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Funktionentheorie 1 Sommersemester 2018 Hendrik Kasten 25. Mai 2018

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Funktionentheorie 1

Sommersemester 2018

Hendrik Kasten

25. Mai 2018

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Inhaltsverzeichnis

1 Komplexe Zahlen 3

1.1 Definition der komplexen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

1.2 Konjugation, Absolutbetrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

1.3 Geometrische Veranschaulichung der Multiplikation . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1.4 Elementare analytische Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

1.5 Der Limes und elementare topologische Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

2 Möbiustransformationen 21

2.1 Die Gruppe der Möbiustransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

2.2 Möbiustransformationen und verallgemeinerte Kreise . . . . . . . . . . . . . . . . 24

3 Komplexwertige Funktionen 32

3.1 Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

3.2 Komplex differenzierbare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

3.3 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

3.4 Die Exponentialfunktion und die trigonometrischen Funktionen im Komplexen . 44

3.5 Der komplexe Logarithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

4 Komplexe Integrationstheorie 54

4.1 Komplexe Kurvenintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

4.2 Der Cauchy’sche Integralsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

4.3 Die Cauchy’schen Integralformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

4.4 Direkte Folgerungen aus den Cauchy’schen Integralformeln . . . . . . . . . . . . 73

1

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Inhaltsverzeichnis 2

5 Lokale Abbildungseigenschaften holomorpher Funktionen 83

5.1 Elementargebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

5.2 Der Identitätssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

5.3 Der Satz von der Gebietstreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

6 Singularitäten 94

6.1 Klassifikation der Singularitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

6.2 Laurentzerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

6.3 Meromorphe Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

7 Der Residuensatz 110

7.1 Die Umlaufzahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

7.2 Das Residuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

7.3 Der Residuensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

7.4 Funktionentheoretische Anwendung des Residuensatzes . . . . . . . . . . . . . . 116

7.5 Berechnung reeller Integrale mithilfe des Residuensatzes . . . . . . . . . . . . . . 119

8 Konforme Abbildungen 125

8.1 Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

8.2 Der Kleine Riemann’sche Abbildungssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

8.3 Geometrische Charakterisierung von Elementargebieten . . . . . . . . . . . . . . 134

9 Bildbereiche holomorpher Funktionen 141

9.1 Der Satz von Bloch (?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

9.2 Der Kleine Satz von Picard (?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

9.3 Der Satz von Schottky (?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

9.4 Der Große Satz von Picard (?) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

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KAPITEL 1

Komplexe Zahlen

1.1 Definition der komplexen Zahlen

Die Gleichung x2 = −1 hat über den reellen Zahlen R keine Lösung. Wir wollen letztere daherin geeigneter Weise zu einem größeren Bereich erweitern, in dem diese Gleichung Lösungenhat. Naiv geht man dabei wie folgt vor:

Sei i ein Symbol mit i2 = −1. Dann heißen Ausdrücke der Form

a + bi, mit a, b ∈ R

komplexe Zahlen. Zwei solcher Zahlen a+ bi und a′+ b′i seien gleich genau dann, wenn a = a′

und b = b′ gelten. Wir können komplexe Zahlen mit der üblichen Vektoraddition

(a + bi) + (c + di) = (a + c) + (b + d)i

in R2 addieren und nach der folgenden Vorschrift multiplizieren

(a + bi)(c + di) = ac + adi + bci + bdi2 = (ac− bd) + (ad + bc)i.

Folgendes fällt uns sofort auf:

� Die gerade konstruierten komplexen Zahlen enthalten die reellen Zahlen als Teilmenge

{a + bi komplexe Zahl | b = 0}.

� Da wir als Addition die Vektoraddition in R2 gewählt haben, bilden die komplexen Zah-len mit der Addition eine kommutative Gruppe.

� Es gilt 1 · (a + bi) = a + bi, wir haben also mit 1 ein multiplikatives neutrales Element.

3

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1.1. Definition der komplexen Zahlen 4

� Ist a + bi 6= 0 (d. h. a 6= 0 oder b 6= 0), so gilt:

(a + bi) ·(

aa2 + b2 −

ba2 + b2 i

)= 1,

so dass a + bi ein multiplikatives Inverses hat.

Wir wollen diese naiven Betrachtungen nun streng mathematisch nachvollziehen.

Definition 1.1. Ein Körper K ist eine nichtleere Menge K zusammen mit zwei Abbildungen

+ :

{K× K → K,(a, b) 7→ a + b

und · :

{K× K → K,(a, b) 7→ a · b,

für welche die folgenden Rechenregeln gelten.

(i) (K,+) ist eine kommutative Gruppe mit neutralem Element 0K.

(ii) (K r {0K}, ·) ist eine kommutative Gruppe mit neutralem Element 1K.

(iii) Für alle a, b, c ∈ K gilt das Distributivitätsgesetz

a(b + c) = ab + ac.

Beispiel. Q, R, Z/pZ für eine Primzahl p.

Unser erstes Ziel ist nun analog unserer Vorüberlegung die Menge R2 zu einem Körper zumachen. Dafür setzen wir

(a, b) + (c, d) := (a + c, b + d) und (a, b) · (c, d) := (ac− bd, ad + bc).

Proposition 1.2. R2 mit obiger Addition und Multiplikation ist ein Körper. Dieser heißt Körper derkomplexen Zahlen und wird mit C bezeichnet.

