelle
09.07.06 Lavage und Reissverschluss
11.07.06 Lavage mit Anastomosen-Neuanlage, Tracheotomie
21.07.06 Revision bei subhepatischem Gallenleck
23.07.06 Gallenleck mit Naht und Lavage und VAC-Verbandswechsel
25.07.06 Revisionslaparotomie, Lavage, Drainage, VAC-Verbandswechsel
28.07.06 VAC-Verbandswechsel
30.07.06 VAC-Verbandswechsel und LavageDr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
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IPS-Aufenthalte
Datum Grund Tage Anzahl Op
05.06. – 06.06.06postoperativ:
Dickdarmteilresektion1 1
13.06. – 15.06.06 kurative Tumor-Operation 2 (3) 2
22.06. – 22.07.06 9 Operationen 31 (34) 11
23.07. – 24.07.06 postoperativ 1 (35) 12
25.07. – 26.07.06 postoperativ 1 (36) 13
28.07. – 28.07.06 postoperativ 1 (37) 14
30.07. – 31.07.06 postoperativ 1 (38) 15
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When is it enough?
Bei welchem Zeitpunkt ist die Therapie
sinnlos?
Weshalb wurde bis zum Tode alles
unternommen?
Wo liegen die Schwierigkeiten?
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Probleme
Der Patient konnte sich nicht zu einem frühzeitigen Zeitpunkt (bevor sich die Komplikationen ereigneten) äussern, welches sein Wille ist, falls eben solche Komplikationen auftreten sollten Defizit in der Aufklärung
Lebenspartnerin stellte sich nie der Möglichkeit, dass es negativ herauskommen könnte Verdrängung, Verwechslung der eigenen Wünsche mit mutmasslichem Willen des Patienten? Defizite in der Kommunikation?
Divergierende Beurteilungen zwischen den Chirurgen und den Intensivmedizinern (-pflege) unterschiedliche Wertvorstellungen
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Probleme
Aufgrund der Schmerzproblematik
„terminale Sedation“ eingeleitet ohne
informed consent des Patienten
Delirium erschwerte jegliche
Kommunikation über den Patientenwillen
Delir generelles Problem bei IPS-Patienten
Hohe Inzidenz
Schwierige Behandlung
Outcome relevant
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Prognose
Wahrscheinlichkeiten
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Prognose - Wahrscheinlichkeiten
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Prognose - Wahrscheinlichkeiten
medizinisch objektivierbare Kriterien, auf
deren Grundlage die Zuverlässigkeit oder
Gebotenheit einer
Behandlungsbegrenzung begründet
werden kann
Die Bedeutung von prädiktiven Scoring-Systemen
und Prognosestatistiken
Die Doktrin der „remedia extraordinaria“
Den Begriff der „ärztlichen Indikation“
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Scoring-Systeme
Bei der Beurteilung medizinisch
objektivierbarer Kriterien für die
Rechtfertigung einer Behandlung oder
aber einer Behandlungsbegrenzung
spielen prädiktive Scoring-Systeme eine
wichtige Rolle
Lewandowski K, Lewandowski M.: Scoring Systeme auf der
Intensivtherapiestation. Anästhesist 2003; 52: 965 - 989
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Was sind scoring systeme
Schweregradklassifikations- bzw. Punktesysteme
Quantitative Aussagen über Schweregrad einer Erkrankung, ihrer Prognose und ihren Verlauf
Vergleichende Bewertung von Therapieverfahren, zur Qualitätskontrolle und –sicherung sowie zur ökonomischen Evaluation der Intensivtherapie
Ermöglichen die therapieunabhängige, statistische Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, mit welcher ein Patient versterben oder aber überleben wird
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Vorsicht
Vielzahl von denkbaren Störeffekten und
systematischen Fehlern
Deshalb als alleinige
Entscheidungsgrundlage für den
individuellen Patienten ungeeignet
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Jedoch
In der klinischen Praxis am weitesten verbreitet
Hinsichtlich ihrer Reliabilität, Validität und Praktikabilität gründlich evaluiert
Sinnhaftigkeit der Anwendung nicht mehr ernsthaft umstritten
Deshalb auch im MDSi
Aussagekraft erhöht in Kombination mit einem oder mehrerer der zahlreichen „Organdysfunktionsscores“
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Keine „Todescomputer“
