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Ein Skript f¨ ur Analysis I Chris Preston Wintersemester 2001/02 1

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Ein Skript fur Analysis I

Chris Preston

Wintersemester 2001/02

1

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Dies ist ein Skript fur Analysis I. Die Texte von Lang [10], Konigsberger [8] undAmman und Escher [1] haben die Darstellung beeinflusst.

Chris PrestonFebruar, 2003

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Inhaltsverzeichnis

1 Mengen und Abbildungen 4

2 Der Korper der rationalen Zahlen 12

3 Der Korper der reellen Zahlen 19

4 Der Korper der komplexen Zahlen 26

5 Folgen 30

6 Unendliche Reihen 39

7 Stetige Funktionen 48

8 Folgenkompaktheit 58

9 Trigonometrische Funktionen 61

10 Differentiation 67

11 Mittelwertsatze 80

12 Integration von Regelfunktionen 89

13 Integration und Differentiation 98

14 Das Riemannsche Integral 104

Literatur 110

Index 111

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1 Mengen und Abbildungen

Sind α und β (mathematische) Objekte, so bedeutet α = β, dass sie gleich sind.Sind sie nicht gleich, so schreibt man α 6= β. Die wichtigsten Typen von Objektensind Mengen und Abbildungen.

Ist X eine Menge und x ein Objekt, so bedeutet x ∈ X, dass x ein Element vonX ist. Ist x kein Element von X, so schreibt man x /∈ X.

Fakt 1 Mengen X und Y sind genau dann gleich, wenn sie aus den gleichenElementen bestehen, d.h., wenn fur jedes Objekt x gilt: x ∈ X genau dann, wennx ∈ Y .

Bekannte Mengen sind:

— Die Menge N = {0, 1, 2, . . .} der naturlichen Zahlen.

— Die Menge Z = { . . . ,−2,−1, 0, 1, 2, . . .} der ganzen Zahlen.

— Die Menge Q der rationalen Zahlen.

Eine Menge Y heißt Teilmenge einer Menge X (geschrieben Y ⊂ X), wenn jedesElement von Y auch zu X gehort, d.h., wenn y ∈ X fur jedes y ∈ Y . Insbesonderegilt N ⊂ Z ⊂ Q.

Lemma 1.1 Fur Mengen X und Y gilt X = Y genau dann, wenn X ⊂ Y undY ⊂ X.

Beweis Ubung.

Sei X eine Menge. Ist E(x) ein Ausdruck, der eine Aussage darstellt, wenn fur xein Element von X eingesetzt wird, so heißt E Eigenschaft auf X.

Fakt 2 Sei X eine Menge und sei E eine Eigenschaft auf X; dann gibt es eine(eindeutige) Teilmenge von X, die aus allen Elementen x von X besteht, fur dieE(x) wahr ist; sie wird mit {x ∈ X : E(x)} bezeichnet.

Zum Beispiel sei E(n) der Ausdruck 3 < n < 7; dann ist E eine Eigenschaft aufN und {n ∈ N : 3 < n < 7} ist die Teilmenge von N, die aus den Elementen 4, 5und 6 besteht.

Sei Y Teilmenge einer Menge X und sei E(x) der Ausdruck x /∈ Y . Dann ist Eeine Eigenschaft auf X und die Teilmenge {x ∈ X : x /∈ Y } von X wird mitX \ Y bezeichnet. Sie heißt das Komplement von Y (in X).

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1 Mengen und Abbildungen 5

Fakt 3 Es gibt eine Menge ∅, die kein Element enthalt: Fur jedes Objekt x giltalso x /∈ ∅. Die Menge ∅ heißt leere Menge.

Lemma 1.2 Die leere Menge ∅ ist eindeutig, d.h. sie ist die einzige Menge, diekein Element enthalt: Ist ∅′ eine Menge mit x /∈ ∅′ fur jedes Objekt x, so ist∅′ = ∅.

Beweis Ubung.

Die leere Menge ist Teilmenge jeder Menge, d.h., ∅ ⊂ X fur jede Menge X. EineMenge X heißt nichtleer, wenn X 6= ∅, d.h., wenn es mindestens ein Objekt xmit x ∈ X gibt.

Fakt 4 Sind x1, . . . , xn endlich viele Objekte, so gibt es eine (eindeutige) MengeP , die genau aus diesen Elementen besteht: Ist w eine Objekt, so gilt w ∈ P genaudann, wenn w = xk fur (mindestens) ein k = 1, . . . , n. Diese Menge P wird mit{x1, . . . , xn} bezeichnet.

Sei I eine nichtleere Menge und fur jedes i ∈ I sei Xi eine Menge. Dann heißt{Xi : i ∈ I} Familie von Mengen und I die Indexmenge fur diese Familie. (Manmerke, dass es hier nicht verlangt wird, dass Xi 6= Xj , falls i 6= j.) Das einfachsteBeispiel ist mit I = [n] fur ein n ≥ 1, wobei [n] die Teilmenge {1, 2, . . . , n}von N bezeichnet. Eine Familie {Xi : i ∈ [n]} besteht also aus den n MengenX1, . . . , Xn.

Fakt 5 Zu jeder Familie {Xi : i ∈ I} von Mengen gibt es eine (eindeutige)Menge V mit der Eigenschaft: Fur jedes Objekt x gilt x ∈ V genau dann, wennx ∈ Xi fur (mindestens) ein i ∈ I. Die Menge V heißt Vereinigung der Mengenin der Familie {Xi : i ∈ I} und wird mit

i∈I Xi bezeichnet.

Fakt 6 Zu jeder Familie {Xi : i ∈ I} von Mengen gibt es eine (eindeutige)Menge D mit der Eigenschaft: Fur jedes Objekt x gilt x ∈ D genau dann, wennx ∈ Xi fur alle i ∈ I. Die Menge D heißt Durchschnitt der Mengen in der Familie{Xi : i ∈ I} und wird mit

i∈I Xi bezeichnet.

Sind X1, . . . , Xn endlich viele Mengen, so wird die Vereinigung (bzw. der Durch-schnitt) der Mengen in der Familie {Xi : i ∈ [n]} mit X1 ∪ · · ·∪Xn oder

⋃nk=1Xk

(bzw. X1 ∩ · · · ∩Xn oder⋂n

k=1Xk) bezeichnet.

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1 Mengen und Abbildungen 6

Fakt 7 Zu jeder Menge X gibt es eine (eindeutige) Menge P(X), deren Elementegenau die Teilmengen von X sind. Fur jedes Objekt Y gilt also Y ∈ P(X) genaudann, wenn Y eine Menge ist mit Y ⊂ X. Die Menge P(X) heißt Potenzmengevon X.

Da ∅ ⊂ X, ist ∅ ∈ P(X); insbesondere ist P(X) stets nichtleer. Die MengeP(∅) besteht aus dem einzigen Element ∅, d.h., P(∅) = {∅}.Seien X und Y Mengen. Eine Abbildung oder eine Funktion f von X nach Y isteine Vorschrift, die jedem Element von X genau ein Element von Y zuordnet. Dasdem Element x ∈ X zugeordnete Element von Y wird mit f(x) bezeichnet. Ist feine Abbildung, so schreibt man f : X → Y um zu zeigen, dass f eine Abbildungvon X nach Y ist. Ist f : X → Y eine Abbildung, so heißt X Definitionsbereichvon f und wird mit dom(f) bezeichnet. Die Teilmenge von Y

{y ∈ Y : es gibt ein x ∈ X mit y = f(x)}

heißt Bild von f und wird mit im(f) bezeichnet.

Fakt 8 Abbildungen f : X → Y und f ′ : X ′ → Y ′ sind genau dann gleich, wenngilt: X = X ′, Y = Y ′ und f(x) = f ′(x) fur jedes x ∈ X.

Fur jede Menge Y gibt es genau eine Abbildung von ∅ nach Y . Es gibt eineAbbildung von einer Menge X nach ∅ genau dann, wenn X = ∅.

Einfache Beispiele von Abbildungen sind:

(1) Fur jede Menge X gibt es die Identitatsabbildung idX : X → X, die definiertist durch idX(x) = x fur jedes x ∈ X.

(2) Ist X eine Menge und Y eine Teilmenge von X, so gibt es die Inklusions-abbildung inY,X : Y → X, die definiert ist durch inY,X(y) = y fur jedes y ∈ Y .Insbesondere ist idX = inX,X .

(3) Sind X und Y Mengen, so gibt es fur jedes y ∈ Y die konstante Abbildungcony : X → Y , die definiert ist durch cony(x) = y fur jedes x ∈ X.

Fakt 9 Sind X, Y, Z Mengen und f : X → Y und g : Y → Z Abbildungen, sogibt es die Abbildung g ◦ f : X → Z, die definiert ist durch (g ◦ f)(x) = g(f(x))fur alle x ∈ X. Diese Abbildung heißt die Komposition von f und g und wird oftlediglich mit gf bezeichnet.

Fur jede Abbildung f : X → Y gilt f ◦ idX = f = idY ◦ f .

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1 Mengen und Abbildungen 7

Lemma 1.3 (Assoziativitat der Komposition) Seien W, X, Y, Z Mengenund f : W → X, g : X → Y und h : Y → Z Abbildungen. Dann gilt

h ◦ (g ◦ f) = (h ◦ g) ◦ f .

Beweis Ubung.

Aufgrund der Assoziativitat ist es unnotig, bei Kompositionen Klammern zusetzen, d.h., die Abbildung in Lemma 1.3 kann einfach mit h ◦ g ◦ f bezeichnetwerden.

Ist f : X → Z eine Abbildung und Y eine Teilmenge von X, so gibt es dieAbbildung f|Y = f ◦ inY,X ; also ist f|Y : Y → Z definiert durch f|Y (y) = f(y) furjedes y ∈ Y und heißt Restriktionsabbildung. Insbesondere ist f|X = f .

Eine Abbildung f : X → Y heißt injektiv, wenn f(x) 6= f(x′) fur alle x, x′ ∈ Xmit x 6= x′, surjektiv, wenn es zu jedem y ∈ Y ein x ∈ X mit y = f(x) gibt (d.h.,wenn im(f) = Y ), und bijektiv, wenn sie injektiv und surjektiv ist.

Fur jede Menge X ist die Identitatsabbildung idX : X → X bijektiv. Ist Y eineTeilmenge von X, so ist die Inklusionsabbildung inY,X : Y → X injektiv; sie istaber nur dann surjektiv, wenn Y = X. Ist f : X → Z eine injektive Abbildung,so ist die Restriktionsabbildung f|Y : Y → Z auch injektiv fur jede Teilmenge Yvon X.

Lemma 1.4 Seien f : X → Y und g : Y → Z Abbildungen. Sind f und ginjektiv (bzw. surjektiv bzw. bijektiv), so ist die Komposition g ◦ f auch injektiv(bzw. surjektiv bzw. bijektiv).

Beweis Ubung.

Lemma 1.5 Seien X, Y Mengen und sei f : X → Y eine Abbildung.

(1) Gibt es eine Abbildung g : Y → X mit g ◦ f = idX, so ist f injektiv.

(2) Ist X nichtleer und ist f injektiv, so gibt es eine Abbildung g : Y → X mitg ◦ f = idX.

(3) Gibt es eine Abbildung g : Y → X mit f ◦ g = idY , so ist f surjektiv.

(4) Ist f surjektiv, so gibt es eine Abbildung g : Y → X mit f ◦ g = idY .

Beweis Ubung.

Im Beweis fur Lemma 1.5 (4) wird das so genannte Auswahlaxiom benotigt:

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1 Mengen und Abbildungen 8

Fakt 10 Sei {Xi : i ∈ I} eine Familie von nichtleeren Mengen. Dann existierteine Abbildung f : I →

i∈I Xi mit f(i) ∈ Xi fur jedes i ∈ I.

Satz 1.1 Eine Abbildung f : X → Y ist genau dann bijektiv, wenn es eineAbbildung g : Y → X mit g ◦ f = idX und f ◦ g = idY gibt. In diesem Fall ist geindeutig bestimmt.

Beweis Die Behauptung ist trivial richtig, falls X = ∅; es kann also angenommenwerden, dass X nichleer ist.

Nehme zunachst an, dass es eine Abbildung g : Y → X mit g ◦ f = idX undf ◦ g = idY gibt. Nach Lemma 1.5 (1) (bzw. nach Lemma 1.5 (3)) ist f danninjektiv (bzw. surjektiv) und damit ist f bijektiv.

Nehme nun umgekehrt an, dass f bijektiv ist. Insbesondere ist f injektiv, undfolglich gibt es nach Lemma 1.5 (4) eine Abbildung g : Y → X mit g ◦ f = idX .Aber dann gilt auch f ◦ g = idY : Sei y ∈ Y ; da f surjektiv ist, gibt es ein x ∈ Xmit y = f(x) und daraus folgt, dass

(f ◦ g)(y) = (f ◦ g)(f(x)) = ((f ◦ g) ◦ f)(x) = (f ◦ (g ◦ f))(x)

= (f ◦ idX)(x) = f(idX(x)) = f(x) = y = idY (y) .

Dies zeigt, dass (f◦g)(y) = idY (y) fur alle y ∈ Y , d.h., f◦g = idY . Schließlich mussdie Eindeutigkeit von g nachgewiesen werden: Seien g, g′ : Y → X Abbildungenmit g ◦ f = idX , f ◦ g = idY , g′ ◦ f = idX und f ◦ g′ = idY . Dann gilt

g′ = g′ ◦ idY = g′ ◦ (f ◦ g) = (g′ ◦ f) ◦ g = idX ◦ g = g .

Sei f : X → Y eine bijektive Abbildung; nach Satz 1.1 gibt es eine eindeutigeAbbildung g : Y → X mit g ◦ f = idX und f ◦ g = idY . Diese Abbildung g heißtdie Umkehrabbildung von f und wird mit f−1 bezeichnet, es gilt also f−1◦f = idX

und f ◦ f−1 = idY . Offensichtlich ist id−1X = idX fur jede Menge X.

Lemma 1.6 Sind f : X → Y und g : Y → Z bijektive Abbildungen, so ist

(g ◦ f)−1 = f−1 ◦ g−1 .

(Erinnerung: Nach Lemma 1.4 ist die Abbildung g ◦ f : X → Z bijektiv.)

Beweis Ubung.

Sei f : X → Y eine Abbildung. Fur jedes A ⊂ X heißt die Teilmenge von Y

{y ∈ Y : es gibt ein x ∈ A mit y = f(x)}

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das Bild von A unter f und wird mit f(A) bezeichnet. Insbesondere ist f(X) dasBild von f , d.h., f(X) = im(f). Fur jedes B ⊂ Y heißt die Teilmenge von X

{x ∈ X : f(x) ∈ B}

das Urbild von B unter f und wird mit f−1(B) bezeichnet. Es gibt eigentlich keinProblem mit dieser Schreibweise, wenn f : X → Y eine bijektive Abbildung ist,da in diesem Fall das Bild einer Teilmenge B von Y unter der Umkehrabbildungf−1 gleich dem Urbild von B unter f ist.

Fakt 11 Seien X, Y Mengen; dann gibt es eine (eindeutige) Menge Abb(X, Y ),deren Elemente genau die Abbildungen von X nach Y sind. Fur jedes Objekt fgilt also f ∈ Abb(X, Y ) genau dann, wenn f eine Abbildung von X nach Y ist.

Sei {Xi : i ∈ I} eine Familie von Mengen und setze V =⋃

i∈I Xi. Die Menge

{f ∈ Abb(I, V ) : f(i) ∈ Xi fur alle i ∈ I}

heißt das (cartesische) Produkt der Mengen in der Familie {Xi : i ∈ I} und wirdmit

i∈I Xi bezeichnet.

Lemma 1.7 Ist {Xi : i ∈ I} eine Familie von nichtleeren Mengen, so ist dasProdukt

i∈I Xi auch nichtleer.

Beweis Dies ist lediglich eine Umformulierung des Auswahlaxioms.

Seien X1, . . . , Xn endlich viele Mengen; in diesem Fall wird das Produkt derMengen in der Familie {Xi : i ∈ [n]} mit

∏nk=1Xk oder X1×· · ·×Xn bezeichnet.

Die Menge X1 × · · · ×Xn besteht also aus allen Abbildungen f : [n] →⋃n

k=1Xk

mit f(k) ∈ Xk fur jedes k. Fur jedes k = 1, . . . , n sei xk ∈ Xk; dann gibtes ein eindeutiges Element f ∈ X1 × · · · × Xn mit f(k) = xk fur jedes k unddieses Element wird mit (x1, . . . , xn) bezeichnet. Ist umgekehrt f ein Elementvon X1 × · · · × Xn, so gibt es fur jedes k ein eindeutiges xk ∈ Xk, so dassf = (x1, . . . , xn). Insbesondere gilt (x1, . . . , xn) = (x′1, . . . , x

′n) genau dann, wenn

xk = x′k fur jedes k. Das Produkt X1×· · ·×Xn kann also als Menge aller n-Tupeln

(x1, . . . , xn)

angesehen werden, wobei xk ∈ Xk fur jedes k = 1, . . . , n.

Seien X und Y Mengen; dann kann und wird das Produkt X × Y angesehenwerden als Menge aller geordneten Paare (x, y) mit x ∈ X und y ∈ Y , wobei‘geordnet’ hier bedeutet, dass (x, y) = (x′, y′) genau dann, wenn x = x′ undy = y′.

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1 Mengen und Abbildungen 10

Sei X eine Menge; eine Teilmenge R von X×X wird oft als (binare) Relation aufX angesehen. In diesem Fall schreibt man meistens x1Rx2 statt (x1, x2) ∈ R.

Fur jede Menge X gibt es die Relationen = und 6= auf X sowie die Relation ⊂auf P(X). Auf den Mengen N, Z und Q gibt es ferner die Ordnungsrelationen <,≤, > und ≥.

Eine Relation R auf einer Menge X heißt

— reflexiv, wenn xRx gilt fur jedes x ∈ X,

— transitiv, wenn aus x1 Rx2 und x2 Rx3 stets x1 Rx3 folgt,

— symmetrisch, wenn x2Rx1 gilt fur alle x1, x2 ∈ X mit x1Rx2,

— antisymmetrisch, wenn aus x1Rx2 und x2 Rx1 stets x1 = x2 folgt.

Die Relationen =, ⊂, ≤ und ≥ sind reflexiv, =, ⊂, <, ≤, > und ≥ sind transitiv, =und 6= sind symmetrisch und die Relationen =, ⊂, ≤ und ≥ sind antisymmetrisch.

Eine Relation ∼ auf X, die reflexiv, symmetrisch und auch transitiv ist, heißtAquivalenzrelation auf X. Insbesondere ist = eine Aquivalenzrelation.

Wichtiges Beispiel: Sei Q = Z × Z×, wobei Z× = Z \ {0} und definiere eineRelation ∼ auf Q durch: (m1, n1) ∼ (m2, n2) genau dann, wenn m1n2 = m2n1.Dann sieht man leicht, dass ∼ eine Aquivalenzrelation auf Q ist. (Naturlich wirddas Element (m,n) von Q normalerweise mit m/n bezeichnet.)

Im Folgenden sei ∼ eine Aquivalenzrelation auf einer Menge X. Setze

[x] = {y ∈ X : y ∼ x}

fur jedes x ∈ X; [x] heißt die Aquivalenzklasse (oder Restklasse) von x. Dann giltinsbesondere x ∈ [x] fur jedes x ∈ X, da ∼ reflexiv ist.

Sind x, y ∈ X, so bedeutet x 6∼ y, dass x ∼ y nicht gilt.

Lemma 1.8 (1) Seien x, y ∈ X mit x ∼ y; dann ist [x] = [y].

(2) Seien x, y ∈ X mit x 6∼ y; dann sind die Aquivalenzklassen [x] und [y]disjunkt, d.h., [x] ∩ [y] = ∅.

(3) Seien x, y ∈ X; dann gilt entweder [x] = [y] oder [x] ∩ [y] = ∅.

Beweis (1) Seien u, v ∈ X mit u ∼ v und sei z ∈ [u]. Dann ist z ∼ u und damitz ∼ v, da ∼ transitiv ist. Folglich ist z ∈ [v], und dies zeigt, dass [u] ⊂ [v], fallsu ∼ v. Insbesondere ist [x] ⊂ [y]. Aber y ∼ x, da ∼ symmetrisch ist, und alsogilt auch [y] ⊂ [x], d.h., [x] = [y].

(2) Seien x, y ∈ X mit [x] ∩ [y] 6= ∅. Dann gibt es ein Element z ∈ [x] ∩ [y] unddamit gilt z ∼ x und z ∼ y. Aber dann ist x ∼ z, da ∼ symmetrisch ist, und

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1 Mengen und Abbildungen 11

daraus ergibt sich, dass x ∼ y, da ∼ transitiv ist. Folglich ist [x] ∩ [y] = ∅, fallsx 6∼ y.

(3) Dies folgt unmittelbar aus (1) und (2).

Definiere nun eine Teilmenge von P(X) durch

X/∼ = {A ∈ P(X) : es gibt ein x ∈ X mit A = [x]} ;

X/∼ heißt die Restklassenmenge modulo ∼.

Eine Teilmenge A von P(X) heißt Partition oder Zerlegung von X, wenn es zujedem x ∈ X genau ein A ∈ A mit x ∈ A gibt.

Satz 1.2 Die Restklassenmenge X/∼ ist eine Partition von X.

Beweis Sei x ∈ X; dann ist [x] ∈ X/∼ und x ∈ [x]. Sei nun A ein beliebigesElement von X/∼ mit x ∈ A; dann gibt es y ∈ X mit A = [y]. Da x ∈ A = [y],ist damit x ∼ y, und daraus folgt nach Lemma 1.8 (1), dass A = [y] = [x]. Dieszeigt, dass es genau ein A ∈ X/∼ (namlich A = [x]) mit x ∈ A gibt.

Ist A eine Partition von X und x ∈ X, so bezeichnet Ax das eindeutige Elementvon A mit x ∈ Ax.

Satz 1.3 Sei A eine Partition von X und definiere eine Relation ∼ auf X durch:x ∼ y genau dann, wenn Ax = Ay. Dann ist ∼ eine Aquivalenzrelation auf Xund A = X/∼.

Beweis Dies ist klar.

Sei X eine Menge; eine Abbildung ⊕ : X × X → X nennt man Verknupfungauf X, und in diesem Fall schreibt man meistens x1 ⊕ x2 statt ⊕(x1, x2). ZumBeispiel gibt es auf N die zwei Verknupfungen + : N × N → N (Addition) und× : N × N → N (Multiplikation).

Hier ist eine außerst wichtige Eigenschaft der naturlichen Zahlen:

Fakt 12 (Prinzip der vollstandigen Induktion) Sei N eine Teilmenge vonN mit 0 ∈ N , fur die gilt: Fur jedes n ∈ N ist auch n+ 1 ∈ N . Dann ist N = N.

Satz 1.4 (Beweis durch vollstandige Induktion) Fur jedes n ∈ N sei An

eine Aussage. Nehme an, A0 ist richtig und es gilt: Aus der Richtigkeit von An

folgt, dass An+1 auch richtig ist. Dann ist An richtig fur jedes n ∈ N.

Beweis Sei N = {n ∈ N : An ist richtig}; dann ist 0 ∈ N und fur jedes n ∈ Nist auch n + 1 ∈ N . Daraus folgt nach dem Prinzip der vollstandigen Induktion,dass N = N, d.h., An ist richtig fur jedes n ∈ N.

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2 Der Korper der rationalen Zahlen

Die rationalen Zahlen Q werden hier als gegeben vorausgesetzt. Insbesondere istQ ein Beispiel fur einen Korper – ein Begriff, der nun eingefuhrt wird.

Ein 5-Tupel (K,+, ·, 0, 1) bestehend aus einer Menge K, einer Verknupfung

+ : K ×K → K

(λ, µ) 7→ λ+ µ

(genannt Addition), einer Verknupfung

· : K ×K → K

(λ, µ) 7→ λµ

(genannt Multiplikation) und Elementen 0, 1 ∈ K mit 0 6= 1 heißt Korper, wennfolgendes gilt:

(K1) (λ+ µ) + ν = λ+ (µ+ ν) fur alle λ, µ, ν ∈ K.

(K2) λ+ µ = µ+ λ fur alle λ, µ ∈ K.

(K3) 0 + λ = λ fur alle λ ∈ K.

(K4) Zu jedem λ ∈ K gibt es ein Element −λ ∈ K mit (−λ) + λ = 0.

(K5) (λµ)ν = λ(µν) fur alle λ, µ, ν ∈ K.

(K6) λµ = µλ fur alle λ, µ ∈ K.

(K7) Fur alle λ ∈ K gilt 1λ = λ.

(K8) Zu jedem λ ∈ K mit λ 6= 0 gibt es ein Element λ−1 ∈ K mit λ−1λ = 1.

(K9) λ(µ+ ν) = λµ+ λν fur alle λ, µ, ν ∈ K.

Bemerkung: Nach der ublichen Konvention soll die Addition in K weniger starkbinden als die Multiplikation. (λµ+ λν bedeutet also (λµ) + (λν).)

Die Elemente 0 und 1 heißen das Nullelement oder die Null bzw. das Einselementoder die Eins.

Lemma 2.1 Sei (K,+, ·, 0, 1) ein Korper.

(1) Das Nullelement 0 ist eindeutig: Ist 0′ ∈ K ein Element mit 0′ + λ = λ furalle λ ∈ K, so ist 0′ = 0.

(2) Zu jedem λ ∈ K gibt es genau ein Element −λ ∈ K mit (−λ) + λ = 0.

(3) Das Einselement 1 ist eindeutig: Ist 1′ ∈ K ein Element mit 1′λ = λ fur alleλ ∈ K, so ist 1′ = 1.

(4) Zu jedem λ ∈ K mit λ 6= 0 gibt es genau ein Element λ−1 ∈ K mit λ−1λ = 1.

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2 Der Korper der rationalen Zahlen 13

Beweis (1) Sei 0′ ∈ K ein Element mit 0′ + λ = λ fur alle λ ∈ K; insbesondereist dann 0′ + 0 = 0. Da aber 0 + λ = λ fur alle λ ∈ K, ist auch 0 + 0′ = 0′, undnach (K2) ist 0 + 0′ = 0′ + 0. Damit ist 0′ = 0 + 0′ = 0′ + 0 = 0.

(2) Sei λ ∈ K und sei λ′ ∈ K mit λ′ + λ = 0. Unter Anwendung von (K1), (K2),(K3) und (K4) folgt dann, dass

λ′ = 0 + λ′ = ((−λ) + λ) + λ′ = (−λ) + (λ+ λ′)

= (−λ) + (λ′ + λ) = (−λ) + 0 = 0 + (−λ) = −λ .

(3) Sei 1′ ∈ K ein Element mit 1′λ = λ fur alle λ ∈ K; insbesondere ist dann1′ · 1 = 1. Da aber 1λ = λ fur alle λ ∈ K, ist auch 1 · 1′ = 0′, und nach (K6) ist1 · 1′ = 1′ · 1. Damit ist 1′ = 1 · 1′ = 1′ · 1 = 1.

(4) Sei λ ∈ K und sei λ′ ∈ K \ {0} mit λ′λ = 1. Unter Anwendung von (K5),(K6), (K7) und (K8) folgt dann, dass

λ′ = 1λ′ = (λ−1λ)λ′ = λ−1(λλ′) = λ−1(λ′λ) = λ−11 = 1λ−1 = λ−1 .

Wenn aus dem Kontext klar ist, welche Verknupfungen + und · und Elemente 0und 1 gemeint sind, dann wird lediglich K statt (K,+, ·, 0, 1) geschrieben.

Ist K ein Korper, so wird eine Verknupfung

− : K ×K → K

(λ, µ) 7→ λ− µ

(genannt Subtraktion) durch λ− µ = λ+ (−µ) definiert.

Die rationalen Zahlen Q mit der ublichen Addition und Multiplikation bildeneinen Korper. (Das Nullelement ist 0 und das Einselement ist 1.)

Ist K ein Korper, so wird die Teilmenge K \ {0} von K mit K× bezeichnet. EinKorper K heißt angeordnet bezuglich einer Teilmenge P von K×, wenn gilt:

(1) Fur jedes λ ∈ K× ist genau eines von λ und −λ in P .

(2) Fur alle λ, µ ∈ P ist λ+ µ ∈ P und λµ ∈ P .

Insbesondere ist der Korper Q angeordnet bezuglich der Teilmenge

PQ = {λ ∈ Q : λ > 0}

von Q×. Dies ist aber die einzige Moglichkeit:

Lemma 2.2 Ist Q angeordnet bezuglich einer Teilmenge P , so ist P = PQ.

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2 Der Korper der rationalen Zahlen 14

Beweis Ubung.

SeiK ein Korper angeordnet bezuglich einer Teilmenge P vonK×; dann wird eineRelation > auf K definiert durch: Es gilt λ > µ genau dann, wenn λ − µ ∈ P .Insbesondere ist P = {λ ∈ K : λ > 0}. Vorubergehend wird > die von Pabgeleitete Großer-Relation genannt. Die von PQ abgeleitete Großer-Relation aufQ ist naturlich nichts anderes als die ubliche Großer-Relation> auf den rationalenZahlen.

Satz 2.1 Sei K ein Korper angeordnet bezuglich einer Teilmenge P von K×.Dann besitzt die von P abgeleitete Großer-Relation > folgende Eigenschaften:

(1) Es gilt nicht 0 > 0.

(2) Fur jedes λ ∈ K× gilt genau eines von λ > 0 und −λ > 0.

(3) Es gilt λ+ µ > 0 und λµ > 0 fur alle λ, µ ∈ K mit λ > 0, µ > 0.

(4) Es gilt λ > µ genau dann, wenn λ− µ > 0.

Ist umgekehrt > irgendeine Relation auf einem Korper K, die (1), (2), (3) und(4) erfullt, und P = {λ ∈ K : λ > 0}, dann ist P eine Teilmenge von K×, K istangeordnet bezuglich P und > ist die von P abgeleitete Großer-Relation.

Beweis (1) Dies ist klar, da 0 /∈ P und P = {λ ∈ K : λ > 0}.(2) Dies ist auch klar, da fur jedes λ ∈ K× genau eines von λ ∈ P und −λ ∈ Pgilt, und P = {λ ∈ K : λ > 0}.(3) Seien λ, µ ∈ K mit λ > 0, µ > 0. Dann ist λ ∈ P und µ ∈ P und damit auchλ+ µ ∈ P und λµ ∈ P . Folglich ist λ+ µ > 0 und λµ > 0.

(4) Es gilt λ > µ genau dann, wenn λ − µ ∈ P , d.h., λ > µ gilt genau dann,wenn λ− µ > 0.

Ist K ein Korper angeordnet bezuglich einer Teilmenge P von K×, so wird dannmeistens lediglich von einem angeordneten Korper K geredet. Die von P abge-leitete Großer-Relation wird mit > bezeichnet und die Teilmenge P nicht mehrexplizit erwahnt.

Im Folgenden sei K ein angeordneter Korper. Wie in Q wird die Relation <definiert durch: Es gilt λ < µ genau dann, wenn µ > λ. Folglich gilt λ < µ genaudann, wenn µ− λ ∈ P .

Satz 2.2 Die folgenden Rechenregeln gelten fur die Relationen < und >:

(1) Sind λ, µ ∈ K mit λ 6= µ, so ist genau eine der Aussagen λ < µ und µ < λrichtig.

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2 Der Korper der rationalen Zahlen 15

(2) Sind λ, µ, ν ∈ K mit λ < µ und µ < ν, so ist λ < ν.

(3) Es gilt λ < µ genau dann, wenn −λ > −µ.(4) Sind λ, µ ∈ K mit λ < µ, so ist λ+ ν < µ+ ν fur alle ν ∈ K.

(5) Sind λ, µ, ν, ∈ K mit λ < µ und ν < , so ist λ+ ν < µ+ .

(6) Sind λ, µ ∈ K mit λ < µ und ν > 0, so ist νλ < νµ.

(7) Sind λ, µ ∈ K mit λ < µ und ν < 0, so ist νµ < νλ.

(8) Fur jedes λ ∈ K× ist λλ > 0; insbesondere ist 1 > 0.

(9) Ist λ ∈ K× mit λ > 0, so ist λ−1 > 0.

(10) Sind λ, µ ∈ K× mit λ > 0 und µ > λ, so ist µ−1 < λ−1.

Beweis (1) Dies ist klar.

(2) Sind λ, µ, ν ∈ K mit λ < µ und µ < ν, so ist µ− λ ∈ P und ν − µ ∈ P unddamit ν − λ = (ν − µ) + (µ− λ) ∈ P , d.h., λ < ν.

(3) Es gilt λ < µ genau dann, wenn µ − λ ∈ P , und −λ > −µ gilt genau dann,wenn −λ− (−µ) ∈ P . Aber −λ− (−µ) = −λ + µ = µ− λ.

(4) Sind λ, µ ∈ K mit λ < µ, so ist µ − λ ∈ P und damit (µ + ν) − (λ + ν) =µ− λ ∈ P fur alle ν ∈ K, d.h., λ+ ν < µ+ ν fur alle ν ∈ K.

(5) Sind λ, µ, ν, ∈ K mit λ < µ und ν < , so ist µ − λ ∈ P und − ν ∈ Pund damit auch (µ+ ) − (λ+ ν) = (µ− λ) + (− ν) ∈ P , d.h., λ + ν < µ+ .

(6) Sind λ, µ ∈ K mit λ < µ und ν > 0, so ist µ− λ ∈ P und ν ∈ P und damitauch νµ − νλ = ν(µ− λ) ∈ P , d.h., νλ < νµ.

(7) Sind λ, µ ∈ K mit λ < µ und ν < 0, so ist µ−λ ∈ P und −ν ∈ P und damitauch νλ− νµ = (−ν)(µ− λ) ∈ P , d.h., νµ < νλ.

(8) Ist λ ∈ P , so ist λλ ∈ P und damit λλ > 0. Ist dagegen −λ ∈ P , so ist wiederλλ = (−λ)(−λ) ∈ P , d.h., λλ > 0. Folglich ist λλ > 0 fur alle λ ∈ K×, da furjedes λ ∈ K× genau eines von λ und −λ in P ist. Insbesondere ist 1 = 1 · 1 > 0.

(9) Sei λ ∈ K× mit λ > 0; dann ist λ−1 ∈ K× und damit ist genau eines von λ−1

und −λ−1 in P . Aber −λ−1 ∈ P ist nicht moglich, da dann −1 = λ(−λ−1) ∈ Pware und daher 1 /∈ P (im Widerspruch zu 1 > 0). Also ist λ−1 ∈ P , d.h.,λ−1 > 0.

(10) Seien λ, µ ∈ K× mit λ > 0 und µ > λ; also sind λ ∈ P , µ − λ ∈ P undµ = (µ−λ)+λ ∈ P , und nach (9) ist (µ−λ)−1 > 0, d.h., (µ−λ)−1 ∈ P . Darausfolgt, dass λµ(µ− λ)−1 ∈ P , d.h., λµ(µ− λ)−1 > 0. Aber

(λ−1 − µ−1)λµ(µ− λ)−1 = (µ− λ)(µ− λ)−1 = 1 ,

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2 Der Korper der rationalen Zahlen 16

d.h., λµ(µ − λ)−1 = (λ−1 − µ−1)−1 und damit ist nach (9) λ−1 − µ−1 > 0, d.h.,µ−1 < λ−1.

Wie in Q werden die Relationen ≤ und ≥ auf K definiert durch: Es gilt λ ≤ µgenau dann, wenn λ < µ oder λ = µ, und λ ≥ µ genau dann, wenn λ > µ oderλ = µ. Fur jedes λ ∈ K sei der (Absolut)-Betrag |λ| von λ definiert durch

|λ| =

{λ , falls λ ≥ 0,−λ , falls λ < 0.

Satz 2.3 Der Absolut-Betrag hat folgende Eigenschaften:

(1) Fur jedes λ ∈ K ist |λ| ≥ 0 und |λ| = 0 gilt genau dann, wenn λ = 0.

(2) Fur alle λ, µ ∈ K ist |λµ| = |λ||µ|. Insbesondere ist |−λ| = |λ|.(3) Fur alle λ, µ ∈ K ist |λ+ µ| ≤ |λ| + |µ| (Dreiecksungleichung).

(4) Fur alle λ, µ ∈ K ist ||λ|− |µ|| ≤ |λ−µ| (Umgekehrte Dreiecksungleichung).

Beweis (1) Fur jedes λ ∈ K gilt genau eines von λ = 0, λ > 0 und λ < 0. Istλ > 0, so ist |λ| = λ > 0, und |λ| 6= 0. Ist λ < 0, so ist |λ| = −λ > 0, und wiederist |λ| 6= 0. Schließlich ist |0| = 0. Fur jedes λ ∈ K ist also |λ| ≥ 0 und |λ| = 0gilt genau dann, wenn λ = 0.

(2) Sind λ ≥ 0 und µ ≥ 0, so ist λµ ≥ 0 und damit |λµ| = λµ = |λ||µ|. Ist λ < 0und µ ≥ 0, so ist λµ = −(−λ)µ ≤ 0 und damit ist |λµ| = −λµ = (−λ)µ = |λ||µ|.Genauso gilt |λµ| = |λ||µ|, wenn λ ≥ 0 und µ < 0. Sind schließlich λ < 0 undµ < 0, so ist λµ = (−λ)(−µ) > 0 und damit ist |λµ| = λµ = (−λ)(−µ) = |λ||µ|.Insbesondere ist |−λ| = |−1 · λ| = |−1||λ| = 1 · |λ| = |λ| fur jedes λ ∈ K.

(3) Gilt λ ≥ 0 und µ ≥ 0 oder λ < 0 und µ < 0, so stellt man leicht fest,dass |λ + µ| = |λ| + |µ|. Nehme also ohne Beschrankung der Allgemeinheit an,dass λ ≥ 0 und µ < 0; damit ist |λ| = λ und |µ| = −µ. Ist λ + µ ≥ 0, so ist|λ+ µ| = λ+ µ und daraus ergibt sich, dass

|λ| + |µ| − |λ+ µ| = λ+ (−µ) − (λ+ µ) = (−µ) + (−µ) ≥ 0 .