Beweis. Dass (R2,+) mit der obigen Addition eine kommutative Gruppe mit neutralem Ele-ment (0, 0) ist, haben wir schon vorhin eingesehen. Weiter ist (R2 r {(0, 0)}, ·) eine kommuta-tive Gruppe mit neutralem Element (1, 0),

denn: Zunächst ist die Multiplikation wegen

(a, b) ·((a′, b′) · (a′′, b′′)

)= (a, b) · (a′a′′ − b′b′′, a′b′′ + b′a′′)=(a(a′a′′ − b′b′′)− b(a′b′′ + b′a′′), a(a′b′′ + b′a′′) + b(a′a′′ − b′b′′)

)=((aa′ − bb′)a′′ − (ab′ + ba′)b′′, (ab′ + ba′)a′′ + (aa′ − bb′)b′′

)= (aa′ − bb′, ab′ + ba′) · (a′′, b′′)=((a, b) · (a′, b′)

)· (a′′, b′′).

für alle (a, b), (a′, b′), (a′′, b′′) ∈ R2 assoziativ. Die Kommutativität folgt sofort aus der Definiti-on und der Kommutativität der reellen Multiplikation. Mit

(1, 0) · (c, d) = (c, d)

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5 Kapitel 1. Komplexe Zahlen

ist (1, 0) das neutrale Element der Multiplikation. Ist schließlich (a, b) 6= (0, 0), also a 6= 0 oderb 6= 0, so gilt

(a, b) ·(

aa2 + b2 ,

−ba2 + b2

)= (1, 0),

so dass mit(

aa2+b2 , −b

a2+b2

)ein multiplikatives Inverses zu (a, b) gefunden ist. #

Es gilt in R2 auch Distributivität, denn für alle (a, b), (a′, b′), (a′′, b′′) ∈ R2 gilt

(a, b) ·((a′, b′) + (a′′, b′′)

)= (a, b) · (a′ + a′′, b′ + b′′)= (a(a′ + a′′)− b(b′ + b′′), a(b′ + b′′) + b(a′ + a′′))= (aa′ + aa′′ − bb′ − bb′′, ab′ + ab′′ + ba′ + ba′′)=((aa′ − bb′) + (aa′′ − bb′′), (ab′ + ba′) + (ab′′ + ba′′)

)= (aa′ − bb′, ab′ + ba′) + (aa′′ − bb′′, ab′′ + ba′′)= (a, b) · (a′, b′) + (a, b) · (a′′, b′′).

Insgesamt folgt die Proposition.

Bemerkung 1.3. Die Abbildung

ϕ :

{R → C,a 7→ (a, 0)

ist ein injektiver Körperhomomorphismus, also eine injektive Abbildung mit

ϕ(a) + ϕ(b) = ϕ(a + b) und ϕ(a · b) = ϕ(a) · ϕ(b)

und ϕ(1) = (1, 0). Arbeitet man in C, so schreibt man statt (a, 0) mit a ∈ R einfach a.

Wir wollen im Folgenden das Element (0, 1) als i bezeichnen. Es gilt dann die erhoffte Rechen-regel

i2 = i · i = (0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) = −1.

Wir wollen nun einsehen, dass unsere naive Konstruktion der komplexen Zahlen durchaus ihreBerechtigung hat und zeigen dafür die folgende

Proposition 1.4. Jedes z ∈ C hat eine eindeutige Darstellung z = a + bi mit a, b ∈ R. Wir werdenvon nun an komplexe Zahlen z ∈ C auch in der Form z = a + bi schreiben und meinen damit immerdiese eindeutige Darstellung.

Beweis. Sei z = (a, b) ∈ C. Dann gilt:

(a, b) = (a, 0) + (0, b)= (a, 0) · (1, 0) + (b, 0) · (0, 1)= a · 1 + bi= a + bi

Es ist klar, dass diese Darstellung eindeutig ist.

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1.2. Konjugation, Absolutbetrag 6

Bemerkung 1.5. Für eine komplexe Zahl z = a + bi ∈ C gilt

(a + bi) · (a− bi) = a2 + b2 ∈ R.

Ist hierbei z 6= 0, gilt daher

1z=

1a + bi

=a− bi

(a + bi)(a− bi)=

aa2 + b2 −

ba2 + b2 i.

Beispiel.5

3 + 4i=

5(3− 4i)(3 + 4i)(3− 4i)

=35− 4

5i.

Definition 1.6. Sei z = a + bi ∈ C. Dann heißt a der Realteil und b der Imaginärteil von z. Wirschreiben

a =: Re(z) und b =: Im(z).

Es ist offensichtlich eine komplexe Zahl z ∈ C genau dann 0, wenn sowohl ihr Realteil als auchihr Imaginärteil verschwinden.

Wie in jedem Körper lässt sich in den komplexen Zahlen eine lineare Gleichung

α · z + β = 0 mit α, β ∈ C und α 6= 0

eindeutig lösen durch z = − βα . Die quadratische Gleichung

z2 + 1 = 0

hat in C genau die beiden Lösungen i und −i; das unterscheidet C zum Beispiel von R undwar die Motivation für die Konstruktion von C gewesen. Wie wir später feststellen werden giltjedoch noch mehr: In den komplexen Zahlen hat jedes Polynom n-ten Grades mit komplexenKoeffizienten genau n Lösungen.1 Das ist der Fundamentalsatz der Algebra 4.30.