Fällen keine Entscheidungen in rechtlicher,
medizinischer und ethischer Hinsicht anstelle
des Arztes
Hilfe bei der Differenzierung zwischen:
medizinisch objektivierbarer (noch) sinnvoller oder
verhältnismässiger (=indiziert oder indizierbar)
Massnahmen und
solchen Massnahmen, deren „Angebot“ viel eher auf
emotionale, kommunikative, medizinisch-fachliche und
rechtliche Unsicherheiten zurückzuführen sind
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Deshalb
Nicht überraschend, dass heute allgemein
empfohlen wird, dass jede IPS mindestens
einen mehr „allgemein“ ausgerichteten
und bei Bedarf zusätzlich einen eher
„organspezifischen“ Score anwenden
sollte
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Beispiele allgemeine Scores
APACHE III (1991)
SAPS II (1993)
SAPS 3 (2005)
MPM II (1993)
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(organ)spezifische Scores
SOFA (1998)
MODS (1995)
LOD-System (1996)
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Nachteil dieser scores
Eher kurz- bis mittelfristig
Zielprojektion: Krankenhausentlassung
Weitere Statistiken, eher langfristig:
Morbiditäts-, Mortalitäts-, Sterberaten-; Bewertung
der „Lebensqualität“-
Jedoch keine hinreichende Sensitivität für
die Voraussage im Hinblick auf den
individuellen Patienten
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Trotzdem
Kenntnisse dieser Statistiken
unentbehrliche Hilfe, um mit hinreichend
objektivem Anspruch zwischen
medizinisch sinnvollen und notwendigen, (noch)
verhältnismässigen sowie
fragwürdigen und
schliesslich realistischerweise „aussichtslosen“
Massnahmen („futility“) zu differenzieren
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Doktrin der „remedia extraordinaria“
Kerninhalt der medizinisch-ethischen und
rechtlichen Methodenlehre
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„Anästhesistenpredigt“
1957 Papst Pius XII
Angesichts der letztlich unvermeidlichen Sterblichkeit des Menschen soll eine mögliche medizinische Behandlung unterlassen werden, wenn sie keine realistische Aussicht auf einen Therapieerfolg bietet.
Definition des „Therapieerfolges“ habe sich aus theologischer und sittlich-moralischer Sicht an den Bedürfnissen des Patienten als Subjekt in seiner diesseitigen Welt zu orientieren
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„Anästhesistenpredigt“
Anderenfalls besteht weder seitens des
Patienten noch des Arztes oder aber der
Familie des betroffenen bzw. der Gesellschaft
insgesamt ein moralisches oder religiös
begründbarer Anspruch oder ein Gebot
„aussergewöhnliche Behandlungsmethoden“
(remedia extraordinaria) fortzuführen, wenn
diese – zumindest nach menschlichem
Ermessen – wahrscheinlich nur noch den
Sterbeprozess des Menschen widernatürlich
verzögern.
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„Anästhesistenpredigt“
Angesichts der vielfältigen und erheblichen Belastungen, die mit derartig „aussergewöhnlichen“ Behandlungsversuchen für alle Beteiligten einhergehen, werden diese moraltheologisch und –philosophisch teilweise als nicht zumutbar verworfen.
35
Papst Pius XII.: Drei religiöse und moralische Fragen bezüglich der
Anästhesie; Ansprache an die Teilnehmer des IX. Nationalkongresses
der Italienischen Gesellschaft für Anästhesiologie: Rom, 24.11.1957. In:
Wolfslast G, Conrads C. Textsammlung Sterbehilfe. Heidelberg:
Springer, 2000: 231 - 251 Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Also
Je geringer die Aussicht auf einen
„Therapieerfolg“, der nicht nur
physiologisches Leben, sondern auch
subjektive Diesseitsbezogenheit bewahren
kann, desto mehr treten die auf den Schutz
und das Erhalten des Lebens
fokussierenden Prinzipien und Rationalen
hinter solchen Prinzipien zurück, die auf
die medizinisch-bejahende Annahme der
Sterblichkeit des Menschen gerichtet sind
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Der prinzipienorientierte Ansatz von Tom
Beauchamp/James Childress
• Tom Beauchamp/James Childress: Principles of
Biomedical Ethics, 5.ed, 2001.