Ist andererseits λ+ µ < 0, so ist |λ+ µ| = −(λ + µ) und hier ist

|λ| + |µ| − |λ+ µ| = λ+ (−µ) + (λ+ µ) = λ+ λ ≥ 0 .

In beiden Fallen ist |λ| + |µ| − |λ+ µ| ≥ 0, d.h., |λ+ µ| ≤ |λ| + |µ|.(4) Nach (3) ist |λ| = |(λ−µ)+µ| ≤ |λ−µ|+ |µ| und damit ist |λ|−|µ| ≤ |λ−µ|.Genauso gilt |µ| − |λ| ≤ |µ − λ| = |λ − µ|. Folglich ist ||λ| − |µ|| ≤ |λ − µ|: Ist|λ| − |µ| ≥ 0, so ist ||λ| − |µ|| = |λ| − |µ| ≤ |λ− µ|; ist andererseits |λ| − |µ| < 0,so ist wieder ||λ| − |µ|| = −(|λ| − |µ|) = |µ| − |λ| ≤ |λ− µ|.

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2 Der Korper der rationalen Zahlen 17

Satz 2.4 Sei n ≥ 2 und seien λ1, . . . , λn ∈ K.

(1) Es gibt ein eindeutiges λ ∈ K, fur das gilt: λk ≤ λ fur alle k = 1, . . . , n undλj = λ fur mindestens ein j. Das Element λ wird mit max{λk : 1 ≤ k ≤ n} odermax{λ1, . . . , λn} bezeichnet.

(2) Es gibt ein eindeutiges λ′ ∈ K, fur das gilt: λk ≥ λ′ fur alle k = 1, . . . , nund λj = λ′ fur mindestens ein j. Das Element λ′ wird mit min{λk : 1 ≤ k ≤ n}oder min{λ1, . . . , λn} bezeichnet.

Beweis Ubung.

Satz 2.5 Sei m ≥ 2 und λ1, . . . , λm, ε ∈ K mit ε > 0 und 0 < λk+1 − λk < εfur jedes k = 1, . . . , m − 1. Ferner seien µ, ν ∈ K mit λ1 ≤ µ < ν ≤ λm undν − µ ≥ ε. Dann gibt es ein k mit µ < λk < ν.

Beweis Ubung.

Fur jedes n ∈ N wird das Element 1 + 1 + · · ·+ 1︸ ︷︷ ︸

n−mal

von K mit n bezeichnet. Da

1 = 1 > 0 und n+ 1 = n + 1 fur jedes n ∈ N, sieht man leicht, dass n > 0 furalle n ≥ 1. Fur jedes λ ∈ K und jedes n ∈ N wird das Element λλ · · · λ

︸ ︷︷ ︸

n−mal

von K

mit λn bezeichnet, wobei λ0 = 1.

Lemma 2.3 (Bernoullische Ungleichung) Sei λ ∈ K mit λ > −1. Dann gilt

(1 + λ)n ≥ 1 + nλ

fur alle n ∈ N.

Beweis Fur jedes n ∈ N sei An die Aussage, dass (1 + λ)n ≥ 1 + nλ fur alleλ > −1 gilt. Dann ist A0 richtig, da (1 + λ)0 = 1 = 1 + 0λ. Sei also n ∈ N undnehme an, dass An richtig ist. Fur λ ∈ K mit λ > −1 ist dann

(1 + λ)n+1 = (1 + λ)n(1 + λ) ≥ (1 + nλ)(1 + λ) = 1 + nλ+ λ+ nλ2

= 1 + (n+ 1)λ+ nλ2 = 1 + n + 1λ + nλ2 ≥ 1 + n+ 1λ ,

da λ + 1 > 0 und λ2 ≥ 0, und folglich ist An+1 auch richtig. Daraus ergibt sichnach Satz 1.4, dass An fur alle n ∈ N richtig ist.

Lemma 2.4 Sei λ ∈ K mit 0 < λ < 1. Fur jedes n ∈ N gilt dann

(1 + λ)n < 1 + 3nλ .

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2 Der Korper der rationalen Zahlen 18

Beweis Fur jedes n ∈ N sei An die Aussage, dass (1 + λ)n < 1 + 3nλ fur alleλ ∈ K mit 0 < λ < 1 gilt. Da (1 + λ)0 = 1 < 1 + 30λ, ist A0 richtig. Sei alson ∈ N und nehme an, dass An richtig ist. Fur λ ∈ K mit 0 < λ < 1 ist dann

(1 + λ)n+1 = (1 + λ)n(1 + λ) < (1 + 3nλ)(1 + λ)

= 1 + 3nλ+ λ+ 3nλ2 ≤ 1 + 3nλ+ λ + 3nλ = 1 + (3n + 3n + 1)λ

≤ 1 + (3n + 3n + 3n)λ = 1 + (3 3n)λ = 1 + 3n+1λ ,

und folglich ist An+1 auch richtig. Daraus ergibt sich nach Satz 1.4, dass An furalle n ∈ N richtig ist.

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3 Der Korper der reellen Zahlen

Ziel dieses Abschnittes ist es, den Korper R der reellen Zahlen einzufuhren.

Ein Korper K heißt Korpererweiterung eines Korpers F , wenn F ⊂ K und dieAddition (bzw. die Multiplikation) in F die Einschrankung der Addition (bzw.der Multiplikation) in K ist. (Dies bedeutet: Fur alle λ, µ ∈ F muss λ+µ = λ⊕µund λ× µ = λ⊗ µ gelten, wobei + und × (bzw. ⊕ und ⊗) die Addition und dieMultiplikation in F (bzw. in K) sind.)

Ist K eine Korpererweiterung von F , so ist die Null (bzw. die Eins) in F auchdie Null (bzw. die Eins) in K.

Der Korper R wird als angeordnete Korpererweiterung von Q eintreten, (d.h. alsein angeordneter Korper, der gleichzeitig eine Korpererweiterung von Q ist).

Im Folgenden sei K eine beliebige angeordnete Korpererweiterung von Q (wobeinicht auszuschließen ist, dass K = Q). Als Vorbereitung auf die Definition von R

werden die Eigenschaften von K untersucht.

Lemma 3.1 Die Großer-Relation > auf K ist eine Erweiterung der ublichenGroßer-Relation > auf Q. (Dies bedeutet: Sind x, y ∈ Q, so gilt x > y in Kgenau dann, wenn x > y in Q gilt.)

Beweis Sei K angeordnet bezuglich der Teilmenge P von K×, setze P ′ = P ∩Q,also ist P ′ Teilmenge von Q×. Ist λ ∈ P ′, so ist genau eines von λ und −λ inP und damit ist genau eines von λ und −λ in P ′. Sind ferner λ, µ ∈ P ′, so istλ + µ ∈ P und λµ ∈ P und damit auch λ + µ ∈ P ′ und λµ ∈ P ′. Folglichist Q angeordnet bezuglich der Teilmenge P ′ von Q und daraus ergibt sich nachLemma 2.2, dass P ′ = PQ = {λ ∈ Q : λ > 0}. Ist also λ ∈ Q, so gilt λ > 0 in Kgenau dann, wenn λ > 0 in Q gilt. Daher ist die Großer-Relation > auf K eineErweiterung der Großer-Relation > auf Q.

Sei D eine Teilmenge von K; ein Element z ∈ K heißt dann obere Schranke (bzw.untere Schranke) von D, wenn x ≤ z fur alle x ∈ D (bzw. x ≥ z fur alle x ∈ D)gilt. Die Teilmenge D heißt nach oben (bzw. nach unten) beschrankt, wenn eseine obere Schranke (bzw. eine untere Schranke) fur D gibt.

Sei D eine Teilmenge von K; ein Element z ∈ K heißt dann Supremum von D,falls z die kleinste obere Schranke von D ist. Genauer bedeutet dies: Einerseits istz eine obere Schranke von D, und ist andererseits z′ irgendeine obere Schrankevon D, so ist z ≤ z′. Es ist klar, dass es hochstens ein Element mit diesen zweiEigenschaften gibt. Falls es existiert, wird es mit sup(D) bezeichnet.

Analog heißt z ∈ K Infimum von D, falls z die großte untere Schranke von Dist. Genauer bedeutet dies: Einerseits ist z eine untere Schranke von D, und ist

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3 Der Korper der reellen Zahlen 20

andererseits z′ irgendeine untere Schranke von D, so ist z′ ≤ z. Wieder ist esklar, dass es hochstens ein Element mit diesen zwei Eigenschaften gibt. Falls esexistiert, wird es mit inf(D) bezeichnet.

Existiert sup(D) (bzw. inf(D)), so ist D naturlich nach oben beschrankt (bzw.nach unten beschrankt).

Sei n ≥ 2 fest und fur jedes x ∈ K mit x > 1 sei Wx = {y ∈ K : yn < x}. Dannist Wx nichtleer, da 1 ∈ Wx, und x ist eine obere Schranke von Wx. (Sei y ∈ Kmit yn < x. Ist y ≤ 1, so ist y ≤ 1 < x; ist dagegen y > 1, so ist y < yn < x.)Also ist Wx eine nichtleere, nach oben beschrankte Teilmenge von K.

Lemma 3.2 Existiert das Supremum z = sup(Wx), so ist zn = x.

Beweis Da 1 ∈ Wx, ist z ≥ 1. Nehme an, dass zn < x und sei h = min{a, 1/2},wobei a = (x − zn)(3nzn−1)−1. Also ist 0 < h < 1, da a > 0, und damit auch0 < z−1h < 1, da z−1 ≤ 1. Nun ist nach Lemma 2.5

(z + h)n = zn(1 + z−1h)n < zn(1 + 3nz−1h)

= zn + 3nzn−1h ≤ zn + 3nzn−1a = zn + (x− zn) = x ,

d.h. z+ h ∈Wx. Aber dann ware z keine obere Schranke von Wx, und dies zeigt,dass zn ≥ x. Nehme nun an, dass zn > x, setze a = (zn − x)(nzn−1)−1 und seih = min{a, 1/2}. Wieder ist 0 < h < 1, da a > 0, und damit auch −z−1h > −1,da z−1 ≤ 1. Daraus ergibt sich nach Lemma 2.4, dass

(z − h)n = zn(1 − z−1h)n ≥ zn(1 − nz−1h)

= zn − nzn−1h ≥ zn − nzn−1a = zn − (zn − x) = x > yn

fur alle y ∈ Wx. Folglich ist z − h > y fur alle y ∈ Wx, da z − h ≥ 0. (Sindu, v ∈ K mit u ≥ 0 und un > vn, so ist u > v.) Aber dann ware z − h eineobere Schranke von Wx, die kleiner als z ist, und dies zeigt, dass zn ≤ x. Also istzn = x.

Lemma 3.3 Aquivalent sind:

(1) Jede nichtleere, nach oben beschrankte Teilmenge von K besitzt ein Supre-mum.

(2) Jede nichtleere, nach unten beschrankte Teilmenge von K besitzt ein Infimum.

Beweis (1) ⇒ (2): Sei A eine nichtleere, nach unten beschrankte Teilmenge vonK. Dann ist A− = {x ∈ K : −x ∈ A} eine nichtleere, nach oben beschrankteTeilmenge von K und damit existiert z = sup(A−). Aber dann ist −z = inf(A).

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3 Der Korper der reellen Zahlen 21

(2) ⇒ (1): Analog.

Die Korpererweiterung K heißt ordnungsvollstandig, wenn jede nichtleere, nachoben beschrankte Teilmenge von K ein Supremum besitzt. Nach Lemma 3.2 istQ selbst nicht ordnungsvollstandig, da es zum Beispiel keine rationale Zahl z ∈ Q

mit z2 = 2 gibt.

Es gibt eine im Wesentlichen eindeutige ordnungsvollstandige Korpererweiterungvon Q (siehe Satz 3.1 unten): Diese Korpererweiterung ist dann per Definitionder Korper der reellen Zahlen. Fur die genaue Formulierung der Eindeutigkeitmuss hier zunachst erklart werden, was ein Korperisomorphismus ist.

Seien F , F ′ Korper; eine Abbildung ψ : F → F ′ heißt Korperhomomorphismus,wenn ψ(λ+µ) = ψ(λ)+ψ(µ) und ψ(λµ) = ψ(λ)ψ(µ) fur alle λ, µ ∈ F . Ist ψ einKorperhomomorphismus, so sieht man leicht, dass ψ(0) = 0 und ψ(1) = 1.

Lemma 3.4 Sei ψ : F → F ′ ein Korperhomomorphismus. Ist ψ bijektiv, so istdie Umkehrabbildung ψ−1 : F ′ → F auch ein Korperhomomorphismus.

Beweis Seien λ′, µ′ ∈ F ′; da ψ bijektiv ist, gibt es eindeutige Elemente λ, µ ∈ Fmit λ′ = ψ(λ) und µ′ = ψ(µ) und damit auch mit λ = ψ−1(λ′) und µ = ψ−1(µ′).Da ψ(λ+ µ) = ψ(λ) + ψ(µ), gilt nun

ψ−1(λ′ + µ′) = ψ−1(ψ(λ) + ψ(µ)) = ψ−1(ψ(λ+ µ)) = λ+ µ = ψ−1(λ′) + ψ−1(µ′)

und da ψ(λµ) = ψ(λ)ψ(µ), gilt auch

ψ−1(λ′µ′) = ψ−1(ψ(λ)ψ(µ)) = ψ−1(ψ(λµ)) = λµ = ψ−1(λ′)ψ−1(µ′) .

Dies zeigt dann, dass ψ−1 ein Korperhomomorphismus ist.

Ein bijektiver Korperhomomorphismus heißt ein Korperisomorphismus. KorperF und F ′ heißen isomorph, wenn es einen Korperisomorphismus ψ : F → F ′ gibt.

Satz 3.1 Es gibt eine ordnungsvollstandige Korpererweiterung von Q. Sind fer-ner K und K ′ zwei solche Korpererweiterungen, so gibt es einen eindeutigenKorperisomorphismus ψ : K → K ′, und ψ(x) = x fur jedes x ∈ Q.

Beweis Siehe, zum Beispiel, Amman und Escher [1], Seite 99.

Nach Satz 3.1 gibt es bis auf Isomorphie genau eine ordnungsvollstandige Korper-erweiterung von Q. Die heißt der Korper der reellen Zahlen und wird mit R

bezeichnet.

Nach der Definition besitzt jede nichtleere, nach oben beschrankte Teilmenge vonR ein Supremum. Nach Lemma 3.3 besitzt dann auch jede nichtleere, nach untenbeschrankte Teilmenge von R ein Infimum.

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3 Der Korper der reellen Zahlen 22

Lemma 3.5 Sei D eine nichtleere nach oben beschrankte Teilmenge von R undsei z ∈ R. Dann gilt:

(1) z ≥ sup(D) genau dann, wenn z ≥ x fur alle x ∈ D.

(2) z ≤ sup(D) genau dann, wenn es fur jedes ε > 0 ein x ∈ D mit z < x + εgibt.

(3) z = sup(D) genau dann, wenn z ≥ x fur alle x ∈ D und es fur jedes ε > 0ein x ∈ D mit z < x+ ε gibt.

Sei D eine nichtleere nach unten beschrankte Teilmenge von R und z ∈ R. Danngilt:

(4) z ≤ inf(D) genau dann, wenn z ≤ x fur alle x ∈ D.

(5) z ≥ inf(D) genau dann, wenn es fur jedes ε > 0 ein x ∈ D mit z > x − εgibt.

(6) z = inf(D) genau dann, wenn z ≤ x fur alle x ∈ D und es fur jedes ε > 0ein x ∈ D mit z > x− ε gibt.

Beweis (1) Es gilt z ≥ sup(D) genau dann, wenn z eine obere Schranke von Dist, d.h., genau dann, wenn z ≥ x fur alle x ∈ D.

(2) Sei z ≤ sup(D); fur jedes ε > 0 ist dann z − ε < sup(D) und damit ist z − εkeine obere Schranke von D. Es gibt also ein x ∈ D mit z − ε < x, d.h., mitz < x + ε. Nehme nun umgekehrt an, dass es fur jedes ε > 0 ein x ∈ D mitz < x+ ε gibt. Dann ist z − ε < sup(D) fur jedes ε > 0, da x ≤ sup(D) fur allex ∈ D. Damit ist z ≤ sup(D) (sonst ware z−ε = sup(D) mit ε = z−sup(D) > 0).

(3) Dies folgt unmittelbar aus (1) und (2).

(4), (5) und (6): Wie (1), (2) und (3).

Lemma 3.6 Seien D, D′ nichtleere Teilmengen von R mit D ⊂ D′.

(1) Ist D′ nach oben beschrankt, dann ist auch D und sup(D) ≤ sup(D′).

(1) Ist D′ nach unten beschrankt, so ist auch D und inf(D′) ≤ inf(D).

Beweis Dies ist klar.

Eine Teilmenge D von R heißt beschrankt, wenn sie nach oben und nach untenbeschrankt ist, d.h., wenn es u, v ∈ R gibt, so dass u ≤ x ≤ v fur alle x ∈ D. Mansieht leicht, dass D genau dann beschrankt ist, wenn es ein B ∈ R mit B ≥ 0gibt, so dass |x| ≤ B fur alle x ∈ D.

Lemma 3.7 Sei D eine nichtleere beschrankte Teilmenge von R; fur jedes x ∈ Dgilt dann inf(D) ≤ x ≤ sup(D). Insbesondere ist inf(D) ≤ sup(D).

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3 Der Korper der reellen Zahlen 23

Beweis Dies ist ebenso klar.

Sei D eine nichtleere Teilmenge von R; eine Zahl c ∈ D heißt Maximum (bzw.Minimum) von D, wenn x ≤ c fur alle x ∈ D (bzw. x ≥ c fur alle x ∈ D). Esist klar, dass das Maximum (bzw. das Minimum) im Falle der Existenz eindeutigbestimmt ist. Ferner ist es klar, dass D nach oben beschrankt (bzw. nach untenbeschrankt) ist, falls das Maximum (bzw. das Minimum) existiert.

Lemma 3.8 (1) Sei D eine nichtleere, nach oben beschrankte Teilmenge von R.Dann besitzt D ein Maximum genau, wenn sup(D) ∈ D, und in diesem Fall istsup(D) das Maximum.

(2) Sei D eine nichtleere, nach unten beschrankte Teilmenge von R. Dann besitztD ein Minimum genau, wenn inf(D) ∈ D, und in diesem Fall ist inf(D) dasMinimum.

Beweis Dies folgt unmittelbar aus den Definitionen.

Sei D eine nichtleere endliche Teilmenge von R; dann besitzt D ein Maximumund ein Minimum. Ist ferner x1, . . . , xn irgendeine Aufzahlung der Elemente vonD, so ist max{x1, . . . , xn} das Maximum und min{x1, . . . , xn} das Minimum.

Satz 3.2 Sei x ∈ R mit x ≥ 0; fur jedes n ≥ 2 gibt es dann eine eindeutige reelleZahl z mit z ≥ 0, so dass zn = x. Diese Zahl z wird mit n

√x bezeichnet (oder

lediglich mit√x, falls n = 2).

Beweis Es gibt mindestens eine Zahl z ≥ 0 mit zn = x: Dies folgt unmittelbaraus Lemma 3.2, falls x > 1, und die Falle x = 0 und x = 1 sind trivial richtig,da 0n = 0 und 1n = 1. Es bleibt also nur der Fall mit 0 < x < 1. Aber hierist x−1 > 1, damit gibt es ein y ≥ 0 mit yn = x−1; folglich ist y−1 > 0 und(y−1)n = x.

Es gibt hochstens eine Zahl z ≥ 0 mit zn = x: Sei y ≥ 0 mit y 6= z. Ist y < z(bzw. y > z), so ist yn < zn (bzw. yn > zn) und damit ist yn 6= x.

Satz 3.3 (Satz von Archimedes) Zu jeder reellen Zahl x ∈ R gibt es einenaturliche Zahl n ∈ N mit n > x. Mit anderen Worten: Die Teilmenge N von R

ist nicht nach oben beschrankt.

Beweis Die Aussage ist trivial richtig, wenn x < 0, da in diesem Fall n > x furjedes n ∈ N; sei also x ≥ 0. Dann ist A = {n ∈ N : n ≤ x} eine nichtleerenach oben beschrankte Teilmenge von R, da 0 ∈ A und x eine obere Schrankevon A ist. Folglich existiert das Supremum z = sup(A). Nun gibt es ein m ∈ Amit z − 1 < m, sonst ware z − 1 auch eine obere Schranke von A. Damit istn = m + 1 ∈ N und n > z. Insbesondere ist n /∈ A (sonst ware z keine obereSchranke), d.h. n > x.

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3 Der Korper der reellen Zahlen 24

Satz 3.4 Zu jedem ε > 0 gibt es ein n ∈ N \ {0} mit 1/n < ε.

Beweis Sei ε > 0; nach Satz 3.3 gibt es dann n ∈ N \ {0} mit n > ε−1, unddaraus folgt nach Satz 2.2 (10), dass 1/n < (ε−1)−1 = ε.

Satz 3.5 (1) Sei x ∈ R mit x > 1. Zu jedem c ∈ R gibt es dann ein n ∈ N, sodass xn > c.

(2) Sei x ∈ R mit 0 < x < 1. Zu jedem ε > 0 gibt es dann ein n ∈ N, so dassxn < ε.

Beweis (1) Setze y = x− 1, also ist y > 0. Sei nun c ∈ R; nach Satz 3.3 gibt esein n ∈ N, so dass n > cy−1. Folglich ist ny > c und damit ist nach Lemma 2.4

xn = (y + 1)n ≥ 1 + ny > 1 + c > c .

(2) Setze y = x−1; dann ist y > 1. Sei nun ε > 0; nach (1) gibt es ein n ∈ N, sodass yn > ε−1 und nach Satz 2.2 (10) ist dann xn = (yn)−1 < (ε−1)−1 = ε.

Satz 3.6 Seien y, z ∈ R mit y < z. Dann gibt es ein x ∈ Q mit y < x < z.

Beweis Setze w = max{|y|, |z|}; nach Satz 3.3 gibt es dann ein N ∈ N mitw < N , und damit ist −N < y < x < N . Ferner gibt es nach Satz 3.4 einn ∈ N \ {0} mit 1/n < z − y. Sei nun m = 2Nn + 1 und fur k = 1, . . . , m seixk = −N+(k−1)/n. Dann ist x1 = −N < y, z < N = xm und fur 1 ≤ k < m istxk+1 − xk = n−1 < z − y. Folglich gibt es nach Lemma 2.3 ein k mit y < xk < z.Aber xj ∈ Q fur jedes j und daher gibt es ein x ∈ Q mit y < x < z.

Eine nichtleere Teilmenge I von R heißt Intervall, wenn gilt: Sind a, b ∈ I mita < b, so ist x ∈ I fur jedes x ∈ R mit a < x < b. Offensichtlich ist R selbst einIntervall sowie die einpunktige Menge {a} fur jedes a ∈ R. Weitere Beispiele furIntervalle sind:

Fur a, b ∈ R mit a < b:

[a, b] = {x ∈ R : a ≤ x ≤ b}, (a, b) = {x ∈ R : a < x < b},(a, b] = {x ∈ R : a < x ≤ b}, [a, b) = {x ∈ R : a ≤ x < b}.

Fur a, b ∈ R:

[a,+∞) = {x ∈ R : a ≤ x}, (a,+∞) = {x ∈ R : a < x},(−∞, b] = {x ∈ R : x ≤ b}, (−∞, b) = {x ∈ R : x < b}.

In der Tat gibt es dann keine weiteren Beispiele:

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3 Der Korper der reellen Zahlen 25

Satz 3.7 Sei I ⊂ R ein Intervall, das mehr als einen Punkt enthalt.

(1) Ist I weder nach unten noch nach oben beschrankt, so ist I = R.

(2) Ist I nach unten, aber nicht nach oben beschrankt, dann gibt es a ∈ R, sodass I = [a,+∞) oder I = (a,+∞).

(3) Ist I nach oben, aber nicht nach unten beschrankt, dann gibt es b ∈ R, sodass I = (−∞, b] oder I = (−∞, b).

(4) Ist I beschrankt, dann gibt es a, b ∈ R mit a < b, so dass I eines der vierIntervalle [a, b], (a, b), (a, b] und [a, b) ist.

Beweis Ubung.

Es ist oft nutzlich, R durch das Hinzufugen der zwei Symbolen −∞ und +∞ zuerganzen. Die Menge R ∪ {−∞,+∞} heißt dann erweiterte Zahlengerade undwird mit R bezeichnet. Die Relation < wird zu einer Relation < auf R erweitert:Per Definition gilt −∞ < x < +∞ fur jedes x ∈ R. Die anderen Relationen ≤,> und ≥ werden dann entsprechend erweitert.

Genauso wie fur Teilmengen von R wird auch das Supremum und das Infimumfur Teilmengen von R definiert.

Satz 3.8 Sei D eine nichtleere Teilmenge von R.

(1) Dann besitzt D ein Supremum sup(D) und ein Infimum inf(D).

(2) Ist +∞ ∈ D, so gilt sup(D) = +∞.

(3) Ist +∞ /∈ D, so gilt sup(D) = +∞ genau dann, wenn es zu jedem z ∈ R einx ∈ D mit x > z gibt, d.h., wenn D keine obere Schranke in R besitzt.

(4) Es gilt sup(D) = −∞ genau dann, wenn D = {−∞}.(5) Ist −∞ ∈ D, so gilt inf(D) = −∞.

(6) Ist −∞ /∈ D, so gilt inf(D) = −∞ genau dann, wenn es zu jedem z ∈ R einx ∈ D mit z < x gibt, d.h., wenn D keine untere Schranke in R besitzt.

(7) Es gilt inf(D) = +∞ genau dann, wenn D = {+∞}.(8) Fur jedes x ∈ D gilt inf(D) ≤ x ≤ sup(D).

(9) Ist D′ eine Teilmenge von R mit D ⊂ D′, so ist sup(D) ≤ sup(D′) und auchinf(D′) ≤ inf(D).

Beweis Ubung.

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4 Der Korper der komplexen Zahlen

SindK und F Korper, so heißt F Unterkorper vonK, wennK Korpererweiterungvon F ist.

Fur jedes x ∈ R ist x2 ≥ 0; daher gibt es keine reelle Zahl x mit x2 = −1.

Sei K eine Korpererweiterung von R, die ein Element i enthalt, fur das i2 = −1gilt; insbesondere ist dann i /∈ R. Sei

L = {z ∈ K : es gibt x, y ∈ R mit z = x+ iy} ;

da x = x + i0 und i = 0 + i1, ist R ⊂ L und i ∈ L. Jedes Element in L hat eineeindeutige Darstellung der Form x + iy mit x, y ∈ R: Sind x, y, x′, y′ ∈ R mitx + iy = x′ + iy′, so ist zunachst y = y′, sonst ware i = (x′ − x)/(y − y′) einElement von R, und wenn y = y′, so ist auch x− x′ = i(y′ − y) = 0, d.h. x = x′.

Lemma 4.1 (1) L ist Unterkorper von K und damit eine Korpererweiterungvon R, die i enthalt.

(2) Ist M ein Unterkorper von K, der eine Korpererweiterung von R ist und ienthalt, so ist L ⊂ M . Damit ist L die kleinste Korpererweiterung von R in K,die i enthalt.

Beweis (1) Seien z, z′ ∈ L; dann gibt es x, y, x′, y′ ∈ R, so dass z = x+ iy undz′ = x′ + iy′, und folglich sind

z + z′ = (x+ iy) + (x′ + iy′) = (x+ x′) + i(y + y′) ,

zz′ = (x+ iy)(x′ + iy′) = (xx′ − yy′) + i(xy′ + x′y)

und −z = −(x + iy) = −x + i(−y) alle Elemente von L. Ist ferner z 6= 0, so istσ = x2 + y2 > 0, und in diesem Fall ist

(x

σ+ i

−yσ

)

(x+ iy) =(x2

σ+y2

σ

)

+ i(xy

σ− yx

σ

)

= 1 ,

d.h. z−1 = (x/σ) + i(−y/σ) ist ein Element von L.

(2) Dies ist klar.

Betrachte nun eine weitere Korpererweiterung K ′ von R, die ein Element jenthalt, fur das j2 = −1 gilt, und sei

L′ = {z ∈ K ′ : es gibt x, y ∈ R mit z = x+ jy} ;

nach Lemma 4.1 ist L′ die kleinste Korpererweiterung von R in K ′, die j enthalt.

26

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4 Der Korper der komplexen Zahlen 27

Lemma 4.2 Es gibt einen eindeutigen Korperisomorphismus ψ : L → L′, sodass ψ(x) = x fur alle x ∈ R und ψ(i) = j.

Beweis Ist ψ : L → L′ ein Korperhomomorphismus mit ψ(x) = x fur alle x ∈ R

und ψ(i) = j, so ist ψ(x+ iy) = x+jy fur alle x, y ∈ R. Da aber jedes Element inL eine eindeutige Darstellung der Form x+ iy mit x, y ∈ R hat, kann umgekehrteine Abbildung ψ : L → L′ definiert werden durch ψ(x + iy) = x + jy fur allex, y ∈ R. Man sieht leicht, dass diese Abbildung ψ ein Korperisomorphismus mitψ(x) = x fur alle x ∈ R und ψ(i) = j ist.

Gibt es eine minimale Korpererweiterung von R, die ein Element i enthalt, fur dasi2 = −1 gilt, so ist nach Lemma 4.2 diese Erweiterung im Wesentlichen eindeutig.

Und in der Tat gibt es eine solche Erweiterung: Sei C = R2 = {(x, y) : x, y ∈ R},definiere eine Addition + : C × C → C durch

(x, y) + (x′, y′) = (x+ x′, y + y′)

und eine Multiplikation · : C × C → C durch

(x, y)(x′, y′) = (xx′ − yy′, xy′ + yx′) .

Dann ist (C,+, ·, 0, 1) ein Korper, wobei 0 = (0, 0) und 1 = (1, 0): Es wirdals Ubungsaufgabe uberlassen zu zeigen, dass die Addition und Multiplikationassoziativ und kommutativ sind und dass das distributative Gesetz gilt. DasElement (0, 0) (bzw. das Element (1, 0)) ist die Null (bzw. die Eins) in C, da

(0, 0) + (x, y) = (0 + x, 0 + y) = (x, y) und

(1, 0)(x, y) = (1x− 0y, 1y + 0x) = (x, y)

fur jedes (x, y) ∈ C. Ferner ist −(x, y) = (−x,−y) fur jedes (x, y) ∈ C. Ist(x, y) ∈ C mit (x, y) 6= (0, 0), so ist σ = x2 + y2 > 0 und

(x

σ,−y

σ

)

(x, y) =(x2

σ+y2

σ,xy

σ− yx

σ

)

= (1, 0) ,

d.h. (x/σ,−y/σ) = (x, y)−1.

Nun wird R mit der Teilmenge R × {0} = {(x, 0) : x ∈ R} von C identifiziert.Etwas genauer: Fur jedes x ∈ R wird das Element x mit dem Element (x, 0) ∈ C

identifiziert. Diese Identifizierung von R und R×{0} ⊂ C ist vertraglich mit denAdditionen und Multiplikationen in R und C, da (x, 0) + (x′, 0) = (x+ x′, 0) und(x, 0)(x′, 0) = (xx′, 0) fur alle x, x ∈ R. Auf diese Weise kann R als Unterkorpervon C angesehen werden. Mit anderen Worten, C wird als Korpererweiterung vonR angesehen.

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4 Der Korper der komplexen Zahlen 28

Setze nun i = (0, 1); dann ist (0, 1)(0, 1) = (−1, 0) = −(1, 0), d.h. i2 = −1. Damitist C eine Korpererweiterung von R, die ein Element i enthalt, fur das i2 = −1gilt. Ferner ist C eine minimale solche Erweiterung: Ist z = (x, y) ∈ C, so ist

(x, y) = (x, 0) + (0, y) = (x, 0) + (0, 1)(y, 0)

und damit hat z = (x, y) ∈ C die (eindeutige) Darstellung x+ iy.

In der Praxis wird diese Darstellung standig verwendet: Es wird also meistensx + iy statt (x, y) geschreiben. Das Element i = (0, 1) in C heißt imaginareEinheit.

Sei z = x+iy ∈ C mit x, y ∈ R; dann heißt x (bzw. y) Realteil (bzw. Imaginarteil)von z und wird mit Re z (bzw. mit Im z) bezeichnet. Ferner heißt x− iy die zu zkonjugierte komplexe Zahl und sie wird mit z bezeichnet. Man sieht sofort, dassdie folgenden Rechenregeln gelten:

(1) Re z = (z + z)/2 und Im z = (z − z)/2i fur alle z ∈ C.

(2) z = z fur alle z ∈ C.

(3) z = z genau dann, wenn z ∈ R.

(4) z + w = z + w und zw = z w fur alle z, w ∈ C.

(5) Fur z = x+ iy (mit x, y ∈ R) ist zz = x2 + y2.

Sei z ∈ C; nach (5) ist zz eine nichtnegative reelle Zahl und ihre (nichtnegative)Quadratwurzel

√zz wird mit |z| bezeichnet und heißt der Betrag von z. Also ist

|z| =√

(Re z)2 + (Im z)2 .

Diese Bezeichnung stimmt mit dem auf R definierten Betrag, da fur x ∈ R ist

|x| =

{x , falls x ≥ 0,−x , falls x < 0.

Satz 4.1 Folgende Rechenregeln gelten fur den Betrag:

(1) |zw| = |z||w| fur alle z, w ∈ C.

(2) |Re z| ≤ |z|, | Im z| ≤ |z| und |z| = |z| fur alle z ∈ C.

(3) |z| = 0 genau dann, wenn z = 0.

(4) |z + w| ≤ |z| + |w| fur alle z, w ∈ C (Dreiecksungleichung).

(5) ||z| − |w|| ≤ |z − w| fur alle z, w ∈ C (Umgekehrte Dreiecksungleichung).

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4 Der Korper der komplexen Zahlen 29

Beweis (1) Fur alle z, w ∈ C ist |zw| =√zwzw =

√zzww =

√zz

√ww = |z||w|.

(2) Sei z = x+ iy ∈ C mit x, y ∈ R; dann ist |z| =√

x2 + y2 und daraus ergibt

sich, dass |Re z| =√x2 ≤

x2 + y2 = |z|, | Im z| =√

y2 ≤√

x2 + y2 = |z| und

|z| =√

x2 + (−y)2 =√

x2 + y2 = |z|.(3) Dies ist klar: Fur alle x, y ∈ R ist x2 + y2 = 0 genau dann, wenn x = y = 0.

(4) Fur jedes ζ ∈ C ist ζ + ζ = 2 Re ζ ; folglich gilt nach (1) und (2), dass

|z + w|2 = (z + w)(z + w) = (z + w)(z + w)

= zz + zw + zw + ww = |z|2 + 2 Re(zw) + |w|2

≤ |z|2 + 2|zw| + |w|2 = |z|2 + 2|z||w| + |w|2 = (|z| + |w|)2 ,

und damit ist |z + w| ≤ |z| + |w|.(5) Nach (4) gilt |z| = |z−w+w| ≤ |z−w|+ |w| und damit |z| − |w| ≤ |z−w|,und genauso gilt −(|z| − |w|) = |w| − |z| ≤ |w− z| = |z−w|. Daraus ergibt sich,dass ||z| − |w|| ≤ |z − w|.

Eine Teilmenge D von C heißt beschrankt, wenn es ein B ∈ R mit B ≥ 0 gibt, sodass |z| ≤ B fur alle z ∈ D.

Lemma 4.3 Eine Teilmenge D von C ist genau dann beschrankt, wenn Re(D)und Im(D) beschrankte Teilmengen von R sind.

Beweis Sei D beschrankt; dann gibt es ein B ∈ R mit B ≥ 0, so dass |z| ≤ Bfur alle z ∈ D. Nach Satz 4.1 (2) ist also |Re z| ≤ B und | Im z| ≤ B fur allez ∈ D, und damit sind Re(D) und Im(D) beschrankt. Sind umgekehrt Re(D)und Im(D) beschrankte Teilmengen von R, dann gibt es B1, B2 ∈ R mit B1 ≥ 0und B2 ≥ 0, so dass |Re z| ≤ B1 und | Im z| ≤ B2 fur alle z ∈ D. Daraus ergibtsich, dass |z| ≤

B21 +B2

2 fur alle z ∈ D, d.h., D ist eine beschrankte Teilmengevon C.

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5 Folgen

Ab jetzt bezeichnet K entweder den Korper R oder den Korper C. Genauer be-deutet dies: K wird in denjenigen Situationen verwendet, in denen die Ersetzungvon K sowohl durch R als auch durch C einen Sinn macht.

Unter einer Folge aus einer Menge X versteht man eine Abbildung

: {n ∈ N : n ≥ p} → X

fur ein p ∈ N. Jedem n ≥ p ist also ein Element xn = (n) ∈ X zugeordnet undman schreibt hierfur meistens {xn}n≥p statt .

Sei {xn}n≥p eine Folge aus K. Die Folge heißt konvergent gegen x ∈ K, falls es zujedem ε > 0 ein N ≥ p gibt, so dass |xn − x| < ε fur alle n ≥ N .

Bemerkung: Bei einem Ausdruck wie ‘ε > 0’ oder ‘N ≥ p’ muss es aus demKontext entnommen werden, dass ‘ε ∈ R mit ε > 0’ bzw. ‘N ∈ N mit N ≥ p’gemeint ist.

Lemma 5.1 Sei {xn}n≥p eine Folge aus K und sei q ≥ p. Dann konvergiert dieFolge {xn}n≥p gegen x ∈ K genau, wenn die Folge {xn}n≥q gegen x konvergiert.

Beweis Dies ist klar.

Lemma 5.2 Sei {xn}n≥p eine Folge aus K und seien x, x′ ∈ K. Konvergiert{xn}n≥p gegen x und gegen x′, so ist x′ = x.