1.2 Konjugation, Absolutbetrag

Definition 1.7. Sei z = a + bi in C. Dann heißt

z := a− bi

die zu z komplex konjugierte Zahl.

1Wenn man Nullstellen mit ihren Vielfachheiten zählt. Man kann auch unmissverständlicher sagen, jedes Poly-nom mit komplexen Koeffizienten zerfalle über C in Linearfaktoren.

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7 Kapitel 1. Komplexe Zahlen

Abbildung 1.1: Die komplexe Konjugation lässt sich geometrisch als Spiegelung an der x-Achseveranschaulichen.

Proposition 1.8. Für alle z, w ∈ C gelten die folgenden Rechenregeln der komplexen Konjugation.

(i) z + w = z + w, z w = z w,

(ii) z ∈ R⇐⇒ z = z,

(iii) z = z,

(iv) Re(z) = z+z2 , Im(z) = z−z

2i .

Beweis. Seien für den gesamten Beweis z = a + bi und w = c + di. Eigenschaft (i) gilt, denn

z + w = (a + c) + (b + d)i = (a + c)− (b + d)i = (a− bi) + (c− di) = z + w

zw = (ac− bd) + (ad + bc)i = ac− bd− (ad + bc)i = (a− bi)(c− di) = z w.

Um Eigenschaft (ii) einzusehen betrachten wir

z− z = a + bi− (a− bi) = 2bi.

Dies ist offenbar genau dann Null, wenn z reell ist.

Eigenschaft (iii) ist klar.

Eigenschaft (iv) gilt wegen

z + z2

=a + bi + a− bi

2= a = Re(z) und

z− z2i

=a + bi− (a− bi)

2i= b = Im(z).

Definition 1.9. Sei z = a + bi ∈ C. Dann heißt

|z| :=√

a2 + b2

der Absolutbetrag von z.

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1.2. Konjugation, Absolutbetrag 8

Abbildung 1.2: Identifiziert man C mit R2, also z = a + bi mit (a, b), so ist |z| der EUKLID’scheAbstand2 von (a, b) zu (0, 0). Im Beispiel gilt |4 + 3i| = ||(4, 3)|| =

√42 + 32 = 5.

Proposition 1.10. Für alle z, w ∈ C gelten die folgenden Rechenregeln des Absolutbetrags.

(i) Positive Definitheit: |z| ≥ 0 und |z| = 0⇐⇒ z = 0,

(ii) Multiplikativität: |zw| = |z| · |w|,(iii) Dreiecksungleichungen: |z + w| ≤ |z|+ |w| und |z− w| ≥

∣∣|z| − |w|∣∣,(iv) Zusammenhang mit der komplexen Konjugation: |z| = |z| und |z|2 = z z.

Beweis. Die positive Definitheit (i) und die Eigenschaften (iv) sind klar.

Wir zeigen nun als nächstes die Multiplikativität (ii). Hierfür genügt es |zw|2 = (|z| · |w|)2 zuzeigen. Es gilt nach (iv)

|zw|2 = zw · zw = z z · w w = |z|2 · |w|2.

Es verbleiben die Dreiecksungleichungen (iii). Für die erste derselben genügt es |z + w|2 ≤(|z|+ |w|)2 zu zeigen. Die beiden Seiten der Behauptung lassen sich umformen zu

|z + w|2 = (z + w)(z + w) = |z|2 + |w|2 + z w + w z = |z|2 + |w|2 + 2Re(z w),

(|z|+ |w|)2 = |z|2 + |w|2 + 2|z| |w| = |z|2 + |w|2 + 2|z w|,

so dass die erste Dreiecksungleichung aus Re(z w) ≤ |z w| folgt. Es gilt aber Re(u) ≤ |u| füralle u ∈ C,

denn: Für u = a + bi gilt Re(u) = a ≤√

a2 + b2 = |u|. #

Die zweite Dreiecksungleichung folgt aus der ersten,

denn: Nach der ersten Dreiecksungleichung gilt insbesondere |z + w| − |w| ≤ |z|. Ersetzen wirnun z und w durch z′ − w′ und w′, so erhalten wir

|z′| − |w′| ≤ |z′ − w′|.2Euklid von Alexandria (ca. 360-280 v. Chr.)

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9 Kapitel 1. Komplexe Zahlen

Ersetzen wir z und w stattdessen durch w′ − z′ und z′, bekommen wir

|w′| − |z′| ≤ |w′ − z′|.

Wegen |u| = | − u| für alle u ∈ C folgt die Behauptung aus diesen beiden Ungleichungen. #

Bemerkung 1.11. Wie wir schon vorhin in Bemerkung 1.5 gesehen haben, gilt für alle z ∈ Cr {0}

1z=

zz z

=z|z|2 .

1.3 Geometrische Veranschaulichung der Multiplikation

Die Addition komplexer Zahlen können wir uns schön als Vektorraumaddition in R2 vorstel-len. Bei der Multiplikation müssen wir ein bisschen länger nachdenken.

Sei z ∈ Cr {0}. Wir schreiben zur Veranschaulichung

z = |z| z|z|

und beachten, dass z|z| Absolutbetrag 1 hat. Setzen wir nun z

|z| = x + yi mit x, y ∈ R, so giltdeshalb x2 + y2 = 1, und (x, y) ∈ R2 liegt auf dem Einheitskreis. Daher gibt es ein ϕ ∈ R mitx = cos ϕ und y = sin ϕ. Setzt man r := |z|, so gilt insgesamt

z = r(cos ϕ + i sin ϕ).