• Vier ethische Prinzipien, auf deren Basis
sich alle bioethischen Fragen analysieren
und lösen lassen:
37
a) Autonomieprinzip
(principle of autonomy)
b) Nicht-Schaden-Prinzip
(principle of non-maleficience)
c) Wohltunprinzip
(principle of beneficience)
d) Gerechtigkeit
(principle of justice)
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Also
Benefizienz (Nutzen), „in dubio pro vita“
(im Zweifel für das Leben)
<<
Non-Malefizienz (Schadensvermeidung),
„nihil nocere“/“primum non nocere“
(wenigstens nicht noch weiter/zusätzlich
schädigen), Respekt der körperlichen
Unversehrtheit/Autonomie
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Selbstkritische Fragen
Welches Behandlungsziel hatten wir primär, haben wir jetzt, und wie viel davon ist realistischerweise (noch) erreichbar?
Ist unser Behandlungsangebot medizinisch (un)angemessen?
Wird der Patient nur noch zum „Behandlungs-“ oder „Forschungsprojekt“?
Ist Schadensvermeidung und alleinige Palliationals Hauptziel geboten?
Cui bono? Wen behandle ich eigentlich mit meinen Massnahmen? Den Patienten oder emotional verständliche Unsicherheiten (zB bei den Behandelnden, Angehörigen)?
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Folgen der Doktrin der „remedia extraordinaria“
In vielen Fällen entspricht die remediaextraordinaria der „ultima ratio“
Aussergewöhnlicher Behandlungsversuch in einer „verzweifelten“ Lage
Zu überlegen, ob medizinisch noch als verhältnismässig zu rechtfertigen ist
Von keinem Beteiligten kann ein Anspruch auf die Durchführung solcher Massnahmen erhoben werden, im Zweifel Therapiebegrenzung und palliative Massnahmen indiziert
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Folgen der Doktrin der „remedia extraordinaria“
Verzicht auf remedia extraordinaria ist kein
Urteil über das Grundrecht oder Grundwert
des Lebens an sich
sondern legitimes oder unvermeidliches
Urteil über den realistischerweise noch
erreichbaren Sinn – oder eben den Unsinn
– einer lebenserhaltenden medizinischen
Massnahme angesichts der letztlich
unvermeidlichen Endlichkeit des
menschlichen Lebens
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Folgen der Doktrin der „remedia extraordinaria“
Entgegen den unter ärztlichen Kollegen
weit verbreiteten Unsicherheiten ist die
Zulässigkeit, häufig sogar Gebotenheit der
Begrenzung von denkbaren
Therapiebemühungen auch aus rechtlicher
Sicht anerkannt und unstrittig
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Deutscher Bundesgerichtshof 17.03.2003:
… dass ärztlicherseits eine … Behandlung
oder Weiterbehandlung nicht angeboten
(werden muss, wenn) sie von vornherein
medizinisch nicht indiziert, nicht mehr
sinnvoll oder aus sonstigen Gründen nicht
möglich ist“
43
Bundesgerichtshof (BGH). Beschluss vom 17. März 2003 (XII.
Zivilsenat): XII ZB 2/03; Med R 2003; 21: 512 - 520
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Folgen der Doktrin der „remedia extraordinaria“
Bei Entscheidung über mögliche
Fortführung oder Begrenzung einer
Behandlung ist zunächst einmal ärztlicher
Sachverstand zur Indikationsstellung
gefordert:
Anhand medizinisch objektivierbarer
Kriterien ist zu klären, ob eine
(Weiter)Behandlung realistischerweise
sinnvoll oder (noch) verhältnismässig, und
ob diese auch verfügbar sind.