Beweis Sei ε > 0; da {xn}n≥p gegen x und gegen x′ konvergiert, gibt esN, N ′ ≥ p,so dass |xn − x| < ε/2 fur alle n ≥ N und |xn − x′| < ε/2 fur alle n ≥ N ′. FurM = max{N,N ′} ist dann

|x− x′| = |x− xM + xM − x′| ≤ |x− xM | + |xM − x′| < ε/2 + ε/2 = ε ,

und dies zeigt, dass |x− x′| < ε fur alle ε > 0. Damit ist x′ = x.

Konvergiert eine Folge {xn}n≥p aus K gegen x, so nennt man x den Grenzwertoder den Limes der Folge und schreibt limn→∞ xn = x. Nach Lemma 5.2 machtdiese Schreibweise einen Sinn. Ferner gibt es nach Lemma 5.1 auch kein Problemmit dieser Schreibweise, wenn die Folgen {xn}n≥p und {xn}n≥q (fur ein q ≥ p)gleichzeitig behandelt werden.

Wichtige Beispiele: (1) Die Folge {1/n}n≥1 konvergiert gegen 0: limn→∞ 1/n = 0.(Sei ε > 0; nach Satz 3.3 gibt es ein N ≥ 1, so dass N > ε−1, und fur alle n ≥ Nist dann |1/n− 0| = 1/n ≤ 1/N < ε; dies zeigt, dass limn→∞ 1/n = 0.)

(2) Fur jedes x ∈ K mit |x| < 1 konvergiert die Folge {xn}n≥0 der Potenzen vonx gegen 0: limn→∞ xn = 0. (Dies ist wie in (1), aber mit Hilfe von Satz 3.5 (2).)

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5 Folgen 31

Satz 5.1 Sei {zn}n≥p eine Folge komplexer Zahlen und z ∈ C.

(1) Die Folge {zn}n≥p konvergiert gegen z genau dann, wenn die Folge {Re zn}n≥p

gegen Re z und die Folge {Im zn}n≥p gegen Im z konvergiert.

(2) Die Folge {zn}n≥p konvergiert gegen z genau dann, wenn die Folge {zn}n≥p

gegen z konvergiert.

Beweis (1) Nehme zunachst an, dass die Folge {zn}n≥p gegen z konvergiert, undsei ε > 0. Dann gibt es N ≥ p, so dass |zn − z| < ε fur alle n ≥ N . Daraus folgtnach Satz 4.1 (2), dass sowohl |Re zn − Re z| = |Re(zn − z)| ≤ |zn − z| < ε alsauch | Im zn − Im z| = | Im(zn − z)| ≤ |zn − z| < ε fur alle n ≥ N , und dies zeigt,dass {Re zn}n≥p gegen Re z und {Im zn}n≥p gegen Im z konvergiert.

Nehme umgekehrt an, dass {Re zn}n≥p gegen Re z und {Im zn}n≥p gegen Im zkonvergiert, und sei ε > 0. Dann gibt es N1, N2 ≥ p, so dass |Re zn −Re z| < ε/2fur alle n ≥ N1 und | Im zn−Im z| < ε/2 fur alle n ≥ N2. Setze N = max{N1, N2};fur alle n ≥ N ist dann

|zn − z| = |Re zn + i Im zn − Re z − i Im z|= |Re zn − Re z + i(Im zn − Im z)| ≤ |Re zn − Re z| + |i(Im zn − Im z)|= |Re zn − Re z| + |i|| Im zn − Im z| = |Re zn − Re z| + | Im zn − Im z|< ε/2 + ε/2 = ε ,

und dies zeigt, dass {zn}n≥p gegen z konvergiert.

(2) Dies folgt unmittelbar aus der Tatsache, dass |zn − z| = |zn − z|.

Sei {xn}n≥p eine Folge reeller Zahlen. Da R ⊂ C, kann {xn}n≥p auch als Folgekomplexer Zahlen angesehen werden. Es gibt also zwei mogliche Konvergenz-begriffe (Konvergenz in R und Konvergenz in C), die hier angewendet werdenkonnen, die aber ubereinstimmen: Aus Satz 5.1 (1) folgt, dass die Folge genaudann in C konvergiert, wenn sie in R konvergiert.

Ist {xn}n≥p eine Folge aus K, so ist {|xn|}n≥p eine Folge reeller Zahlen.

Satz 5.2 Sei {xn}n≥p eine konvergente Folge aus K. Dann konvergiert die Folge

{|xn|}n≥p und∣∣∣ limn→∞

xn

∣∣∣ = lim

n→∞|xn|.

Beweis Sei x = limn→∞ xn und ε > 0. Dann gibt es N ≥ p, so dass |xn − x| < εfur alle n ≥ p, und daraus folgt nach Satz 2.3 (4) (bzw. nach Satz 4.1 (5)), dassauch ||xn| − |x|| ≤ |xn − x| < ε fur alle n ≥ p, und dies zeigt, dass die Folge{|xn|}n≥p gegen |x| konvergiert.

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5 Folgen 32

Satz 5.3 Seien {yn}n≥p und {xn}n≥p zwei konvergente Folgen reeller Zahlen mityn ≤ xn fur alle n ≥ p. Dann gilt lim

n→∞yn ≤ lim

n→∞xn.

Beweis Setze x = limn→∞ xn und y = limn→∞ yn. Sei ε > 0; dann gibt es N, N ′ ≥p, so dass |xn − x| < ε/2 fur alle n ≥ N und |yn − y| < ε/2 fur alle n ≥ N ′. FurM = max{N,N ′} ist dann

y − x ≤ y − yM + xM − x ≤ |y − yM + xM − x|≤ |y − yM | + |xM − x| < ε/2 + ε/2 = ε ,

und dies zeigt, dass y − x < ε fur alle ε > 0. Damit ist y − x ≤ 0, d.h. y ≤ x.

Wichtiger Spezialfall von Satz 5.3: Ist {xn}n≥p eine konvergente Folge reellerZahlen mit xn ≥ 0 fur alle n ≥ p, so ist limn→∞ xn ≥ 0 (da die Folge {yn}n≥p mityn = 0 fur alle n ≥ p offensichtlich gegen 0 konvergiert).

Sei {xn}n≥p eine Folge aus K. Fur m ≥ p wird die Teilmenge von K

{x ∈ K : es gibt n ≥ m, so dass x = xn}

kurz mit {xn : n ≥ m} bezeichnet. Die Folge {xn}n≥p heißt beschrankt, wenn{xn : n ≥ p} eine beschrankte Teilmenge von K ist. Also ist {xn}n≥p beschranktgenau dann, wenn es ein B ∈ R mit B ≥ 0 gibt, so dass |xn| ≤ B fur alle n ≥ p.

Satz 5.4 Jede konvergente Folge aus K ist beschrankt.

Beweis Sei {xn}n≥p eine konvergente Folge mit Grenzwert x. Dann gibt es N ≥ p,so dass |xn − x| < 1 fur alle n ≥ N , und folglich ist |xn| ≤ 1 + |x| fur alle n ≥ N .Sei c = 1 + |x|+ |xp|+ |xp+1|+ · · ·+ |xN−1|; dann ist |xn| ≤ c fur alle n ≥ p unddamit ist die Folge {xn}n≥p beschrankt.

Sei {xn}n≥p eine konvergente Folge aus K mit |xn| ≤ c fur alle n ≥ p. Dann folgtaus Satz 5.2 und Satz 5.3, dass

∣∣limn→∞ xn

∣∣ ≤ c.

Satz 5.5 Seien {xn}n≥p und {yn}n≥p zwei konvergente Folgen aus K.

(1) Dann konvergiert auch die Summenfolge {xn + yn}n≥p, und es gilt

limn→∞

(xn + yn) = limn→∞

xn + limn→∞

yn .

(2) Ebenso konvergiert die Produktfolge {xnyn}n≥p, und es gilt

limn→∞

xnyn =(

limn→∞

xn

)·(

limn→∞

yn

).

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5 Folgen 33

Beweis Setze x = limn→∞ xn und y = limn→∞ yn.

(1) Sei ε > 0; dann gibt es N, N ′ ≥ p, so dass |xn − x| < ε/2 fur alle n ≥ N und|yn − y| < ε/2 fur alle n ≥ N ′. Sei M = max{N,N ′}; fur alle n ≥M ist dann

|(xn + yn)− (x+ y)| = |(xn − x) + (yn − y)| ≤ |xn − x|+ |yn − y| < ε/2 + ε/2 = ε

und dies zeigt, dass die Summenfolge {xn + yn}n≥p gegen x+ y konvergiert.

(2) Nach Satz 5.4 ist die Folge {xn}n≥p beschrankt; es gibt also c > 0, so dass|xn| ≤ c fur alle n ≥ p. Setze b = c+ |y| (und also ist b > 0). Sei ε > 0; dann gibtes N, N ′ ≥ p, so dass |xn − x| < ε/b fur alle n ≥ N und |yn − y| < ε/b fur allen ≥ N ′. Sei M = max{N,N ′}; fur alle n ≥M ist dann

|xnyn − xy| = |xn(yn − y) + (xn − x)y|≤ |xn(yn − y)| + |(xn − x)y| = |xn||yn − y| + |y||xn − x|≤ c|yn − y| + |y||xn − x| < cε/b+ |y|ε/b = ε ,

und dies zeigt, dass die Produktfolge {xnyn}n≥p gegen xy konvergiert.

Lemma 5.3 Sei {xn}n≥p eine konvergente Folge aus K mit limn→∞ xn = x 6= 0.Dann gibt es ein q ≥ p, so dass xn 6= 0 fur alle n ≥ q.

Beweis Sei ε = |x|/2 (und damit ist ε > 0). Es gibt also q ≥ p, so dass |xn−x| < εfur alle n ≥ q, und daraus folgt, dass

2ε = |x| = |x− xn + xn| ≤ |x− xn| + |xn| < ε+ |xn|

und insbesondere ist |xn| > ε > 0 fur alle q ≥ p.

Ist {xn}n≥p eine konvergente Folge reeller Zahlen mit limn→∞ xn = x, so zeigt derBeweis fur Lemma 5.3 tatsachlich folgendes: Ist x > 0 (bzw. ist x < 0), dann gibtes ein q ≥ p, so dass xn > 0 fur alle n ≥ q (bzw. so dass xn < 0 fur alle n ≥ q).

Satz 5.6 Sei {xn}n≥p eine konvergente Folge aus K mit xn 6= 0 fur alle n ≥ pund limn→∞ xn 6= 0. Dann konvergiert die Inversefolge {x−1

n }n≥p, und

limn→∞

x−1n =

(lim

n→∞xn

)−1.

Beweis Sei x = limn→∞ xn. Wie im Beweis fur Lemma 5.3 gibt es ein q ≥ p, sodass |xn| ≥ |x|/2 fur alle n ≥ q; setze b = 2/|x|2. Sei nun ε > 0; dann gibt esM ≥ p, so dass |xn − x| < ε/b fur alle n ≥ M . Sei N = max{M, q}; fur allen ≥ N ist dann

∣∣∣

1

xn

− 1

x

∣∣∣ =

∣∣∣xn − x

xnx

∣∣∣ =

|xn − x||xn||x|

≤ 2

|x|1

|x| |xn − x| = b|xn − x| < bε/b = ε ,

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5 Folgen 34

und dies zeigt, dass die Inversefolge {x−1n }n≥p gegen x−1 konvergiert.

Sei {xn}n≥p eine Folge aus K und sei nq < nq+1 < · · · eine aufsteigende Folgenaturlicher Zahlen mit p ≤ nq. Dann heißt die Folge {xnk

}k≥q (d.h. die Folge{yk}k≥q mit yk = xnk

fur alle k ≥ q) Teilfolge der Folge {xn}n≥p.

Bemerkung: Ist nq < nq+1 < · · · eine aufsteigende Folge naturlicher Zahlen mitp ≤ nq, so ist nq+m ≥ p+m fur alle m ∈ N.

Sei {xn}n≥p eine Folge und sei q ≥ p. Dann ist die Folge {xn}n≥q sowie jede ihrerTeilfolgen eine Teilfolge von {xn}n≥p.

Satz 5.7 Sei {xn}n≥p eine konvergente Folge aus K mit limn→∞ xn = x. Dannkonvergiert jede Teilfolge – auch gegen x.

Beweis Sei {xnk}k≥q Teilfolge von {xn}n≥p und sei ε > 0. Da die Folge {xn}n≥p

gegen x konvergiert, gibt es dann ein M ≥ p, so dass |xn −x| < ε fur alle n ≥M .Sei N = M −p+ q; fur jedes k ≥ N ist dann nk ≥ nN = nM−p+q ≥M und damitist |xnk

− x| < ε. Folglich konvergiert die Teilfolge {xnk}k≥q gegen x.

Eine Folge {xn}n≥p reeller Zahlen heißt monoton wachsend, falls xn ≤ xn+1 furalle n ≥ p, streng monoton wachsend, falls xn < xn+1 fur alle n ≥ p, monotonfallend, falls xn+1 ≤ xn fur alle n ≥ p, streng monoton fallend, falls xn+1 < xn furalle n ≥ p und monoton, falls sie monoton wachsend oder monoton fallend ist.

Es ist klar, dass eine monoton wachsende (bzw. ein monoton fallende) Folge{xn}n≥p reeller Zahlen genau dann beschrankt ist, wenn {xn : n ≥ p} nach oben(bzw. nach unten) beschrankt ist.

Satz 5.8 Jede beschrankte monotone Folge {xn}n≥p reeller Zahlen konvergiertmit dem Grenzwert sup({xn : n ≥ p}) (bzw. inf({xn : n ≥ p})), falls {xn}n≥p

monoton wachsend (bzw. monoton fallend) ist.

Beweis Sei {xn}n≥p eine beschrankte monoton wachsende Folge reeller Zahlenund sei A = {xn : n ≥ p}. Dann ist A eine nichtleere nach oben beschrankteTeilmenge von R und damit existiert das Supremum x = sup(A). Sei ε > 0; danngibt es y ∈ A mit y > x− ε, sonst ware x− ε eine obere Schranke von A, es gibtalso N ≥ p mit xN = y > x − ε. Aber dann ist x − ε < xn ≤ xn ≤ x < x + εfur alle n ≥ N , da die Folge {xn}n≥p monoton wachsend ist und x eine obereSchranke von A ist. Mit anderen Worten: Fur alle n ≥ N ist |xn − x| < ε,und dies zeigt, dass die Folge {xn}n≥p gegen x konvergiert. Der Beweis fur einebeschrankte monoton fallende Folge geht naturlich analog.

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5 Folgen 35

Ist {xn}n≥p eine nicht beschrankte monoton wachsende (bzw. monoton fallende)Folge reeller Zahlen, so ist es nutzlich limn→∞ xn = +∞ (bzw. limn→∞ xn = −∞)zu setzen; nach Satz 5.8 gilt also

limn→∞

xn = sup({xn : n ≥ p})

fur jede monoton wachsende Folge {xn}n≥p und

limn→∞

xn = inf({xn : n ≥ p})

fur jede monoton fallende Folge {xn}n≥p reeller Zahlen.

Satz 5.9 Jede Folge reeller Zahlen besitzt eine monotone Teilfolge.

Beweis Sei {xn}n≥p eine Folge reeller Zahlen; in diesem Beweis wird ein Indexm ≥ p kritisch genannt, wenn xn ≤ xm fur alle p ≤ n ≤ m und xn < xm fur allen > m. Es ist ist klar, dass es hochstens einen Index mit diesen Eigenschaftengibt, im allgemeinen aber braucht er nicht zu existieren. Das folgende Lemmawird benotigt:

Lemma 5.4 (1) Eine Folge reeller Zahlen, die keinen kritischen Index hat, be-sitzt eine monoton wachsende Teilfolge.

(2) Sei {xn}n≥p ein Folge reeller Zahlen und sei q ≥ p. Besitzt die Folge {xn}n≥q

eine monoton wachsende Teilfolge, so besitzt die Folge {xn}n≥p ebenso eine.

(3) Sei {xn}n≥p ein Folge reeller Zahlen und sei q ≥ p. Hat die Folge {xn}n≥q

keinen kritischen Index, so besitzt die Folge {xn}n≥p eine monoton wachsendeTeilfolge.

Beweis (1) ist eine Ubung, (2) ist klar, und (3) folgt aus (1) und (2).

Nun zum Beweis fur Satz 5.9: Sei {xn}n≥p ein Folge reeller Zahlen und nehmean, dass diese Folge keine monoton wachsende Teilfolge besitzt. Es wird gezeigt,dass dann {xn}n≥p eine streng monoton fallende Teilfolge besitzt.

Nach Lemma 5.3 (3) hat die Folge {xn}n≥q einen kritischen Index fur jedes q ≥ p.Folglich gibt es eine aufsteigende Folge n0 < n1 < · · · naturlicher Zahlen mitn0 dem kritischen Index der Folge {xn}n≥p und mit nk+1 dem kritischen Indexder Folge {xn}n≥nk+1 fur jedes k ∈ N. Aber xnk+1

< xnkfur jedes k ∈ N (da

nk+1 > nk), und damit ist {xnk}k≥0 eine streng monoton fallende Teilfolge von

{xn}n≥p. Dies zeigt: Entweder besitzt {xn}n≥p eine monoton wachsende oder einestreng monoton fallende Teilfolge; insbesondere besitzt {xn}n≥p eine monotoneTeilfolge.

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5 Folgen 36

Lemma 5.5 Jede beschrankte Folge reeller Zahlen besitzt eine konvergente Teil-folge.

Beweis Jede Folge reeller Zahlen besitzt eine monotone Teilfolge (Satz 5.9). Istdie Folge beschrankt, so ist auch diese Teilfolge beschrankt und damit konvergiertsie nach Satz 5.8.

Satz 5.10 (Bolzano-Weierstraß) Jede beschrankte Folge aus K besitzt einekonvergente Teilfolge.

Beweis Nach Lemma 5.4 bleibt nur der Fall mit K = C; sei also {zn}n≥p einebeschrankte Folge komplexer Zahlen. Fur jedes n ≥ p sei xn = Re zn; nachSatz 4.1 (2) ist {xn}n≥p eine beschrankte Folge reeller Zahlen, die dann nachLemma 5.4 eine konvergente Teilfolge {xnk

}k≥q besitzt. Setze yk = Im znkfur

jedes k ≥ q; nach Satz 4.1 (2) ist {yk}k≥q eine beschrankte Folge reeller Zahlen,die dann wieder nach Lemma 5.4 eine konvergente Teilfolge {ykj

}j≥r besitzt. Setzemj = nkj

fur jedes j ≥ r; dann ist {xmj}j≥r eine Teilfolge von {xnk

}k≥q und somitkonvergent. Nun ist ykj

= Im zmjfur jedes j ≥ r und folglich konvergieren die

Folgen {Re zmj}j≥r und {Im zmj

}j≥r. Nach Satz 5.1 (1) konvergiert also die Folge{zmj

}j≥r, d.h. die Folge {zn}n≥p besitzt die konvergente Teilfolge {zmj}j≥r.

Eine Folge {xn}n≥p aus K heißt Cauchy-Folge, wenn es zu jedem ε > 0 ein N ≥ pgibt, so dass |xm − xn| < ε fur alle m, n ≥ N .

Lemma 5.6 Jede Cauchy-Folge aus K ist beschrankt.

Beweis (Dies ist sehr ahnlich zu dem Beweis fur Satz 5.4) Sei {xn}n≥p eineCauchy-Folge. Dann gibt es N ≥ p, so dass |xm −xn| < 1 fur alle m, n ≥ N , undfolglich ist |xn| ≤ 1 + |xN | fur alle n ≥ N . Sei c = 1 + |xp| + · · ·+ |xN |; dann ist|xn| ≤ c fur alle n ≥ p und damit ist die Folge {xn}n≥p beschrankt.

Lemma 5.7 Besitzt eine Cauchy-Folge aus K eine konvergente Teilfolge, so istsie selbst konvergent.

Beweis Sei {xnk}k≥q eine Teilfolge einer Cauchy-Folge {xn}n≥p und nehme an,

dass {xnk}k≥q gegen x konvergiert. Sei ε > 0; dann gibt es N ≥ q, so dass

|xnk− x| < ε/2 fur alle k ≥ N und N ′ ≥ p, so dass |xm − xn| < ε/2 fur alle

m, n ≥ N ′. Wahle r ≥ N , so dass nr ≥ N ′ und setze M = nr; dann ist

|xn − x| = |xn − xM + xM − x| ≤ |xn − xM | + |xM − x|= |xn − xM | + |xnr

− x| < ε/2 + ε/2 = ε

fur alle n ≥M und dies zeigt, dass auch {xn}n≥p gegen x konvergiert.

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5 Folgen 37

Satz 5.11 Eine Folge aus K konvergiert genau dann, wenn sie eine Cauchy-Folgeist.

Beweis Sei {xn}n≥p eine konvergente Folge mit limn→∞ xn = x. Sei ε > 0; es gibtalso N ≥ p, so dass |xn − x| < ε/2 fur alle n ≥ N . Fur alle n, m ≥ N ist dann

|xm − xn| = |xm − x+ x− xn| ≤ |xm − x| + |x− xn| < ε/2 + ε/2 = ε

und dies zeigt, dass {xn}n≥p eine Cauchy-Folge ist. Die Umkehrung folgt direktaus Lemma 5.5, Lemma 5.6 und Satz 5.10.

Sei nun {xn}n≥p eine nach oben beschrankte Folge reeller Zahlen. Fur n ≥ p seix↑n = sup({xm : m ≥ n}); folglich ist {x↑n}n≥p eine monoton fallende Folge reellerZahlen, da {xn : n ≥ m+ 1} ⊂ {xn : n ≥ m} fur jedes m ≥ p. Setze

x↑ = limn→∞

x↑n ,

somit ist x↑ ∈ R∪{−∞}. Diese ‘Zahl’ x↑ heißt Limes superior der Folge {xn}n≥p

und wird mit lim supn→∞ xn bezeichnet. Ist die Folge nicht nach oben beschrankt,so setzt man lim supn→∞ xn = +∞.

Analog wird der Limes inferior definiert. Zunachst sei {xn}n≥p eine nach untenbeschrankte Folge reeller Zahlen. Fur jedes n ≥ p sei x↓n = inf({xm : m ≥ n});also ist {x↓n}n≥p eine monoton wachsende Folge reeller Zahlen, da fur jedes m ≥ pgilt {xn : n ≥ m} ⊂ {xn : n ≥ m+ 1}. Setze

x↓ = limn→∞

x↓n ,

somit ist x↓ ∈ R∪{+∞}. Diese ‘Zahl’ x↓ heißt Limes inferior der Folge {xn}n≥p

und wird mit lim infn→∞ xn bezeichnet. Ist die Folge nicht nach unten beschrankt,so setzt man lim infn→∞ xn = −∞.

Satz 5.12 Fur jede Folge {xn}n≥p reeller Zahlen gilt lim infn→∞

xn ≤ lim supn→∞

xn.

Beweis Dies ist klar, wenn lim infn→∞ xn = −∞ oder lim supn→∞ xn = +∞.Es kann also angenommen werden, dass die Folge {xn}n≥p beschrankt ist. Abernach Lemma 3.7 ist x↓n = inf({xm : m ≥ n}) ≤ sup({xm : m ≥ n}) = x↑n furjedes n ≥ p. Damit ist die monoton wachsende Folge {x↓n}n≥p nach oben und diemonoton fallende Folge {x↑n}n≥p nach unten beschrankt, und folglich ist

lim infn→∞

xn = limn→∞

x↓n ≤ limn→∞

x↑n = lim supn→∞

xn .

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5 Folgen 38

Lemma 5.8 Sei {xn}n≥p eine Folge reeller Zahlen und sei x ∈ R.

(1) Es gilt lim supn→∞ xn ≤ x genau dann, wenn die Menge {n ≥ p : xn > x+ε}endlich ist fur jedes ε > 0.

(2) Es gilt lim supn→∞ xn ≥ x genau dann, wenn die Menge {n ≥ p : xn > x−ε}unendlich ist fur jedes ε > 0.

(3) Es gilt lim infn→∞ xn ≥ x genau dann, wenn die Menge {n ≥ p : xn < x− ε}endlich ist fur jedes ε > 0.

(4) Es gilt lim infn→∞ xn ≤ x genau dann, wenn die Menge {n ≥ p : xn < x+ ε}unendlich ist fur jedes ε > 0.

Beweis (1) Dies ist trivial richtig, wenn die Folge {xn}n≥p nicht nach oben be-schrankt ist, da in diesem Fall die Menge {n ≥ p : xn > y} unendlich ist furjedes y ∈ R und lim supn→∞ xn = +∞. Es kann also angenommen werden, dass{xn}n≥p nach oben beschrankt ist. In diesem Fall gilt lim supn→∞ xn ≤ x genaudann, wenn es zu jedem ε > 0 ein n ≥ p mit sup({xm : m ≥ n}) ≤ x + ε gibt,(da die Folge {x↑n}n≥p monoton fallend ist). Aber sup({xm : m ≥ n}) ≤ x + εgilt genau dann, wenn xm ≤ x + ε fur alle m ≥ n. Daraus ergibt sich, dasslim supn→∞ xn ≤ x genau dann gilt, wenn es zu jedem ε > 0 ein n ≥ p gibt mitxm ≤ x + ε fur alle m ≥ n, d.h. genau dann, wenn fur jedes ε > 0 die Menge{n ≥ p : xn > x+ ε} endlich ist.

(2) Es kann wieder angenommen werden, dass {xn}n≥p nach oben beschrankt ist.In diesem Fall gilt lim supn→∞ xn ≥ x genau dann, wenn sup({xm : m ≥ n}) ≥ xfur alle n ≥ p und nach Lemma 3.5 (2) gilt dies genau dann, wenn es zu jedemε > 0 und jedem n ≥ p ein m ≥ n mit xm > x − ε gibt, d.h. genau dann, wennfur jedes ε > 0 die Menge {n ≥ p : xn > x− ε} unendlich ist.

(3) und (4): Wie (1) und (2).

Satz 5.13 Sei {xn}n≥p eine Folge reeller Zahlen und sei x ∈ R.

(1) Es gilt lim supn→∞ xn = x genau dann, wenn die Menge {n ≥ p : xn > x+ε}endlich und die Menge {n ≥ p : xn > x− ε} unendlich ist fur jedes ε > 0.

(2) Es gilt lim infn→∞ xn = x genau dann, wenn die Menge {n ≥ p : xn < x− ε}endlich und die Menge {n ≥ p : xn < x+ ε} unendlich ist fur jedes ε > 0.

Beweis Dies folgt unmittelbar aus Lemma 5.7.

Satz 5.14 Eine Folge {xn}n≥p reeller Zahlen konvergiert gegen eine Zahl x ∈ R

genau dann, wenn lim infn→∞

xn = x = lim supn→∞

xn.

Beweis Ubung.

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6 Unendliche Reihen

Sei {xn}n≥p eine Folge aus K und fur jedes n ≥ p sei

sn =

n∑

k=p

xk (= xp + xp+1 + · · · + xn) .

Dann heißt die Folge {sn}n≥p dieser Partialsummen (unendliche) Reihe mit denGliedern xn, n ≥ p, und wird mit

∑∞n=p xn bezeichnet. Konvergiert die Reihe

∑∞n=p xn, so wird ihr Grenzwert ebenfalls mit

∑∞n=p xn bezeichnet und heißt dann

Summe der Reihe.

Wichtiges Beispiel: Die geometrische Reihe∑∞

n=0 xn konvergiert mit der Summe

∞∑

n=0

xn = (1 − x)−1

fur jedes x ∈ K mit |x| < 1. (Sei x 6= 1 fest und fur jedes n ≥ 0 sei sn =∑n

k=0 xk;

dann ist sn = (1 − x)−1(1 − xn+1) und damit |sn − (1 − x)−1| = |1 − x|−1|x|n+1.Daraus folgt, dass die Folge {sn}n≥0 gegen (1 − x)−1 konvergiert, falls |x| < 1.D.h.: die Reihe

∑∞n=0 x

n konvergiert mit der Summe (1 − x)−1, wenn |x| < 1.)

Lemma 6.1 Sei {xn}n≥p eine Folge aus K und sei q ≥ p. Dann konvergiertdie Reihe

∑∞n=p xn genau, wenn die Reihe

∑∞n=q xn konvergiert. Konvergieren

diese Reihen, so gilt fur ihre Summen, dass∑∞

n=p xn = x +∑∞

n=q xn, wobeix = xp + xp+1 + · · · + xq−1.

Beweis Fur jedes n ≥ p sei sn =∑n

k=p xk und fur jedes n ≥ q sei s′n =∑n

k=q xk.Dann gilt sn = x+s′n fur jedes n ≥ q, und daraus folgt, dass die Folge {sn}n≥q ge-nau dann konvergiert, wenn die Folge {s′n}n≥q konvergiert. Aber nach Lemma 5.1konvergiert die Folge {sn}n≥q genau dann, wenn die Folge {sn}n≥p konvergiert.Damit konvergiert

∑∞n=p xn genau dann, wenn

∑∞n=q xn konvergiert. Konvergieren

diese Reihen, so ergibt sich aus Lemma 5.1, dass

∞∑

n=p

xn = limn→∞

sn = x+ limn→∞

s′n = x+

∞∑

n=q

xn .

Lemma 6.2 Ist {zn}n≥p eine Folge komplexer Zahlen, so konvergiert die Reihe∑∞

n=p zn genau dann, wenn die (reellen) Reihen∑∞

n=p(Re zn) und∑∞

n=p(Im zn)konvergieren, und in diesem Fall ist

∞∑

n=p

zn =∞∑

n=p

(Re zn) + i∞∑

n=p

(Im zn) .

39

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6 Unendliche Reihen 40

Beweis Setze sn =∑n

k=p zk, tn =∑n

k=p(Re zk) und un =∑n

k=p(Im zk) fur jedesn ≥ p. Dann gilt

sn =

n∑

k=p

zk =

n∑

k=p

((Re zk) + i(Im zk)

)=

n∑

k=p

(Re zk) + i

n∑

k=p

(Im zk) = tn + iun ,

d.h., tn = Re sn und un = Im sn. Daraus ergibt sich nach Satz 5.1 (1), dassdie Reihe

∑∞n=p zn genau dann konvergiert, wenn die Reihen

∑∞n=p(Re zn) und

∑∞n=p(Im zn) konvergieren. Außerdem gilt in diesem Fall, dass

∞∑

n=p

zn = limn→∞

sn = limn→∞

tn + i limn→∞

un =∞∑

n=p

(Re zn) + i∞∑

n=p

(Im zn) .

Satz 6.1 Sei {xn}n≥p eine Folge reeller Zahlen mit xn ≥ 0 fur alle n ≥ p.Dann konvergiert die Reihe

∑∞n=p xn genau, wenn die Folge der Partialsummen

nach oben beschrankt ist, d.h., genau dann, wenn es ein M ≥ 0 gibt, so dass∑n

k=p xk ≤M fur alle n ≥ p.

Beweis Fur jedes n ≥ p sei sn =∑n

k=p xk. Dann ist

sn+1 =n+1∑

k=p

xk = xn+1 +n∑

k=p

xk ≥n∑

k=p

xk = sn

fur jedes n ≥ p, die Folge {sn}n≥p ist also monoton wachsend. Daraus ergibtsich nach Satz 5.4 und Satz 5.8, dass die Folge {sn}n≥p genau dann konvergiert,wenn sie nach oben beschrankt ist, (da eine monoton wachsende Folge genaudann beschrankt ist, wenn sie nach oben beschrankt ist). Mit anderen Worten:Die Reihe

∑∞n=p xn konvergiert genau dann, wenn es ein M ≥ 0 gibt, so dass

∑nk=p xk ≤M fur alle n ≥ p.

Nach Satz 6.1 konvergiert die harmonische Reihe∑∞

n=1 1/n nicht, da fur jedes

p ≥ 0 gilt∑2p

n=1 1/n ≥ p/2. Dagegen konvergiert die Reihe∑∞

n=1 1/n2, da

n∑

k=1

1

k2≤ 1 +

n∑

k=2

1

k(k − 1)= 1 +

n∑

k=2

( 1

k − 1− 1

k

)

= 1 +(

1 − 1

n

)

≤ 2

fur alle n > 1. Im Folgenden sei {xn}n≥p eine Folge aus K.

Satz 6.2 (Das Cauchysche Konvergenz-Kriterium) Die unendliche Reihe∑∞

n=p xn konvergiert genau dann, wenn es zu jedem ε > 0 ein N ≥ p gibt, sodass |

∑nk=m xk| < ε fur alle n ≥ m ≥ N .

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6 Unendliche Reihen 41

Beweis Fur jedes n ≥ p sei sn =∑n

k=p xk. Nehme zunachst an, dass die Reihe∑∞

n=p xn konvergiert. Dann konvergiert die Folge {sn}n≥p und nach Satz 5.11ist also {sn}n≥p eine Cauchy-Folge. Sei ε > 0; dann gibt es M ≥ p, so dass|sn − sm| < ε fur alle n > m ≥ M . Setze N = M + 1; fur alle n ≥ m ≥ N istn > m− 1 ≥M und daraus ergibt sich, dass |∑n

k=m xk| = |sn − sm−1| < ε.

Nehme umgekehrt an, dass diese Bedingung erfullt ist. Sei ε > 0; dann gibt esN ≥ p, so dass |∑n

k=m xk| < ε fur alle n ≥ m ≥ N . Fur alle n > m ≥ N ist dann|sn − sm| =

∣∣∑n

k=m+1 xk

∣∣ < ε, und dies zeigt, dass {sn}n≥p eine Cauchy-Folge ist.

Damit konvergiert die Reihe∑∞

n=p xn nach Satz 5.11.

Satz 6.3 Fur jede konvergente Reihe∑∞

n=p xn konvergiert die Folge {xn}n≥p

gegen 0.

Beweis Sei ε > 0; nach Satz 6.2 gibt es dann N ≥ p, so dass |∑nk=m xk| < ε fur

alle n ≥ m ≥ N . Daraus ergibt sich (mit m = n), dass |xn| < ε fur alle n ≥ N .Dies zeigt, dass die Folge {xn}n≥p gegen 0 konvergiert.

Satz 6.4 Sei {cn}n≥p eine Folge reeller Zahlen mit |xn| ≤ cn fur alle n ≥ p.Konvergiert die Reihe

∑∞n=p cn (in R), so konvergiert die Reihe

∑∞n=p xn und es

gilt∣∣∣∑∞

n=p xn

∣∣∣ ≤

∑∞n=p cn.

Insbesondere konvergiert∑∞

n=p xn mit∣∣∣∑∞

n=p xn

∣∣∣ ≤

∑∞n=p |xn|, falls die Reihe

∑∞n=p |xn| in R konvergiert.

Beweis Fur jedes n ≥ p sei sn =∑n

k=p xk und s∗n =∑n

k=p ck. Sei ε > 0; da dieReihe

∑∞n=p cn konvergiert (d.h. die Folge {s∗n}n≥p konvergiert), ist nach Satz 5.11

{s∗n}n≥p eine Cauchy-Folge, und folglich gibt es N ≥ p, so dass |s∗n − s∗m| < ε furalle n > m ≥ N . Fur alle n > m ≥ N ist dann

|sn − sm| =∣∣∣

n∑

k=m+1

xk

∣∣∣ ≤

n∑

k=m+1

|xk| ≤n∑

k=m+1

ck = |s∗n − s∗m| < ε ,

und dies zeigt, dass die Folge {sn}n≥p eine Cauchy-Folge und damit nach Satz 5.11eine konvergente Folge ist, d.h. die Reihe

∑∞n=p xn konvergiert. Ferner ist

|sn| =∣∣∣

n∑

k=p

xk

∣∣∣ ≤

n∑

k=p

|xk| ≤n∑

k=p

ck = s∗n

fur alle n ≥ p, und daraus folgt nach Satz 5.2 und Satz 5.3, dass

∣∣∣

∞∑

n=p

xn

∣∣∣ = | lim

n→∞sn| = lim

n→∞|sn| ≤ lim

n→∞s∗n =

∞∑

n=p

cn .

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6 Unendliche Reihen 42

Die letzte Aussage folgt nun mit cn = |xn|.

Die Reihe∑∞

n=p xn heißt absolut konvergent, falls die Reihe∑∞

n=p |xn| konvergiert(in R). Die letzte Aussage in Satz 6.4 sagt also, dass eine absolut konvergenteReihe auch im gewohnlichen Sinn konvergiert.

Insbesondere konvergiert die geometrische Reihe∑∞

n=0 xn absolut fur jedes x ∈ K

mit |x| < 1.

Lemma 6.3 Sei {xn}n≥p eine Folge aus K und sei q ≥ p. Dann konvergiert dieReihe

∑∞n=p xn absolut genau, wenn die Reihe

∑∞n=q xn absolut konvergiert.

Beweis Dies folgt unmittelbar aus Lemma 6.1.

Lemma 6.4 Ist {zn}n≥p eine Folge komplexer Zahlen, so konvergiert die Reihe∑∞

n=p zn absolut genau dann, wenn die Reihen∑∞

n=p(Re zn) und∑∞

n=p(Im zn)absolut konvergieren.

Beweis Dies folgt aus Satz 6.4, da |Re zn| ≤ |zn|, | Im zn| ≤ |zn| und

|zn| =√

|Re zn|2 + | Im zn|2 ≤ |Re zn| + | Im zn|fur alle n ≥ p.

Nun werden einige Konvergenz-Kriterien fur Reihen betrachtet. Im Folgenden seiwieder {xn}n≥p eine Folge aus K.

Satz 6.5 (Majoranten-Kriterium) Sei {cn}n≥p eine Folge reeller Zahlen mit|xn| ≤ cn (und insbesondere ist dann cn ≥ 0) fur alle n ≥ p. Konvergiert dieReihe

∑∞n=p cn (in R), so konvergiert die Reihe

∑∞n=p xn absolut und

∣∣∣

∞∑

n=p

xn

∣∣∣ ≤

∞∑

n=p

cn .