Auf diese Weise lässt sich eine beliebige komplexe Zahl in Polarkoordinaten ausdrücken.

Definition 1.12. Die reelle Zahl ϕ heißt das Argument von z und wird mit arg z bezeichnet.3 Wähltman −π < ϕ ≤ π, so heißt diese Wahl des Arguments Hauptwert des Arguments. Diesen werdenwir mit Arg z bezeichnen.

Wir wollen nun untersuchen, wie das Produkt zweier komplexer Zahlen in Polarkoordinaten-schreibweise aussieht. Seien dafür

z = r(cos ϕ + i sin ϕ) und w = s(cos ψ + i sin ψ)

zwei komplexe Zahlen mit r, s ∈ R>0 und ϕ, ψ ∈ R. Dann gilt

z · w = rs(cos ϕ + i sin ϕ)(cos ψ + i sin ψ)

= rs((cos ϕ cos ψ− sin ϕ sin ψ) + i(sin ϕ cos ψ + cos ϕ sin ψ)

)= rs

(cos(ϕ + ψ) + i sin(ϕ + ψ)

).

3Man beachte, dass ϕ = arg z nur modulo 2π bestimmt ist, und mit ϕ somit ist auch ϕ + 2π n für alle n ∈ Z einArgument von z ist.

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1.3. Geometrische Veranschaulichung der Multiplikation 10

Komplexe Zahlen werden also multipliziert, indem man ihre Beträge multipliziert und ihreArgumente (modulo 2π) addiert.

Ein Spezialfall dieses Multiplikationsgesetzes ist offensichtlich das n-fache Potenzieren kom-plexer Zahlen vom Absolutbetrag 1. Hier ergibt sich

(cos ϕ + i sin ϕ)n = cos nϕ + i sin nϕ für alle n ∈ N und alle ϕ ∈ R.

Multipliziert man die linke Seite nach dem binomischen Lehrsatz aus und vergleicht, folgenhieraus die DE MOIVRE’schen Formeln.4

Beispiel. Für n = 2 und beliebiges x ∈ R gelten

cos 2x = cos2 x− sin2 x und sin 2x = 2 cos x sin x.

Proposition 1.13. Sei n ∈ N und a ∈ Cr {0}. Dann hat die Gleichung zn = a genau n verschiedeneLösungen z in C. Ist a = r(cos ϕ + i sin ϕ), so werden diese gegeben durch

z = n√

r(

cos(

ϕ

n+ k

n

)+ i sin

n+ k

n

))mit k ∈ {0, 1, 2, . . . , n− 1}. (1.1)

Beweis. Wir wollen zunächst zeigen, dass die Gleichung zn = a mindestens n Lösungen hat,indem wir diese konkret angeben. Sei dafür z wie in (1.1) definiert. Dann gilt

zn = r(

cos(ϕ + k · 2π) + i sin(ϕ + k · 2π))= r(cos ϕ + i sin ϕ) = a

Also löst jedes solche z die Gleichung zn = a. Andererseits sind alle diese Lösungen paarweiseverschieden,

denn: Nehmen wir an, es gälte

n√

r(

cos(

ϕ

n+ k

n

)+ i sin

n+ k

n

))= n√

r(

cos(

ϕ

n+ k′

n

)+ i sin

n+ k′

n

))mit 0 ≤ k, k′ < n. Dann folgte nach Division durch n

√r

cos(

ϕ

n+ k

n

)= cos

n+ k′

n

)sin(

ϕ

n+ k

n

)= sin

n+ k′

n

).

Es existiert also eine ganze Zahl m ∈ Zmit

ϕ

n+ k

n=

ϕ

n+ k′

n+ 2 π ·m

und insbesondere (k− k′) = m · n. Wegen 0 ≤ k, k′ < n ist dies nur möglich, wenn m = 0 undsomit k = k′ gilt. #

4Abraham de Moivre (1667 - 1754)

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11 Kapitel 1. Komplexe Zahlen

Wir wollen nun zeigen, dass die Gleichung zn = a auch höchstens n komplexe Lösungen hat.Das ist trivial, wenn man weiß, dass ein beliebiges Polynom P vom Grad n aus dem Polynom-ring C[X] in einer Variablen über C höchstens n Nullstellen hat.5

Wir können die Aussage aber auch direkt zeigen. Sei dafür z ∈ Cmit zn = a. Wegen a 6= 0 undder Nullteilerfreiheit von C gilt dann z 6= 0, so dass wir z in der Form z = s(cos ψ + i sin ψ) mits ∈ R>0 und ψ ∈ R schreiben können. Aus zn = a folgt sofort |z|n = |a|, also s = n

√r. Damit

und wieder aus zn = a folgt weiter

cos nψ + i sin nψ = (cos ψ + i sin ψ)n = cos ϕ + i sin ϕ.

Wie oben gibt es also ein m ∈ Z mit nψ = ϕ + 2πm, also ψ = ϕn + m 2π

n . Wir schreiben m =` n + k mit ` ∈ Z und 0 ≤ k < n. Es folgt

ψ =ϕ

n+ 2π`+ k

n,

also

cos ψ = cos(

ϕ

n+ k

n

)und sin ψ = sin

n+ k

n

).

Insgesamt haben wir eingesehen, dass z von der Form (1.1) ist.