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Folgen der Doktrin der „remedia extraordinaria“
Der Kliniker kann durchaus auch einseitig
vom Angebot „aussergewöhnlicher
Behandlungsversuche“ absehen
Frage nach dem mutmasslichen
Patientenwillen oder anderen ethischen
und rechtlichen Implikationen können hier
sekundärer Natur sein
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Folgen der Doktrin der „remedia extraordinaria“
Nichts Neues, nicht „Zeitgeist gesteuert“
Keine versteckte „aktive“ Sterbehilfe aus ethisch fragwürdigen wirtschaftlichen Erwägungen
Ist unverzichtbarer Kerninhalt der medizinischen, ethischen und rechtlichen Methodenlehre sowie ärztlicher Kompetenz in der täglichen Praxis
Im Grundsatz auch empirisch allgemein anerkannt
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Folgen der Doktrin der „remedia extraordinaria“
Prinzipiell unterliegt die
Anwendung/Weiterführung solcher
„aussergewöhnlicher“
Behandlungsversuche einer
medizinischen, ethischen und rechtlichen
Rechtfertigungspflicht
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Ursachen der häufigsten Fehler und deren
Vermeidung
Der bewusste Verzicht auf theoretisch
denkbare Behandlungsoptionen oder
sogar die Beendigung bereits begonnener
Behandlungsversuche lassen das Sterben
zu
Dies wird verbreitet, wenn auch objektiv
fehlerhaft, als gesetzlich verbotene und
ethisch problematische „aktive“
Sterbehilfe missdeutet
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Ursachen der häufigsten Fehler und deren
Vermeidung Eine objektiv geringe statistische
Restunsicherheit bleibt bestehen, dass bei diesem Individuum diese aussergewöhnlichen Behandlungsoptionen helfen
Ab welcher prognostischer Wahrscheinlichkeit sind Therapieverfahren als objektiv eher „aussergewöhnlicher Behandlungsversuch“ einzuschätzen
Dies führt zu einer medizinisch unverhältnismässigen interventionellen Übertherapie bei gleichzeitiger palliativer Unterversorgung
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Ursachen der häufigsten Fehler und deren
Vermeidung
Klare und unmissverständliche
Kommunikation, dass „aussergewöhnliche“
Therapiemethoden angewendet werden. Hier
bestehen vielfach belegte Defizite.
In diesen Situationen ist die
Indikationsstellung zur (Weiter)Behandlung zu
rechtfertigen, und nicht deren Verzicht
Entscheidungsprozesse nach klar bestimmten
Leitlinien und Kriterien strukturieren
(policies/guidelines)
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Wann ist die Intensivtherapie futile?
Bestimmte statistische Schwellenwerte als
medizinisch objektivierbare Kriterien müssen
herbeigezogen werden zur Überprüfung der
Plausibilität der Indikationsstellung
Mortalitätsrisiko im einstelligen %-Bereich = ernstes
Risiko
Mortalitätsraten im noch „niedrigen“ 2-stelligen %-
Bereich (10-25%) = Hochrisikomassnahme
> 25 – 30% beginnt der Bereich der „ultima ratio“
Spätestens ab > 50% Mortalität beginnt zweifelsfrei
der Bereich der „remedia extraordinaria“
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Wann ist die Intensivtherapie futile?
Vor allem, wenn sich der kritische Zustand
des Patienten trotz Therapieversuch
verschlechtert
Ab hier beginnt eindeutig das Risiko, den
Patienten objektiv zu schädigen
Nähert sich die Mortalitätsrate der 100%-
Marke, kann man von „physiologic futility“
sprechen Gebot der ärztlichen Hilfe im
Sterben
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Ursachen der häufigsten Fehler und deren
Vermeidung
Mehrheit der Probleme dadurch, dass häufig
mehr oder weniger bewusst vermieden wird,
eine wirklich differenzierte ärztliche
Stellungnahme darüber abzugeben, ob eine
methodisch mögliche Behandlungsoption
unter den ob genannten Kriterien überhaupt
(noch) medizinisch „indiziert“ bezeichnet
werden kann
wenig nachvollziehbare, langwierige,
widersprüchliche und potentiell
konfliktträchtige Entscheidungsfindung
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Begriff der medizinischen Indikation
Notwendig, jedoch keine „hinreichende“
Legitimation
Einwilligung des Patienten notwendig
Behandlungswunsch des Patienten alleine für
sich keine hinreichende Legitimation, da es
keinen ethischen oder rechtlichen Anspruch
auf medizinisch nicht mehr sinnvolle
Massnahmen geben kann, deren erzwungene