Beweis Dies ist lediglich eine Umformulierung von Satz 6.4.

Satz 6.6 (Quotienten-Kriterium) Nehme an, dass xn 6= 0 fur alle n ≥ p unddass es ein θ ∈ R mit 0 < θ < 1 gibt, so dass |xn+1|/|xn| ≤ θ fur alle n ≥ p.Dann konvergiert die Reihe

∑∞n=p xn absolut.

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6 Unendliche Reihen 43

Beweis Fur alle n ≥ p ist |xn+1| ≤ θ|xn|, und daraus ergibt sich mit vollstandigerInduktion, dass |xn| ≤ Mθn fur alle n ≥ p, wobei M = θ−p|xp|. Nach Satz 6.5konvergiert also die Reihe

∑∞n=p xn absolut, da die geometrische Reihe

∑∞n=0 θ

n

und damit auch die Reihe∑∞

n=pMθn absolut konvergiert.

Satz 6.7 (Wurzelkriterium) Sei α = lim supn→∞

n√

|xn| (also gilt 0 ≤ α ≤ +∞).

(1) Ist α < 1, so konvergiert die Reihe∑∞

n=p xn absolut.

(2) Ist α > 1, so divergiert die Reihe∑∞

n=p xn (d.h. die Reihe konvergiert nicht).

Beweis (1) Wahle β mit α < β < 1; da α < β, gibt es nach Lemma 5.7 (1)ein q ≥ p, so dass n

|xn| ≤ β und damit |xn| ≤ βn fur alle n ≥ q. Aber diegeometrische Reihe

∑∞n=q β

n kovergiert, weil β < 1, und daraus ergibt sich nachSatz 6.5, dass die Reihe

∑∞n=q xn absolut konvergiert. Folglich konvergiert auch

die Reihe∑∞

n=p xn absolut.

(2) Da α > 1, ist nach Lemma 5.7 (2) die Menge {n ≥ p : n√

|xn| ≥ 1} und damitauch die Menge {n ≥ p : |xn| ≥ 1} unendlich, und folglich konvergiert die Folge{xn}n≥p nicht gegen 0. Daraus ergibt sich nach Satz 6.3, dass die Reihe

∑∞n=p xn

divergiert.

Satz 6.8 (Leibnizsches Kriterium) Sei {xn}n≥p eine monoton fallende Folgereeller Zahlen, die gegen 0 konvergiert (insbesondere ist also xn ≥ 0 fur allen ≥ p). Dann konvergiert die alternierende Reihe

∑∞n=p(−1)nxn.

Beweis Fur n ≥ p sei sn =∑n

k=p(−1)kxk. Fur jedes n ≥ p ist dann

s2n+2 = s2n − x2n+1 + x2n+2 ≤ s2n und

s2n+3 = s2n+1 − x2n+2 + x2n+3 ≥ s2n+1 .

Damit ist die Folge {s2n}n≥p monoton fallend und die Folge {s2n+1}n≥p monotonwachsend. Ferner ergibt sich daraus, dass s2p+1 ≤ s2n+1 = s2n−x2n+1 ≤ s2n ≤ s2p,und insbesondere ist dann s2n ≥ s2p+1 und s2n+1 ≤ s2p fur alle n ≥ p. DieFolgen {s2n}n≥p und {s2n+1}n≥p sind also monoton und beschrankt und dahernach Satz 5.8 konvergent. Setze s = limn→∞ s2n und s′ = limn→∞ s2n+1; nachSatz 5.5 (1) ist

s′ − s = limn→∞

s2n+1 − limn→∞

s2n = limn→∞

(s2n+1 − s2n) = limn→∞

x2n+1 = 0 ,

d.h., s′ = s. Sei nun ε > 0; dann gibt es N, N ′ ≥ p, so dass |s− s2m| < ε fur allem ≥ N und |s′ − s2m+1| < ε fur alle m ≥ N ′; setze M = max{2N, 2N ′ + 1}. Sei

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6 Unendliche Reihen 44

n ≥ M ; ist n gerade, so ist m = 2n mit m ≥ N , ist dagegen n ungerade, so istm = 2n + 1 mit m ≥ N ′; in beiden Fallen ist also |s− sn| < ε. Dies zeigt, dassdie Folge {sn}n≥p und damit die Reihe

∑∞n=p(−1)nxn konvergiert.

Nun muss das sogenannte Cauchy-Produkt von Reihen behandelt werden. Dieswird zum Beweis der Funktionalgleichung der Exponentialfunktion gebraucht. ImFolgenden seien {xn}n≥0 und {yn}n≥0 Folgen aus K.

Satz 6.9 Nehme an, die Reihen∑∞

n=0 xn und∑∞

n=0 yn konvergieren absolut undfur jedes n ∈ N sei cn =

∑nk=0 xkyn−k. Dann konvergiert

∑∞n=0 cn absolut und

∞∑

n=0

cn =( ∞∑

n=0

xn

)( ∞∑

n=0

yn

)

.

(Die Reihe∑∞

n=0 cn heißt das Cauchy-Produkt der Reihen∑∞

n=0 xn und∑∞

n=0 yn.)

Beweis Fur jedes n ∈ N setze sn =∑n

k=0 xk, tn =∑n

k=0 yk, un =∑n

k=0 ck,s∗n =

∑nk=0 |xk| und t∗n =

∑nk=0 |yk|.

Lemma 6.5 Seien m, n ≥ 1 mit n ≥ 2m. Dann gilt |un − sntn| ≤ |s∗nt∗n − s∗mt∗m|.

Beweis Setze Qn = {(p, q) ∈ N2 : p ≤ n, q ≤ n}, Dn = {(p, q) ∈ N2 : p + q ≤ n}fur jedes n ∈ N. Dann sieht man leicht, dass

un =∑

(p,q)∈Dn

xpyq und sntn =∑

(p,q)∈Qn

xpyq .

Seien m, n ≥ 1 mit n ≥ 2m. Dann gilt Qm ⊂ Dn ⊂ Qn und daraus folgt, dass

|un − sntn| =∣∣∑

(p,q)∈Dn

xpyq −∑

(p,q)∈Qn

xpyq

∣∣

=∣∣∣

(p,q)∈Qn\Dn

xpyq

∣∣∣ ≤

(p,q)∈Qn\Dn

|xp||yq| ≤∑

(p,q)∈Qn\Qm

|xp||yq|

=∑

(p,q)∈Qn

|xp||yq| −∑

(p,q)∈Qm

|xp||yq| = s∗nt∗n − s∗mt

∗m = |s∗nt∗n − s∗mt

∗m| .

Setze nun s =∞∑

n=0

xn und t =∞∑

n=0

yn.

Lemma 6.6 Die Reihe∞∑

n=0

cn konvergiert mit der Summe st.

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6 Unendliche Reihen 45

Beweis Da die Reihen∑∞

n=0 xn und∑∞

n=0 yn absolut konvergieren, konvergierendie Folgen {s∗n}n≥0 und {t∗n}n≥0. Damit konvergiert nach Satz 5.5 (2) auch dieFolge {s∗nt∗n}n≥0 und folglich ist nach Satz 5.11 {s∗nt∗n}n≥0 eine Cauchy-Folge. Seinun ε > 0; es gibt also ein N ∈ N, so dass |s∗nt∗n − s∗mt

∗m| < ε fur alle m, n ≥ N .

Nach Lemma 6.5 ist |un − sntn| ≤ |s∗nt∗n − s∗N t∗N | < ε fur alle n ≥ 2N , und dies

zeigt, dass limn→∞(un − sntn) = 0. Aber s = limn→∞ sn und t = limn→∞ tn unddamit nach Satz 5.5 (2) auch st = limn→∞ sntn, und daraus ergibt sich, dass dieFolge {un}n≥0 konvergiert und

limn→∞

un = limn→∞

(un − sntn) + limn→∞

sntn = 0 + st = st .

Mit anderen Worten: Die Reihe∑∞

n=0 cn konvergiert mit der Summe st.

Nach Lemma 6.6 bleibt nur zu zeigen, dass die Reihe∑∞

n=0 cn absolut konvergiert.Da die Reihen

∑∞n=0 |xn| und

∑∞n=0 |yn| absolut konvergieren, kann Lemma 6.6

auf diese Reihen angewendet werden, und daraus folgt, dass die Reihe∑∞

n=0 c∗n

konvergiert, wobei c∗n =∑n

k=0 |xk||yn−k|. Aber fur jedes n ≥ 0 gilt

|cn| =∣∣

n∑

k=0

xkyn−k

∣∣ ≤

n∑

k=0

|xk||yn−k| = c∗n

und damit konvergiert∞∑

n=0

cn absolut nach Satz 6.5.

Als nachstes wird die Exponentialreihe behandelt.

Satz 6.10 Fur jedes x ∈ K konvergiert die Reihe∞∑

n=0

xn/n! absolut.

Beweis Sei x ∈ K fest und wahle p ∈ N mit p ≥ 2|x|. Fur jedes n ≥ p ist dann

∣∣∣∣

xn+1

(n+ 1)!

∣∣∣∣=

|x|n + 1

∣∣∣∣

xn

n!

∣∣∣∣≤ 1

2

∣∣∣∣

xn

n!

∣∣∣∣

und daraus ergibt sich nach Satz 6.6 (mit θ = 1/2), dass die Reihe∑∞

n=p xn/n!

absolut konvergiert. Nach Lemma 6.3 konvergiert dann die Reihe∑∞

n=0 xn/n!

absolut.

Die Reihe∑∞

n=0 xn/n! wird Exponentialreihe genannt und die Summe

∑∞n=0 x

n/n!mit exp(x) bezeichnet. Insbesondere ist exp(0) = 1. Die Zahl exp(1) wird meistensmit e bezeichnet (Eulersche Zahl); es gilt e =

∑∞n=0 1/n! = 2, 71828 . . ..

Da exp(x) fur jedes x ∈ K erklart ist, gibt es die Exponentialfunktion x 7→ exp(x)als Abbildung von K nach K.

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6 Unendliche Reihen 46

Satz 6.11 (Funktionalgleichung der Exponentialfunktion) Es gilt

exp(x+ y) = exp(x) exp(y)

fur alle x, y ∈ K.

Beweis Seien x, y ∈ K fest und fur jedes n ≥ 0 sei xn = xn/n!, yn = yn/n! undsei cn =

∑nk=0 xkyn−k. Nach Satz 6.10 konvergieren

∑∞n=0 xn und

∑∞n=0 yn absolut

und daraus folgt nach Satz 6.9, dass∑∞

n=0 cn absolut konvergiert und

∞∑

n=0

cn =( ∞∑

n=0

xn

)( ∞∑

n=0

yn

)

= exp(x) exp(y) .

Nach dem binomischen Lehrsatz gilt aber, dass

cn =n∑

k=0

1

k!xk 1

(n− k)!yn−k =

1

n!

n∑

k=0

n!1

k!

1

(n− k)!xkyn−k

=1

n!

n∑

k=0

(n

k

)

xkyn−k =1

n!(x+ y)n ,

und damit ist∞∑

n=0

cn =∞∑

n=0

(x+ y)n/n! = exp(x+ y).

Mit vollstandiger Induktion folgt unmittelbar aus Satz 6.11, dass

exp( n∑

k=1

xk

)

=

n∏

k=1

exp(xk)

fur alle x1, . . . , xn ∈ K, n ≥ 1. Das folgende Ergebnis beschaftigt sich mit derExponentialfunktion im Komplexen.

Satz 6.12 (1) Fur alle z ∈ C ist exp(z) 6= 0 und exp(−z) = exp(z)−1.

(2) Es gilt exp(z) = exp(z) fur jedes z ∈ C.

(3) Fur alle z, ξ ∈ C gilt | exp(z + ξ) − exp(z)| ≤ |ξ| exp(|ξ|) exp(|z|).(4) Fur alle z, ξ ∈ C mit ξ 6= 0 gilt

∣∣∣exp(z + ξ) − exp(z)

ξ− exp(z)

∣∣∣ ≤ |ξ|

2exp(|ξ|) exp(|z|) .

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6 Unendliche Reihen 47

Beweis (1) Nach Satz 6.11 ist exp(z) exp(−z) = exp(z− z) = exp(0) = 1; damitist exp(z) 6= 0 und exp(−z) = exp(z)−1.

(2) Fur jedes n ≥ 0 sei sn =∑n

k=0 zk/k! und s′n =

∑nk=0 z

k/k! und folglich istexp(z) = limn→∞ sn und exp(z) = limn→∞ s′n. Aber fur jedes n ≥ 0 ist s′n = sn

und daraus ergibt sich nach Satz 5.1 (2), dass exp(z) = exp(z).

(3) und (4): Ubungen.

Folgende Ergebnisse beschaftigen sich mit der Exponentialfunktion im Reellen.

Lemma 6.7 Fur alle x ∈ R mit x > 0 gilt exp(x) ≥ 1 + x.

Beweis Sei x ∈ R mit x > 0; fur jedes m ≥ 2 ist dann

m∑

n=0

1

n!xn = 1 + x+

m∑

n=2

1

n!xn ≥ 1 + x ,

und damit ist nach Satz 5.3 exp(x) = limm→∞

∑mn=0 x

n/n! ≥ 1 + x.

Satz 6.13 (1) exp(x) > 0 fur alle x ∈ R.

(2) exp(x) > exp(y), falls x, y ∈ R mit x > y.

(3) exp(n) = en fur alle n ∈ N.

(4) limx→∞ exp(x) = ∞: Zu jedem N > 0 gibt es ein M > 0, so dass exp(x) > Nfur alle x ∈ R mit x > M .

(5) limx→−∞ exp(x) = 0: Zu jedem ε > 0 gibt es ein M > 0, so dass exp(x) < εfur alle x ∈ R mit x < −M .

Beweis (1) Falls x ≥ 0, so ist nach Lemma 6.7 exp(x) ≥ 1 + x > 0. Ist dagegenx < 0, so ist −x > 0 und damit exp(−x) ≥ 1; nach Satz 6.12 (1) ist dann auchexp(x) = exp(−x)−1 > 0.

(2) Sei x > y; dann ist nach Satz 6.11 exp(x) = exp(y+x−y) = exp(y) exp(x−y).Aber nach (1) ist exp(y) > 0 und nach Lemma 6.7 ist exp(x−y) ≥ 1+x−y > 1.Damit ist exp(x) > exp(y).

(3) Nach Satz 6.11 ist exp(n) = exp(∑n

k=1 1)

=∏n

k=1 exp(1) =∏n

k=1 e = en.

(4) Sei N > 0; nach Lemma 6.7 ist e = exp(1) ≥ 2 > 1 und damit gibt es nachSatz 3.6 (1) ein n ∈ N, so dass en > N . Daraus ergibt sich nach (2) und (3), dassexp(x) > exp(n) = en > N fur alle x ∈ R mit x > n.

(5) Sei ε > 0; nach (4) gibt es dann M > 0, so dass exp(y) > ε−1 fur alle y > M ,und daraus folgt nach Satz 6.12 (1), dass exp(−y) = exp(y)−1 < (ε−1)−1 = ε furalle y > M , d.h., exp(x) < ε fur alle x ∈ R mit x < −M .

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7 Stetige Funktionen

Die Worter Funktion und Abbildung sind Synonyme, wobei das Letztere hierbevorzugt wird.

Sind X und Y Mengen, so wird die Menge aller Abbildungen von X nach Y mitAbb(X, Y ) bezeichnet. (Oft wird diese Menge mit Y X bezeichnet.)

Sei nun X eine nichtleere Menge und K ein Korper. Fur f, g ∈ Abb(X,K) undλ ∈ K definiere Elemente f + g, fg und λf von Abb(X,K) durch

(f + g)(x) = f(x) + g(x), (fg)(x) = f(x) · g(x) und (λf)(x) = λf(x)

fur jedes x ∈ X. Dies liefert dann die Verknupfungen

+ : Abb(X,K) × Abb(X,K) → Abb(X,K) mit (f, g) 7→ f + g ,

× : Abb(X,K) × Abb(X,K) → Abb(X,K) mit (f, g) 7→ fg ,

· : K × Abb(X,K) → Abb(X,K) mit (λ, f) 7→ λf .

Lemma 7.1 (1) Mit den Verknupfungen + und · ist Abb(X,K) ein Vektorraumuber K. Die Nullabbildung 0 : X → K (mit 0(x) = 0 fur alle x ∈ X) istdie Null in Abb(X,K); zu jedem f ∈ Abb(X,K) ist −f ∈ Abb(X,K) durch(−f)(x) = −f(x) fur alle x ∈ X gegeben.

(2) Mit den Verknupfungen + und × ist Abb(X,K) ein kommutativer Ring mitEins. Die Einsabbildung 1 : X → K (mit 1(x) = 1 fur alle x ∈ X) ist die Einsin Abb(X,K).

(3) In dem kommutativen Ring Abb(X,K) ist ein Element f invertierbar genaudann, wenn f(x) 6= 0 fur alle x ∈ X, und in diesem Fall ist die Inverse f−1 dieAbbildung, die durch f−1(x) = (f(x))−1 fur alle x ∈ X gegeben ist.

Beweis Dies ist klar.

Fur den Rest des Kapitels sei K′ entweder R oder C und sei D stets eine nichtleereTeilmenge von K′. Abbildungen von D nach K werden hier untersucht. Es gibtalso eigentlich die vier verschiedenen Falle:

(1) Reelle Abbildungen definiert auf einer Teilmenge von R.

(2) Reelle Abbildungen definiert auf einer Teilmenge von C.

(3) Komplexe Abbildungen definiert auf einer Teilmenge von R.

(4) Komplexe Abbildungen definiert auf einer Teilmenge von C.

In einem gewissen Sinne aber ist alles unter dem vierten Fall subsumiert: JedeAbbildung von einer Menge X nach R kann auch als Abbildung von X nach C

angesehen werden; ferner ist jede Teilmenge E von R auch Teilmenge von C.

48

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7 Stetige Funktionen 49

Sei f : D → K eine Abbildung. Dann heißt f an einer Stelle x ∈ D stetig, wennes zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt, so dass |f(y) − f(x)| < ε fur alle y ∈ D mit|y − x| < δ.

Sei f : D → R eine Abbildung. Da f auch als Abbildung von D nach C angesehenwerden kann, gibt es zwei mogliche Stetigkeitsbegriffe (Stetigkeit mit K = R undStetigkeit mit K = C), die hier angewendet werden konnen, die aber uberein-stimmen: Die Stetigkeit von g an einer Stelle x ∈ D hangt nicht davon ab, obman K = R oder K = C nimmt (da der Betrag | · | in R die Einschrankung vomBetrag | · | in C ist).

Sei nun E eine nichtleere Teilmenge von R und g : E → K eine Abbildung. Da Eauch als Teilmenge von C angesehen werden kann, gibt es wieder zwei moglicheStetigkeitsbegriffe (Stetigkeit mit K′ = R und Stetigkeit mit K′ = C), die hierangewendet werden kann. Wieder stimmen sie aber uberein: Die Stetigkeit von gan einer Stelle x ∈ E hangt nicht davon ab, ob man K′ = R oder K′ = C nimmt.

Eine Abbildung f : D → K heißt stetig, wenn sie an jeder Stelle x ∈ D stetig ist.

Sei idK : K → K die durch idK(x) = x definierte Identitatsabbildung, und furjedes a ∈ K′ sei cona

K : K → K′ die durch conaK(x) = a definierte konstante

Abbildung. Es ist klar, dass diese Abbildungen alle stetig sind.

Die Abbildung | · | : K → R ist stetig: Sei x ∈ K; zu jedem ε > 0 gilt ||y|−|x|| < εfur alle y ∈ K mit |y − x| < ε (da ||y| − |x|| ≤ |y − x|), und dies zeigt, dass | · |an der Stelle x stetig ist.

Satz 7.1 Die Exponentialfunktion exp : K → K ist stetig.

Beweis Sei z ∈ K und ε > 0; setze η = exp(−1 − |z|)ε und sei δ = min{η, 1}.Fur alle w ∈ K mit |w − z| < δ ist dann nach Satz 6.12 (3)

| exp(w) − exp(z)| ≤ |w − z| exp(|w − z|) exp(|z|)≤ |w − z| exp(1 + |z|) < η exp(1 + |z|) = ε ,

und dies zeigt, dass exp an der Stelle z stetig ist.

Ist f : D → C, so gibt es dann die Abbildungen f : D → C, Re f : D → R undIm f : D → R, die gegeben sind durch f(x) = f(x), (Re f)(x) = Re(f(x)) und(Im f)(x) = Im(f(x)) fur alle x ∈ D.

Satz 7.2 Sei f : D → C eine Abbildung und x ∈ D. Dann sind aquivalent:

(1) f ist an der Stelle x stetig.

(2) Re f und Im f sind beide an der Stelle x stetig.

(3) f ist an der Stelle x stetig.

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7 Stetige Funktionen 50

Beweis Ubung.

Lemma 7.2 Sei f : D → K eine Abbildung und E eine nichtleere Teilmenge vonD. Ist f an der Stelle x ∈ E stetig, so ist auch die Einschrankung fE von f aufE. (Die Einschrankung fE : E → K ist die durch fE(x) = f(x) fur alle x ∈ Edefinierte Abbildung.)

Beweis Sei ε > 0; da f an der Stelle x stetig ist, gibt es ein δ > 0, so dass|f(y) − f(x)| < ε fur alle y ∈ D mit |y − x| < δ. Insbesondere ist dann

|fE(y) − fE(x)| = |f(y) − f(x)| < ε

fur alle y ∈ E mit |y−x| < δ, und dies zeigt, dass fE an der Stelle x stetig ist.

Satz 7.3 Sei f : D → K eine Abbildung und x ∈ D. Dann sind aquivalent:

(1) f ist an der Stelle x stetig.

(2) Die Folge {f(xn)}n≥p konvergiert gegen f(x) fur jede Folge {xn}n≥p aus D,die gegen x konvergiert.

Beweis Nehme zunachst an, dass f an der Stelle x stetig ist, und sei {xn}n≥p eineFolge aus D, die gegen x konvergiert. Sei ε > 0; dann gibt es ein δ > 0, so dass|f(y)− f(x)| < ε fur alle y ∈ D mit |y−x| < δ. Da {xn}n≥p gegen x konvergiert,gibt es also ein N ≥ p, so dass |xn − x| < δ fur alle n ≥ N . Daraus folgt, dass|f(xn)−f(x)| < ε fur alle n ≥ N , und dies zeigt, dass die Folge {f(xn)}n≥p gegenf(x) konvergiert.

Nehme umgekehrt an, dass f an der Stelle x nicht stetig ist. Dann gibt es einε > 0, so dass zu jedem δ > 0 ein y ∈ D existiert mit |y − x| < δ aber mit|f(y)− f(x)| ≥ ε. Insbesondere bedeutet dies, dass es fur jedes n ≥ 1 ein xn ∈ Dgibt mit |xn − x| < 1

naber |f(xn) − f(x)| ≥ ε. Dann ist {xn}n≥1 eine Folge aus

D, die offensichtlich gegen x konvergiert, aber die Folge {f(xn)}n≥1 kann nichtgegen f(x) konvergieren, da |f(xn) − f(x)| ≥ ε fur alle n ≥ 1.

Lemma 7.3 Sei f : D → K eine Abbildung, die an der Stelle x ∈ D stetig ist.Dann gibt es δ > 0 und c ≥ 0, so dass |f(y)| ≤ c fur alle y ∈ D mit |y − x| < δ.

Beweis Da f an der Stelle x stetig ist, gibt es δ > 0, so dass |f(y) − f(x)| < 1fur alle y ∈ D mit |y − x| < δ. Sei c = 1 + |f(x)|; dann ist

|f(y)| = |f(y)− f(x) + f(x)| ≤ |f(y)− f(x)| + |f(x)| ≤ 1 + |f(x)| = c

fur alle y ∈ D mit |y − x| < δ.

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7 Stetige Funktionen 51

Satz 7.4 Seien f, g : D → K Abbildungen, die beide an der Stelle x ∈ D stetigsind. Dann sind die Abbildungen f + g, fg und λf (fur jedes λ ∈ K) auch an derStelle x stetig. Ist ferner f(y) 6= 0 fur jedes y ∈ D, so ist die Abbildung f−1 ander Stelle x stetig.

Beweis Dies folgt eigentlich unmittelbar aus Satz 7.3, Satz 5.5 und Satz 5.6.Dennoch werden Beweise fur diese Behauptungen gegeben, die die Definition vonStetigkeit direkt verwenden.

Die Abbildung f + g ist an der Stelle x stetig: Sei ε > 0; dann gibt es δ1 > 0,so dass |f(y) − f(x)| < ε/2 fur alle y ∈ D mit |y − x| < δ1, und genauso gibtes δ2 > 0, so dass |g(y) − g(x)| < ε/2 fur alle y ∈ D mit |y − x| < δ2. Seiδ = min{δ1, δ2}; fur alle y ∈ D mit |y − x| < δ ist dann

|(f(y) + g(y)) − (f(x) + g(x))| = |(f(y)− f(x)) + (g(y)− g(x))|≤ |f(y)− f(x)| + |g(y)− g(x)| < ε/2 + ε/2 = ε ,

und dies zeigt, dass f + g an der Stelle x stetig ist.

Die Abbildung fg ist an der Stelle x stetig: Nach Lemma 7.3 gibt es δ0 > 0 undc ≥ 0, so dass |f(y)| ≤ c fur alle y ∈ D mit |y − x| < δ0; wahle b > c + |g(x)|.Sei ε > 0; dann gibt es δ1 > 0, so dass |f(y) − f(x)| < b−1ε fur alle y ∈ D mit|y − x| < δ1, und genauso gibt es δ2 > 0, so dass |g(y) − g(x)| < b−1ε fur alley ∈ D mit |y − x| < δ2. Sei δ = min{δ0, δ1, δ2}; dann ist

|f(y)g(y)− f(x)g(x)| = |f(y)g(y)− f(y)g(x) + f(y)g(x)− f(x)g(x)|=∣∣f(y)

(g(y) − g(x)

)+(f(y) − f(x)

)g(x)

∣∣

≤ |f(y)||g(y)− g(x)| + |f(y)− f(x)||g(x)| ≤ cb−1ε+ b−1ε|g(x)| < ε

fur alle y ∈ D mit |y − x| < δ und dies zeigt, dass fg an der Stelle x stetig ist.

Fur jedes λ ∈ R ist die Abbildung λf an der Stelle x stetig: Wahle b mit |λ| < b.Sei ε > 0; dann gibt es δ > 0, so dass |f(y) − f(x)| < b−1ε fur alle y ∈ D mit|y − x| < δ. Fur alle y ∈ D mit |y − x| < δ ist dann

|λf(y) − λf(x)| = |λ||f(y)− f(x)| ≤ |λ|b−1ε < ε ,

und dies zeigt, dass λf an der Stelle x stetig ist.

Schließlich nehme an, dass f(y) 6= 0 fur alle y ∈ D. Dann ist die Abbildung f−1

an der Stelle x stetig: Setze η = |f(x)|/2. Zunachst gibt es ein δ0 > 0, so dass|f(y)−f(x)| < η und damit auch |f(y)| ≥ |f(x)|−|f(y)−f(x)| > η fur alle y ∈ Dmit |y− x| < δ0. Sei nun ε > 0; dann gibt es δ1 > 0, so dass |f(y)− f(x)| < 2η2εfur alle y ∈ D mit |y − x| < δ1. Sei δ = min{δ0, δ1}; dann ist

|f−1(y) − f−1(x)| =(|f(y)||f(x)|

)−1|f(y) − f(x)|≤(2η2)−1|f(y)− f(x)| ≤

(2η2)−1

2η2ε = ε

fur alle y ∈ D mit |y − x| < δ, und daher ist f−1 an der Stelle x stetig.

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7 Stetige Funktionen 52

Satz 7.5 Sei E eine nichtleere Teilmenge von K und seien f : D → K undg : E → K′′ Abbildungen mit f(D) ⊂ E, wobei K′′ auch entweder R oder C

ist. Ist f an der Stelle x ∈ D und g an der Stelle f(x) ∈ E stetig, so ist diezusammengesetzte Abbildung g ◦ f : D → K′′ an der Stelle x stetig.

Beweis Setze z = f(x). Sei ε > 0; da g an der Stelle z stetig ist, gibt es η > 0, sodass |g(w) − g(z)| < ε fur alle w ∈ E mit |w − z| < η. Da nun f an der Stelle xstetig ist, gibt es δ > 0, so dass |f(y) − f(x)| < η fur alle y ∈ D mit |y − x| < δ.Fur alle y ∈ D mit |y − x| < δ ist dann |f(y) − z| = |f(y) − f(x)| < η, undf(y) ∈ E. Damit ist |g(f(y)) − g(z)| < ε, d.h. |g(f(y)) − g(f(x))| < ε. Darausergibt sich, dass g ◦ f an der Stelle x stetig ist.

Seien f, g : D → R Abbildungen; dann konnen Abbildungen max{f, g} : D → R

und min{f, g} : D → R definiert werden durch

max{f, g}(x) = max{f(x), g(x)} ,min{f, g}(x) = min{f(x), g(x)} .

Sind f und g beide an der Stelle x ∈ D stetig, so sind auch max{f, g} undmin{f, g}. Dies folgt aus Satz 7.4 und Satz 7.5, da max{f, g} = 1

2

((f+g)+|f−g|

)

und min{f, g} = 12

((f + g) − |f − g|

), und die Abbildung | · | : R → R stetig ist.

Fur jedes x ∈ D, r > 0 sei BD(x, r) = {y ∈ D : |y − x| < r} (offener Ball in Dum x mit Radius r). Insbesondere ist BR(x, r) = (x − r, x + r) fur alle x ∈ R,r > 0.

Bemerkung: Ist D eine Teilmenge von R – und damit auch Teilmenge von C –,dann hangt die Definition von BD(x, r) nicht davon ab, ob man K = R oderK = C nimmt.

Eine Teilmenge U von D heißt offen in D (oder offene Teilmenge von D), wennes zu jedem x ∈ U ein ε > 0 gibt, so dass BD(x, ε) ⊂ U .

Man sieht leicht, dass die Intervalle (a, b), (−∞, b) und (a,+∞) offene Teilmengenvon R sind.

Lemma 7.4 Fur jedes x ∈ K, r > 0 ist BK(x, r) eine offene Teilmenge von K.

Beweis Sei y ∈ BK(x, r); dann ist |y − x| < r und damit ist ε = r − |y − x| > 0.Fur alle z ∈ BK(y, ε) ist dann nach der Dreiecksungleichung

|z − x| = |z − y + y − x| ≤ |z − y| + |y − x| < ε+ |y − x| = r ,

d.h. BK(y, ε) ⊂ BK(x, r) und dies zeigt, dass BK(x, r) offen in K ist.

Insbesondere ist U eine offene Teilmenge von R, wenn es zu jedem x ∈ U einε > 0 gibt, so dass (x− ε, x+ ε) ⊂ U .

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7 Stetige Funktionen 53

Lemma 7.5 (1) Die leere Menge ∅ und die Menge D selbst sind offen in D.

(2) Ist {Uα}α∈A eine beliebige Familie von offenen Teilmengen von D, so ist ihreVereinigung

α∈A Uα offen in D.

(3) Sind U1, . . . , Un (mit n ≥ 1) offen in D, so ist ihr Durchschnitt⋂n

k=1Uk

eine offene Teilmenge von D.

Beweis (1) Dies ist klar.

(2) Setze U =⋃

α∈A Uα, und sei x ∈ U . Dann ist x ∈ Uα fur ein α ∈ A undfolglich gibt es ε > 0, so dass BD(x, ε) ⊂ Uα, da Uα offen in D ist. Damit istBD(x, ε) ⊂ U , und dies zeigt, dass U offen in D ist.

(3) Setze U =⋂n

k=1Uk, und sei x ∈ U . Fur jedes k gibt es dann εk > 0, so dassBD(x, ε) ⊂ Uk da x ∈ Uk und Uk offen in D ist. Sei ε = min{εk : 1 ≤ k ≤ n}; alsoist ε > 0 und BD(x, ε) =

⋂nk=1BD(x, εk) ⊂

⋂nk=1 Uk = U , und dies zeigt, dass U

offen in D ist.

Satz 7.6 Eine Abbildung f : D → K ist genau dann stetig, wenn fur jede offeneTeilmenge U von K die Menge f−1(U) offen in D ist.

Beweis Nehme zunachst an, dass f stetig ist. Sei U eine offene Teilmenge vonK und sei x ∈ f−1(U). Dann ist f(x) ∈ U und folglich gibt es ε > 0, so dassBK(f(x), ε) ⊂ U . Da aber f an der Stelle x stetig ist, gibt es δ > 0, so dass|f(y)− f(x)| < ε fur alle y ∈ D mit |y− x| < δ. Also ist BD(x, δ) ⊂ f−1(U), unddies zeigt, dass f−1(U) offen in D ist.

Nehme umgekehrt an, dass fur jede offene Teilmenge U von K die Menge f−1(U)offen in D ist. Sei x ∈ D und ε > 0. Nach Lemma 7.4 ist U = BK(f(x), ε) eineoffene Teilmenge von K und folglich ist f−1(U) offen in D. Ferner ist x ∈ f−1(U)und damit gibt es δ > 0, so dass BD(x, δ) ⊂ f−1(U). Fur jedes y ∈ D mit|y − x| < δ ist also f(y) ∈ U , d.h. |f(y) − f(x)| < ε. Dies zeigt, dass f an derStelle x stetig ist und daher, da x ∈ D beliebig war, dass f stetig ist.

Eine Teilmenge F vonD heißt abgeschlossen in D (oder abgeschlossene Teilmengevon D), wenn die Menge D \ F = {x ∈ D : x /∈ F} offen in D ist.

Die Intervalle [a, b], (−∞, b] und [a,+∞) sind abgeschlossene Teilmengen von R.

Lemma 7.6 (1) Die leere Menge ∅ und die Menge D selbst sind abgeschlosseneTeilmengen von D.

(2) Ist {Fα}α∈A eine beliebige Familie von abgeschlossenen Teilmengen von D,so ist ihr Durchschnitt

α∈A Fα abgeschlossen in D.

(3) Sind F1, . . . , Fn (mit n ≥ 1) abgeschlossen in D, so ist ihre Vereinigung⋃n

k=1 Fk eine abgeschlossene Teilmenge von D.

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7 Stetige Funktionen 54

Beweis Dies folgt unmittelbar aus Lemma 7.5, da

D \⋂

α∈A

Fα =⋃

α∈A

(D \ Fα) und D \n⋃

k=1

Fk =n⋂

k=1

(D \ Fk) .

Eine Folge {xn}n≥p aus D heißt konvergent in D, wenn {xn}n≥p konvergiert undx = lim

n→∞xn ∈ D.

Satz 7.7 Eine Teilmenge F von D ist genau dann abgeschlossen in D, wenn derGrenzwert von jeder Folge aus F , die in D konvergent ist, auch in F liegt.

Beweis Nehme zunachst an, dass F eine abgeschlossene Teilmenge von D ist,und sei {xn}n≥p eine Folge aus F , die in D konvergent ist. Setze x = limn→∞ xn;also ist x ∈ D. Sei ε > 0; dann gibt es ein N ≥ p, so dass |xn − x| < ε fur allen ≥ N , d.h. xn ∈ BD(x, ε) fur alle n ≥ N . Insbesondere ist BD(x, ε)∩F 6= ∅ furjedes ε > 0. Ware nun x ∈ D \F , so gabe es ein ε > 0 mit BD(x, ε) ⊂ D \F unddaher mit BD(x, ε) ∩ F = ∅, da D \ F offen ist. Daraus ergibt sich, dass x ∈ F .

Nehme umgekehrt an, dass F nicht abgeschlossen in D ist; dann ist D \ F nichtoffen in D. Es gibt daher ein x ∈ D\F , so dass fur jedes ε > 0 die Menge BD(x, ε)keine Teilmenge von D \ F ist, oder, anders ausgedruckt: so dass fur jedes ε > 0ein y ∈ F mit |y − x| < ε existiert. Fur jedes n ≥ 1 gibt es insbesondere alsoein xn ∈ F mit |xn − x| < 1/n und damit konvergiert die Folge {xn}n≥p gegenx. Aber dann ist {xn}n≥1 eine Folge aus F , die konvergent in D ist, fur die derGrenzwert x nicht in F liegt.

Lemma 7.7 Sei F eine nichtleere abgeschlossene Teilmenge von R.

(1) Ist F nach oben beschrankt, so besitzt F ein Maximum: Es gibt v ∈ F , sodass x ≤ v fur alle x ∈ F .

(2) Ist F nach unten beschrankt, so besitzt F ein Minimum: Es gibt u ∈ F , sodass u ≤ x fur alle x ∈ F .

Beweis (1) Nach Satz 4.1 (1) besitzt F ein Supremum v und nach Lemma 4.1 (1)besitzt F ein Maximum genau dann, wenn v ∈ F (und in diesem Fall ist v dasMaximum). Nehme an, dass v /∈ F . Dann liegt v in der offenen Teilmenge R \ Fvon R und also gibt es ein ε > 0, so dass (v − ε, v + ε) ⊂ R \ F . Da v eine obereSchranke von F ist, ist x ≤ v fur jedes x ∈ F . Aber das Intervall (v−ε, v] enthaltkein Element von F und daraus ergibt sich, dass v − ε auch eine obere Schrankevon F ist. Damit ist v nicht die kleinste obere Schranke, und dieser Widerspruchzeigt, dass v in F liegen muss.

(2) Analog zu (1).

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7 Stetige Funktionen 55

Lemma 7.8 Sei f : D → R eine Abbildung, die an der Stelle x ∈ D stetig ist.Ist f(x) > 0 (bzw. ist f(x) < 0), dann gibt es ein η > 0, so dass f(y) > 0 (bzw.so dass f(y) < 0) fur alle y ∈ D mit |y − x| < η.

