Polypharmazie und Alter
Kardiologisches Kolloquium
08. Mai 2019 Eliane Amrein, Apothekerin FPH Klinische Pharmazie,
Kantonsspital St.Gallen
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Agenda
1. Definition Polypharmazie
2. Pharmakokinetische und pharmakodynamische Veränderungen im Alter
3. Leitliniengerechte Therapie im Alter?
4. Potenziell inadäquate Medikation (PIM) im Alter
5. Take Home Messages
6. Fragen / Diskussion
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1. Definition Polypharmazie
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Was meint «Polypharmazie»?
Und was dazu führt …
• Gleichzeitiger und regelmässiger Gebrauch mehrerer Arzneimittel
• WHO 2017: ≥ 4 rezeptpflichtige, OTC- oder traditionelle Arzneimittel
• Tendenz weltweit steigend
• Betrifft überwiegend ältere Patienten
• Wird begünstigt durch:
• Multimorbidität
• Leitlinienorientierte Therapie
• UAW eines Arzneimittels
• Unzureichende Wirkung eines Arzneimittels
• Kommunikations- / Schnittstellenproblematik
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Geriatrie-Report, 2018
Wastesson J.W. et al., 2018
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Ist Polypharmazie «schlimm»?
• Kann zu einer Verringerung von Morbidität und Mortalität und einer
Verbesserung der Lebensqualität beitragen
• ABER mögliche Folgen einer (inadäquaten) Polypharmazie:
• Medikationsfehler
• Interaktionen
• UAW
• Adhärenz
• Lebensqualität
• Hospitalisierungsrate
• Kosten
• Mortalitätsrate
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Geriatrische Notfallversorgung, 2013
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2. Pharmakokinetische und
pharmakodynamische
Veränderungen im Alter
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Pharmakokinetik im Alter –
Was macht der Körper mit dem Arzneimittel?
• Resorption:
• Magensäureproduktion, verzögerte Magenentleerung
• Resorptionsfläche im Dünndarm, aktive Transportleistung der
Darmschleimhaut
Wahrscheinlich eher selten klinisch relevant
• Verteilung:
• Gesamtkörperwasser, relative Körperfettanteil
Lipophile Wirkstoffe: Plasmakonzentration, verlängerte Halbwertszeit,
z.B. Diazepam
Hydrophile Wirkstoffe: Plasmakonzentration, z.B. Digoxin, Gentamicin
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Pharmakokinetik im Alter –
Was macht der Körper mit dem Arzneimittel?
• Metabolismus:
• Durchblutung der Leber, Lebermasse
• Aktivität der mikrosomalen Leberenzyme (CYP’s),
First-Pass-Effekt
Akkumulation hepatisch eliminierter Wirkstoffe v.a.
High-Extraction-Drugs z.B. Verapamil, Propranolol, Metoprolol
• Elimination:
• Durchblutung der Niere
• Anzahl und Grösse der Nephrone
Akkumulation renal eliminierter Wirkstoffe, z.B. Digoxin, Gentamicin
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Mutschler Arzneimittelwirkungen, 2013
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Pharmakodynamik im Alter –
Was macht das Arzneimittel mit dem Körper?
• Rezeptorsensibilität zentral wirksamer Arzneimittel
• z.B. verstärkte oder verlängerte Sedierung unter BZD, paradoxe Reaktion
• z.B. verstärkte anticholinerge (unerwünschte) Wirkung unter
Diphenhydramin, Amitriptylin, Levomepromazin, …
• β-Rezeptoren
• Orthostatische Dysregulation aufgrund gestörter Gegenregulations-
mechanismen unter antihypertensiver Therapie oder Dehydratation durch
Diuretika
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3. Leitliniengerechte
Therapie im Alter?
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Überhaupt möglich?
Der «typische alte» Patient …
• Lebt zu Hause oder im Altersheim
• Ist multimorbid
• Art. Hypertonie / Herzinsuffizienz
• Diabetes mellitus
• Demenz / Delir / Depression
• Inkontinenz / Obstipation
• Immobilität / Stürze / Frailty
• Infekte (HWI, Pneumonie etc.)
• Schlafstörungen
• Schmerz
• Polypharmazie 08. Mai 2019| Kardiologisches Kolloquium/Polypharmazie und Alter E. Amrein/Spitalpharmazie 11
Alte und multimorbide Patienten sind in
Zulassungsstudien meist ausgeschlossen
Multimorbidität wird in den Leitlinien
in der Regel nicht berücksichtigt
Eine leitlinienkonforme Therapie ist bei
älteren Patienten oft weder zielführend
noch durchführbar
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4. Potenziell inadäquate
Medikation (PIM) im Alter
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Potenziell inadäquate Medikation (PIM) im Alter
• Hohes Risiko für UAW bei gleichzeitig vorhandener sicherer Alternative
• Altersabhängig schlechtes Nutzen-Risiko-Verhältnis oder unsicherer
therapeutischer Effekt
• Mit vermehrten UAW, erhöhtem Hospitalisationsrisiko und erhöhter Mortalität
assoziiert
• Bei bestimmten Erkrankungen oder Dosierungen im Alter potenziell inadäquat
• «Potenziell», da es nur wenig Evidenz aus randomisierten, kontrollierten
Studien gibt für die Einstufung der Arzneimittel als inadäquate Medikation
• Aufgrund epidemiologischer Studien, pharmakologischer Überlegungen oder
klinischer Erfahrung als PIM eingestuft
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Wie behalten Sie den Überblick?