Bereitstellung gegen die Überzeugung und die
Berufsfreiheit des Arztes verstossen
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Begriff der medizinischen Indikation
Historische Fehlentwicklung im Hinblick auf den Indikationsbegriff
Heute = Verpflichtung zum medizinischen Handeln („Diagnostisches Denken beherrscht … die wissenschaftliche Medizin so sehr, dass die Diagnose oft als alleinige Basis für indiziertes therapeutisches Vorgehen angesehen wird… Der diagnostische Imperativ beherrscht das medizinische Denken“)
Früher Indikation mit prognostischem Denken eng verbunden
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Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
DIE FESTSTELLUNG, (EINES
FACHLICH HINREICHEND
QUALIFIZIERTEN ARZTES), DASS
Begriff der medizinischen
Indikation
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eine Erkrankung vorliegt (Indikation)
die prinzipiell behandelbar ist (ganzes med. Methodenspektrum), wobei
mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit (Prognose), die näherungsweise im Vorfeld beurteilbar ist und als
sehr hoch (absolute Indikation)
realistisch, oder zumindest
noch angemessen/hinreichend (relative Indikation) angesehen wird, davon ausgegangen werden kann
dass die mögliche Behandlungsmethode zu einem objektivierbaren „Behandlungserfolg“ zu Gunsten des betroffenen Patienten führen wird (Behandlungsziel)
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Dieser erreichbare Behandlungserfolg kann grundsätzlich eine
Kurative, auf (möglichst definitive) Heilung zielende (restitutio ad integrum, Remission, Rehabilitation
oder eine
palliative (lindernde) Zielsetzung haben
und ist stets gegen denkbare
Kontraindikationen (im Sinne von Belastungen und Risiken, Neben- und Wechselwirkungen, Lebensqualität, Compliance des Patienten, persönliche Wünsche, Vorstellungen, Verfügungen des Patienten, Verhältnismässigkeit des Behandlungsaufwandes, (Nicht)Verfügbarkeit von Therapieverfahren)
abzuwägen.
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WHEN IS IT ENOUGH?
Problemfeld
Information
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Was wissen die Patienten über ihre
fortgeschrittene Tumorerkrankung und ihre
Prognose
The Role of Chemotherapy at the End
of Life: „When is Enough, Enough?“
JAMA 2008; 299(22): 2667 – 2678
61 Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Kleinzelliges Lungenkarzinom
35% der Patienten gaben an, dass sie mehr
von anderen Patienten in den Warteräumen
über ihre Prognose lernten als von den
Ärzten selbst. Ärzte wollten nicht immer das
„Todesurteil“ aussprechen, und Patienten
wollten dies nicht immer hören.
62
The AM, Hak T, Koeter G, van der Wal G.: Collusion in doctor-patient
communication about imminent death: an ethnographic study. West J
Med 2001; 174: 247 - 253
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Hochdosis-Chemotherapie (mit Stammzelltransplantation)
Ärzte, die eine HDCT verordnen, überschätzen das Überleben, speziell bei Patienten mit schlechter Prognose, bei denen die Abwägung der Toxizität und Outcome am nötigsten wäre.
Die optimistischen Patienten haben kein besseres Überleben als die realistischen Patienten
63
Lee SJ, Fairclough D, Antin JH, Weeks JC.: Discrepancies between
patient and physician estimates for the success of stem cell
transplantation. JAMA 2001; 285: 1034 - 1038
Lee SJ, Loberiza FR, Rizzo JD, Soiffer RJ, Antin JH, Weeks JC:
Optimistic expectations and survival after hematopoietic stem cell
transplantation. Biol Blood Marrow Transplant 2003; 9: 389 – 396Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Patienten mit Krebs im Endstadium
Auch wenn die Patienten eine Schätzung des
Überlebens erbaten, gaben nur 37% der
Ärzte an, dass sie diese Bitte auch
beantworteten.
Ärzte, die keine Schätzung gaben,
unterschätzen oder überschätzen in 63% der
Fälle die Überlebenschancen.
64
Lamont EB, Christakis NA: Prognostic disclosure to patients with
cancer near the end of life. Ann Intern Med 2001; 134: 1096 - 1105
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Solide Tumoren
Belgien: nur 39% der Onkologen gaben an, jemals die Prognose mit dem Patienten zu besprechen. In den meisten Gesprächen wurde die aktive Therapie, nicht die Alternativen besprochen.