Beweis (Dies ist schon im letzten Teil vom Beweis fur Satz 7.4 enthalten.) Nehmean, dass f(x) > 0; dann gibt es ein η > 0, so dass |f(y) − f(x)| < f(x)/2 unddamit auch f(y) = f(x) + f(y) − f(x) ≥ f(x) − |f(x) − f(y)| > f(x)/2 > 0 furalle y ∈ D mit |y − x| < η. Der andere Fall (mit f(x) < 0) ist ahnlich.

Im Folgenden seien a, b ∈ R mit a < b.

Lemma 7.9 Sei f : [a, b] → R eine stetige Abbildung mit f(a) < 0 and f(b) > 0.Dann gibt es c ∈ (a, b) mit f(c) = 0.

Beweis Sei A = {x ∈ [a, b] : f(x) < 0}. Dann ist a ∈ A und x ≤ b fur alle x ∈ A,d.h. A ist eine nichtleere nach oben beschrankte Teilmenge von R. Also existiertdas Supremum c = sup(A).

Nehme an, dass f(c) < 0; dann ist c 6= b und nach Lemma 7.8 gibt es ein η > 0,so dass f(y) < 0 fur alle y ∈ [a, b] mit |y − c| < η. Insbesondere existiert einx ∈ (c, b) mit f(x) < 0, und dann ware aber c keine obere Schranke von A.

Nehme nun an, dass f(c) > 0; hier ist c 6= a und nach Lemma 7.8 gibt es einη > 0, so dass f(y) > 0 fur alle y ∈ [a, b] mit |y − c| < η. Aber dann ist jedesx ∈ (c − η, c) ∩ [a, b] eine obere Schranke von A, und damit ware c nicht diekleinste obere Schranke.

Daraus ergibt sich, dass f(c) = 0 (und damit auch, dass c ∈ (a, b)).

Satz 7.8 (Zwischenwertsatz) Sei f : [a, b] → R eine stetige Abbildung und seiz eine reelle Zahl zwischen f(a) und f(b). Dann gibt es c ∈ [a, b] mit f(c) = z.

Beweis Ist z = f(a) (bzw. ist z = f(b)), so kann man c = a (bzw. c = b)nehmen. Es kann also angenommen werden, dass entweder f(a) < z < f(b) oderf(b) < z < f(a).

Nehme zunachst an, dass f(a) < z < f(b) und sei g = f − z, d.h. g : [a, b] → R

ist definiert durch g(x) = f(x) − z fur jedes x ∈ [a, b]. Nach Satz 7.4 ist g stetigund g(a) = f(a) − z < 0, g(b) = f(b) − z > 0. Daraus folgt nach Lemma 7.9,dass g(c) = 0 fur ein c ∈ (a, b), und damit ist f(c) = g(c) + z = z.

Nehme nun an, dass f(b) < z < f(a) und sei hier g = z − f , d.h. g : [a, b] → R

ist definiert durch g(x) = z − f(x) fur jedes x ∈ [a, b]. Nach Satz 7.4 ist g stetigund g(a) = z − f(a) < 0, g(b) = z − f(b) > 0. Daraus folgt nach Lemma 7.9,dass g(c) = 0 fur ein c ∈ (a, b), und damit ist f(c) = z − g(c) = z.

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7 Stetige Funktionen 56

Satz 7.9 Sei f : D → R eine stetige Abbildung. Fur jedes Intervall I ⊂ R mitI ⊂ D ist dann f(I) auch ein Intervall.

Beweis Seien a, b ∈ f(I) mit a < b. Dann gibt es α, β ∈ I mit a = f(α) undb = f(β). Setze α = min{α, β} und β = max{α, β}. Dann sind α, β Elementevon I mit α < β, und also ist J = [α, β] ⊂ I ⊂ D, da I ein Intervall ist. NachLemma 7.2 ist die Einschrankung fJ von f auf J stetig. Sei nun c ∈ (a, b); dannist c eine Zahl zwischen fJ(α) und fJ(β), und daraus ergibt sich nach Satz 7.7,dass es ein γ ∈ J ⊂ I gibt mit f(γ) = fJ(γ) = c. Damit ist c ∈ f(I), und dieszeigt, dass f(I) ein Intervall ist.

Im Folgenden sei f : I → R eine stetige Abbildung, wobei I ein Intervall ist, dasmehr als einen Punkt enthalt.

Lemma 7.10 Nehme an, es gibt a, b, c, d ∈ I mit a < b und c < d, so dassf(a) < f(b) und f(c) > f(d). Dann ist f nicht injektiv.

Beweis Fur jedes t ∈ [0, 1] liegt (1 − t)a+ tc zwischen a und c und (1 − t)b+ tdzwischen b und d; insbesondere liegen (1 − t)a + tc und (1 − t)b + td beide imIntervall I. Folglich kann eine Abbildung h : [0, 1] → R definiert werden durch

h(t) = f((1 − t)a+ tc) − f((1 − t)b+ d)

fur jedes t ∈ [0, 1]. Nach Satz 7.4 und Satz 7.5 ist h stetig, da die Abbildungent 7→ (1 − t)a + tc und t 7→ (1 − t)b + d (von [0, 1] nach R) stetig sind. Nun isth(0) = f(a) − f(b) < 0 und h(1) = f(c) − f(d) > 0, und daher gibt es nachdem Zwischenwertsatz ein s ∈ [0, 1] mit h(s) = 0, d.h, mit f((1 − s)a + sc) =f((1 − s)b+ d). Aber (1 − s)a+ sc 6= (1 − s)b+ d, da

((1 − s)b+ d

)−((1 − s)a+ sc

)= (1 − s)(b− a) + s(d− c) ,

und dies zeigt, dass f nicht injektiv ist.

Satz 7.10 Die Abbildung f ist injektiv genau dann, wenn sie streng monoton ist.

Beweis Es ist klar, dass eine streng monotone Abbildung injektiv ist. Nehme nunumgekehrt an, dass f nicht streng monoton ist. Dann gibt es a, b, c, d ∈ I mita < b und c < d, so dass f(a) ≤ f(b) und f(c) ≥ f(d). Ist f(a) = f(b) oderf(c) = f(d), so ist f offensichtlich nicht injektiv. Ist andererseits f(a) < f(b) undf(c) > f(d), so ergibt sich aus Lemma 7.10, dass f wieder nicht injektiv ist.

Nehme nun zusatzlich an, dass f injektiv ist (und damit streng monoton).

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7 Stetige Funktionen 57

Lemma 7.11 Sei x ∈ I und ε > 0; dann gibt es ein δ > 0, so dass |y − x| < εfur alle y ∈ I mit |f(y)− f(x)| < δ.

Beweis Nehme zunachst an, dass x kein Endpunkt des Intervalls I ist. Dann gibtes ein η > 0 mit η ≤ ε, so dass die Punkte x−η und x+η beide in I liegen. Setzeδ = min{|f(x)−f(x−η)|, |f(x)−f(x+η)|}; also ist δ > 0, da f streng monotonist. Sei y ∈ I mit |f(y)−f(x)| < δ; dann liegt f(y) im Intervall (f(x)−δ, f(x)+δ)und damit zwischen f(x−η) und f(x+η). Da f streng monoton ist, folgt daraus,dass y ∈ (x− η, x+ η) und daher ist |y − x| < ε.

Nehme nun an, dass x Endpunkt des Intervalls I ist und ohne Beschrankung derAllgemeinheit sei x der linke Endpunkt von I. Da I mehr als einen Punkt enthalt,gibt es ein η > 0 mit η ≤ ε, so dass x + η ∈ I. Setze hier δ = |f(x) − f(x + η)|;also ist δ > 0, da f streng monoton ist. Wie im anderen Fall ist wieder |y−x| < εfur alle y ∈ I mit |f(y) − f(x)| < δ.

Setze nun J = f(I); nach Satz 7.9 ist J ein Intervall, und f bildet das IntervallI bijektiv auf J ab. Ist f streng monoton wachsend, dann ist f−1 das auch: Sindx, y ∈ J mit x < y, so sind f(f−1(x)) = x < y = f(f−1(y)) und daraus ergibtsich, dass f−1(x) < f−1(y). Genauso ist f−1 streng monoton fallend, wenn f dasist.

Satz 7.11 Die Umkehrabbildung f−1 : J → I ist stetig.

Beweis Sei x ∈ J und ε > 0; also ist f−1(x) ∈ I und nach Lemma 7.11 gibt esdann ein δ > 0, so dass |v − f−1(x)| < ε fur alle v ∈ I mit

|f(v) − x| = |f(v) − f(f−1(x))| < δ .

Sei nun y ∈ J mit |y − x| < δ; dann gibt es ein eindeutiges v ∈ I mit f(v) = y.Damit ist |f(v) − x| < δ und folglich ist |f−1(y) − f−1(x)| = |v − f−1(x)| < ε.Dies zeigt, dass f−1 an der Stelle x stetig ist.

Nach Satz 7.1 und Satz 6.13 (2) ist die Abbildung exp : R → R stetig und strengmonoton wachsend, und nach Satz 6.13 (4) und (5) ist exp(R) = (0,+∞). DieUmkehrabbildung exp−1 : (0,+∞) → R heißt naturlicher Logarithmus und wirdmit log bezeichnet. Also ist log streng monoton wachsend und bildet das Intervall(0,+∞) bijektiv auf R ab. Ferner ist nach Satz 7.11 die Abbildung log stetig.

Satz 7.12 Es gilt log(1) = 0 und fur alle x, y ∈ (0,+∞)

log(xy) = log(x) + log(y) .

Beweis Da exp(0) = 1, ist log(1) = 0. Seien x, y ∈ (0,+∞); dann gibt es u, v ∈ R

mit x = exp(u) und y = exp(v), und damit ist nach Satz 6.11

log(xy) = log(exp(u) exp(v)) = log(exp(u+ v)) = u+ v = log(x) + log(y) .

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8 Folgenkompaktheit

Eine Teilmenge F von K heißt folgenkompakt, wenn jede Folge aus F eine Teilfolgebesitzt, die in F konvergent ist. D.h.: Ist {xn}n≥p eine Folge aus F , so gibt eseine Teilfolge {xnk

}k≥q und x ∈ F , so dass x = limk→∞

xnk.

Fur eine Teilmenge F von R gibt es anscheinend zwei mogliche Definitionenfur die Folgenkompaktheit (mit K = R und mit K = C). Es gibt aber keinenUnterschied: F ist folgenkompakt als Teilmenge von R genau dann, wenn siefolgenkompakt als Teilmenge von C ist.

Lemma 8.1 Jede folgenkompakte Teilmenge von K ist beschrankt.

Beweis Ubung.

Satz 8.1 Eine Teilmenge F von K ist folgenkompakt genau dann, wenn sie ab-geschlossen und beschrankt ist.

Beweis Nehme zunachst an, dass F abgeschlossen und beschrankt ist. Sei {xn}n≥p

eine Folge aus F ; dann ist diese Folge auch beschrankt und damit besitzt sie nachSatz 5.10 (Bolzano-Weierstraß) eine konvergente Teilfolge: Es gibt eine Teilfolge{xnk

}k≥q und x ∈ K, so dass x = limk→∞ xnk. Also ist {xnk

}k≥q eine Folge aus F ,die konvergent (d.h. konvergent in K) ist, und daraus folgt nach Satz 7.7, dassx ∈ F , da F abgeschlossen ist. Dies zeigt, dass F folgenkompakt ist.

Nehme umgekehrt an, dass F folgenkompakt ist; nach Lemma 8.1 ist also Fbeschrankt und es bleibt nur zu zeigen, dass F abgeschlossen ist. Sei {xn}n≥p

eine Folge aus F , die konvergiert. Da F folgenkompakt ist, gibt es eine Teilfolge{xnk

}k≥q und x ∈ F , so dass x = limk→∞ xnkund nach Satz 5.7 ist dann auch

x = limn→∞ xn. Daraus ergibt sich nach Satz 7.7, dass F abgeschlossen ist.

Sei a, b ∈ R mit a < b. Nach Satz 8.1 ist insbesondere das Intervall [a, b] einefolgenkompakte Teilmenge von R. Im Folgenden sei D wieder eine nichtleereTeilmenge von K′, wobei K′ entweder R oder C ist.

Satz 8.2 Sei f : D → K eine stetige Abbildung und sei F eine folgenkompakteTeilmenge von K′ mit F ⊂ D. Dann ist das Bild f(F ) eine folgenkompakteTeilmenge von K.

Beweis Sei {yn}n≥p eine Folge aus f(F ); fur jedes n ≥ p gibt es dann ein xn ∈ Fmit yn = f(xn). Damit ist {xn}n≥p eine Folge aus der folgenkompakten TeilmengeF ; es gibt also eine Teilfolge {xnk

}k≥q und x ∈ F , so dass {xnk}k≥q gegen x

58

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8 Folgenkompaktheit 59

konvergiert, und da f stetig ist, konvergiert nach Satz 7.3 {f(xnk)}k≥q gegen

f(x), d.h. {ynk)}k≥q konvergiert gegen das Element y = f(x) ∈ f(F ). Mit anderen

Worten: Die Folge {yn}n≥p besitzt eine Teilfolge, die in f(F ) konvergent ist, unddies zeigt, dass f(F ) eine folgenkompakte Teilmenge von K ist.

Satz 8.3 (Satz von Minimum und Maximum) Sei f : D → R eine stetigeAbbildung und F eine nichtleere folgenkompakte Teilmenge von K′ mit F ⊂ D.Dann gibt es u, v ∈ F , so dass f(u) ≤ f(x) ≤ f(v) fur alle x ∈ F .

Beweis Nach Satz 8.2 ist f(F ) folgenkompakt und damit nach Satz 8.1 einenichtleere Teilmenge von R, die beschrankt und abgeschlossen ist. Daraus folgtnach Lemma 7.9, dass f(F ) ein Minimum und ein Maximum besitzt: Es gibtu′, v′ ∈ f(F ), so dass u′ ≤ y ≤ v′ fur alle y ∈ f(F ). Wahle u, v ∈ F mitf(u) = u′ und f(v) = v′; dann ist f(u) ≤ f(x) ≤ f(v) fur alle x ∈ F .

Satz 8.4 Sei {Fn}n≥p eine Folge von nichtleeren abgeschlossenen Teilmengen vonK mit Fp beschrankt und Fn+1 ⊂ Fn fur alle n ≥ p. Dann hat die Folge einennichtleeren Durchschnitt:

n≥p

Fn 6= ∅.

Beweis Fur jedes n ≥ p wahle xn ∈ Fn. Dann ist {xn}n≥p eine Folge aus Fp

und nach Satz 8.1 ist Fp folgenkompakt. Es gibt also eine Teilfolge {xnk}k≥q und

x ∈ Fp, so dass x = limk→∞ xnk. Nun ist x ∈ Fn fur jedes n ≥ p: Sei n ≥ p; dann

gibt es m ≥ q mit nm ≥ n und daher auch nk ≥ n fur alle k ≥ m; folglich istxnk

∈ Fnk⊂ Fn fur alle k ≥ m, d.h. {xnk

}k≥m ist eine Folge aus Fn. Aber nachLemma 5.1 konvergiert {xnk

}k≥m gegen x, und daraus ergibt sich nach Satz 7.7,dass x ∈ Fn. Da x ∈ Fn fur jedes n ≥ p, ist x ∈

n≥p

Fn, d.h.⋂

n≥p

Fn 6= ∅.

Beispiel: Fur jedes n ≥ 0 sei En = [n,+∞); En ist eine nichtleere abgeschlosseneTeilmenge von R und En+1 ⊂ En fur alle n ≥ 0. Aber

n≥0En = ∅. (Naturlichist hier E0 nicht beschrankt.)

Erinnerung: Eine Abbildung f : D → K ist stetig, wenn es zu jedem x ∈ D undzu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt, so dass |f(y) − f(x)| < ε fur alle y ∈ D mit|y − x| < δ.

Eine Abbildung f : D → K heißt nun gleichmaßig stetig, wenn es zu jedem ε > 0ein δ > 0 gibt, so dass |f(y) − f(x)| < ε fur alle x, y ∈ D mit |y − x| < δ.Insbesondere ist jede gleichmaßig stetige Abbildung stetig.

Beispiel: Sei h : (0, 1) → R die durch h(x) = 1/x gegebene Abbildung. NachSatz 7.4 ist h stetig, da h = (id(0,1))

−1, aber h ist nicht gleichmaßig stetig. (DerBeweis dafur ist eine Ubung.)

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8 Folgenkompaktheit 60

Satz 8.5 Ist die Menge D folgenkompakt, so ist jede stetige Abbildung f : D → K

gleichmaßig stetig.

Beweis Nehme an, dass f nicht gleichmaßig stetig ist. Dann gibt es ein ε > 0, furdas gilt: Zu jedem δ > 0 existieren x, y ∈ D mit |y−x| < δ aber |f(y)−f(x)| ≥ ε.Zu jedem n ≥ 1 gibt es dann insbesondere xn, yn ∈ D mit |yn − xn| < 1/n, abermit |f(yn) − f(xn)| ≥ ε. Nun ist {xn}n≥1 eine Folge aus der folgenkompaktenTeilmenge D, es gibt also eine Teilfolge {xnk

}k≥q, die gegen ein Element x ∈ Dkonvergiert. Da |yn−xn| < 1/n fur alle n ≥ p, sieht man leicht, dass auch die Folge{ynk

}k≥q gegen x konvergiert. Aber f ist an der Stelle x stetig und daraus folgtnach Satz 7.3, dass sowohl limk→∞ f(xnk

) = f(x) als auch limk→∞ f(ynk) = f(x).

Dies steht nun im Widerspruch zu der Tatsache, dass |f(ynk) − f(xnk

)| ≥ ε furalle k ≥ q. Daher muss f gleichmaßig stetig sein.

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9 Trigonometrische Funktionen

Lemma 9.1 Es gilt |exp(ix)| = 1 fur jedes x ∈ R.

Beweis Sei x ∈ R und setze z = exp(ix). Dann ist nach Satz 6.12 (1) und (2)

z = exp(ix) = exp(ix) = exp(−ix) = exp(ix)−1 = z−1

und damit ist zz = zz−1 = 1. Daraus folgt, dass |z| =√zz = 1.

Sei cis : R → C die Abbildung, die definiert ist durch

cis(x) = exp(ix) .

Dann ist cis(0) = 1, |cis(x)| = 1 fur alle x ∈ R und fur x, y ∈ R ist nach Satz 6.11

cis(x+ y) = cis(x) cis(y) .

Die Cosinus-Funktion cos : R → R und die Sinus-Funktion sin : R → R werdennun definiert durch cos = Re cis und sin = Im cis. Diese Definitionen sind in derEulerschen Formel zusammengefasst: Es gilt

exp(ix) = cos(x) + i sin(x)

fur alle x ∈ R.

Satz 9.1 (1) Fur alle x ∈ R gilt

cos(x) =1

2

(exp(ix) + exp(−ix)

)und sin(x) =

1

2i

(exp(ix) − exp(−ix)

).

(2) Fur alle x ∈ R ist cos2(x) + sin2(x) = 1 (wobei cos2(x) fur(cos(x)

)2und

sin2(x) fur(sin(x)

)2geschrieben wird).

(3) Es gilt cos(−x) = cos(x) und sin(−x) = − sin(x) fur alle x ∈ R.

(4) cos(0) = 1 und sin(0) = 0.

Beweis (1) Fur alle z ∈ C ist Re z = (z + z)/2 und Im z = (z − z)/2i.

(2) Fur alle z ∈ C ist (Re z)2 + (Im z)2 = |z|2 und |exp(ix)| = 1 fur jedes x ∈ R

nach Lemma 9.1.

(3) Fur alle x ∈ R ist

cos(−x) + i sin(−x) = exp(−ix) = exp(ix)

= cos(x) + i sin(x) = cos(x) − i sin(x) ,

und damit ist cos(−x) = cos(x) und sin(−x) = − sin(x).

(4) Es gilt cos(0) + i sin(0) = exp(i0) = exp(0) = 1 = 1 + i0 und daraus folgt,dass cos(0) = 1 und sin(0) = 0.

61

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9 Trigonometrische Funktionen 62

Satz 9.2 Die Abbildung cis : R → C ist stetig und damit auch (nach Satz 7.2)die Abbildungen cos : R → R und sin : R → R.

Beweis Sei f : C → C die durch f(z) = exp(iz) gegebene Abbildung. Dann istf die Zusammensetzung der Abbildungen h und exp, wobei h : C → C durchh(z) = iz gegeben ist. Nun ist nach Satz 7.1 exp stetig und nach Satz 7.4 ist hstetig und damit ist nach Satz 7.5 auch f stetig. Aber cis ist die Einschrankungvon f auf R und daraus folgt nach Lemma 7.3, dass cis stetig ist.

Satz 9.3 (Additionstheoreme) Fur alle x, y ∈ R gilt

cos(x+ y) = cos(x) cos(y) − sin(x) sin(y) ,

sin(x+ y) = sin(x) cos(y) + cos(x) sin(y) .

Beweis Fur alle x, y ∈ R gilt nach Satz 6.11

cos(x+ y) + i sin(x+ y) = exp(i(x+ y)) = exp(ix+ iy)

= exp(ix) exp(iy) =(cos(x) + i sin(x)

)(cos(y) + i sin(y)

)

=(cos(x) cos(y) − sin(x) sin(y)

)+ i(sin(x) cos(y) + cos(x) sin(y)

).

Nach Satz 9.1 (3) und Satz 9.3 gilt auch fur alle x, y ∈ R

cos(x− y) = cos(x) cos(y) + sin(x) sin(y) ,

sin(x− y) = sin(x) cos(y) − cos(x) sin(y) .

Satz 9.4 Fur alle x, y ∈ R gilt

sin(x) − sin(y) = 2 cos(x+ y

2

)

sin(x− y

2

)

,

cos(x) − cos(y) = −2 sin(x+ y

2

)

sin(x− y

2

)

.

Beweis Setze u = (x + y)/2, v = (x − y)/2; also ist x = u + v und y = u − v,und daraus folgt nach Satz 9.3, dass

sin(x) − sin(y) = sin(u+ v) − sin(u− v)

=(sin(u) cos(v) + cos(u) sin(v)

)+(sin(u) cos(v) − cos(u) sin(v)

)

= 2 sin(u) cos(v) = 2 cos(x+ y

2

)

sin(x− y

2

)

.

Die andere Gleichung ist analog zu beweisen.

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9 Trigonometrische Funktionen 63

Satz 9.5 Fur jedes x ∈ R gilt

cos(x) =

∞∑

m=0

1

(2m)!(−1)mx2m und sin(x) =

∞∑

m=0

1

(2m+ 1)!(−1)mx2m+1 .

In beiden Fallen konvergieren diese Reihen absolut.

Beweis Dies folgt unmittelbar aus Lemma 6.2 und Lemma 6.4, da

cos(x) + i sin(x) = cis(x) = exp(ix) =∞∑

n=0

1

n!(ix)n

und i4k = 1, i4k+1 = i, i4k+2 = −1 und i4k+3 = −i fur alle k ∈ N.

Satz 9.5 sagt also, dass fur jedes x ∈ R gilt:

cos(x) = 1 − x2

2!+x4

4!− x6

6!+ · · · ,

sin(x) = x− x3

3!+x5

5!− x7

7!+ · · · .

Lemma 9.2 Es gilt cos(x) ≤ 1 − x2/2! + x4/4! und sin(x) ≥ x− x3/3! fur jedesx ∈ [0, 2]. Insbesondere ist cos(2) < 0 und sin(x) > 0 fur alle x ∈ (0, 2].

Beweis Ubung.

Lemma 9.3 Die Abbildung cos ist im Intervall [0, 2] streng monoton fallend.

Beweis Seien 0 ≤ y < x ≤ 2; dann folgt aus Lemma 9.2 und Satz 9.4, dass

cos(x) − cos(y) = −2 sin(x+ y

2

)

sin(x− y

2

)

< 0 ,

(x+ y)/2 und (x− y)/2 beide im Intervall [0, 2] liegen.

Satz 9.6 Die Abbildung cos hat im Intervall [0, 2] genau eine Nullstelle: Es gibtgenau einen Punkt x ∈ [0, 2] mit cos(x) = 0.

Beweis Nach Satz 9.2 und Lemma 7.2 ist die Einschrankung von cos auf [0, 2]stetig. Ferner ist cos(0) = 1 > 0 und nach Lemma 9.2 ist cos(2) < 0. Folglich gibtes nach Satz 7.8 (Zwischenwertsatz) ein x ∈ (0, 2) mit cos(x) = 0. Eine weitereNullstelle von cos in [0, 2] kann es nicht geben, da nach Lemma 9.3 cos in diesemIntervall streng monoton fallend ist.

Nun wird das Zweifache der eindeutigen Nullstelle von cos im Intervall [0, 2] mit

π

bezeichnet. Also ist 0 < π < 4 und π/2 ist die kleinste positive Nullstelle von cos.

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9 Trigonometrische Funktionen 64

Lemma 9.4 Es gilt cis(π/2) = i.

Beweis Da cos(π/2) = 0, ist nach Satz 9.1 (3) sin2(π/2) = 1. Aber π/2 < 2 undnach Lemma 9.4 (2) ist sin > 0 im Intervall (0, 2]; damit ist sin(π/2) = 1. Folglichist cis(π/2) = cos(π/2) + i sin(π/2) = i.

Satz 9.7 (1) 2π ist die kleinste positive Zahl σ mit cis(σ) = 1.

(2) Fur jedes x ∈ R und jedes n ∈ Z ist cis(x + 2πn) = cis(x) und damit auchcos(x+ 2πn) = cos(x) und sin(x+ 2πn) = sin(x).

Beweis (1) Nach Satz 6.11 ist cis(2x) = cis(x + x) = cis(x) cis(x) = cis2(x) furjedes x ∈ R. Insbesondere ist nach Lemma 9.4 cis(π) = cis2(π/2) = i2 = −1und daher cis(2π) = cis2(π) = (−1)2 = 1. Sei nun σ > 0 mit cis(σ) = 1; dannist cis4(σ/4) = cis(σ/4 + σ/4 + σ/4 + σ/4) = cis(σ) = 1, daraus folgt, dasscis(σ/4) ∈ {1,−1, i,−i}, und damit ist cos(σ/4) = Re cis(σ/4) ∈ {1,−1, 0}.Aber 0 < cos(x) < 1 fur alle x ∈ (0, π/2) und also ist σ/4 ≥ π/2, d.h., σ ≥ 2π.Dies zeigt, dass 2π die kleinste positive Zahl σ mit cis(σ) = 1 ist.

(2) Da cis(2π) = 1, gilt fur jedes n ∈ Z, dass

cis(2π(n+ 1)) = cis(2πn+ 2π) = cis(2πn) cis(2π) = cis(2πn) .

Daraus ergibt sich durch Induktion nach n, dass cis(2πn) = 1 fur alle n ∈ N und

damit fur alle n ∈ Z, da cis(−y) =(cis(y)

)−1fur alle y ∈ R. Fur jedes x ∈ R,

n ∈ Z ist nun cis(x+ 2πn) = cis(x) cis(2πn) = cis(x).

Nach Satz 9.7 wird insbesondere jede der Abbildungen cos und sin bestimmtdurch die periodische Fortsetzung ihrer Einschrankung auf dem Intervall [0, 2π].Das Verhalten von cos und sin in [0, 2π] ist im folgenden Satz beschrieben.

Satz 9.8 (1a) Die Abbildung cos ist streng monoton fallend im Intervall [0, π]und streng monoton wachsend im Intervall [π, 2π].

(1b) Fur alle x ∈ [0, π/2] ist cos(π − x) = −cos(x).(1c) Fur alle x ∈ [0, π] ist cos(2π − x) = cos(x).

(1d) cos(0) = 1, cos(π/2) = 0, cos(π) = −1, cos(3π/2) = 0 und cos(2π) = 1.

(2a) Die Abbildung sin ist streng monoton wachsend im Intervall [0, π/2] sowieim Intervall [3π/2, 2π] und streng monoton fallend im Intervall [π/2, 3π/2].

(2b) Fur alle x ∈ [0, π/2] ist sin(π − x) = sin(x).

(2c) Fur alle x ∈ [0, π] ist sin(2π − x) = − sin(x).

(2d) sin(0) = 0, sin(π/2) = 1, sin(π) = 0, sin(3π/2) = −1 und sin(2π) = 0.

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9 Trigonometrische Funktionen 65

Beweis (1d) Es ist schon gesehen worden, dass cos(0) = cos(2π) = 1, cos(π/2) =0 und cos(π) = −1, und nach Satz 9.3 ist dann

cos(3π/2) = cos(π + π/2) = cos(π) cos(π/2) − sin(π) sin(π/2) = 0 ,

da cos(π/2) = sin(π) = 0.

(1b) Fur alle x ∈ [0, π/2] ist nach Satz 9.3

cos(π − x) = cos(π) cos(x) + sin(π) sin(x) = − cos(x) ,

da cos(π) = −1 und damit auch sin(π) = 0.

(1c) Fur alle x ∈ [0, π] ist nach Satz 9.3

cos(2π − x) = cos(2π) cos(x) + sin(2π) sin(x) = cos(x) ,

da cos(π) = 1 und damit wieder sin(π) = 0.

(1a) Nach Lemma 9.3 und Satz 9.6 ist cos streng monoton fallend im Intervall[0, π/2] und damit nach (1b) auch streng monoton fallend im Intervall [π/2, π],d.h. cos ist streng monoton fallend im Intervall [0, π]. Daraus folgt nach (1c), dasscos streng monoton wachsend im Intervall [π, 2π] ist.

Die Aussagen uber sin sind analog zu beweisen.

Lemma 9.5 Es gilt cos(R) = cos([0, 2π]) = [−1, 1].

Beweis Setze I = cos([0, 2π]). Nach Satz 7.9 und Satz 9.2 ist I ein Intervall undnach Satz 9.1 (2) ist I ⊂ [−1, 1]. Aber nach Satz 9.8 (1d) liegen −1 und 1 in I unddaher ist cos([0, 2π]) = I = [−1, 1]. Da ferner cos([0, 2π]) ⊂ cos(R) ⊂ [−1, 1], istauch cos(R) = [−1, 1].

Setze S1 = {z ∈ C : |z| = 1}.

Satz 9.9 Es gilt cis(R) = cis([0, 2π)) = S1.

Beweis Nach Lemma 9.1 ist cis([0, 2π)) ⊂ cis(R) ⊂ S1. Sei nun z ∈ S1 und setzex = Re z, y = Im z. Damit ist x2 +y2 = |z|2 = 1 und insbesondere ist x ∈ [−1, 1];nach Lemma 9.5 gibt es also t ∈ [0, 2π] mit cos(t) = x. Dann ist nach Satz 9.1 (2)

y2 = 1 − x2 = 1 − cos2(t) = sin2(t) ,

d.h. y ist entweder sin(t) oder − sin(t). Aber nach Satz 9.1 (3) ist cos(−t) = cos(t)und sin(−t) = − sin(t) und daher ist z entweder cos(t) + i sin(t) = cis(t) odercos(−t)+i sin(−t) = cis(−t) = cis(2π−t). In beiden Fallen ist z ∈ cis([0, 2π]), unddies zeigt, dass cis([0, 2π]) = S1. Folglich ist cis([0, 2π)) = S1, da cis(0) = cis(2π),und damit ist auch cis(R) = S1.

Nach Satz 9.7 wird auch die Abbildung cis bestimmt durch die periodische Fort-setzung ihrer Einschrankung auf dem Intervall [0, 2π].

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9 Trigonometrische Funktionen 66

Satz 9.10 Die Abbildung cis bildet das Intervall [0, 2π) bijektiv auf S1 ab.

Beweis Seien x, y ∈ [0, 2π) mit x ≤ y und cis(x) = cis(y). Da 0 ≤ y − x < 2πund cis(y−x) = cis(x)(cis(y))−1 = 1, folgt dann aus Satz 9.6 (1), dass y−x = 0,d.h., y = x. Damit ist die Einschrankung der Abbildung cis auf dem Intervall[0, 2π) injektiv. Folglich bildet cis das Intervall [0, 2π) bijektiv auf S1 ab, da nachSatz 9.9 cis([0, 2π)) = S1.

Satz 9.11 Sei w ∈ C und n ≥ 1; dann gibt es ein z ∈ C mit zn = w.

Beweis Da 0n = 0, kann man annehmen, dass w 6= 0. Sei r = |w|; also ist r > 0,und nach Satz 3.2 gibt es ein > 0 mit n = r. Setze nun u = r−1w; dann ist|u| = |r−1w| = r−1|w| = r−1r = 1, d.h., u ∈ S1. Folglich gibt es nach Satz 9.10ein x ∈ [0, 2π) mit cis(x) = u. Sei jetzt z = cis(x/n); dann ist

zn = ( cis(x/n))n = n(cis(x/n))n = r cis(x) = ru = w .

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10 Differentiation

Im Folgenden sei D stets eine nichtleere Teilmenge von K. In diesem Kapitelwerden Abbildungen f : D → K untersucht. Es gibt also hier zwei Falle (imGegensatz zu Kapitel 7, wo es vier Falle gab):

— Reelle Abbildungen definiert auf einer Teilmenge von R, d.h. f : D → R

mit D ⊂ R.

— Komplexe Abbildungen definiert auf einer Teilmenge von C. d.h. f : D → C

mit D ⊂ C.

Ein Punkt a ∈ K heißt Haufungspunkt von D, wenn fur jedes ε > 0 die MengeBD(a, ε) \ {a} = {x ∈ D : 0 < |x− a| < ε} nichtleer ist.

Ist U eine offene Teilmenge von K, so ist jedes a ∈ U ein Haufungspunkt von U(da die Menge BK(a, ε) \ {a} das Element a + η fur alle 0 < η < ε enthalt). Istferner I ein Intervall, das mehr als einen Punkt enthalt, so ist jedes a ∈ I einHaufungspunkt von I (da es fur jedes a ∈ I ein ε > 0 gibt, so dass (a− ε, a) oder(a, a+ ε) eine Teilmenge von I ist).

Lemma 10.1 Sei a ∈ D ein Haufungspunkt von D; dann gibt es mindestenseine Folge aus D \ {a}, die gegen a konvergiert.

Beweis Fur jedes n ≥ 1 wahle xn ∈ D mit 0 < |xn − a| < 1/n. Dann ist {xn}n≥p

eine Folge aus D \ {a}, die offensichtlich gegen a konvergiert.

Im Folgenden sei stets a ∈ D ein Haufungspunkt von D. Sei g : D \ {a} → K

eine Abbildung und sei y ∈ K. Konvergiert die Folge {g(xn)}n≥p gegen y fur jedeFolge {xn}n≥p aus D \ {a}, die gegen a konvergiert, so schreibt man

y = limx→a

g(x) .

Nach Lemma 5.2 und Lemma 10.1 kann es hochstens ein y mit y = limx→a g(x)geben, und folglich macht diese Schreibweise einen Sinn.

Lemma 10.2 Sei g : D \ {a} → K eine Abbildung und y ∈ K. Dann sindaquivalent:

(1) Es gilt y = limx→a g(x).

(2) Zu jedem ε > 0 gibt es ein δ > 0, so dass |g(x)− y| < ε fur alle x ∈ D \ {a}mit |x− a| < δ.

(3) Die Abbildung g : D → K, die definiert ist durch

g(x) =

{g(x) , falls x ∈ D \ {a},y , falls x = a,

ist stetig an der Stelle a.

67

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10 Differentiation 68

Beweis Ubung.

Eine Abbildung h : K → K heißt affin, wenn es Elemente b, c ∈ K gibt, so dassh(x) = b+ cx fur alle x ∈ K.

Lemma 10.3 Sei f : D → K eine Abbildung; dann kann es hochstens eine affineAbbildung h : K → K geben mit h(a) = f(a) und

limx→a

f(x) − h(x)

x− a= 0 .

Beweis Seien h1, h2 : K → K affine Abbildungen mit h1(a) = h2(a) = f(a) und

limx→a

f(x) − h1(x)

x− a= lim

x→a

f(x) − h2(x)

x− a= 0 .

Definiere g : D \ {a} → K durch g(x) = (h1(x)− h2(x))/(x− a) und sei {xn}n≥p

eine Folge aus D \ {a}, die gegen a konvergiert. Da fur alle x ∈ D \ {a}

f(x) − h2(x)

x− a− f(x) − h1(x)

x− a=h1(x) − h2(x)

x− a= g(x) ,

konvergiert nach Satz 5.5 die Folge {g(xn)}n≥p gegen 0. Seien nun b1, b2, c1, c2mit h1(x) = b1 + c1x und h2(x) = b2 + c2x; dann ist

h1(x) − h2(x) = b1 + c1x− b2 − c2x

= b1 + c1a+ c1(x− a) − b2 − c2a− c2(x− a) = (c1 − c2)(x− a) ,

da b1 + c1a = h1(a) = h2(a) = b2 + c2a. Damit ist g(x) = c1 − c2 fur allex ∈ D \ {a}, und insbesondere konvergiert die Folge {g(xn)}n≥p gegen c1 − c2.Folglich ist c1 = c2 und dann ist ebenfalls b1 = b2, da b1 − b2 = a(c2 − c1), d.h.h1 = h2.

Eine Abbildung f : D → K heißt in a linear approximierbar, wenn es eine affineAbbildung h : K → K mit h(a) = f(a) gibt, so dass

limx→a

f(x) − h(x)

x− a= 0 .

Nach Lemma 10.3 ist diese affine Abbildung h dann eindeutig bestimmt. EineAbbildung f : D → K heißt in a differenzierbar, wenn es ein y ∈ K gibt, so dass

y = limx→a

f(x) − f(a)

x− a.

Dieser Grenzwert y heißt die Ableitung von f in a und er wird meistens mit f ′(a)bezeichnet, aber manchmal auch mit f(a), ∂f(a) oder Df(a).

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10 Differentiation 69

Satz 10.1 Fur eine Abbildung f : D → K sind aquivalent:

(1) f ist in a differenzierbar.

(2) Es gibt ein c ∈ K, so dass limx→a

f(x) − f(a) − c(x− a)

x− a= 0.

(3) Es gibt ein c ∈ K und eine an der Stelle a stetige Abbildung r : D → K mitr(a) = 0, so dass f(x) = f(a) + c(x− a) + r(x)(x− a) fur alle x ∈ D.