Zum Beispiel mit «MAI»
• Besteht eine Indikation für das Arzneimittel?
• Ist das Arzneimittel wirksam für die verordnete Indikation?
• Ist die Dosierung korrekt?
• Sind die Einnahmevorschriften korrekt? (z.B. Einnahmefrequenz, Zeitpunkt,
Relation zu den Mahlzeiten)
• Sind die Einnahmevorschriften praktikabel?
• Klinisch relevante Arzneimittel-Interaktionen?
• Klinisch relevante Interaktionen mit anderen Erkrankungen?
• Bestehen Doppelverschreibungen?
• Ist die Therapiedauer adäquat?
• Ist das Arzneimittel kosteneffektiv? 08. Mai 2019| Kardiologisches Kolloquium/Polypharmazie und Alter E. Amrein/Spitalpharmazie 14
Medication Appropriateness Index
Voraussetzung:
Vollständige Arzneimittelanamnese!
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http://priscus.net/
Weitere Hilfsmittel: Beers-, PRISCUS-, FORTA-
Liste & Co
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https://www.degam.de/degam-
leitlinien-379.html
https://www.umm.uni-
heidelberg.de/klinische-
pharmakologie/forschung/forta-
projekt-deutsch/
AGS, 2019
O’Mahony D. et al., 2015
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Beispiel Digoxin: Auszug aus der PRISCUS-
Liste
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Kriterium Beurteilung
Ergebnis der Delphi-Befragung
(Likert-Skala Mittelwert, [95 % KI],
Median)
2.50
[2.03-2.97]
2.0
Begründung
(Auswahl)
Im Alter erhöhte Glykosid-Empfindlichkeit (Fachinformation),
Digoxin steht im Zusammenhang mit Stürzen bei älteren
Patienten (Leipzig et al. 1999), das Risiko einer Digitalis-
Intoxikation steigt mit dem Alter an und ist bei Frauen grösser als
bei Männern (Warren et al. 1994)
Therapie-Alternativen Betablocker (bei Tachykardie/VHF), Therapie der Herzinsuffizienz
mit Diuretika, ACE-Hemmer etc. Modifiziert nach http://priscus.net/
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Beispiel Digoxin: Auszug aus der PRISCUS-
Liste
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Kriterium Beurteilung
Massnahmen, falls das
Arzneimittel trotzdem verwendet
werden soll
Kontrolle der Nierenfunktion (Serum-Kreatinin, Kreatinin-
Clearance, Serum-Elektrolyte [Kalium])
TDM bei Verdacht auf Intoxikation und Non-Compliance,
engmaschige klinische Kontrolle (Kontrolle Digoxin-Spiegel)
Kontrolle der Herz-Kreislauffunktion (BD, Puls, EKG)
Dosisanpassung / Dosisreduktion (Anpassung an Körpergewicht
und Nierenfunktion, Erhaltungsdosis bei > 65 J max. 0.25 mg
bzw. > 80 J max. 0.125 mg)
Das Arzneimittel sollte, wenn
möglich, nicht bei den genannten
Begleiterkrankungen verwendet
werden (zu vermeidende
Komorbiditäten)
(Chronische) Niereninsuffizienz
Elektrolytstörungen (Hypokaliämie, Hyperkalziämie, Magnesium-
Mangel, Calcium-Mangel)
Kardiale Erkrankungen: Bradykardie, Sinusknotensyndrom, AV-
Block (II, III), obstruktive Kardiomyopathien
Hypothyreose Modifiziert nach http://priscus.net/
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... aus der FORTA-Liste
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https://www.umm.uni-heidelberg.de/klinische-pharmakologie/forschung/forta-projekt-deutsch/
Absolutely, Beneficial, Careful, Don’t
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Häufigkeit von PIM in der Schweiz
• Pflegeheimbewohner (Helsana-Versicherte ) ≥ 65 Jahre mit Langzeitaufenthalt
• Analyse von Polypharmazie und PIM-Bezüge im Jahr 2016
• PIM-Identifikation mittels Beers- und PRISCUS-Liste
• 85.5 % aller Pflegeheimbewohner mit Polypharmazie (≥ 5 Arzneimittel)
• 79.1 % aller Pflegeheimbewohner mit ≥ 1 PIM-Bezug
• 56.2 % aller Pflegeheimbewohner als Langzeitbezug (≥ 3 Bezüge des gleichen
PIM)
• Hauptsächlich bezogene PIM: Neuroleptika (v.a. Quetiapin), Benzodiazepine
und Z-Drugs (v.a. Lorazepam und Zolpidem), NSAR (v.a. Ibuprofen,
Diclofenac)
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Helsana-Arzneimittelreport für die Schweiz, 2017
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5. Take Home Messages
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Polypharmazie und Alter – Daran denken!
• Relevantes Thema - Polypharmazie nimmt weltweit zu!
• Birgt Risiken, kann Wahrscheinlichkeit für die Verschreibung von PIM erhöhen
• Leitliniengerechte Therapie ist bei multimorbiden älteren Patienten schwierig
• Die Reduktion oder das Belassen einer Medikation ist immer eine individuelle,
an Behandlungszielen orientierte Entscheidung
• Hilfestellung / Orientierung bieten MAI, Beers-, PRISCUS-, FORTA-Liste & Co
• Physiologische Veränderungen im Alter (PK, PD) berücksichtigen
• Vergessen Sie den Patienten nicht und kommunizieren Sie!
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6. Haben Sie Fragen?
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Herzlichen Dank
für Ihre Aufmerksamkeit.