Praktisch alle Patienten konnte ihre Erkrankung benennen, jedoch nur 23% kannten das Stadium ihrer Tumorerkrankung.
Onkologen überschätzen konsistent die Prognose mindestens um 30%. Die Schätzung der Ärzte bezüglich Überleben konnte durch 3,5 dividiert werden für das aktuelle Überleben.
65
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Koedoot CG, Oort FJ, de Haan RJ, Bakker PJ, de Graeff A, de Haes JC:
the content and amount of information given by medical oncologists
when telling pateints with advanced cancer what theit treatment options
are: palliative chemotherapy and watchful-waiting. Eur J Cancer 2004;
40: 225 – 235
Santoso JT, Engle DB, Schaffer L, Wan JY: Cancer diagnosis and
treatment communication accuracy between patients and physicians.
Cancer J 2006; 12: 73 – 76
Glare P, Virik K, Jones M et al.: A systematic review of physicians‘
survivial predictions in terminally ill patients. BMJ 2003; 327: 195 – 198
Smith TJ, Staats PS, Deer T et al.: Randomized clinical trial of an
implantable drug delivery system compared with comprehensive medical
management for refractory cancer pain: impact on pain, drug-related
toxicity, and survival. J Clin Oncol. 2002; 20: 4040 - 4049
66
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass
Die Aufklärung ungenügend ist
Informationen ungenügend memoriert
werden
Wie soll da ein Patient bei Komplikationen
autonom entscheiden, vor allem wenn
deren Bedeutung nicht aufgezeigt wird?
Wie sollen wir den mutmasslichen
Patientenwillen eruieren?
67
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
WHEN IS IT ENOUGH?
Problemfeld unterschiedliche
Perspektiven
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Patients have different perspectives than
their well health care professionals
The Role of Chemotherapy at the End of
Life: „When is Enough, Enough?“
JAMA 2008; 299(22): 2667 – 2678
69 Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Solide Tumoren - England
Patienten wollten eine toxische Behandlung
für eine 1% Heilungschance, 10% Chance für
Symptombefreiung oder eine Chance für
eine Lebensverlängerung um 12 Monaten.
Die Ärzte und Pflege verlangten hingegen
eine 50% Heilungschance, 75% Chance für
Symptombefreiung und eine Chance für eine
Lebensverlängerung um 24 bis 60 Monate
70
Slevin ML, Stubbs L, Plant HJ, et al.: Attitudes to chemotherapy:
comparing views of patients with cancer with those of doctors, nurses,
and general public. BMJ 1990; 300: 1458 - 1460
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Solide Tumoren - England
Patienten akzeptieren eine niedrigere
Chance des Benefits von der Chemotherapie
als ihre Ärzte/Pflege, auch wenn die
Behandlung ein grosses toxisches Potential
beinhaltet.
71
Balmer CE, Thomas P, Osborne RJ: Who wants second-line, palliative
chemotherapy? Psychooncology 2001; 10: 410 - 418
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Solide Tumoren - Kanada
57% der Patienten würden eine Chemotherapie wählen für ein Überlebensbenefit von 10% für 1 Jahr. Einige wählen eine noch toxischere Behandlung ohne Überlebensvorteil, andere hingegen lehnen eine Behandlung trotz erwartetem Behandlungsvorteil ab. Es ist schwierig, vorauszusagen, was individuelle Patienten wählen würden.
72
Brundage MG, Feldman-Stewart D, Cosby R et al.: Cancer patients‘
attitudes toward treatment options for advanced non-small cell lung
cancer: impilcations for patient education and decision support. Patient
Educ Couns 2001; 45: 149 - 157
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Lungenkarzinom - Norwegen
Patienten, die jünger als 40 Jahre sind,
akzeptieren eine toxische Therapie trotz
minimalem Benefit: Heilungschance 7%,
Lebensverlängerung um 3 Monate und
Symptombefreiung in 8%! (Median)
73
Bremnes RM, Andersen K, Wist EA: Cancer patients, doctors and
nurses vary in their willingness to undertake cancer chemotherapy. Eur J
Cancer 1995; 31A: 1955 - 1959
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Lungenkarzinom - Italien
Patienten würden in eine Chemotherapie
einwilligen bei NSCL, auch wenn die Ärzte
die Resultate pessimistisch beurteilen.