Beispiel. Der wichtigste Spezialfall hierfür ist der Fall a = 1. Lösungen von zn = 1 nennt man n-teEinheitswurzeln. Sie spielen unter anderem in der Zahlentheorie eine wichtige Rolle.

Abbildung 1.3: Die dritten Einheitswurzeln sind 1, $ und $2 mit $ = − 12 +

√3

2 i.

5Diese Tatsache gilt auch, wenn man C durch einen beliebigen Körper K ersetzt, und lässt sich mit ein paarAlgebrakenntnissen wie folgt einsehen: Sei α ∈ K eine beliebige Nullstelle von P. In K[X] gilt der Satz von derPolynomdivision, so dass es für n ≥ 1 eindeutig bestimmte Polynome Q, R ∈ K[X] gibt mit

P(X) = Q(X) · (X− α) + R(X) und deg R < deg(X− α) = 1.

Insbesondere ist R ∈ K[X] konstant und verschwindet sogar, wie man durch Einsetzen von X = α einsieht. Es gibtdaher ein größtes 1 ≤ r ≤ n, für dass es ein Polynom Q ∈ K[X] vom Grad n− r gibt mit

P(X) = Q(X) · (X− α)r.

Jede von α verschiedene Nullstelle β ∈ K von P(X) ist wegen der Nullteilerfreiheit von K auch eine Nullstellevon Q(X), so dass wir induktiv eine Zerlegung von P(X) als Produkt von höchstens n Linearfaktoren und einemnullstellenfreien Restpolynom erhalten. P(X) hat also höchstens n Nullstellen in K.

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1.4. Elementare analytische Geometrie 12

1.4 Elementare analytische Geometrie

In der ebenen Geometrie untersucht man geometrische Objekte, die durch Gleichungen in denkartesischen Koordinaten x, y gegeben werden. Ist z = x + yi ∈ C, so gelten nach Proposition1.8

x = Rez =z + z

2und y = Imz =

z− z2i

.

Jede solche Gleichung lässt sich daher auch als Gleichung in den Termen z und z auffassen.Dies ist oft sehr nützlich.

Beispiel. (a) Der Kreis Kr(z0) vom Radius r mit Mittelpunkt z0 = x0 + y0i wird durch |z− z0| = rbeschrieben, denn

|z− z0| = r ⇐⇒ |z− z0|2 = r2 ⇐⇒ (x− x0)2 + (y− y0)

2 = r2.

(b) Geraden werden durch die Parametergleichung z = a + bt mit t ∈ R gegeben, wobei a, b ∈ Cmit b 6= 0 fest gewählt sind.

(c) Jede solche Gerade bestimmt zwei Halbebenen

{z ∈ C | Im(

z− ab

)< 0} bzw. {z ∈ C | Im

(z− a

b

)> 0}.

denn: z ∈ C liegt genau dann auf der Geraden a + bt, wenn z−ab eine reelle Zahl ist, also wenn

Im( z−a

b

)= 0 gilt. #

Abbildung 1.4: Für a = 2 + 3i und b = 1 + i erhalten wir die Bedingung Im( z−ab ) = y−x−1

2 ≷ 0.

Proposition 1.14. Kreise und Geraden wie im Beispiel lassen sich einheitlich schreiben als

α|z|2 + βz + βz + γ = 0 mit α, γ ∈ R, β ∈ C und ββ > αγ.

Im Fall der Kreislinien ist α 6= 0, im Fall der Geraden ist α = 0. Die Menge aller solchen Kreise undGeraden nennt man auch verallgemeinerte Kreise.

Beweis. Sei Kr(z0) mit r ∈ R>0 und z0 ∈ C ein Kreis wie in Punkt (a) des Beispiels. Es gilt

|z− z0| = r ⇐⇒ |z− z0|2 = r2 ⇐⇒ |z|2 − z0z− z0z + (|z0|2 − r2) = 0.

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13 Kapitel 1. Komplexe Zahlen

Mit α := 1 6= 0, β := −z0 und γ := |z0|2 − r2 ist wegen

ββ = |z0|2 > |z0|2 − r2 = αγ

eine Darstellung von Kr(z0) wie gewünscht gefunden.

Sei nun z = a + bt mit a, b ∈ C, b 6= 0 und t ∈ R eine Gerade wie im Punkt (b) des Beispiels.Diese bringen wir wie folgt in ihre HESSE’sche Normalform.6 Zunächst sehen wir ein, dass wirohne Einschränkung annehmen können, a liege in biR. Das stimmt,

denn: Falls a in bR liegt, können wir wegen

{z ∈ C | z = a + bt} = {z ∈ C | z = (a + bt0) + bt} (1.2)

ohne Einschränkung a = 0 annehmen, so dass a insbesondere in biR liegt und nichts zu zeigenist.

Nehmen wir also an, a liege nicht in bR, so dass {a, b} eineR-Basis von C bildet. Schreiben wira = xa + yai und b = xb + ybi, so gilt

ab + ab2

= xaxb + yayb = 〈(xa, ya) | (xb, yb)〉,

wobei 〈· | ·〉 das Standardskalarprodukt im R-Vektorraum R2 bezeichne. Mit dem Orthogo-nalisierungsverfahren von E. SCHMIDT7 finden wir ein t0 ∈ R, für welches das Skalarproduktvon (xb, yb) und (xa + xbt0, ya + ybt0) verschwindet. Mit der obigen Identifikation und mit (1.2)können wir daher ohne Einschränkung

a b + a b2

= 0

annehmen. Das ist äquivalent zu ab = −ab und somit zu a ∈ biR, was zu zeigen war. #

Wegen a ∈ biR gilt insbesondere abi ∈ R, und es folgt

{z ∈ C | z = a + bt} = {z ∈ C | ib

z =abibb

+ it}

= {z ∈ C | Re(ib

z) =aib}

= {z ∈ C | ib

z +−ib

z− 2aib

= 0}.