(4) f ist in a linear approximierbar.

In den Fallen (2) und (3) ist c = f ′(a). Im Fall (4) ist die eindeutig bestimmteaffine Abbildung h durch h(x) = f(a) + f ′(a)(x− a) gegeben.

Beweis (1) ⇒ (2): Sei f : D \ {a} → K die Abbildung, die definiert ist durch

f(x) =f(x) − f(a)

x− a

fur alle x ∈ D \ {a}. Nach Voraussetzung konvergiert die Folge {f(xn)}n≥p gegen

f ′(a) – und damit die Folge {f(xn)− f ′(a)}n≥p gegen 0 – fur jede Folge {xn}n≥p

aus D \ {a}, die gegen a konvergiert. Aber

f(x) − f ′(a) =f(x) − f(a) − f ′(a)(x− a)

x− a

fur alle x ∈ D \ {a} und dies zeigt, dass

limx→a

f(x) − f(a) − f ′(a)(x− a)

x− a= 0 .

(2) ⇒ (3): Definiere eine Abbildung r : D → K durch

r(x) =

{(f(x) − f(a) − c(x− a))/(x− a) , falls x ∈ D \ {a},

0 , falls x = a.

Nach Lemma 10.2 ist r an der Stelle a stetig. Per Definition ist r(a) = 0 undf(x) = f(a) + c(x− a) + r(x)(x− a) fur alle x ∈ D \ {a}. Das Letztere gilt abertrivialerweise auch fur x = a.

(3) ⇒ (4): Es gibt also ein c ∈ K und eine an der Stelle a stetige Abbildungr : D → K mit r(a) = 0, so dass f(x) = f(a) + c(x − a) + r(x)(x − a) fur allex ∈ D. Sei h : K → K die affine Abbildung, die gegeben ist durch

h(x) = f(a) − ca+ cx = f(a) + c(x− a)

fur alle x ∈ K. Dann ist

f(x) − h(x)

x− a=

−r(x)(x− a)

x− a= −r(x)

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10 Differentiation 70

fur alle x ∈ D \ {a}, und daraus folgt nach Lemma 10.2, dass

limx→a

f(x) − h(x)

x− a= 0 .

Ferner ist h(a) = f(a), und damit ist f in a linear approximierbar.

(4) ⇒ (1): Es gibt eine eindeutige affine Abbildung h : K → K mit h(a) = f(a)und limx→a(f(x) − h(x))/(x − a) = 0. Seien b, c ∈ K, so dass h(x) = b + cx; dah(a) = f(a), ist h(x) = f(a) + h(x) − h(a) = f(a) + c(x− a) fur alle x ∈ K. Seif : D\{a} → K die Abbildung, die definiert ist durch f(x) = (f(x)−f(a))/(x−a)fur alle x ∈ D \ {a}. Dann ist

f(x) − c =f(x) − f(a) − c(x− a)

x− a=f(x) − h(x)

x− a

fur alle x ∈ D \ {a}. Nach Voraussetzung konvergiert die Folge {f(xn) − c}n≥p

gegen 0 – und damit die Folge {f(xn)}n≥p gegen c – fur jede Folge {xn}n≥p ausD \ {a}, die gegen a konvergiert. Daraus ergibt sich, dass

limx→a

f(x) − f(a)

x− a= c ,

d.h. f ist in a differenzierbar mit f ′(a) = c (und daher ist h die affine Abbildungx 7→ f(a) + f ′(a)(x− a)).

Satz 10.2 Ist f : D → K in a differenzierbar, so ist f an der Stelle a stetig.

Beweis Sei f : D → K in a differenzierbar. Nach Satz 10.2 gibt es dann eine ander Stelle a stetige Abbildung r : D → K mit r(a) = 0, so dass

f(x) = f(a) + f ′(a)(x− a) + r(x)(x− a)

fur alle x ∈ D. Daraus folgt nach Satz 7.4, dass f an der Stelle a stetig ist, dadie Abbildung x 7→ x− a stetig ist.

Satz 10.3 Seien f, g : D → K Abbildungen, die beide in a differenzierbar sind.

(1) Fur alle λ, µ ∈ K ist die Abbildung λf + µg in a differenzierbar, und es gilt

(λf + µg)′(a) = λf ′(a) + µg′(a) .

(2) Die Abbildung f · g ist in a differenzierbar und es gilt

(f · g)′(a) = f(a)g′(a) + f ′(a)g(a) .

(3) Nehme an, dass g(x) 6= 0 fur alle x ∈ D. Dann ist die Abbildung f/g in adifferenzierbar, und es gilt

(f

g

)′

(a) =f ′(a)g(a) − f(a)g′(a)

g(a)2.

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10 Differentiation 71

Beweis Seien f , g : D \ {a} → K die Abbildungen, die definiert sind durch

f(x) =f(x) − f(a)

x− aund g(x) =

g(x) − g(a)

x− a

fur alle x ∈ D \ {a}. Nach Voraussetzung konvergiert die Folge {f(xn)}n≥p gegenf ′(a) und die Folge {g(xn)}n≥p gegen g′(a) fur jede Folge {xn}n≥p aus D \ {a},die gegen a konvergiert.

(1) Sei {xn}n≥p eine Folge aus D\{a}, die gegen a konvergiert. Nach Satz 5.5 (1)

konvergiert dann die Folge {λf(xn) + µg(xn)}n≥p gegen λf ′(a) + µg′(a). Aber

λf(x) + µg(x) = λf(x) − f(a)

x− a+ µ

g(x) − g(a)

x− a

=(λf + µg)(x) − (λf + µg)(a)

x− a

fur jedes x ∈ D \ {a}. Daraus ergibt sich, dass

λf ′(a) + µg′(a) = limx→a

(λf + µg)(x) − (λf + µg)(a)

x− a;

d.h. λf + µg ist in a differenzierbar und (λf + µg)′(a) = λf ′(a) + µg′(a).

(2) Sei {xn}n≥p eine Folge aus D\{a}, die gegen a konvergiert. Damit konvergiert

nach Satz 5.5 die Folge {f(xn)g(xn)+ f(xn)g(a)}n≥p gegen f(a)g′(a)+f ′(a)g(a),da nach Satz 10.2 und Satz 7.3 die Folge {f(xn)}n≥p gegen f(a) konvergiert. Aber

f(x)g(x) + f(x)g(a) = f(x)g(x) − g(a)

x− a+f(x) − f(a)

x− ag(a)

=f(x)(g(x) − g(a)) + (f(x) − f(a))g(a)

x− a=f(x)g(x) − f(a)g(a)

x− a

fur jedes x ∈ D \ {a}. Daraus ergibt sich, dass

f(a)g′(a) + f ′(a)g(a) = limx→a

(f · g)(x) − (f · g)(a)x− a

;

d.h. f · g ist in a differenzierbar und (f · g)′(a) = f(a)g′(a) + f ′(a)g(a).

(3) Sei {xn}n≥p eine Folge aus D\{a}, die gegen a konvergiert. Damit konvergiert

nach Satz 5.5 die Folge {f(xn)g(a)− f(a)g(xn)}n≥p gegen f ′(a)g(a)− f(a)g′(a).Aber

f(x)g(a) − f(a)g(x)

g(x)g(a)=

1

g(x)g(a)

[f(x) − f(a)

x− ag(x) − f(a)

g(x) − g(a)

x− a

]

=1

g(x)g(a)

[(f(x) − f(a))g(a) − f(a)(g(x) − g(a))

x− a

]

=1

g(x)g(a)

[f(x)g(a) − f(a)g(x)

x− a

]

=1

x− a

[(f

g

)

(x) −(f

g

)

(a)]

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10 Differentiation 72

fur jedes x ∈ D \ {a}, und nach Satz 10.2 und Satz 7.3 konvergiert die Folge{g(xn)}n≥p gegen g(a). Daraus folgt, nach Satz 5.5 und Satz 5.6, dass

f ′(a)g(a) − f(a)g′(a)

g(a)2= lim

x→a

1

x− a

[(f

g

)

(x) −(f

g

)

(a)]

,

d.h. die Abbildung f/g ist in a differenzierbar, und es gilt

(f

g

)′

(a) =f ′(a)g(a) − f(a)g′(a)

g(a)2.

Lemma 10.4 Sei E eine Teilmenge von D, die a enthalt, und nehme an, dassa ein Haufungspunkt von E ist; sei f : D → K in a differenzierbar. Dann ist dieEinschrankung fE von f auf E auch in a differenzierbar und f ′

E(a) = f ′(a).

Beweis Dies ist klar.

Seien f, g : D → K Abbildungen, die beide in a differenzierbar sind und mitg(a) 6= 0 (obwohl nicht unbedingt mit g(x) 6= 0 fur alle x ∈ D). Nach Satz 10.2ist g an der Stelle a stetig und damit gibt es ein ε > 0, so dass g(x) 6= 0 fur alle x ∈BD(a, ε). Nun ist a Haufungspunkt von E = BD(a, ε) und nach Lemma 10.4 sindfE und gE in a differenzierbar mit f ′

E(a) = f ′(a) und g′E(a) = g′(a). Dies bedeutet,dass, obwohl g die Bedingung in Satz 10.3 (3) nicht unbedingt erfullt, dieser Satzimmer noch auf die Abbildungen fE und gE angewendet werden konnen.

Satz 10.4 (Kettenregel) Sei E eine weitere nichtleere Teilmenge von K undsei b ∈ E ein Haufungspunkt von E. Sei f : D → K differenzierbar in a mitf(D) ⊂ E und f(a) = b und sei g : E → K differenzierbar in b. Dann ist diezusammengesetzte Abbildung g ◦ f : D → K differenzierbar in a und es gilt

(g ◦ f)′(a) = g′(f(a))f ′(a) .

Beweis Da f in a differenzierbar ist, gibt es nach Satz 10.1 eine an der Stelle astetige Abbildung r : D → K mit r(a) = 0, so dass

f(x) = f(a) + f ′(a)(x− a) + r(x)(x− a) = f(a) +(f ′(a) + r(x)

)(x− a)

fur alle x ∈ D, und da g in b differenzierbar ist, gibt es eine an der Stelle b stetigeAbbildung s : E → K mit s(b) = 0, so dass

g(y) = g(b) + g′(b)(y − b) + s(y)(y − b) = g(b) +(g′(b) + s(y)

)(y − b)

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10 Differentiation 73

fur alle y ∈ E. Fur alle x ∈ D ist dann

(g ◦ f)(x) = g(f(x)) = g(f(a)) +(g′(f(a)) + s(f(x))

)(f(x) − f(a)

)

= g(f(a)) +(g′(f(a)) + s(f(x))

)(f ′(a) + r(x)

)(x− a)

= (g ◦ f)(a) + g′(f(a))f ′(a)(x− a) + t(x)(x− a) ,

wobei t : D → K durch t(x) = s(f(x))r(x) + g′(f(a))r(x) + s(f(x))f ′(a) fur allex ∈ D gegeben ist. Aber nach Satz 7.4 und Satz 7.5 ist t and der Stelle a stetigund t(a) = s(f(a))r(a)+g′(f(a))r(a)+s(f(a))f ′(a) = 0. Daraus ergibt sich nachSatz 10.1, dass g ◦ f in a differenzierbar ist und (g ◦ f)′(a) = g′(f(a))f ′(a).

Lemma 10.5 Sei f : D → K injektiv und stetig an der Stelle a. Dann ist f(b)Haufungspunkt von E = f(D).

Beweis Sei ε > 0; da f an der Stelle a stetig ist, gibt es ein δ > 0, so dass|f(x)− f(a)| < ε fur alle x ∈ D mit |x−a| < δ. Damit ist f(x) ∈ BE(f(a), ε) furalle x ∈ BD(a, δ), d.h. f(BD(a, δ)) ⊂ BE(f(a), ε). Folglich ist f(BD(a, δ) \ {a}Teilmenge von BE(f(a), ε) \ {f(a)}, da f injektiv ist. Aber BD(a, δ) \ {a} istnichtleer, da a Haufungspunkt von D ist, und also ist BE(f(a), ε) \ {f(a)} auchnichtleer. Dies zeigt, dass f(a) Haufungspunkt von E ist.

Ist f : D → K injektiv und differenzierbar in a, so ist nach Satz 10.2 undLemma 10.5 f(b) Haufungspunkt von E = f(D).

Satz 10.5 Sei f : D → K injektiv und in a differenzierbar. Setze E = f(D) undnehme an, dass die Umkehrabbildung f−1 : E → K an der Stelle b = f(a) stetigist. Dann ist f−1 in b differenzierbar genau, wenn f ′(a) 6= 0. In diesem Fall ist

(f−1)′(b) =1

f ′(a).

Beweis Nehme zunachst an, dass f ′(a) 6= 0, und sei {yn}n≥p eine Folge ausE\{b},die gegen b konvergiert. Fur jedes n ≥ p setze xn = f−1(yn); dann ist {xn}n≥p

eine Folge aus D \ {a} (da f(xn) = y 6= f(a)), die gegen a konvergiert, da f−1 ander Stelle b stetig ist. Nach Voraussetzung ist f in a differenzierbar, und daherist limn→∞(f(xn) − f(a))/(xn − a) = f ′(a) 6= 0. Ferner ist f(xn) − f(a) 6= 0 furalle n ≥ p, da xn 6= a und f injektiv ist, und daraus folgt nach Satz 5.6, dass

limn→∞

f−1(yn) − f−1(b)

yn − b= lim

n→∞

xn − a

f(xn) − f(a)=

1

f ′(a).

Damit ist f−1 in b differenzierbar und es gilt (f−1)′(b) = 1/f ′(a).

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10 Differentiation 74

Nehme nun umgekehrt an, dass f−1 in b differenzierbar ist. Nach Satz 10.4 istf−1 ◦f in a differenzierbar und (f−1 ◦f)′(a) = (f−1)′(b)f ′(a). Aber f−1 ◦f = idD

und offensichtlich ist id′D(a) = 1; d.h. (f−1)′(b)f ′(a) = 1. Daher ist f ′(a) 6= 0 und

(f−1)′(b) = 1/f ′(a).

Lemma 10.6 Sei D Teilmenge von R; eine Abbildung f : D → C ist genau dannin a differenzierbar, wenn Re f und Im f in a differenzierbar sind. In diesem Fallgilt f ′(a) = (Re f)′(a) + i(Im f)′(a).

Bemerkung: Die Differenzierbarkeit von f in a ist hier naturlich mit K = C

definiert und insbesondere wird D als Teilmenge von C angesehen.

Beweis Ubung.

Die Teilmenge D heißt perfekt, wenn jedes a ∈ D ein Haufungspunkt von D ist.

Lemma 10.7 (1) Jede offene Teilmenge von K ist perfekt.

(2) Jede perfekte Teilmenge von R ist auch eine perfekte Teilmenge von C.

(3) Jedes Intervall, das mehr als einen Punkt enthalt, ist perfekt.

Beweis Ubung.

Im Folgenden sei D eine nichtleere perfekte Teilmenge von K. Eine Abbildungf : D → K heißt differenzierbar, wenn f in a differenzierbar ist fur jedes a ∈ D.

Satz 10.6 Seien c0, . . . , cn ∈ K (mit n ≥ 0) und sei f : D → K die durch

f(x) = c0 + c1x+ c2x2 + · · · + cnx

n

fur alle x ∈ D gegebene Abbildung. Dann ist f differenzierbar und

f ′(a) = c1 + 2c2a + · · ·+ ncnan−1

fur alle a ∈ D.

Beweis Fur jedes n ≥ 0 definiere hn : D → R durch hn(x) = xn fur alle x ∈ D;(insbesondere ist dann h0(x) = 1 fur alle x ∈ D). Es ist klar, dass h0 und h1

differenzierbar sind und h′0(a) = 0 und h′1(a) = 1 fur alle a ∈ D. Sei nun n ≥ 1und nehme an, dass hn differenzierbar ist und dass h′n(a) = nan−1 fur alle a ∈ D.Da hn+1 = h1 · hn, ist dann nach Satz 10.3 (2) auch hn+1 differenzierbar und

h′n+1(a) = (h1 · hn)′(a) = h1(x)h′n(a) + h′1(x)hn(a)

= a · nan−1 + 1 · an = (n+ 1)an

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10 Differentiation 75

fur alle a ∈ D. Daraus folgt durch Induktion nach n, dass hn differenzierbarist fur jedes n ≥ 0 und h′n(a) = nan−1 fur alle a ∈ D, n ≥ 1. Damit ist nachSatz 10.3 (1) f = c0h0 + c1h1 + · · · + cnhn differenzierbar und es gilt

f ′(a) = c0h′0(a) + c1h

′1(a) + · · · + cnh

′n(a) = c1 + 2c2a+ · · · + ncna

n−1

fur alle a ∈ D.

Satz 10.7 Nehme an, dass 0 /∈ D und sei n ≥ 1. Dann ist die durch gn(x) = 1/xn

definierte Abbildung gn : D → K differenzierbar und fur alle a ∈ D gilt

g′n(a) = − n

an+1.

Beweis Es gilt gn = 1/hn, wobei hn : D → K wie im Beweis fur Satz 10.6 ist,und daraus folgt nach Satz 10.3 (3), dass gn differenzierbar ist und

g′n(a) =( 1

hn

)′

(a) =0 · hn(a) − 1 · h′n(a)

hn(a)2=

−nan−1

a2n= − n

an+1

fur alle a ∈ D.

Satz 10.8 (1) Die Abbildung exp : K → K ist differenzierbar und exp′ = exp.

(2) Die Abbildung cis : R → C ist differenzierbar und cis′ = i cis.

(3) Die Abbildungen cos, sin : R → R sind beide differenzierbar mit cos′ = − sinund sin′ = cos.

Beweis (1) Sei a ∈ K und ε > 0; setze η = exp(−(1 + |a|)

)ε und δ = min{η, 1}.

Fur alle x ∈ K \ {a} mit |x− a| < δ ist dann nach Satz 6.10 (4)

∣∣∣exp(x) − exp(a)

x− a− exp(a)

∣∣∣ ≤ |x− a|

2exp(|x− a|) exp(|a|)

≤ |x− a|2

exp(1 + |a|) < η exp(1 + |a|) = ε ,

und daraus folgt, dass limx→a(exp(x) − exp(a))/(x− a) = exp(a). Damit ist expin a differenzierbar und exp′(a) = exp(a).

(2) Definiere f : C → C durch f(z) = exp(iz) fur alle z ∈ C. Dann ist f = exp ◦h,wobei h(z) = iz fur alle z ∈ C, und daraus ergibt sich nach (1), Satz 10.4 undSatz 10.6, dass f differenzierbar ist und

f ′(a) = (exp ◦h)′(a) = exp′(h(a))h′(a) = i exp(ia) = if(a) .

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10 Differentiation 76

Aber cis ist die Einschrankung von f auf R und folglich gilt nach Lemma 10.4,dass cis differenzierbar ist und cis′(a) = f ′(a) = if(a) = i cis(a) fur alle a ∈ R.

(3) Da cos = Re cis und sin = Im cis, sind nach (2) und Lemma 10.6 cos und sindifferenzierbar und cos′(a) = Re(cis′(a)) = Re(i cis(a)) = − Im cis(a) = − sin(a)und sin′(a) = Im(cis′(a)) = Im(i cis(a)) = Re cis(a) = cos(a) fur alle a ∈ R.

Satz 10.9 Die Abbildung log : (0,+∞) → R ist differenzierbar und es gilt

log′(a) =1

a

fur alle a ∈ (0,+∞).

Beweis Sei a ∈ (0,+∞) und setze c = log(a). Nun ist exp in c differenzierbar, logist an der Stelle a = exp(c) stetig und exp′(c) 6= 0. Daraus folgt nach Satz 10.5,dass die Abbildung log in a differenzierbar ist und

log′(a) =1

exp′(c)=

1

exp(c)=

1

a.

Sei f : D → K differenzierbar; es gibt also eine Abbildung f ′ : D → K, d.h. dieAbbildung x 7→ f ′(x). Sie heißt die Ableitung von f .

In vielen Anwendungen sind die auftretenden Abbildungen differenzierbar (undnicht nur differenzierbar in einem Punkt). Es ist also nutzlich, uber Versionender Satze 10.3, 10.4 und 10.5 zu verfugen, die auf diesen Fall zugeschnitten sind.

Satz 10.10 Seien f, g : D → K differenzierbare Abbildungen

(1) Fur alle λ, µ ∈ K ist die Abbildung λf + µg differenzierbar mit

(λf + µg)′ = λf ′ + µg′ .

(2) Die Abbildung f · g ist differenzierbar mit

(f · g)′ = f · g′ + f ′ · g .

(3) Ist g(x) 6= 0 fur alle x ∈ D, so ist die Abbildung f/g differenzierbar mit

(f

g

)′

=f ′ · g − f · g′

g2.

Beweis Dies folgt unmittelbar aus Satz 10.3.

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10 Differentiation 77

Satz 10.11 (Kettenregel) Sei E eine weitere nichtleere perfekte Teilmenge vonK. Seien f : D → K und g : E → K differenzierbare Abbildungen mit f(D) ⊂ E.Dann ist die zusammengesetzte Abbildung g ◦ f : D → K differenzierbar mit

(g ◦ f)′ = (g′ ◦ f) · f ′ .

Beweis Dies folgt unmittelbar aus Satz 10.4, da fur alle a ∈ D

(g ◦ f)′(a) = g′(f(a))f ′(a) =((g′ ◦ f) · f ′

)(a) .

Ist die Abbildung f : D → K injektiv und differenzierbar, so ist nach Satz 10.2und Lemma 10.5 E = f(D) eine perfekte Teilmenge von K.

Satz 10.12 Sei f : D → K injektiv und differenzierbar. Setze E = f(D) undnehme an, dass die Umkehrabbildung f−1 : E → K stetig ist. Dann ist f−1

differenzierbar genau, wenn f ′(a) 6= 0 fur alle a ∈ D. In diesem Fall ist

(f−1)′ =1

f ′◦ f−1 .

Beweis Dies folgt unmittelbar aus Satz 10.5, da fur alle a ∈ D

(f−1)′(a) =1

f ′(f−1(a))=( 1

f ′◦ f−1

)

(a) .

Sei f : D → K differenzierbar; im Folgenden wird die Abbleitung f ′ auch mit ∂fbezeichnet. Sei nun a ∈ D; ist die Abbildung ∂f : D → K in a differenzierbar, soheißt die Ableitung (∂f)′(a) von ∂f in a die zweite Ableitung von f in a und siewird mit ∂2f(a) oder f ′′(a) bezeichnet.

Ist ∂f : D → K differenzierbar, so gibt es eine Abbildung ∂2f : D → K. Naturlichkann dieser Prozeß induktiv fortgesetzt werden: Setze ∂0f = f , ∂1f = ∂f undsei n ≥ 1; f : D → K heißt n-mal in a differenzierbar, wenn sie (n − 1)-maldifferenzierbar ist und die Abbildung ∂n−1f : D → K in a differenzierbar ist.Nun heißt f n-mal differenzierbar, wenn sie (n − 1)-mal differenzierbar ist unddie Abbildung ∂n−1f : D → K differenzierbar ist.

Die Ableitung (∂n−1f)′(a) von ∂n−1f in a wird mit ∂nf(a) bezeichnet. Ist f n-maldifferenzierbar, so gibt es eine Abbildung ∂nf : D → K.

Schließlich heißt eine Abbildung f : D → K n-mal stetig differenzierbar, wenn sien-mal differenzierbar ist und die Abbildung ∂nf : D → K stetig ist.

Im Folgenden sei K = R, also ist D nun eine Teilmenge von R. Eine Abbildungf : D → R heißt in a rechtsseitig differenzierbar, wenn a ein Haufungspunkt von

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10 Differentiation 78

D∩ [a,+∞) ist und die Einschrankung von f auf D∩ [a,+∞) in a differenzierbarist. In diesem Fall heißt die Ableitung in a von dieser Einschrankung rechtsseiteAbbleitung von f in a und wird mit ∂+f(a) bezeichnet.

Analog wird linksseitige Differenzierbarkeit definiert: Die Abbildung f heißt ina linksseitig differenzierbar, wenn a ein Haufungspunkt von D ∩ (−∞, a] ist unddie Einschrankung von f auf D ∩ (−∞, a] in a differenzierbar ist. In diesem Fallheißt die Ableitung in a von dieser Einschrankung linksseite Abbleitung von f ina und wird mit ∂−f(a) bezeichnet.

Ist a ein Haufungspunkt von D∩ [a,+∞), so ist f in a rechtsseitig differenzierbargenau dann, wenn es ein c ∈ R gibt, so dass

limn→∞

f(xn) − f(a)

xn − a= c

fur jede Folge {xn}n≥p aus D ∩ (a,+∞), die gegen a konvergiert; ferner ist indiesem Fall c = ∂+f(a). Eine analoge Aussage gilt naturlich fur linksseitige Dif-ferenzierbarkeit in a.

Lemma 10.8 Ein Punkt b ∈ R ist Haufungspunkt von D genau dann, wenn bHaufungspunkt von mindestens einer der Mengen D ∩ [b,+∞) und D ∩ (−∞, b]ist.

Beweis Dies ist klar.

Im Folgenden sei f : D → R eine Abbildung.

Lemma 10.9 (1) Sei a ein Haufungspunkt von D∩ [a,+∞), der kein Haufungs-punkt von D ∩ (−∞, a] ist. Dann ist f in a differenzierbar genau, wenn f in arechtsseitig differenzierbar ist, und in diesen Fall ist ∂f(a) = ∂+f(a).

(2) Sei a ein Haufungspunkt von D ∩ (−∞, a]), der kein Haufungspunkt vonD ∩ [a,+∞) ist. Dann ist f in a differenzierbar genau, wenn f in a linksseitigdifferenzierbar ist, und hier ist ∂f(a) = ∂−f(a).

Beweis (1) Dies folgt aus der folgenden Tatsache: Da a kein Haufungspunkt vonD ∩ (−∞, a] ist, gibt es ein ε > 0, so dass D ∩ (a − ε, a) = ∅. Ist also {xn}n≥p

eine Folge aus D \ {a}, die gegen a konvergiert, dann existiert ein q ≥ p, so dassxn ∈ D ∩ (a,+∞) fur alle n ≥ q.

(2) Dies ist analog zu beweisen.

Nehme nun an, a ist Haufungspunkt von sowohl D∩(−∞, a] als auchD∩[a,+∞).

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10 Differentiation 79

Satz 10.13 Die Abbildung f ist in a differenzierbar genau dann, wenn f in alinksseitig und rechtseitig differenzierbar ist und ∂−f(a) = ∂+f(a). In diesem Fallist ∂f(a) = ∂−f(a) = ∂+f(a).

Beweis Sei f+ (bzw. f−) die Einschrankung von f auf D ∩ [a,+∞) (bzw. aufD ∩ (−∞, a]). Ist f in a differenzierbar, so sind nach Lemma 10.4 f+ und f− ina differenzierbar und es gilt f ′

+(a) = f ′(a) = f ′−(a). Mit anderen Worten: Ist f

in a differenzierbar, so ist f in a linksseitig und rechtseitig differenzierbar und esgilt ∂−f(a) = f ′

+(a) = f ′−(a) = ∂+f(a).

Nehme nun an, f ist in a sowohl linksseitig als auch rechtsseitig differenzierbarund es gilt ∂−f(a) = ∂+f(a). Dann sind f+ und f− in a differenzierbar undf ′

+(a) = f ′−(a). Nach Satz 10.1 gibt es also an der Stelle a stetige Abbildungen

r+ : D ∩ [a,+∞) → R und r− : D ∩ (−∞, a] → R mit r+(a) = r−(a) = 0, so dassf(x) = f+(x) = f(a) + f ′

+(a)(x− a) + r+(x)(x− a) fur alle x ∈ D ∩ [a,+∞) undf(x) = f−(x) = f(a) + f ′

−(a)(x− a) + r−(x)(x− a) fur alle x ∈ D ∩ (−∞, a]. Seinun r : D → R die Abbildung, die definiert ist durch

r(x) =

{r+(x) , falls x ∈ D ∩ [a,+∞),r−(x) , falls x ∈ D ∩ (−∞, a).

Dann ist r(a) = 0 und man sieht leicht, dass r an der Stelle a stetig ist. Fernerist f(x) = f(a) + c(x− a) + r(x)(x− a) fur alle x ∈ D, wobei c = f ′

+(a) = f ′−(a).

Daraus folgt nach Satz 10.1, das f in a differenzierbar ist und es gilt f ′(a) = c,d.h. ∂f(a) = ∂−f(a) = ∂+f(a), da ∂−f(a) = f ′

+(a) und ∂+f(a) = f ′−(a).

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11 Mittelwertsatze

Im Folgenden sei D stets eine nichtleere Teilmenge von R (es wird hier nur derFall K = R betrachtet).

Sei f : D → R eine Abbildung; dann hat f in a ∈ D ein lokales Minimum(bzw. lokales Maximum), wenn es ein ε > 0 gibt, so dass f(a) ≤ f(x) (bzw.f(a) ≥ f(x)) fur alle x ∈ D mit |x − a| < ε. Man sagt dann, dass f in a einlokales Extremum besitze, wenn f in a entweder ein lokales Minimum oder einlokales Maximum hat.

Ein Punkt a ∈ D heißt innerer Punkt von D, wenn es ein ε > 0 gibt, so dass{x ∈ R : |x − a| < ε} ⊂ D. Mit anderen Worten: wenn es ein ε > 0 gibt, sodass BR(a, ε) = (a − ε, a + ε) ⊂ D. Insbesondere ist jeder innere Punkt von DHaufungspunkt von D. Ferner ist D eine offene Teilmenge von R genau dann,wenn jeder Punkt in D ein innerer Punkt ist.

Die Menge der inneren Punkte von D heißt das Innere von D und wird mit D◦

bezeichnet.

Lemma 11.1 Sei f : D → R eine Abbildung und a ∈ D◦. Besitzt f in a einlokales Extremum und is f in a differenzierbar, so ist f ′(a) = 0.

Beweis Da a innerer Punkt von D ist, gibt es ein ε > 0, so dass (a−ε, a+ε) ⊂ D.Definiere eine Abbildung g : D \ {a} → R durch

g(x) =f(x) − f(a)

x− a

fur alle x ∈ D \ {a}; also ist limx→a g(x) = f ′(a). Nehme an, f besitzt in a einlokales Minimum. Dann gibt es ein ε′ > 0, so dass f(a) ≤ f(x) fur alle x ∈ D mit|x−a| < ε′. Setze δ = min{ε, ε′}; dann ist (a− δ, a+ δ) ⊂ D und f(a) ≤ f(x) furalle x ∈ (a− δ, a+ δ). Fur jedes n ≥ 2 sei xn = a− δn−1 und x′n = a+ δn−1; dannsind {xn}n≥2 und {x′n}n≥2 beide Folgen aus D\{a}, die gegen a konvergieren, unddaraus folgt, dass die Folgen {g(xn)}n≥2 und {g(x′n)}n≥2 gegen f ′(a) konvergieren.Aber fur jedes n ≥ 2 ist g(xn) ≤ 0 und g(x′n) ≥ 0, da f(xn) − f(a) ≥ 0,f(x′n) − f(a) ≥ 0, xn − a < 0 und x′n − a > 0. Damit ist nach Satz 5.3

0 ≤ limn→∞

g(x′n) = f ′(a) = limn→∞

g(xn) ≤ 0 ; ,

d.h. f ′(a) = 0. Fur ein lokales Maximum ist das Lemma analog zu beweisen.

Sei E eine nichtleere Teilmenge von D, die perfekt ist. Eine Abbildung f : D → R

heißt dann in E differenzierbar, wenn f in c differenzierbar ist fur jedes c ∈ E.

80

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11 Mittelwertsatze 81

Im Folgenden sei I ein Intervall, das mehr als einen Punkt enthalt. Dann istI◦ auch ein Intervall, das mehr als einen Punkt enthalt, und I \ I◦ besteht aushochstens zwei Elementen (den ‘Endpunkten’ von I). Sind a, b ∈ I mit a < b, soist [a, b] ⊂ I und (a, b) ⊂ I◦.

Satz 11.1 (Satz von Rolle) Sei f : I → R eine stetige Abbildung, die in I◦

differenzierbar ist, und seien a, b ∈ I mit a < b. Ist f(a) = f(b), dann gibt es einξ ∈ (a, b), so dass f ′(ξ) = 0 (und hier ist f ′(ξ) definiert, da ξ ∈ (a, b) ⊂ I◦).

Beweis Da [a, b] folgenkompakt ist, gibt es nach Satz 8.3 u, v ∈ [a, b], so dassf(u) ≤ f(x) ≤ f(v) fur alle x ∈ [a, b]. Ist f(u) = f(v), so ist f(x) = f(u) fur allex ∈ [a, b] und in diesem Fall ist f ′(ξ) = 0 fur jedes ξ ∈ (a, b). Nehme also an, dassf(u) 6= f(v), d.h. f(u) < f(v); dann gibt es ξ ∈ {u, v} mit f(ξ) 6= f(a) = f(b).Insbesondere ist ξ ∈ (a, b) und damit ist ξ ∈ I◦. Ferner besitzt f in ξ ein lokalesExtremum, da f(ξ) ≤ f(x) (bzw. f(ξ) ≥ f(x)) fur alle x ∈ [a, b]. Daraus folgtnach Lemma 11.1, dass f ′(ξ) = 0.

Satz 11.2 (Mittelwertsatz) Sei f : I → R eine stetige Abbildung, die in I◦

differenzierbar ist, seien a, b ∈ I mit a < b. Dann gibt es ein ξ ∈ (a, b), so dass

f ′(ξ) =f(b) − f(a)

b− a

(und wieder ist f ′(ξ) definiert, da ξ ∈ (a, b) ⊂ I◦).

Beweis Setze c = (f(b) − f(a))/(b − a) und definiere eine Abbildung g : I → R

durch g(x) = f(x) − cx fur jedes x ∈ I. Nach Satz 7.4 und Satz 10.3 (1) ist gstetig und in I◦ differenzierbare, und es gilt

g(a) = f(a) − ca =bf(a) − af(b)

b− a= f(b) − cb = g(b) .

Nach Satz 11.1 gibt es also ξ ∈ (a, b) mit g′(ξ) = 0. Damit ist nach Satz 10.3 (1)

f ′(ξ) = g′(ξ) + c = 0 + c =f(b) − f(a)

b− a.

Satz 11.3 (Zweiter Mittelwertsatz) Seien f, g : I → R stetige Abbildungen,die in I◦ differenzierbar sind, und seien a, b ∈ I mit a < b. Nehme an, dassg′(x) 6= 0 fur alle x ∈ (a, b). Dann gibt es ein ξ ∈ (a, b), so dass

f ′(ξ)

g′(ξ)=f(b) − f(a)

g(b) − g(a)

(und nach Satz 11.1 ist hier g(b) 6= g(a), da g′(x) 6= 0 fur alle x ∈ (a, b)).

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11 Mittelwertsatze 82

Beweis Da g(b) 6= g(a), kann eine Abbildung h : I → R definiert werden durch

h(x) = f(x) − f(b) − f(a)

g(b) − g(a)

(g(x) − g(a)

)

fur alle x ∈ I. Nach Satz 7.4 und Satz 10.3 (1) ist h eine stetige Abbildung, diein I◦ differenzierbar ist. Ferner ist h(a) = h(b) = f(a), und daraus folgt nachSatz 11.1, dass es ein ξ ∈ (a, b) mit h′(ξ) = 0 gibt. Damit ist

f ′(ξ)

g′(ξ)=

1

g′(ξ)

(

f ′(ξ) − f(b) − f(a)

g(b) − g(a)g′(ξ) +

f(b) − f(a)

g(b) − g(a)g′(ξ)

)

=1

g′(ξ)

(

h′(ξ) +f(b) − f(a)

g(b) − g(a)g′(ξ)

)

=1

g′(ξ)

(f(b) − f(a)

g(b) − g(a)g′(ξ)

)

=f(b) − f(a)

g(b) − g(a).

Satz 11.4 Sei f : I → R eine stetige Abbildung, die in I◦ differenzierbar ist.

(1) f ist monoton wachsend (bzw. monoton fallend) genau dann, wenn f ′(x) ≥ 0(bzw. f ′(x) ≤ 0) fur alle x ∈ I◦.

(2) Gilt f ′(x) > 0 (bzw. f ′(x) < 0) fur alle x ∈ I◦, so ist f streng monotonwachsend (bzw. streng monoton fallend).

Beweis (1) Nehme zunachst an, dass f monoton wachsend ist und sei x ∈ I◦.Da x ein innerer Punkt von I ist, gibt es ε > 0, so dass (x − ε, x + ε) ⊂ I. Furjedes n ≥ 2 sei xn = x+ εn−1; dann ist {xn}n≥2 eine Folge aus I \ {x}, die gegenx konvergiert und da f(xn) ≥ f(x) und xn > x fur alle n ≥ 2, ist dann nachSatz 5.3

f ′(x) = limn→∞

f(xn) − f(x)

xn − x≥ 0 .

Nehme umgekehrt an, dass f ′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ I◦ und seien x, y ∈ I mit x < y.Nach Satz 11.2 gibt es dann ein ξ ∈ (x, y), so dass f ′(ξ) = (f(y)− f(x))/(y− x).Damit ist f(y) − f(x) = (y − x)f ′(ξ) ≥ 0 d.h. f(y) ≥ f(x), und dies zeigt, dassf monoton wachsend ist.

(2) Dies folgt genau wie in dem zweiten Teil von (1).

Die restlichen Aussagen (fur ein monoton fallende Abbildung f und die entspre-chenden Eigenschaften von ihrer Ableitung f ′) sind analog zu beweisen.

Die Umkehrung von Satz 11.4 (2) ist falsch: Sei f : R → R gegeben durchf(x) = x3 fur alle x ∈ R. Dann ist f streng monoton wachsend, aber f ′(x) = 3x2

fur alle x ∈ R und insbesondere ist f ′(0) = 0.