74
Tamburini M, Buccheri G, Brunelli C, Ferrigno D: The difficult choice of
chemotherapy in patients with unresectable non-small-cell lung cancer.
Support Care Cancer 2000; 8: 223 - 228
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Lungenkarzinom - USA
Patienten, die eine CT erhielten, würden
dies wieder tun, wenn es einen
zusätzlichen Überlebensvorteil von 4,5
Monaten bei milder Toxizität oder 9
Monaten bei schwerer Toxizität ergäbe.
Bei der Wahl zwischen supportiver
Therapie und CT, wählen 22% eine CT für
einen Überlebensvorteil von 3 Monaten,
welches dem aktuellen erwarteten Benefit
entspricht.
75
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Lungenkarzinom - USA
68% würden eine CT wählen, wenn eine
substantielle Reduktion der Symptome ohne
Lebensverlängerung möglich ist.
Nur ¼ erinnerten sich an Optionen ohne CT
wie z.B. palliative Therapie
76
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Lungenkarzinom - Japan
Bei einer Lebensverlängerung von 3
Monaten würden 19% eine intensive
Therapie wählen, und 21% würden eine
weniger intensive Therapie wählen. Bei einer
70% Chance für Symptomlinderung würden
73% eine intensive Therapie wählen.
77
Hirose T, Horichi N, Ohmori T et al.: Patients preferences in
chemotherapy for advanced non-small-cell lung cancer. Intern Med
2005; 44: 107 - 113
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Palliative Chemotherapie - Belgien
Die Wahl für eine CT oder palliative Care
korrelierte mit der Präferenz des Patienten
vor der Behandlungsbesprechung! D.h. die
Entscheidung ist meistens vorher durch
den Patienten gefallen, unabhängig vom
Vorschlag des behandelnden Onkologen.
78
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass
Die Patienten auch bei minimaler Chance
bezüglich längerem Überleben,
Symptomfreiheit oder –linderung eine
aggressive Therapie versuchen wollen
Prozentbereiche bewegen sich meist im
Bereich der futile care!
79
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
MÖGLICHES VORGEHEN
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80
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Der prinzipienorientierte Ansatz von Tom
Beauchamp/James Childress
• Tom Beauchamp/James Childress: Principles of
Biomedical Ethics, 5.ed, 2001.
• Vier ethische Prinzipien, auf deren Basis
sich alle bioethischen Fragen analysieren
und lösen lassen:
81
a) Autonomieprinzip
(principle of autonomy)
b) Nicht-Schaden-Prinzip
(principle of non-maleficience)
c) Wohltunprinzip
(principle of beneficience)
d) Gerechtigkeit
(principle of justice)
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Praktische Lösung von „Fällen“
Medizinische Analyse
Ethische Analyse anhand der vier Prinzipien
Erarbeitung von Handlungsalternativen
Entscheidung für eine Handlungsalternative durch Abwägen
Begründung der Entscheidung anhand der Prinzipien
82
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Kein exemplarisches Fallbeispiel
Frau P. S., 06. 06. 1946
Adenoidzystisches Adenom der Lunge (ED 1988)
St. n. Carinaresektion und –plastik 1988 (Japan) wegen initialem Befall der Carina
St. n. perkutaner RT (60 Gy), KSSG 1988
Multiple Lungenmetastasen
St. n. offener Lingularesektion links, Oberlappen rechts, mehrere wedgeResektionen rechts, Perikardfensterung, Diaphragmaexcision rechts (USZ)
St. N. Chemotherapie (Tamoxifen, Tarceva) 2007
Unter Chemotherapie Tumorprogredienz mit Stenosierung Mittel- und Unterlappenbronchus rechts
Progrediente Dyspnoe, chronischer Pseudomonasinfekt
ND: leichte AS, mittelschwere Aorteninsuffizienz
83
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
84
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
85
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Jetziges Leiden
Die Patientin stellte sich wegen neu
aufgetretener Paraparese auf dem Notfall
vor. Als Ursache zeigte sich eine
pathologische Fraktur von Th 8 und Th9
mit Myelonkompression und Myelopathie
(MRI: 7.3.08: Myelonkompression Th 8/9
durch epidurale Tumormassen, diffuse
Metastasierung der gesamten WS,
pathologische Fraktur BWK 8/9)
86
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Operation (24.3.08)
Dorsale Spondylodese BWK 5- LWK 1;
Korporektomie BWK 7/8
Fiberoptische Wachintubation mit
Spiralfedertubus Nr. 6 nasal
Postoperativ intubiert auf die CHIPS
88
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89
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Verlauf (25.3. – 19.05.08)
Zeitintensive Entwöhnung von einer druckkontrollierten Beatmung bis hin zur druckunterstützten Beatmung auf Evita, dann Umstellung auf Heimventilator volumenkontrolliert während 50 Tagen
Evita 4 Elisee 150: 5 lt/Min O2; AF 23 –30/Min, TV 220 ml; AMV: 5,2 -6,5 l/Min, Ppeak20 – 30 cm H2O; PEEP 5; I:E Verhältnis 1:2,5; flowtrigger 3,0)
Feuchte Nase mit 5 l/Min: 24.5.08: einmal 15 Min sowie 2 x 30‘; 25.5.: 2 x 90‘; 26.5.: 1x 90‘!