Mit α := 0, β := ib und γ := − 2ai

b folgt wegen

ββ = |b|−2 > 0 = αγ

die Behauptung.6Otto Hesse (1811 - 1874) wirkte übrigens 1856 - 1868 an der Heidelberger Universität.7Erhard Schmidt (1876 - 1959)

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1.5. Der Limes und elementare topologische Begriffe 14

1.5 Der Limes und elementare topologische Begriffe

Wie in der reellen Analysis wollen wir in diesem Abschnitt die Konvergenz von Folgen undReihen untersuchen und eine Topologie auf der Menge der komplexen Zahlen C einführen.

Definition 1.15. Eine Folge (zn)n∈N komplexer Zahlen heißt konvergent, wenn es ein z ∈ C gibt, sodass es für alle ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N gibt mit

|zn − z| < ε für alle n > N.

Dann heißt z der Limes von (zn)n∈N; man schreibt

z = limn→∞

zn.

Der Limes hat die aus der Analysis bekannten Verträglichkeiten. Darüber hinaus vertauscht erauch mit der komplexen Konjugation, Real- oder Imaginärteilbildung und dem Absolutbetrag.

Lemma 1.16. (i) Der Grenzwert einer konvergenten Folge ist eindeutig bestimmt.

(ii) Konvergente Folgen sind beschränkt, es existiert also ein C > 0 mit

|zn| ≤ C für alle n ∈ N.

(iii) Ist lim zn = z und lim wn = w, so folgt

lim(zn + wn) = z + w und lim(zn · wn) = z · w

(iv) Ist lim zn = z 6= 0 und zn 6= 0 für alle n ∈ N, so folgt lim 1zn

= 1z .

(v) Ist lim zn = z, so folgt

lim zn = z, lim Rezn = Rez,lim |zn| = |z|, lim Imzn = Imz.

Beweis. Die Beweise zu den Punkten (i)-(iv) lassen sich wortwörtlich aus der reellen Analysisübertragen. Es bleibt (v) zu zeigen. Sei also lim zn = z. Dann gilt

|zn − z| = |zn − z| = |zn − z| < ε für alle n > N

und somit lim zn = z. Des Weiteren ist für alle w ∈ C

Rew =w + w

2und Imw =

w− w2i

.

Mit lim zn = z und lim zn = z folgen

lim Rezn = Rez und lim Imzn = Imz

aus (iii). Mit der zweiten Dreiecksungleichung aus Teil (iii) von Proposition 1.10 gilt schließlich

|zn − z| ≥∣∣|zn| − |z|

∣∣.Die letzte zu zeigende Aussage lim |zn| = |z| folgt sofort.

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15 Kapitel 1. Komplexe Zahlen

Genau wie in der reellen Analysis brauchen wir natürlich wieder Konvergenzkriterien für Fol-gen. Das prominenteste unter diesen ist natürlich das Konvergenzkriterium von CAUCHY,8

für das wir den Begriff der Cauchyfolge benötigen. Diese ist hier genauso definiert wie in derreellen Analysis: Eine Folge (an)n∈N heißt eine Cauchyfolge, wenn gilt:

Für alle ε > 0 gibt es ein N = N(ε) ∈ Nmit |an − am| < ε für alle m, n > N.

Das Kriterium lautet dann wieder

Lemma 1.17 (Cauchy’sches Konvergenzkriterium). Eine Folge (zn)n∈N ist genau dann konvergent,wenn sie eine Cauchyfolge ist.

Beweis. Sei zunächst (zn)n∈N konvergent. Dann gibt es für jedes ε > 0 ein N ∈ Nmit

|zn − z| < ε

2für alle n > N.

Es gilt somit für alle m, n > N

|zm − zn| ≤ |zm − z|+ |zn − z| < ε

2+

ε

2= ε,

und (zn)n∈N ist auch eine Cauchyfolge.

Sei nun umgekehrt (zn)n∈N eine Cauchyfolge. Für ein beliebiges w ∈ C gelten

|Rew| ≤ |w| und |Imw| ≤ |w|,

weshalb dann auch(Rezn)n∈N und (Imzn)n∈N

Cauchyfolgen sind.9 Da R vollständig ist, gibt es α, β ∈ R mit lim Rezn = α und lim Imzn = β.Sei nun z := α + βi. Dann gilt

|zn − z| = |Rezn − α + (Imzn − β)i| ≤ |Rezn − α|+ |Imzn − β| n→∞−→ 0,

und die Folge (zn)n∈N konvergiert.

Aus dem Begriff der Folge lässt sich wieder derjenige der Reihe herleiten.

Definition 1.18. Unter der unendlichen Reihe∑∞

ν=1 zν mit zν ∈ C versteht man die Folge (Sn)n∈Nder Partialsummen Sn :=

∑nν=1 zν. Ist diese konvergent, so ist die Reihe konvergent. Ist S = lim Sn,

so schreibt man

S =∞∑

ν=1

zν.