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11 Mittelwertsatze 83

Satz 11.5 Sei f : I → R eine stetige Abbildung, die in I◦ differenzierbar ist. Giltf ′(x) 6= 0 fur alle x ∈ I◦, so ist entweder f ′(x) > 0 fur alle x ∈ I◦ oder f ′(x) < 0fur alle x ∈ I◦. Insbesondere ist (nach Satz 11.4 (2)) f streng monoton.

Beweis Die Abbildung f ist injektiv: Gabe es x, y ∈ I mit x < y und f(x) = f(y),so ware nach Satz 11.1 f ′(ξ) = 0 fur ein ξ ∈ (x, y). Damit ist nach Satz 7.10 fstreng monoton und insbesondere monoton. Daraus folgt nach Satz 11.4 (1), dassentweder f ′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ I◦ oder f ′(x) ≤ 0 fur alle x ∈ I◦. Aber nachVoraussetzung ist f ′(x) 6= 0 fur alle x ∈ I◦, und folglich ist entweder f ′(x) > 0fur alle x ∈ I◦ oder f ′(x) < 0 fur alle x ∈ I◦.

Satz 11.6 Sei f : I → R eine stetige Abbildung, die in I◦ differenzierbar ist.Dann ist f ′(I◦) ein Intervall: Sind a, b ∈ I◦ und ist c eine Zahl zwischen f ′(a)und f ′(b), so gibt es ein u ∈ I◦ mit f ′(u) = c.

Beweis Seien a, b ∈ I◦ und sei c zwischen f ′(a) und f ′(b). Ist c = f ′(a) (bzw.ist c = f ′(b)), so kann man einfach u = a (bzw. u = b) nehmen. Es kann alsoangenommen werden, dass c verschieden von f ′(a) und f ′(b) ist. Definiere eineAbbildung g : I → R durch g(x) = f(x) − cx fur alle x ∈ I. Nach Satz 7.4 undSatz 10.3 (1) ist g stetig und in I◦ differenzierbar. Ferner ist g′(x) = f ′(x)− c furalle x ∈ I◦, und damit ist entweder g′(a) > 0 und g′(b) < 0 oder g′(a) < 0 undg′(b) > 0. Daraus folgt nach Satz 11.5, dass g′(u) = 0 fur ein u ∈ I◦, und dannist f ′(u) = c.

Satz 11.6 ist eine Art Zwischenwertsatz fur Ableitungen. Man merke aber: Istf : I → R eine stetige Abbildung, die in I◦ differenzierbar ist, so ist f ′ imallgemeinen keine stetige Abbildung.

Satz 11.7 Sei f : I → R eine stetige Abbildung. Dann ist f konstant genau,wenn f in I◦ differenzierbar ist und f ′(x) = 0 fur alle x ∈ I◦.

Beweis Nehme zunachst an, dass f in I◦ differenzierbar ist und f ′(x) = 0 furalle x ∈ I◦. Dann ist nach Satz 11.4 (1) f sowohl monoton wachsend als auchmonoton fallend, und damit ist f konstant. Die Umkehrung ist trivial richtig.

Satz 11.8 Sei a ∈ I und seien b, c ∈ R. Sei f : I → R eine stetige Abbildung,die in I◦ differenzierbar ist und fur die gilt: f(a) = b und f ′(x) = cf(x) fur allex ∈ I◦. Dann gilt f(x) = b exp

(c(x− a)

)fur alle x ∈ I.

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11 Mittelwertsatze 84

Beweis Definiere g : I → R durch g(x) = exp(−c(x − a)

)fur alle x ∈ I. Nach

Satz 7.1 und Satz 7.5 ist g stetig und nach Satz 10.8 (1), Satz 10.4 und Lemma 10.4ist g differenzierbar in I◦ mit g′(x) = −c exp

(−c(x− a)

)= −cg(x). Nun ist nach

Satz 7.4 die Produktabbildung f ·g stetig, nach Satz 10.3 (2) ist f ·g differenzierbarin I◦ und es gilt

(f · g)′(x) = f(x)g′(x) + f ′(x)g(x) = f(x)(−cg(x)

)+(cf(x)

)g(x) = 0

fur alle x ∈ I◦. Daraus ergibt sich nach Satz 11.7, dass f · g konstant ist, undfolglich ist (f · g)(x) = (f · g)(a) fur alle x ∈ I. Fur alle x ∈ I ist also

f(x) = f(a)g(a)1

g(x)= b

1

exp(−c(x− a)

) = b exp(c(x− a)

).

Eine Abbildung f : I → R heißt konvex, wenn fur alle x, y ∈ I und alle t ∈ [0, 1]

f((1 − t)x+ ty

)≤ (1 − t)f(x) + tf(y) .

Satz 11.9 Fur eine Abbildung f : I → R sind aquivalent:

(1) f ist konvex.

(2) Fur alle a, b ∈ I mit a < b und alle x ∈ [a, b] gilt

f(x) ≤ f(a) +f(b) − f(a)

b− a(x− a) .

(3) Fur alle a, b ∈ I mit a < b und alle x ∈ (a, b) gilt

f(x) − f(a)

x− a≤ f(b) − f(a)

b− a≤ f(b) − f(x)

b− x.

(4) Fur alle a, b, a′, b′ ∈ I mit a < b, a′ < b′, a ≤ a′ und b ≤ b′ gilt

f(b) − f(a)

b− a≤ f(b′) − f(a′)

b′ − a′.

(5) Fur alle a, b, a′, b′ ∈ I mit a < b ≤ a′ < b′ gilt

f(b) − f(a)

b− a≤ f(b′) − f(a′)

b′ − a′.

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11 Mittelwertsatze 85

Beweis (1) ⇒ (2): Seien a, b ∈ I mit a < b und x ∈ [a, b]. Setze t = (x−a)/(b−a);dann ist t ∈ [0, 1] und x = (1 − t)a + tb, und damit ist

f(x) = f((1 − t)a + tb

)

≤ (1 − t)f(a) + tf(b) =(b− x)f(a) + (x− a)f(b)

b− a

=(b− a)f(a) +

(f(b) − f(a)

)(x− a)

b− a= f(a) +

f(b) − f(a)

b− a(x− a) .

(2) ⇒ (3): Seien a, b ∈ I mit a < b und x ∈ (a, b). Dann folgt

f(x) − f(a)

x− a≤ f(b) − f(a)

b− a

unmittelbar aus (2). Ferner gilt aber

f(b) − f(x) ≥ f(b) − f(a) − f(b) − f(a)

b− a(x− a)

=

(f(b) − f(a)

)(b− a) −

(f(b) − f(a)

)(x− a)

b− a=f(b) − f(a)

b− a(b− x)

und daraus ergibt sich, dass auch (f(b) − f(a))/(b− a) ≤ (f(b) − f(x))/(b− x).

(3) ⇒ (4): Seien a, b, a′, b′ ∈ I mit a < b, a′ < b′, a ≤ a′ und b ≤ b′. Dann istb ∈ (a, b′] und damit folgt aus der ersten Ungleichung in (3), dass

f(b) − f(a)

b− a≤ f(b′) − f(a)

b′ − a,

da diese Ungleichung trivial richtig ist, wenn b = b′. Andererseits ist a′ ∈ [a, b′),und nach der zweiten Ungleichung in (3) ist dann

f(b′) − f(a)

b′ − a≤ f(b′) − f(a′)

b′ − a′,

da diese Ungleichung trivial richtig ist, wenn a = a′. Folglich ist

f(b) − f(a)

b− a≤ f(b′) − f(a)

b′ − a≤ f(b′) − f(a′)

b′ − a′.

(4) ⇒ (5): Dies ist klar.

(5) ⇒ (1): Seien x, y ∈ I und t ∈ [0, 1]. Zu zeigen ist, dass

f((1 − t)x+ ty

)≤ (1 − t)f(x) + tf(y) ,

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11 Mittelwertsatze 86

und dies ist trivial richtig, wenn x = y oder t ∈ {0, 1}. Es kann also im Folgendenangenommen werden, dass x 6= y und t ∈ (0, 1); ohne Beschrankung der Allge-meinheit sei x < y. Setze u = (1 − t)x+ ty; dann ist u ∈ (x, y), und daraus folgtnach (5) (mit a = x, b = a′ = u und b′ = y), dass

f(u) − f(x)

u− x≤ f(y) − f(u)

y − u.

Daraus ergibt sich, dass

f(u) =1

y − x

((y − u) + (u− x)

)f(u)

≤ 1

y − x

((y − u)f(x) + (u− x)f(y)

)

=y − u

y − xf(x) +

u− x

y − xf(y) = (1 − t)f(x) + tf(y) .

Satz 11.10 Sei f : I → R eine stetige Abbildung, die in I◦ differenzierbar ist.Dann ist f konvex genau, wenn die Abbildung f ′ monoton wachsend ist.

Beweis Nehme zunachst an, das f konvex ist, und seien x, y ∈ I◦ mit x < y. Esgibt also ein ε > 0, so dass die beiden Intervalle (x− ε, x+ ε) und (y − ε, y + ε)Teilmengen von I sind. Fur jedes n ≥ 2 sei xn = x + εn−1 und yn = y + εn−1.Dann ist {xn}n≥2 eine Folge aus I \ {x}, die gegen x konvergiert, und {yn}n≥2 isteine Folge aus I \ {y}, die gegen y konvergiert. Daraus ergibt sich, dass

limn→∞

f(xn) − f(x)

xn − x= f ′(x) und lim

n→∞

f(yn) − f(y)

yn − y= f ′(y) .

Aber fur jedes n ≥ 2 ist x < xn, y < yn, x ≤ y und xn ≤ yn und folglich ist

f(xn) − f(x)

xn − x≤ f(yn) − f(y)

yn − y

nach Lemma 11.2 ((1) ⇒ (4)). Damit ist nach Satz 5.3 f ′(x) ≤ f ′(y), und dieszeigt, dass f ′ monoton wachsend ist.

Nehme nun umgekehrt an, dass f ′ monoton wachsend ist, und seien a, b, a′, b′ ∈ Imit a < b ≤ a′ < b′. Nach Satz 11.2 gibt es ξ ∈ (a, b) und ξ′ ∈ (a′, b′), so dass

f(b) − f(a)

b− a= f ′(ξ) und

f(b′) − f(a′)

b′ − a′= f ′(ξ′) .

Aber ξ < b ≤ a′ < ξ′, damit ist f ′(ξ) ≤ f ′(ξ) und folglich

f(b) − f(a)

b− a≤ f(b′) − f(a′)

b′ − a′.

Also ist nach Lemma 11.2 ((5) ⇒ (1)) f konvex.

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11 Mittelwertsatze 87

Satz 11.11 Sei f : I → R eine stetige Abbildung, die in I◦ zweimal differenzier-bar ist. Dann ist f konvex genau, wenn f ′′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ I◦.

Beweis Man merke, dass I◦ auch ein Intervall ist, das mehr als einen Punktenthalt. Nach Satz 10.2 ist die Abbildung f ′ : I◦ → R stetig und per Definitionist sie in (I◦)◦ = I◦ differenzierbar. Daraus folgt nach Satz 11.4 (1), dass f ′ genaudann monoton wachsend ist, wenn f ′′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ I◦. Daraus ergibt sichnach Satz 11.9, dass f genau dann konvex ist, wenn f ′′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ I◦.

Satz 11.12 Sei d > 0 und sei h : [0, d] → R eine stetige Abbildung, die in (0, d)differenzierbar ist. Nehme an, h(0) = 0 und limy→0 y

′(x) = c fur ein c ∈ R. Danngilt limy→0 h(y)/y = c.

Beweis Sei {yn}n≥p eine Folge aus (0, d], die gegen 0 konvergiert. Fur jedes n ≥ pgibt es dann nach Satz 11.2 ein ξn ∈ (0, yn), so dass

h′(ξn) =h(yn) − h(0)

yn − 0=h(yn)

yn.

Da aber 0 < ξn < yn, ist {ξn}n≥p dann eine Folge aus (0, d), die auch gegen 0konvergiert, und daraus ergibt sich, dass limn→∞ h(yn)/yn = limn→∞ h′(ξn) = c.Dies zeigt, dass limy→0 h(y)/y = c.

Im Folgenden seien a, b ∈ R mit a < b und sei g : [a, b] → R eine stetigeAbbildung, die in (a, b) differenzierbar ist. Es wird ferner angenommen, dassg(0) = 0 und dass g′(x) 6= 0 fur alle x ∈ (a, b). Nach Satz 11.5 ist dann entwederg′(x) > 0 fur alle x ∈ (a, b) oder g′(x) < 0 fur alle x ∈ (a, b). In dem ersterenFall ist g streng monoton wachsend und g(x) > 0 fur alle x ∈ (0, b], und in demletzteren Fall ist g streng monoton fallend und g(x) < 0 fur alle x ∈ (0, b]. Inbeiden Fallen ist g(x) 6= 0 fur alle x ∈ (a, b].

Satz 11.13 (Eine Regel von de l’Hospital) Sei f : [a, b] → R eine weiterestetige Abbildung mit f(a) = 0, die in (a, b) differenzierbar ist. Gibt es ein c ∈ R,so dass limx→a f

′(x)/g′(x) = c, so gilt auch limx→a f(x)/g(x) = c.

Beweis In Beweis wird angenommen, dass g′(x) > 0 fur alle x ∈ (a, b); (derandere Fall wird analog bewiesen). Damit ist g streng monoton wachsend undg bildet das Intervall [a, b] bijektiv auf das Intervall [0, d] ab, wobei d = g(b).Nach Satz 7.11 ist die Umkehrabbildung g−1 : [0, d] → [a, b] stetig; ferner istnach Satz 10.5 g−1 in (0, d) differenzierbar und (g−1)′(g(x)) = 1/g′(x) fur jedesx ∈ (a, b). Betrachte nun die Zusammensetzung h = f ◦ g−1 : [0, d] → R von g−1

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11 Mittelwertsatze 88

und f . Nach Satz 7.5 ist h stetig mit h(0) = f(g−1(0)) = f(a) = 0, und nachSatz 10.4 ist h in (0, d) differenzierbar und fur alle x ∈ (a, b) gilt

h′(g(x)) = (f ◦ g−1)′(g(x)) = f ′(g−1(g(x))

)· (g−1)′(g(x)) =

f ′(x)

g′(x).

Sei jetzt {yn}n≥p eine Folge aus (0, d), die gegen 0 konvergiert, und fur jedesn ≥ p setze xn = g−1(yn). Dann ist {xn}n≥p eine Folge aus (a, b), die gegen akonvergiert, da g−1 stetig ist und g−1(0) = a. Nach Voraussetzung gilt also

limn→∞

h′(yn) = limn→∞

h′(g(xn)) = limn→∞

f ′(xn)

g′(xn)= c .

Daher ist limy→0

h′(y) = c und daraus folgt nach Lemma 11.3, dass limy→0

h(y)/y = c.

Sei {xn}n≥p eine Folge aus (a, b), die gegen a konvergiert, und fur jedes n ≥ psetze diesmal yn = g(xn). Dann ist {yn}n≥p eine Folge aus (0, d), die gegen 0konvergiert, da g stetig ist und g(a) = 0. Damit ist

limn→∞

f(xn)

g(xn)= lim

n→∞

h(g(xn))

g(xn)= lim

n→∞

h(yn)

yn= c ,

und dies zeigt, dass limx→a

f(x)/g(x) = c.

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12 Integration von Regelfunktionen

Sei X eine Menge; der K-Vektorraum aller Abbildungen von X nach K wird mitAbb(X,K) bezeichnet. Eine Abbildung f : X → K heißt beschrankt, wenn es einc ≥ 0 gibt, so dass |f(x)| ≤ c fur alle x ∈ X, und die Menge aller beschranktenAbbildungen von X nach K wird dann mit B(X,K) bezeichnet. Es ist klar, dassB(X,K) ein Untervektorraum von Abb(X,K) ist. Fur jedes f ∈ B(X,K) sei

||f || = sup{|f(x)| : x ∈ X} .

Dann hat die Abbildung || · || : B(X,K) → K folgende Eigenschaften:

(1) ||f || ≥ 0 und ||f || = 0 genau dan, wenn f = 0.

(2) ||λf || = |λ| ||f || fur alle f ∈ B(X,K), λ ∈ K.

(3) ||f + g|| ≤ ||f || + ||g|| fur alle f, g ∈ B(X,K).

Im Folgenden sei I das abgeschlossene Intervall [a, b], wobei a, b ∈ R mit a < b.Seien a0, . . . , an ∈ R; dann heißt U = (a0, . . . , an) eine Unterteilung von I, fallsa = a0 < · · · < an = b. Sind U = (a0, . . . , an) und V = (b0, . . . , bm) Unterteilungenvon I, so heißt V Verfeinerung von U , falls die Menge {a0, . . . , an} Teilmenge derMenge {b0, . . . , bm} ist.

Seien U = (a0, . . . , an), V = (b0, . . . , bm) Unterteilungen von I; dann bezeichnetU ∨ V die Unterteilung (c0, . . . , cq), wobei c0, . . . , cq die Elemente der Menge{a0, . . . , an} ∪ {b0, . . . , bm} in aufsteigender Reihenfolge sind. Es ist klar, dassU ∨ V eine Verfeinerung von U und von V ist.

Eine Abbildung f : I → K heißt nun Treppenfunktion, wenn es eine UnterteilungU = (a0, . . . , an) von I gibt, so dass f konstant auf jedem der offenen Intervalle(aj−1, aj), j = 1, . . . , n, ist; U heißt dann eine Unterteilung fur f und f ist eineTreppenfunktion zur Unterteilung U .

Lemma 12.1 Ist U eine Unterteilung fur eine Treppenfunktion f : I → K, soist jede Verfeinerung von U auch eine Unterteilung fur f .

Beweis Dies ist klar.

Die Menge aller Treppenfunktionen f : I → K wird mit T(I,K) bezeichnet; dajede Treppenfunktion beschrankt ist, ist T(I,K) ⊂ B(I,K).

Satz 12.1 T(I,K) ist ein Untervektorraum von B(I,K).

89

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12 Integration von Regelfunktionen 90

Beweis Es ist klar, dass 0 eine Treppenfunktion ist. Seien f, g ∈ T(I,K); wahleeine Unterteilung U fur f und eine Unterteilung V fur g. Fur alle λ, µ ∈ K istdann λf + µg konstant auf jedem der offenen Intervalle der Unterteilung U ∨ V,und damit ist λf + µg eine Treppenfunktion, d.h. λf + µg ∈ T(I,K).

Sei U = (a0, . . . , an) eine Unterteilung fur die Treppenfunktion f : I → K, undfur jedes j = 1, . . . , n sei αj der Wert von f auf dem Intervall (aj−1, aj). Setze

U

f =n∑

j=1

αj(aj − aj−1) ;

dieses Element von K heißt das Integral von f bezuglich der Unterteilung U . Da∣∣∣∣∣

n∑

j=1

αj(aj − aj−1)

∣∣∣∣∣≤

n∑

j=1

|αj(aj − aj−1)| ≤n∑

j=1

||f ||(aj − aj−1) = (b− a)||f || ,

ist |∫

Uf | ≤ (b− a)||f ||.

Lemma 12.2 Sind U und V Unterteilungen fur die Treppenfunktion f , so ist∫

U

f =

V

f .

Beweis Seien U = (a0, . . . , an), V = (b0, . . . , bm), fur 1 ≤ j ≤ n sei αj der Wertvon f auf dem Intervall (aj−1, aj) und fur 1 ≤ k ≤ m sei βk der Wert von f aufdem Intervall (ak−1, ak). Nehme zunachst an, dass V eine Verfeinerung von U ist.Dann gibt es Indizes 0 = q0 < · · · < qn = m, so dass aj = bqj

fur jedes 0 ≤ j ≤ n;insbesondere ist βk = αj, falls qj−1 + 1 ≤ k ≤ qj . Daraus ergibt sich, dass

U

f =

n∑

j=1

αj(aj − aj−1) =

n∑

j=1

αj(bqj− bqj−1

)

=n∑

j=1

αj

qj∑

k=qj−1+1

(bk − bk−1) =n∑

j=1

qj∑

k=qj−1+1

βk(bk − bk−1)

=

m∑

k=1

βk(bk − bk−1) =

V

f .

Sind nun U und V beliebige Unterteilungen fur f , so ist U ∨ V eine Verfeinerungvon U und V, die nach Lemma 12.1 eine Unterteilung fur f ist, und folglich giltnach dem ersten Teil des Beweises, dass

Uf =

U∨Vf =

Vf .

Da nach Lemma 12.2 das Intergral∫

Uf nicht von der Unterteilung U abhangt,

wird dieses einfach mit∫ b

af (oder etwa

∫ b

af(x) dx) bezeichnet; das Element

∫ b

af

von K heißt dann das Integral von f .

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12 Integration von Regelfunktionen 91

Satz 12.2 Die Abbildung f 7→∫ b

af von T(I,K) nach K ist linear, d.h.

∫ b

a

(λf + µg) = λ

∫ b

a

f + µ

∫ b

a

g

fur alle f, g ∈ T(I,K) und alle λ, µ ∈ K. Ferner gilt |∫ b

af | ≤ (b−a)||f || fur alle

f ∈ T(I,K).

Beweis Seien f, g ∈ T(I,K); wie im Beweis fur Satz 12.1 gibt es eine UnterteilungU , die eine Unterteilung von f und von g ist. Fur alle λ, µ ∈ K ist dann U aucheine Unterteilung von λf + µg, und es ist klar, dass

U

(λf + µg) = λ

U

f + µ

U

g ;

damit ist∫ b

a(λf + µg) = λ

∫ b

af + µ

∫ b

ag. Schließlich gilt |

∫ b

af | ≤ (b − a)||f ||, da

|∫

Uf | ≤ (b− a)||f ||.

Fur jedes n ≥ p sei fn : I → K eine Abbildung. Die Funktionenfolge {fn}n≥p

konvergiert dann gleichmaßig gegen eine Abbildung f : I → K, wenn es zu jedemε > 0 ein N ≥ p gibt, so dass |fn(x) − f(x)| < ε fur alle x ∈ I und alle n ≥ N .

Lemma 12.3 Sei f ∈ B(I,K). Dann sind aquivalent:

(1) Zu jedem ε > 0 gibt es eine Treppenfunktion g ∈ T(I,K) mit ||f − g|| ≤ ε.

(2) Es gibt eine Folge {gn}n≥p von Treppenfunktionen mit limn→∞

||f − gn|| = 0.

(3) Es gibt eine Folge {gn}n≥p aus T(I,K), die gleichmaßig gegen f konvergiert.

Beweis Dies ist klar.

Eine Abbildung f ∈ B(I,K) heißt Regelfunktion, wenn eine (und damit alle)der aquivalenten Bedingungen in Lemma 12.3 fur f gilt. Die Menge der Regel-funktionen von I nach K wird mit R(I,K) bezeichnet. Es ist klar, dass jedeTreppenfunktion eine Regelfunktion ist, d.h. T(I,K) ⊂ R(I,K).

Satz 12.3 R(I,K) ist ein Untervektorraum von B(I,K).

Beweis Da 0 ∈ T(I,K), ist 0 eine Regelfunktion. Seien f, g ∈ R(I,K), λ, µ ∈ K

und sei ε > 0. Wahle c > 0 mit c ≥ |λ| + |µ|. Da f, g ∈ R(I,K), gibt esTreppenfunktionen u, v mit ||f − u|| ≤ ε/c und ||g − v|| ≤ ε/c. Nach Satz 12.1ist dann λf + µg eine Treppenfunktion und es gilt

||(λf + µg) − (λu+ µv)|| = ||λ(f − u) + µ(g − v)||≤ |λ| ||f − u|| + |µ| ||g − v|| ≤ ε .

Dies zeigt, dass λf + µg ∈ R(I,K), und damit ist R(I,K) ein Untervektorraumvon B(I,K).

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12 Integration von Regelfunktionen 92

Satz 12.4 Jede stetige Abbildung f : I → K ist eine Regelfunktion.

Beweis Nach Satz 8.5 ist die stetige Abbildung f : I → K gleichmaßig stetig,da das Intervall I = [a, b] folgenkompakt ist. Sei ε > 0; dann gibt es ein δ > 0,so dass |f(x) − f(y)| < ε fur alle x, y ∈ I mit |x − y| < δ. Wahle nun eineUnterteilung U = (a0, . . . , am) mit aj+1 − aj ≤ δ fur jedes 0 ≤ j < m, und seig : I → K die Abbildung mit g(x) = f(aj) fur alle x ∈ [aj , aj+1), 0 ≤ j < m, undmit g(b) = f(b). Dann ist g ∈ T(I,K) und |g(x)− f(x)| < ε fur alle x ∈ I, da furalle x ∈ [aj , aj+1) ist |x− aj | < δ und damit |g(x) − f(x)| = |f(aj) − f(x)| < ε.Zu jedem ε > 0 gibt es also eine Treppenfunktion g mit ||g− f || ≤ ε. Folglich istf eine Regelfunktion.

Satz 12.5 Jede monotone Abbildung f : I → R ist eine Regelfunktion, d.h., einElement von R(I,R).

Beweis Ohne Beschrankung der Allgemeinheit nehme an, dass f monoton wach-send ist. Fur jedes x ∈ [a, b) sei f(x+) = inf{f(y) : x < y ≤ b} und fur jedesx ∈ (a, b] sei f(x−) = sup{f(y) : a ≤ y < x}. Dann gilt f(x−) ≤ f(x) ≤ f(x+)fur alle x ∈ (a, b), f(a) ≤ f(a+) und f(b−) ≤ f(b). Sei nun ε > 0 und sei {ak}k≥0

die Folge aus I mit a0 = a und

ak+1 =

{sup{x ∈ I : f(x) < f(ak+) + ε} , falls ak < b,

b falls ak = b

fur alle k ≥ 0. Ist ak < b, so sieht man leicht, dass ak < ak+1; ist ferner ak+1 < b,so ist f(ak+1+) ≥ f(ak+) + ε und damit

f(ak+1+) ≥ f(a0+) + (k + 1)ε ≥ f(ak+1+) ≥ f(a0) + (k + 1)ε .

Daraus ergibt sich dass am = b fur ein m ≥ 1 (mit m ≤ 1 + (f(b) − f(a))/ε);sei also n = min{m ≥ 1 : am = b}. Sei nun g : I → R die Abbildung mitg(x) = f(aj+) fur alle x ∈ (aj, aj+1), 0 ≤ j < n, und mit g(aj) = f(aj) fur0 ≤ j ≤ n. Dann ist g ∈ T(I,R) und |g(x) − f(x)| ≤ ε fur alle x ∈ I, da|g(x) − f(x)| = |f(aj+) − f(x)| < ε fur alle x ∈ (aj , aj+1). Zu jedem ε > 0 gibtes also eine Treppenfunktion g mit |g(x) − f(x)| ≤ ε fur alle x ∈ I, und damitist f eine Regelfunktion.

Beispiel: Sei f : I → R die Abbildung, die definiert ist durch

f(x) =

{1 , falls x ∈ I ∩ Q,0 , falls x ∈ I \ Q.

Dann sieht man leicht, dass ||f − g|| ≥ 1/2 fur jedes g ∈ T(I,R) und damit ist fkeine Regelfunktion.

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12 Integration von Regelfunktionen 93

Lemma 12.4 Sei f ∈ R(I,K), sei {gn}n≥p eine Folge von Treppenfunktionen,

die gleichmaßig gegen f konvergiert, und fur jedes n ≥ p setze xn =∫ b

af . Dann

konvergiert die Folge {xn}n≥p. Ist ferner {hn}n≥q eine weitere Folge aus T(I,K),

die gleichmaßig gegen f konvergiert, so ist limn→∞

∫ b

ahn = lim

n→∞

∫ b

agn.

Beweis Sei ε > 0; dann gibt es ein N ≥ p, so dass |f(x) − gn(x)| < ε/4(b − a)fur alle x ∈ I, n ≥ N und damit gilt ||f − gn|| ≤ ε/4(b− a) fur alle n ≥ N . Furalle m, n ≥ N ist also

|xn − xm| =∣∣∣

∫ b

a

gn −∫ b

a

gm

∣∣∣ =

∣∣∣

∫ b

a

(gn − gm)∣∣∣ ≤ (b− a)||gn − gm||

= (b− a)(||f − gn|| + ||f − gm||

)≤ ε/2 < ε ,

und dies zeigt, dass {xn}n≥p eine Cauchy-Folge ist. Damit konvergiert {xn}n≥p

(da jede Cauchy-Folge in K konvergiert). Das gleiche Argument zeigt auch, dass

limn→∞

∫ b

ahn = limn→∞

∫ b

agn fur jede weitere Folge {hn}n≥q aus T(I,K), die

gleichmaßig gegen f konvergiert.

Sei f ∈ R(I,K) eine Regelfunktion; nach Lemma 12.4 gibt es dann ein eindeutiges

Element α ∈ K, so dass α = limn→∞

∫ b

agn fur jede Folge {gn}n≥p aus R(I,K),

die gleichmaßig gegen f konvergiert. α heißt das Cauchy-Riemannsche Integralvon f und wird mit

∫ b

af (oder etwa

∫ b

af(x) dx) bezeichnet. (Es gibt hier kein

Problem mit dieser Schreibweise: Fur Treppenfunktionen stimmt das Cauchy-Riemannsche Integral offensichtlich mit dem fur Treppenfunktionen definiertenelementaren Integral uberein.)

Satz 12.6 Die Abbildung f 7→∫ b

af von R(I,K) nach K ist linear, d.h.

∫ b

a

(λf + µg) = λ

∫ b

a

f + µ

∫ b

a

g

fur alle f, g ∈ R(I,K) und alle λ, µ ∈ K. Ferner gilt |∫ b

af | ≤ (b−a)||f || fur alle

f ∈ R(I,K).

Beweis Seien f, g ∈ R(I,K) und λ, µ ∈ K. Es gibt also eine Folge {fn}n≥1

(bzw. {gn}n≥1) aus T(I,K), die gleichmaßig gegen f (bzw. gegen g) konvergiert.Wie im Beweis fur Satz 12.3 konvergiert dann die Folge von Treppenfunktionen{λfn + µgn}n≥1 gleichmaßig gegen λf + µg, und daraus folgt, dass

∫ b

a

(λf + µg) = limn→∞

∫ b

a

(λfn + µgn) = limn→∞

(

λ

∫ b

a

fn + µ

∫ b

a

gn

)

= λ limn→∞

∫ b

a

fn + µ limn→∞

∫ b

a

gn = λ

∫ b

a

f + µ

∫ b

a

g .

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12 Integration von Regelfunktionen 94

Damit ist∫ b

a(λf + µg) = λ

∫ b

af + λ

∫ b

ag. Sei nun ε > 0; da die Folge {fn}n≥1

gleichmaßig gegen f konvergiert und∫ b

af = limn→∞

∫ b

afn, gibt es ein m ≥ 1, so

dass |f(x)− fm(x)| < ε/2(b− a) fur alle x ∈ I und |∫ b

af −

∫ b

afm| < ε/2. Daraus

ergibt sich, dass

∣∣∣

∫ b

a

f∣∣∣ <

∣∣∣

∫ b

a

fm

∣∣∣+ ε/2 ≤ (b− a)||fm|| + ε/2

≤ (b− a)(||f || + ε/2(b− a)

)+ ε/2 = (b− a)||f || + ε

und daher ist |∫ b

af | ≤ (b− a)||f ||.

Lemma 12.5 Das Produkt fg von Regelfunktionen f, g ∈ R(I,K) ist wiedereine Regelfunktion.

Beweis Setze c = ||f || + ||g||+ 1 und sei ε > 0; dann gibt es Treppenfunktionenu, v ∈ T(I,K) mit ||f − u|| ≤ min{ε/c, 1} und ||g − v|| ≤ ε/c. Nun ist uv eineTreppenfunktion und fur alle x ∈ I gilt

|f(x)g(x) − u(x)v(x)| = |(f(x) − u(x))g(x) + (g(x) − v(x))u(x)|≤ |f(x) − u(x)||g(x)| + |g(x) − v(x)|u(x)| ≤ ||f − u|| · ||g||+ ||g − v|| · ||u||≤ ||f − u|| · ||g||+ ||g − v|| · (||f || + ||f − u||)≤ ||f − u|| · ||g||+ ||g − v|| · (||f || + 1) ≤ ε .

Damit ist ||fg − uv|| ≤ ε, und dies zeigt, dass fg eine Regelfunktion ist.

Lemma 12.6 Sind f, g ∈ R(I,R) reelle Regelfunktionen mit f ≤ g (d.h., mit

f(x) ≤ g(x) fur alle x ∈ I), so ist∫ b

af ≤

∫ b

ag.

Beweis Setze h = g − f und sei ε > 0; dann gibt es eine Treppenfunktionu ∈ T(I,R) mit ||h − u|| ≤ ε/(b − a). Setze nun v = max{u, 0}; dann ist auchv ∈ T(I,R) und ||h − v|| ≤ ε/(b − a), da |h(x) − v(x)| ≤ |h(x) − u(x)| fur alle

x ∈ I. Aber∫ b

av ≥ 0, da v ≥ 0, und damit ist

∫ b

a

h ≥∫ b

a

(h− v) ≥ −∣∣∣

∫ b

a

(h− v)∣∣∣ ≥ −(b− a)||h− v|| ≥ −ε .

Folglich ist∫ b

ah ≥ 0 und daher

∫ b

af ≤

∫ b

ag.

Satz 12.7 (Mittelwertsatz der Integralrechnung) Sei f : I → R stetig undsei g ∈ R(I,R) eine Regelfunktion mit g ≥ 0. Dann gibt es ξ ∈ I, so dass

∫ b

a

f(x)g(x) dx = f(ξ)

∫ b

a

g(x) dx .

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12 Integration von Regelfunktionen 95

Beweis Nach Satz 7.9 und Satz 8.2 ist f(I) ein beschranktes abgeschlossenesIntervall; es gibt also α, β ∈ R mit α ≤ β, so dass f(I) = [α, β]. Fur alle x ∈ Iist dann αg(x) ≤ f(x)g(x) ≤ βg(x) und daraus folgt nach Lemma 12.6, dass

α

∫ b

a

g(x) dx =

∫ b

a

αg(x) dx ≤∫ b

a

f(x)g(x) dx ≤∫ b

a

βg(x) dx = β

∫ b

a

g(x) dx .

Da∫ b

ag(x) dx ≥ 0, gibt es nun γ ∈ [α, β], so dass

∫ b

af(x)g(x) dx = γ

∫ b

ag(x) dx.

Aber f(I) = [α, β] und damit gibt es ein ξ ∈ I mit f(ξ) = γ, d.h. mit

∫ b

a

f(x)g(x) dx = f(ξ)

∫ b

a

g(x) dx .

Satz 12.7 wird oft angewendet mit g = 1; in diesem speziellen Fall besagt derSatz: Sei f : I → R eine stetige Abbildung; dann gibt es ξ ∈ I, so dass

∫ b

a

f(x) dx = f(ξ)(b− a) .

Sei U = (a0, . . . , an) eine Unterteilung von I und sei S = (ξ1, . . . , ξn), wobeiξk ∈ R mit ξk ∈ [ak−1, ak] fur jedes k = 1, . . . , n. Dann heißt das Paar Z = (U ,S)eine markierte Unterteilung von I. Die Zahl max{ak − ak−1 : 1 ≤ k ≤ n} wirddann mit µ(Z) bezeichnet und heißt die Feinheit von Z.

Sei f : I → K eine Abbildung und Z = (U ,S) eine markierte Unterteilung von Imit U = (a0, . . . , an) und S = (ξ1, . . . , ξn). Dann heißt

S(f,Z) =n∑

k=1

f(ξk)(ak − ak−1)

die Riemannsche Summe von f bezuglich Z.

Satz 12.8 Sei f ∈ R(I,K) eine Regelfunktion. Zu jedem ε > 0 gibt es dann ein

δ > 0, so dass∣∣∫ b

af − S(f,Z)

∣∣ < ε fur alle markierten Unterteilungen Z von I

mit µ(Z) < δ.

Beweis Zunachst wird der Satz fur den speziellen Fall einer Treppenfunktionbewiesen:

Lemma 12.7 Sei f ∈ T(I,K) eine Treppenfunktion. Zu jedem ε > 0 gibt es

dann ein δ > 0, so dass∣∣∫ b

af − S(f,Z)

∣∣ < ε fur alle markierten Unterteilungen

Z von I mit µ(Z) < δ.

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12 Integration von Regelfunktionen 96

Beweis Da f beschrankt ist, gibt es M ≥ 0, so dass |f(x)| ≤ M fur alle x ∈ I;sei V = (b0, . . . , bm) eine Unterteilung fur f . Sei nun Z = (U ,S) eine markierteUnterteilung von I mit U = (a0, . . . , an) und S = (ξ1, . . . , ξn). Definiere eineAbbildung g : I → K durch

g(x) =

{f(ξk) , falls x ∈ [ak−1, ak) fur ein k = 1, . . . , n,f(b) , falls x = b.

Dann ist g eine Treppenfunktion, U ist eine Unterteilung fur g und

S(f,Z) =n∑

k=1

f(ξk)(ak − ak−1) =

U

g =

∫ b

a

g .

Fur jedes k = 1, . . . , n definiere hk : I → K durch

hk(x) =

{f(x) − g(x) , falls x ∈ [ak−1, ak),

0 , sonst;

dann ist hk eine Treppenfunktion und es gilt∑n

k=1 hk = f − g, da g(b) = f(b).Sei G = {1 ≤ k ≤ n : bj ∈ [ak−1, ak) fur ein j = 1, . . . , m}; dann ist |G| ≤ mund man sieht leicht, dass hk = 0, falls k /∈ G. Nach Satz 12.2 ist also

∫ b

a

f − S(f,Z) =

∫ b

a

f −∫ b

a

g =

∫ b

a

(f − g) =

∫ b

a

n∑

k=1

hk =∑

k∈G

∫ b

a

hk

und daraus ergibt sich, dass

∣∣∣

∫ b

a

f − S(f,Z)∣∣∣ ≤

k∈G

∣∣∣

∫ b

a

hk

∣∣∣ ≤

k∈G

2M(ak − ak−1) ≤ 2Mmµ(Z) .