90
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Ursache respiratorische Insuffizienz
muskuläre Schwäche (Paraplegie),
vorbestehende pulmonale Pathologie,
rechte Lunge komplett karnifiziert,
maligner Pleuraerguss links
(Talkpleurodese 6.5.08).
Perkutane Tracheotomie 3.4.08,
plastisches Stoma 10.4.08
91
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Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
92
13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Problem
Behandlungsziel Entwöhnung vom Respi
nicht möglich
Dauerheimrespirator: keine Möglichkeit
(volumengesteuerte Ventilation) für zuhause;
keine Institution (Heime) in der Ostschweiz
eingerichtet für Dauerbeatmung
Wegen Muskelschwäche keine
Selbstbedienung des Tracheostomas möglich
Patientenwille: Fortführen der Beatmung, isst
am Tracheostoma Sushi auf der CHIPS
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Was soll man tun?
Respi abstellen aktive Euthanasie
Gesetzlich verboten
DNAR order früh mit Ehemann und Patientin besprochen
Verlegung auf die Pneumologie nach Umkanülierung auf 9,0 Spiralfedertrachealkanüle (ohne Innenkanüle), da Standardkanüle Rüesch ungenügend geblockt (Notwendig bei VK-Beatmung)
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Verlauf
Wegen Sekretretention
Beatmungsprobleme mit Hypoxämie
Asystolie
15‘ mechanische und medikamentöse (3
mg Adrenalin) Reanimation
Spontankreislauf CHIPS
Initial GCS 2, nach 2 Tagen GCS 10 T
Wiederaufnahme der Heimventilation
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Verlauf
Verlegung in externes Spital
(versicherungstechnische und logistische
Gründe)
Dort Therapieabbruch nach erneuter
pulmonaler Verschlechterung aufgrund
VAP und exitus letalis
Kosten KSSG: ca. 250‘000 SFr werden KK
in Rechnung gestellt
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Reflexion
Nichtbefolgung einer DNAR order
Trotz interdisziplinärer Reflexion der angewandten remedia extraordinaria zu starke Gewichtung der Patientenautonomie futilecare
Trotzdem keine adäquate Problemlösung
Aktive Euthanasie gesetzlich verboten, passive Euthanasie nicht möglich (Patientin will leben)
Grenzsituationen sind immer wieder möglich
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Zusammenfassung
Im Einzelfall helfen scores und Statistiken
nicht
Richtlinien (SAMW) und ethische
Gespräche helfen bei der Analyse, geben
aber keine Lösungen
Der Einsatz der remedia extraordinaria
bedarf der Begründung, nicht deren
Nichteinsatz
Interdisziplinäre und offene
Kommunikation zwingend notwendig
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13. IPS Symposium St.Gallen - 13. Januar 2009Der Tumorpatient in der Intensivstation
Dr. R. Lussmann, LA CHIPS, KSSG
Fragen?
Unklarheiten?
Danke für Ihre Aufmerksamkeit und
rege Mitarbeit!
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