8August Louis Cauchy (1789 - 1857)9Wir betrachten für Re die Abschätzung |Rezm − Rezn| = |Re(zm − zn)| ≤ |zm − zn| und analog für Im.

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1.5. Der Limes und elementare topologische Begriffe 16

Beispiel. Die geometrische Reihe∑∞

n=0 zn für |z| < 1. Für diese gilt

Sn = 1 + z + z2 + . . . + zn =zn+1 − 1

z− 1.

Wegen |z| < 1 gilt limn→∞ zn+1 = 0, also folgt:

∞∑n=0

zn = S = limn→∞

Sn =1

1− z.

Für komplexe Reihen gelten die aus der reellen Analysis bekannten Gesetzmäßigkeiten, wieetwa

� Wenn die Reihe∑∞

n=0 zn konvergiert, dann ist (zn)n∈N eine Nullfolge,

� Wenn die Reihe∑∞

n=0 |zn| konvergiert, dann auch die Reihe∑∞

n=0 zn,

� Majorantenkriterium, Wurzelkriterium, Quotientenkriterium, . . .

Zum Beweis übertrage man wortwörtlich die Beweise der entsprechenden Aussagen aus derreellen Analysis.

Definition 1.19. Die Standardtopologie auf der Menge der komplexen Zahlen C ist wie folgt gegeben.

(a) Seien z0 ∈ C und ε ∈ R>0. Dann heißt

Uε(z0) := {z ∈ C | |z− z0| < ε}

eine (offene) ε-Umgebung von z0.

(b) Sei A ⊆ C und z0 ∈ A. Genau dann heißt z0 ein innerer Punkt von A, wenn A eine ε-Umgebungvon z0 enthält.

(c) Eine Teilmenge A ⊆ C heißt offen, wenn jeder Punkt z0 ∈ A innerer Punkt von A ist. EineTeilmenge A ⊆ C heißt abgeschlossen, falls ihr Komplement Cr A offen ist.

Definition 1.20. (a) Eine Teilmenge A ⊆ C heißt beschränkt, wenn es ein C ∈ R>0 gibt, so dassfür alle z0 ∈ A die Abschätzung |z0| ≤ C gilt.

(b) Eine Teilmenge A ⊆ C heißt kompakt, falls jede offene Überdeckung von A eine endliche Teil-überdeckung besitzt. Nach dem Satz von HEINE-BOREL10 ist dies äquivalent dazu, dass sie ab-geschlossen und beschränkt ist.

Beim Studium komplexer Funktionen werden wir später feststellen, dass viele interessanteFunktionen auf C nur außerhalb einer „kleinen“ Teilmenge von Polstellen definiert sind (vgl.Definition 6.22). Das einfachste Beispiel ist hierbei sicherlich die Funktion

f :

{Cr {0} → C,z 7→ 1

z .(1.3)

10Eduard Heine (1821 - 1881) und Félix Édouard Justin Émile Borel (1871 - 1956)

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17 Kapitel 1. Komplexe Zahlen

Der Betrag von 1z geht für z→ 0 gegen unendlich, ein Verhalten, das allen Polstellen gemein ist.

Möchte man solche Funktionen miteinander verketten, ist es also naheliegend, die komplexenZahlen noch um einen weiteren Punkt „∞“ zu erweitern und Funktionen auf der Menge C :=C∪ {∞} zu betrachten.

Bemerkung 1.21. Die erweiterten komplexen Zahlen C sind kein Körper, so dass nicht einfach alleRechenregeln aus den komplexen Zahlen C übernommen werden können. Wollen wir etwa die Funktionf aus (1.3) als Funktion

f : C→ C

schreiben, müssen wir also gesondert angeben, was mit dem Punkt ∞ geschehen soll. Passend zu unsererAnschauung wählen wir f (0) = ∞ und f (∞) = 0.11

Um Analysis auf der Menge C betreiben zu können, müssen wir wieder sagen, was dort eineoffene Menge sein soll.

Definition 1.22. Eine Teilmenge A ⊆ C heißt offen, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind.

(a) A ∪ C ist offen,

(b) Ist ∞ in A, so gibt es ein ε > 0 mit A ⊇ {z ∈ C | |z| > 1ε } ∪ {∞} =: Uε(∞).

Abbildung 1.5: Anstelle der offenen Umgebungen aus Definition 1.19 betrachten wir für ∞ dasÄußere von Kreisen um den Nullpunkt.

Wir können uns geometrisch C als Kugeloberfläche

S2 = {(x, y, t) ∈ R3 | x2 + y2 + t2 = 1} ∼= {(z, t) ∈ C×R | |z|2 + t2 = 1}

veranschaulichen. Um dies einzusehen, kann man zeigen, dass die durch

σ(z, t) =

{z

1−t für (z, t) 6= (0, 1),∞ für (z, t) = (0, 1).

11Das ist auch die einzige Wahl, für die die Abbildung f : C→ C stetig ist.

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1.5. Der Limes und elementare topologische Begriffe 18

gegebene stereographischen Projektion eine Bijektion zwischen S2 und C ist, die die Topologieerhält. Genauer ist σ ein Homöomorphismus, also eine Bijektion, für die sowohl σ selbst alsauch ihre Umkehrabbildung

σ−1(z) =

{(2z|z|2+1 , |z|

2−1|z|2+1

)für z 6= ∞,

(0, 1) für z = ∞,(1.4)

offene Mengen auf offene Mengen abbilden. Die offenen Teilmengen von S2 sind hierbei dieDurchschnitte der offenen Teilmengen von C×Rmit der Sphäre S2 selbst.