Folglich ist∣∣∫ b

af − S(f,Z)

∣∣ < ε fur alle markierten Unterteilungen Z von I mit

µ(Z) < ε/(2Mm).

Beweis fur Satz 12.8: Sei f ∈ R(I,K) eine Regelfunktion und ε > 0. Danngibt es eine Treppenfunktion g ∈ T(I,K) mit ||f − g|| ≤ ε/3(b − a) und nach

Lemma 12.7 gibt es ein δ > 0, so dass∣∣∫ b

ag − S(g,Z)

∣∣ < ε/3 fur alle markierten

Unterteilungen Z von I mit µ(Z) < δ. Sei nun Z eine markierte Unterteilungvon I mit µ(Z) < δ. Dann gilt

∣∣∣

∫ b

a

f − S(f,Z)∣∣∣ ≤

∣∣∣

∫ b

a

(f − g)∣∣∣+∣∣∣

∫ b

a

g − S(g,Z)∣∣∣+∣∣S(g − f,Z)

∣∣

< ||f − g||(b− a) + ε/3 + ||f − g||(b− a) = ε ,

da |S(h,Z)| ≤ ||h||(b− a) fur alle h ∈ B(I,K).

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12 Integration von Regelfunktionen 97

Lemma 12.8 Sei f ∈ R(I,K), seien c, d ∈ I mit c < d und setze J = [c, d].Dann ist die Einschrankung fJ von f auf J eine Regelfunktion.

Beweis Sei ε > 0; es gibt also g ∈ T(I,K) mit ||f − g|| < ε. Aber dann is dieEinschrankung gJ von g auf J eine Treppenfunktion und ||fJ−gJ || ≤ ||f−g|| < ε.Damit ist fJ eine Regelfunktion.

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13 Integration und Differentiation

Im Folgenden sei I ein beliebiges Intervall, das mehr als einen Punkt enthalt.Eine Abbildung f : I → K heißt nun Regelfunktion, wenn fur alle c, d ∈ I mitc < d die Einschrankung f[c,d] von f auf [c, d] ein Element von R([c, d],K) ist.Wenn I = [a, b], so stimmt diese Definition nach Lemma 12.8 mit der Definitionin Kapitel 12 uberein.

Die Menge aller Regelfunktionen f : I → K wird mit R(I,K) bezeichnet. NachSatz 12.3 ist R(I,K) ein Untervektorraum von Abb(I,K). (Man merke aber, dassRegelfunktionen im Allgemeinen nicht beschrankt sind.) Da die Einschrankungeiner stetigen Abbildung wieder stetig ist, ist jede stetige Abbildung f : I → K

eine Regelfunktion. Genauso sind monotone Abbildungen von I nach R Regel-funktionen.

Sei f ∈ R(I,K) und seien a, b ∈ I mit a < b. Dann schreibt man fast immer∫ b

af

statt∫ b

af[a,b] fur das Integral von f[a,b].

Lemma 13.1 Fur jedes f ∈ R(I,K) und alle a, c, b ∈ I mit a < c < b ist

∫ b

a

f =

∫ c

a

f +

∫ b

c

f .

Beweis Sei {gn}n≥p eine Folge von Treppenfunktionen aus T([a, b],K), die gleich-maßig gegen f[a,b] konvergiert. Dann ist {(gn)[a,c]}n≥p (bzw. {(gn)[c,b]}n≥p) eineFolge aus T([a, c],K) (bzw. aus T([c, b],K)), die gleichmaßig gegen f[a,c] (bzw.

gegen f[c,b]) konvergiert. Ferner ist es klar, dass∫ b

agn =

∫ c

agn +

∫ b

cgn fur alle

n ≥ p, und daraus ergibt sich, dass

∫ b

a

f = limn→∞

∫ b

a

gn = limn→∞

∫ c

a

gn + limn→∞

∫ b

c

gn =

∫ c

a

f +

∫ b

c

f .

Fur f ∈ R(I,K) ist es nutzlich, das ‘Integral’∫ b

af durch

∫ b

a

f = −∫ a

b

f

zu definieren, falls a, b ∈ I mit b < a. Fur jedes a ∈ I setzt man schließlich

∫ a

a

f = 0 .

98

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13 Integration und Differentiation 99

Lemma 13.2 Sei f ∈ R(I,K); fur alle a, b, c ∈ I gilt dann

∫ b

a

f =

∫ c

a

f +

∫ b

c

f .

Beweis Ubung.

Ist K = C, so wird I stets als Teilmenge von C betrachtet.

Satz 13.1 Sei f ∈ R(I,K), a ∈ I und definiere eine Abbildung F : I → K durch

F (x) =

∫ x

a

f(t) dt .

Ist f an der Stelle b ∈ I stetig, so ist F im Punkt b differenzierbar, und es giltF ′(b) = f(b).

Beweis Sei c ∈ I mit c > b; dann gilt

F (c) − F (b)

c− b− f(b) =

1

c− b

(∫ c

a

f −∫ b

a

f)

− f(b)

=1

c− b

∫ c

b

f(t) dt− f(b) =1

c− b

(∫ c

b

f(t) dt−∫ c

b

f(b) dt)

=1

c− b

∫ c

b

(f(t) − f(b)) dt

und daraus ergibt sich, dass∣∣∣∣

F (c) − F (b)

c− b− f(b)

∣∣∣∣≤ ||(f − f(b))[b,c]|| = sup{|f(x) − f(b)| : b ≤ x ≤ c} .

Ist dagegen d ∈ I mit d < b, so gilt genauso, dass∣∣∣∣

F (d) − F (b)

d− b− f(b)

∣∣∣∣≤ sup{|f(x) − f(b)| : d ≤ x ≤ b} .

Sei nun {xn}n≥p eine Folge aus I \ {b}, die gegen b konvergiert und sei ε > 0. Daf an der Stelle b stetig ist, gibt es ein δ > 0, so dass |f(x) − f(b)| < ε/2 fur allex ∈ I mit |x − b| < δ, und dann gibt es ein N ≥ p, so dass |xn − b| < δ fur allen ≥ N . Fur alle n ≥ N ist also

∣∣∣∣

F (xn) − F (x)

xn − x− f(x)

∣∣∣∣≤ sup{|f(x) − f(b)| : |x− b| < δ} ≤ ε/2 < ε

und folglich ist limn→∞(F (xn) − F (b))/(xn − b) = f(b). Dies zeigt, dass F imPunkt b differenzierbar ist mit F ′(b) = f(b).

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13 Integration und Differentiation 100

Sei f : I → K eine Abbildung. Eine differenzierbare Abbildung F : I → K heißtdann Stammfunktion von f , wenn F ′ = f . Nach Satz 13.1 besitzt jede stetigeAbbildung f : I → K eine Stammfunktion: Wahle einen Punkt a ∈ I; dann istdie Abbildung x 7→

∫ x

af(t) dt eine Stammfunktion von f .

Ist F : I → K eine Stammfunktion einer Abbildung f : I → K, so ist F + c aucheine Stammfunktion von f fur jedes c ∈ K, da (F + c)′ = F ′ + 0 = F ′ = f . DieUmkehrung ist ebenfalls richtig:

Satz 13.2 Sind F und G beide Stammfunktionen einer Abbildung f : I → K, soist F −G konstant.

Beweis Setze h = F −G; dann ist h differenzierbar und

h′ = (F −G)′ = F ′ −G′ = f − f = 0 .

Ist K = R, so folgt unmittelbar aus Satz 11.7, dass h konstant ist. Ist dagegenK = C, so folgt aus Lemma 10.6 und Satz 11.7, dass Reh und Imh konstantsind, und damit ist h selbt auch konstant.

Beispiele: (1) Seien c0, . . . , cn ∈ K (mit n ≥ 0) und sei f : I → K gegeben durch

f(x) = c0 + c1x+ c2x2 + · · ·+ cnx

n .

Dann ist nach Satz 10.6 die Abbildung

x 7→ c0x+1

2c1x

2 +1

3c2x

3 + · · · + 1

n+ 1cnx

n+1

eine Stammfunktion von f .

(2) Nehme an, dass 0 /∈ I und fur n ≥ 1 sei gn : I → R gegeben durch

gn(x) =1

xn.

Ist n ≥ 2, so ist nach Satz 10.7 die Abbildung

x 7→ − 1

(n− 1)xn−1

eine Stammfunktion von gn. Nach Satz 10.9 ist der naturliche Logarithmus logeine Stammfunktion von g1.

(3) Die Exponentialfunktion exp ihre eigene Stammfunktion.

(4) Die Funktion sin ist eine Stammfunktion von cos und die Funktion − cos eineStammfunktion von sin.

Das folgende Ergebnis wird Fundamentalsatz der Differential- und Integralrech-nung genannt:

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13 Integration und Differentiation 101

Satz 13.3 Sei f : I → K eine stetige Abbildung und F : I → K eine Stamm-funktion von f . Dann gilt fur alle a, b ∈ I

∫ b

a

f(t) dt = F (b) − F (a) .

Beweis Definiere eine Abbildung G : I → K durch G(x) =∫ x

af(t) dt. Nach

Satz 13.1 ist G eine Stammfunktion von f , und daraus folgt nach Satz 13.2, dassG− F konstant ist. Insbesondere ist G(b) − F (b) = G(a) − F (a) und damit ist

F (b) − F (a) = G(b) −G(a) =

∫ b

a

f(t) dt−∫ a

a

f(t) dt =

∫ b

a

f(t) dt .

Im folgenden Satz seien a, b ∈ R mit a < b und setze J = [a, b].

Satz 13.4 (Substitutionsregel) Sei f : I → K stetig und sei g : J → R einestetig differenzierbare Abbildung mit g(J) ⊂ I. Dann gilt

∫ b

a

f(g(t))g′(t) dt =

∫ g(b)

g(a)

f(x) dx .

Beweis Sei F : I → K eine Stammfunktion von f . Nach der Kettenregel ist danndie zusammengesetzte Abbildung F ◦ g : J → K differenzierbar und

(F ◦ g)′(t) = F ′(g(t))g′(t) = f(g(t))g′(t)

fur alle t ∈ J . Daraus ergibt sich nach Satz 13.3, dass

∫ b

a

f(g(t))g′(t) dt =

∫ b

a

(F ◦ g)′(t) dt

= (F ◦ g)(b) − (F ◦ g)(a) = F (g(b)) − F (g(a)) =

∫ g(b)

g(a)

f(x) dx ,

da F ◦ g (bzw. F ) eine Stammfunktion von (F ◦ g)′ (bzw. von f) ist.

Beispiel: Nach Satz 13.4 mit f(x) =√

1 − x2 und g(t) = sin t ist

∫ 1

−1

√1 − x2 dx =

∫ sin(π/2)

sin(−π/2)

√1 − x2 dx

=

∫ π/2

−π/2

1 − sin2(t) cos(t) dt =

∫ π/2

−π/2

cos2(t) dt

=1

2

∫ π/2

−π/2

(1 + cos(2t)) dt =1

2

2+

1

2sin(π) +

π

2− 1

2sin(−π)

)

2.

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13 Integration und Differentiation 102

Satz 13.5 (Partielle Integration) Seien f, g : I → K stetig differenzierbareAbbildungen. Dann gilt fur alle a, b ∈ I mit a < b

∫ b

a

f(x)g′(x) dx = f(b)g(b) − g(a)g(a) −∫ b

a

g(x)f ′(x) dx .

Beweis Sei h = fg das Produkt der Abbildungen f und g. Nach der Produktregel(Satz 10.3 (2)) ist h differenzierbar und h′(x) = f(x)g′(x) + f ′(x)g(x) fur allex ∈ I. Damit ist h eine Stammfunktion von fg′ + f ′g und daraus folgt nachSatz 13.3, dass∫ b

a

f(x)g′(x) dx+

∫ b

a

f ′(x)g(x) dx =

∫ b

a

(f(x)g′(x) + f ′(x)g(x)) dx

= h(b) − h(a) = f(b)g(b) − f(a)g(a) .

Satz 13.6 (Trapezregel) Sei f : I → R zweimal stetig differenzierbar undseien a, b ∈ I mit a < b. Dann gibt es ξ ∈ [a, b], so dass

∫ b

a

f(x) dx =b− a

2(f(a) + f(b)) − (b− a)3

12f ′′(ξ) .

Beweis Definere eine Abbildung g : I → R durch g(x) = (x − a)(b − x). Dannist g(a) = g(b) = 0, g′(x) = a + b − 2x und g′′(x) = −2. Durch zweimaligeAnwendung von Satz 13.5 erhalt man also, dass

∫ b

a

g(x)f ′′(x) dx = g(b)f ′(b) − g(a)f ′(a) −∫ b

a

g′(x)f ′(x) dx

= −∫ b

a

g′(x)f ′(x) dx = −g′(b)f(b) + g′(a)f(a) +

∫ b

a

g′′(x)f(x) dx

= (b− a)(f(a) + f(a)) − 2

∫ b

a

f(x) dx

und daraus ergibt sich, dass∫ b

a

f(x) dx =b− a

2

(f(a) + f(a)

)− 1

2

∫ b

a

(x− a)(b− x)f ′′(x) dx .

Aber g(x) = (x − a)(b − x) ≥ 0 fur alle x ∈ [a, b], und folglich gibt es nachSatz 12.11 ein ξ ∈ [a, b], so dass

∫ b

a

(x− a)(b− x)f ′′(x) dx = f ′′(ξ)

∫ b

a

(x− a)(b− x) dx

= f ′′(ξ)

∫ b

a

(x− a)(b− x) dx = f ′′(ξ)

∫ b−a

0

y(b− a− y) dy

= f ′′(ξ)

∫ b−a

0

((b− a)y − y2

)dy

= f ′′(ξ)((b− a)

2(b− a)2 − 1

3(b− a)3

)

=(b− a)3

6f ′′(ξ) .

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13 Integration und Differentiation 103

Satz 13.7 Sei f : I → R zweimal stetig differenzierbar und seien a, b ∈ I mita < b. Sei n ∈ N mit n ≥ 1 und setze h = (b− a)/n. Dann ist

∣∣∣∣∣

∫ b

a

f(x) dx− h

(

1

2f(a) +

n−1∑

k=1

f(a+ kh) +1

2f(b)

)∣∣∣∣∣≤ M

12(b− a)h2 ,

wobei M = sup{|f ′′(x)| : x ∈ [a, b]}.

Beweis Nach Satz 13.6 ist fur jedes k = 0, . . . , n− 1

∣∣∣∣∣

∫ a+(k+1)h

a+kh

f(x) dx− h

2

(f(a+ kh) + f(a+ (k + 1)h)

)

∣∣∣∣∣≤ M

12h3 ,

und daraus ergibt sich, dass

∣∣∣∣∣

∫ b

a

f(x) dx− h(1

2f(a) +

n−1∑

k=1

f(a+ kh) +1

2f(b)

)∣∣∣∣∣

=

∣∣∣∣∣

n−1∑

k=0

(∫ a+(k+1)h

a+kh

f(x) dx− h

2

(f(a+ kh) + f(a+ (k + 1)h)

))∣∣∣∣∣

≤n−1∑

k=0

∣∣∣∣∣

∫ a+(k+1)h

a+kh

f(x) dx− h

2

(f(a+ kh) + f(a+ (k + 1)h)

)

∣∣∣∣∣

≤n−1∑

k=0

M

12h3 = n

M

12h3 =

M

12(b− a)h2 .

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14 Das Riemannsche Integral

Fur reellwertige Abbildungen wird manchmal das Riemannsche Integral ein-gefuhrt. Dieses ist etwas allgemeiner als das Integral fur Regelfunktionen, hataber den Nachteil, dass es sich nicht richtig verallgemeinern laßt. Dieses Kapitelist fur diejenigen, die das Riemannsche Integral kennenlernen wollen.

Sei X eine Menge und f : X → R eine Abbildung. Dann werden Abbildungenf+, f− und |f | von X nach R definiert durch

f+(x) =

{f(x) , falls f(x) > 0,

0 , falls f(x) ≤ 0,f−(x) =

{−f(x) , falls f(x) < 0,

0 , falls f(x) ≥ 0,

und |f |(x) = |f(x)| fur alle x ∈ X. Dann gilt f+ ≥ 0, f− ≥ 0, f = f+ − f− undf+ + f− = |f |. Ferner ist f+ = max{f, 0} und f− = max{−f, 0} = −min{f, 0}.Fur jedes A ⊂ X sei χA : X → R die Abbildung, die definiert ist durch

χA(x) =

{1 , falls x ∈ A,0 , falls x /∈ A;

χA heißt die charakteristische Funktion von A.

Im Folgenden sei I das Intervall [a, b], wobei a, b ∈ R mit a < b.

Lemma 14.1 (1) Fur jedes f ∈ T(I,R) sind f+, f− und |f | Treppenfunktionen.

(2) Sind f, g ∈ T(I,R), so sind die Abbildungen fg, max{f, g} und min{f, g}auch Treppenfunktionen.

Beweis Dies ist klar.

Sei f ∈ T(I,R); nach Lemma 14.1 (2) ist |f | ∈ T(I,R), und nach Satz 12.2 ist∣∣∫ b

af∣∣ ≤

∫ b

a|f |, da f ≤ |f | und −f ≤ |f |.

Lemma 14.2 Sei f : I → R eine beschrankte Abbildung. Dann sind aquivalent:

(1) Zu jedem ε > 0 gibt es g, h ∈ T(I,R) mit g ≤ f ≤ h, so dass∫ b

ah−∫ b

ag < ε.

(2) Es gibt monotone Folgen {gn}n≥1 und {hn}n≥1 von Treppenfunktionen mit

g1 ≤ g2 ≤ · · · ≤ f ≤ · · · ≤ h2 ≤ h1, so dass limn→∞

∫ b

agn = lim

n→∞

∫ b

ahn.

(3) Es gilt sup{ b∫

a

g : g ∈ T(I,R) mit g ≤ f}

= inf{ b∫

a

h : h ∈ T(I,R) mit f ≤ h}.

104

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14 Das Riemannsche Integral 105

Beweis (2) ⇒ (3) und (3) ⇒ (1) sind klar.

(1) ⇒ (2): Zu jedem n ≥ 1 gibt es nach (1) Treppenfunktionen g′n, h′n ∈ T(I,R)

mit g′n ≤ f ≤ h′n und∫ b

ah′n −

∫ b

ag′n < 1/n. Setze gn = max{g′k : 1 ≤ k ≤ n} und

hn = min{h′k : 1 ≤ k ≤ n}; nach Lemma 14.1 (2) sind gn, hn ∈ T(I,R) und

g1 ≤ g2 ≤ · · · ≤ f ≤ · · · ≤ h2 ≤ h1 .

Ferner ist∫ b

ahn −

∫ b

agn < 1/n, da g′n ≤ gn ≤ hn ≤ h′n, und daraus ergibt sich,

dass limn→∞

∫ b

agn = lim

n→∞

∫ b

ahn.

Eine beschrankte Abbildung f : I → R heißt Riemann integrierbar, wenn eine(und damit alle) der aquivalenten Bedingungen in Lemma 14.2 fur f gilt. DieMenge der Riemann integrierbaren Abbildungen von I nach R wird mit Ri(I)bezeichnet. Es ist klar, dass T(I,R) ⊂ Ri(I).

Lemma 14.3 Fur jedes f ∈ Ri(I) ist −f auch Riemann integrierbar.

Beweis Sei ε > 0; nach Lemma 14.2 (1) gibt es Treppenfunktionen g, h ∈ T(I,R)

mit g ≤ f ≤ h, so dass∫ b

ah −

∫ b

ag < ε. Nach Satz 12.1 sind dann aber −h und

−g Treppenfunktionen, und −h ≤ −f ≤ −g. Ferner gilt nach Satz 12.2, dass∫ b

a−g −

∫ b

a−h = −

∫ b

ag +

∫ b

ah =

∫ b

ah −

∫ b

ag < ε, und daraus ergibt sich nach

Lemma 14.2 (1), dass −f Riemann integrierbar ist.

Satz 14.1 Ri(I) ist ein Untervektorraum von B(I,R).

Beweis Da 0 ∈ T(I,R), ist 0 Riemann integrierbar. Seien f, g ∈ Ri(I) undλ, µ ∈ R mit λ ≥ 0, µ ≥ 0. Nach Lemma 14.2 (2) gibt es dann monotone Folgen{sn}n≥1, {tn}n≥1, {un}n≥1 und {vn}n≥1 von Treppenfunktionen mit

s1 ≤ s2 ≤ · · · ≤ f ≤ · · · ≤ t2 ≤ t1 und u1 ≤ u2 ≤ · · · ≤ g ≤ · · · ≤ v2 ≤ v1 ,

so dass limn→∞

∫ b

asn = limn→∞

∫ b

atn und limn→∞

∫ b

aun = limn→∞

∫ b

avn. Fur jedes

n ≥ 1 setze ϕn = λsn + µun und ψn = λtn + µvn. Nach Satz 12.1 sind ϕn und ψn

Treppenfunktionen und ϕ1 ≤ ϕ2 ≤ · · · ≤ λf + µg ≤ · · · ≤ ψ2 ≤ ψ1; ferner giltnach Satz 12.2 und Satz 5.5, dass

limn→∞

∫ b

a

ϕn = limn→∞

∫ b

a

(λsn + µun) = λ limn→∞

∫ b

a

sn + µ limn→∞

∫ b

a

un

= λ limn→∞

∫ b

a

tn + µ limn→∞

∫ b

a

vn = limn→∞

∫ b

a

(λtn + µvn) = limn→∞

∫ b

a

ψn .

Daraus folgt nach Lemma 14.2 (2), dass λf + µg Riemann interierbar ist. Dieszeigt, zusammen mit Lemma 14.3, dass λf +µg Riemann integrierbar ist fur allef, g ∈ Ri(I) und alle λ, µ ∈ R.

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14 Das Riemannsche Integral 106

Lemma 14.4 (1) Die Abbildungen f+, f− und |f | sind Riemann integrierbar furjedes f ∈ Ri(I).

(2) Sind f und g Riemann integrierbar, so sind max{f, g} und min{f, g} auchRiemann integrierbar.

Beweis (1) Sei ε > 0; da f ∈ Ri(I), gibt es g, h ∈ T(I,R) mit g ≤ f ≤ h, so dass∫ b

ah −

∫ b

ag < ε. Nach Lemma 14.1 (1) sind dann g+ und h+ Treppenfunktionen

und es gilt g+ ≤ f+ ≤ h+. Ferner ist∫ b

ah+ −

∫ b

ag+ < ε, da h+ − g+ ≤ h − g,

und dies zeigt, dass f+ Riemann integrierbar ist. Damit sind f− = f+ − f und|f | = f+ + f− auch Riemann integrierbar.

(2) Dies folgt unmittelbar aus (1) und Satz 14.1, da max{f, g} = 12(f+g+|f−g|)

und min{f, g} = 12(f + g − |f − g|).

Lemma 14.5 Das Produkt fg von Riemann integrierbaren Abbildungen f, g istRiemann integrierbar.

Beweis Nach Lemma 14.4 (1) sind die Abbildungen f+, f−, g+ und g− Riemannintegrierbar und fg = (f+ − f−)(g+ − g−) = f+g+ + f−g−− f+g−− f−g+. Darausfolgt nach Satz 14.1, dass es genugt, den Satz fur den Fall zu beweisen, dass f ≥ 0und g ≥ 0.

Da f und g beschrankt sind, gibt es N > 0, so dass f(x) ≤ N und g(x) ≤ Nfur alle x ∈ I. Sei ε > 0 und setze δ = ε/2N ; nach Lemma 14.2 (1) gibt es dann

s, t, u, v ∈ T(I,R) mit s ≤ f ≤ t und u ≤ g ≤ v , so dass∫ b

at −

∫ b

as < δ

und∫ b

av −

∫ b

au < δ. Da ferner 0 ≤ f ≤ N und 0 ≤ g ≤ N , konnen nach

Lemma 14.1 (2) s, t, u und v so gewahlt werden, dass 0 ≤ s, t ≤ N , 0 ≤ u undv ≤ N . Nun sind nach Lemma 14.1 (2) su und tv Treppenfunktionen, es giltsu ≤ fg ≤ tv, da 0 ≤ s ≤ f ≤ t und 0 ≤ u ≤ g ≤ v und nach Satz 12.2 ist

∫ b

a

tv −∫ b

a

su =

∫ b

a

(tv − su) =

∫ b

a

(tv − tu+ tu− su)

=

∫ b

a

t(v − u) +

∫ b

a

(t− s)u ≤∫ b

a

N(v − u) +

∫ b

a

(t− s)N

= N(∫ b

a

v −∫ b

a

u+

∫ b

a

t−∫ b

a

s)

< 2Nδ = ε .

Daraus ergibt sich nach Lemma 14.2 (1), dass fg Riemann integriebar ist.

Satz 14.2 Ist {fn}n≥p eine Folge aus Ri(I), die gleichmaßig gegen f : I → R

konvergiert, so ist f Riemann integrierbar. Insbesondere ist jede RegelfunktionRiemann integrierbar, d.h., R(I,R) ⊂ Ri(I).

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14 Das Riemannsche Integral 107

Beweis Sei ε > 0 und setze η = ε/4(b − a); da {fn}n≥p gleichmaßig gegen fkonvergiert, gibt es ein m ≥ p, so dass |fm(x) − f(x)| < η fur alle x ∈ I, und da

fm ∈ Ri(I), gibt es u, v ∈ T(I,R) mit u ≤ fm ≤ v, so dass∫ b

av−

∫ b

au < ε/2. Sei

g = u − η, h = v + η; dann sind g und h Treppenfunktionen mit g ≤ f ≤ h, dag = u− η ≤ fm − η ≤ f ≤ fm + η ≤ v + η = h, und es gilt

∫ b

a

h−∫ b

a

g =

∫ b

a

(v+η)−∫ b

a

(u−η) =

∫ b

a

v−∫ b

a

u+

∫ b

a

2η < ε/2+2η(b−a) = ε .

Damit ist f Riemann integrierbar.

Beispiel: Sei f : I → R die Abbildung, die definiert ist durch

f(x) =

{1 , falls x ∈ I ∩ Q,0 , falls x ∈ I \ Q.

Sind g, h ∈ T(I,R) Treppenfunktionen mit g ≤ f ≤ h, so sieht man leicht, dass∫ b

ag ≤ 0 und

∫ b

ah ≥ b − a; insbesondere ist

∫ b

ah −

∫ b

ag ≥ b − a. Folglich ist f

nicht Riemann integrierbar.

Es gibt aber Riemann integrierbare Abbildungen, die keine Regelfunktionen sind.Ein typisches Beispiel ist χC mit C einer Cantor-Menge. (Man siehe: Aufgaben3 und 4, Blatt 1, Analysis II.)

Lemma 14.6 Fur jedes f ∈ Ri(I) gibt es eine eindeutige Zahl κ(f) ∈ R, so

dass∫ b

ag ≤ κ(f) fur jede Treppenfunktion g ≤ f und

∫ b

ah ≥ κ(f) fur jede

Treppenfunktion h ≥ f .

Beweis Dies folgt unmittelbar aus Lemma 14.2 (3), und es gilt naturlich

sup{∫ b

a

g : g ∈ T(I,R) mit g ≤ f}

= κ(f) = inf{∫ b

a

h : h ∈ T(I,R) mit f ≤ h}.

Lemma 14.7 Sei {fn}n≥p eine Folge aus Ri(I), die gleichmaßig gegen f ∈ Ri(I)konvergiert. Dann konvergiert die Folge {κfn}n≥p gegen κ(f). Insbesondere ist

κ(f) =∫ b

af fur jede Regelfunktion f ∈ R(I,R).

Beweis Ubung.

Sei f ∈ Ri(I); die in Lemma 14.6 definierte Zahl κ(f) heißt das Riemannsche

Integral von f und wird mit∫ b

af bezeichnet. (Es gibt kein Problem mit dieser

Schreibweise, da nach Lemma 14.7 das Riemannsche Integral fur Regelfunktionenmit dem fur Regelfunktionen definierten Integral ubereinstimmt.)

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14 Das Riemannsche Integral 108

Lemma 14.8 Fur jedes f ∈ Ri(I) ist∫ b

a−f = −

∫ b

af .

Beweis Ubung.

Satz 14.3 Die Abbildung f 7→∫ b

af von Ri(I) nach R ist linear, d.h.

∫ b

a

(λf + µg) = λ

∫ b

a

f + µ

∫ b

a

g

fur alle f, g ∈ Ri(I) und alle λ, µ ∈ R, und monoton, d.h.∫ b

af ≤

∫ b

ag, falls

f, g ∈ Ri(I) mit f ≤ g.

Beweis Seien f, g ∈ Ri(I) und λ, µ ∈ R mit λ ≥ 0, µ ≥ 0. Sei ε > 0 und setzeδ = ε/(λ + µ + 1); nach Lemma 14.2 (1) gibt es dann s, t, u, v ∈ T(I,R) mit

s ≤ f ≤ t und u ≤ g ≤ v, so dass∫ b

at −

∫ b

as < δ und

∫ b

av −

∫ b

au < δ. Nun ist

nach Satz 12.1 λt+µv eine Treppenfunktion und λt+µv ≥ λf +µg. Folglich gilt

∫ b

a

(λf + µg) − λ

∫ b

a

f − µ

∫ b

a

g ≤∫ b

a

(λt+ µv) − λ

∫ b

a

s− µ

∫ b

a

u

= λ(∫ b

a

t−∫ b

a

s)

+ µ(∫ b

a

v −∫ b

a

u)

≤ λδ + µδ < ε .

Aber λs+ µu ist auch eine Treppenfunktion, und λs+ µu ≤ λf + µg. Also ist

∫ b

a

(λf + µg) − λ

∫ b

a

f − µ

∫ b

a

g ≥∫ b

a

(λs+ µu) − λ

∫ b

a

t− µ

∫ b

a

v

= λ(∫ b

a

s−∫ b

a

t)

+ µ(∫ b

a

u−∫ b

a

v)

≥ −λδ − µδ > −ε .

Daraus ergibt sich, dass∫ b

a(λf +µg) = λ

∫ b

af +λ

∫ b

ag. Dies zeigt, zusammen mit

Lemma 14.8, dass∫ b

a(λf + µg) = λ

∫ b

af + λ

∫ b

ag fur alle f, g ∈ Ri(I) und alle

λ, µ ∈ R. Die Abbildung f 7→∫ b

af von Ri(I) nach R ist also linear.

Seien nun f, g ∈ Ri(I) mit f ≤ g. Dann ist g − f ∈ Ri(I) und g − f ≥ 0. Aber 0

ist eine Treppenfunktion und folglich ist 0 =∫ b

a0 ≤

∫ b

a(g− f) =

∫ b

ag−

∫ b

af , d.h.

∫ b

af ≤

∫ b

ag.

Sei f ∈ Ri(I) Riemann integrierbar; nach Lemma 14.4 (1) ist dann |f | auchRiemann integrierbar und nach Satz 14.3 ist (da f ≤ |f | und −f ≤ |f |)

∣∣∣

∫ b

a

f∣∣∣ ≤

∫ b

a

|f | .

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14 Das Riemannsche Integral 109

Satz 14.4 (Mittelwertsatz der Integralrechnung) Sei f : I → R stetig undsei g ∈ Ri(I) Riemann integrierbar mit g ≥ 0. Dann gibt es ξ ∈ I, so dass

∫ b

a

f(x)g(x) dx = f(ξ)

∫ b

a

g(x) dx .

Beweis Dieser ist identisch mit dem Beweis fur Satz 12.7.

Satz 14.5 Sei f ∈ Ri(I) Riemann integrierbar. Zu jedem ε > 0 gibt es dann ein

δ > 0, so dass∣∣∫ b

af − S(f,Z)

∣∣ < ε fur alle markierten Unterteilungen Z von I

mit µ(Z) < δ.

Beweis Sei f ∈ Ri(I) und ε > 0. Nach Lemma 14.2 gibt es dann g, h ∈ T(I,R)

mit g ≤ f ≤ h, so dass∫ b

ah −

∫ b

ag < ε/2, und nach Lemma 12.7 gibt es δ > 0,

so dass∣∣∫ b

ag − S(g,Z)

∣∣ < ε/2 und

∣∣∫ b

ah − S(h,Z)

∣∣ < ε/2 fur alle markierten

Unterteilungen Z von I mit µ(Z) < δ. Sei nun Z eine markierte Unterteilungvon I mit µ(Z) < δ. Es ist dann klar, dass S(g,Z) ≤ S(f,Z) ≤ S(h,Z) unddaraus ergibt sich, dass

∫ b

a

f − S(f,Z) ≤∫ b

a

h− S(g,Z)

=

∫ b

a

h−∫ b

a

g +

∫ b

a

g − S(g,Z) < ε/2 + ε/2 = ε ,

und genauso gilt

∫ b

a

f − S(f,Z) ≥∫ b

a

g − S(h,Z)

=

∫ b

a

g −∫ b

a

h +

∫ b

a

h− S(h,Z) > −ε/2 − ε/2 = −ε .

Damit ist∣∣∫ b

af − S(f,Z)

∣∣ < ε.

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Literatur

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[4] Dieudonne, J. (1960): Foundations of Modern Analysis. Academic Press

[5] Forster, O. (1980): Analysis 1. Differential- und Integralrechnung einerVeranderlichen. vieweg

[6] Forster, O., Wessoly, R. (1986): Ubungsbuch zu Analysis 1. wieweg

[7] Hardy, G.H. (1902): A Course of Pure Mathematics. Cambridge UniversityPress

[8] Konigsberger, K. (1999): Analysis 1. Springer

[9] Landau, E. (1930): Grundlagen der Analysis. Chelsea

[10] Lang, S. (1993): Real and Functional Analysis. Springer(fruher: Real Analysis. Addison-Wesley 1968)

[11] Lang, S. (1983): Undergraduate Analysis. Springer(fruher: Analysis I. Addison-Wesley 1968)

[12] Walter, W. (1999): Analysis I. Springer

110

Page 111: Ein Skript f¨ur Analysis I - math.uni-bielefeld.depreston/teaching/analysis/files/analone.pdf · Element von Yauch zu Xgeh¨ort, d.h., wenn y∈ Xf¨ur jedes y∈ Y. Insbesondere

Index

Abbildung, 48n-mal differenzierbare, 77n-mal stetig differenzierbare, 77affine, 68beschrankte, 89differenzierbare, 68, 74, 80gleichmaßig stetige, 59konvexe, 84linksseitig differenzierbare, 78rechtsseitig differenzierbare, 77Riemann integrierbare, 105stetige, 49

abgeleitete Großer-Relation, 14abgeschlossene Menge, 53Ableitung, 68, 76

linksseitige, 78rechtsseitige, 78zweite, 77

absolut konvergente Reihe, 42Addition, 12affine Abbildung, 68angeordneter Korper, 13

Balloffener, 52

beschrankt, 22, 29beschrankte Abbildung, 89beschrankte Folge, 32Betrag, 16, 28

Cauchy-Folge, 36Cauchy-Riemannsches Integral, 93charakteristische Funktion, 104Cosinus-Funktion, 61

differenzierbare Abbildung, 68, 74, 80

Einheitimaginare, 28

Eins, 12Einselement, 12

erweiterte Zahlengerade, 25Eulersche Formel, 61Eulersche Zahl, 45Exponentialfunktion, 45Exponentialreihe, 45Extremum

lokales, 80

Feinheit einer Unterteilung, 95Folge, 30

beschrankte, 32konvergente, 30, 54monoton fallende, 34monoton wachsende, 34monotone, 34streng monoton fallende, 34streng monoton wachsende, 34

folgenkompakte Menge, 58Formel

Eulersche, 61Funktion, 48

charakteristische, 104Funktionenfolge

gleichmaßig konvergente, 91

geometrische Reihe, 39gleichmaßig stetige Abbildung, 59Großer-Relation

abgeleitete, 14Grenzwert, 30

Haufungspunkt, 67harmonische Reihe, 40

imaginare Einheit, 28Imaginarteil, 28Infimum, 19Innere, 80innerer Punkt, 80Integral, 90

Cauchy-Riemannsches, 93

111

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Index 112

Riemannsches, 107Intervall, 24

Korper, 12angeordneter, 13

Korper der reellen Zahlen, 21Korpererweiterung, 19

ordnungsvollstandige, 21Korperhomomorphismus, 21Korperisomorphismus, 21komplexe Zahl

konjugierte, 28konjugierte komplexe Zahl, 28konvergente Folge, 30, 54konvexe Abbildung, 84

Limes, 30Limes inferior, 37Limes superior, 37linear approximierbar, 68linksseitige Ableitung, 78Logarithmus

naturlicher, 57lokales Extremum, 80lokales Maximum, 80lokales Minimum, 80

markierte Unterteilung, 95Maximum, 23

lokales, 80Menge

abgeschlossene, 53folgenkompakte, 58offene, 52perfekte, 74

Minimum, 23lokales, 80

monoton fallende Folge, 34monoton wachsende Folge, 34monotone Folge, 34Multiplikation, 12

nach oben beschrankt, 19nach unten beschrankt, 19

naturlicher Logarithmus, 57Null, 12Nullelement, 12

obere Schranke, 19offene Menge, 52offener Ball, 52

perfekte Menge, 74Punkt

innerer, 80

Realteil, 28rechtsseitige Ableitung, 78Regelfunktion, 91, 98Reihe

absolut konvergente, 42geometrische, 39harmonische, 40unendliche, 39

Riemann integrierbar, 105Riemannsche Summe, 95Riemannsches Integral, 107

Schrankeobere, 19untere, 19

Sinus-Funktion, 61Stammfunktion, 100stetige Abbildung, 49Subtraktion, 13Summe

einer Reihe, 39Riemannsche, 95

Supremum, 19

Teilfolge, 34Treppenfunktion, 89

unendliche Reihe, 39untere Schranke, 19Unterkorper, 26Unterteilung, 89

markierte, 95

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Index 113

Verfeinerung einer Unterteilung, 89

Zahlengeradeerweiterte, 25

zweite Ableitung, 77