Betrachtet man S2 auf diese Weise als Modell für C, so nennt man C auch die RIEMANN’scheZahlenkugel.12

Abbildung 1.6: Die Koordinaten des Bilds unter der stereographischen Projektion erhält manzum Beispiel mit dem Strahlensatz der Euklid’schen Geometrie.

Proposition 1.23. Unter der stereographischen Projektion σ werden Kreise auf S2 auf Kreise oder Ge-raden in C abgebildet, wobei letzteren noch der Punkt ∞ beigefügt ist.

Beweis. Ein Kreis auf S2 entsteht als Schnitt mit einer Ebene in C×R. Eine solche ist in Norma-lenform gegeben durch

E(a, b, c, p) =

(z = x + iy, t) ∈ C×R |⟨a

bc

|x

yt

⟩ = ax + by + ct = p

mit Parametern a, b, c, p ∈ R. Dabei können wir ohne Einschränkung a, b, c so wählen, dassa2 + b2 + c2 = 1 gilt, sonst multiplizieren wir die Gleichung mit (a2 + b2 + c2)−1/2 durch. DerDurchschnitt mit der Sphäre ist genau dann nicht leer und von einem Punkt verschieden, wennder Abstand von E(a, b, c, p) zum Ursprung kleiner als 1 ist, d. h. falls

p2 < 1 = a2 + b2 + c2

12Georg Friedrich Bernhard Riemann (1826 - 1866)

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19 Kapitel 1. Komplexe Zahlen

gilt. Setzen wir die Beschreibung von σ−1 aus (1.4) in die Ebenengleichung ein, so erhalten wirnach Multiplikation mit |z|2 + 1 die Gleichung

2a Rez + 2b Imz + c(|z|2 − 1) = p(|z|2 + 1)

bzw.(c− p)|z|2 + (a− bi)z + (a + bi)z− (c + p) = 0.

Setzen wir α := c− p, β := a− bi und γ := −c− p, so gilt nach Voraussetzung

ββ = a2 + b2 > p2 − c2 = αγ.

Nach 1.14 ist dies für c = p eine Geradengleichung und ansonsten eine Kreisgleichung.

Übungsaufgaben

Aufgabe 1.1. Käpt’n Schwartbart, der alte Haudegen, hinterließ bei seinem Ableben im Alter von 107Jahren auch eine Schatzkarte:

Geh direkt vom Galgen zur Palme, dann gleich viele Schritte unter rechtem Winkel nachrechts - steck die erste Fahne.Geh vom Galgen zu den drei Felsbrocken, genausoweit unter rechtem Winkel nach links -steck die zweite Fahne.Der Schatz steckt in der Mitte zwischen den beiden Fahnen.

Die Erben starteten sofort eine Expedition zur Schatzinsel. Die Palme und die Felsbrocken waren sofortzu identifizieren. Vom Galgen war keine Spur mehr zu finden. Obwohl man die Schritte von einer zufälli-gen (und sehr wahrscheinlich falschen) Stelle aus gezählt hatte, stieß man gleich beim ersten Spatenstichauf die Schatztruhe. Wie war das möglich und wo lag der Schatz?

Aufgabe 1.2. Zeigen Sie, dass sich verallgemeinerte Kreise äquivalent auch als APOLLONISCHE Krei-se13 ∣∣∣∣z− a

z− b

∣∣∣∣ = k mit a 6= b ∈ C, k ∈ R>0

beschreiben lassen.

Abbildung 1.7: Für 0 < k < 1 erhält man Kreise, die a im Inneren enthalten, für k = 1 eineGerade, nämlich die Mittelsenkrechte der Strecke von a nach b, und für k > 1 Kreise mit b imInneren.

13Apollonius von Perge (262 - 190 v. Chr.)

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1.5. Der Limes und elementare topologische Begriffe 20

Aufgabe 1.3. Nachdem die Erben von Käpt’n Schwartbart die Schatztruhe geöffnet hatten, fanden sieanstelle des erhofften Schatzes nur einen vergilbten Zettel:

Um den Schatz meines guten Freundes Schwartbart vor allzu (neu)gierigen Fingern zuschützen, habe ich ihn besser versteckt. Gehst du von der Palme zum Schatz, so wirst dudoppelt so viele Schritte brauchen, wie wenn du vom Felsbrocken aus zum Schatz gehst. Vonall diesen möglichen Orten ist der Schatz an dem Ort versteckt, der am weitesten nördlichliegt. Viel Glück, Schatzsucher!

Käpt’n Holzbein aus Apollonien

Die Erben stellten fest, dass der Felsbrocken sich genau im Osten von der Palme befand. Danach wusstensie jedoch nicht weiter. Wo lag der Schatz?

Aufgabe 1.4. Zeigen Sie, dass die Menge C mit der in Definition 1.22 eingeführten Topologie einkompakter topologischer Raum ist, also die folgenden Eigenschaften erfüllt.

� Die leere Menge und C selbst sind offene Teilmengen von C.

� Der Durchschnitt endlich vieler offener Teilmengen ist eine offene Teilmenge.

� Die Vereinigung beliebig vieler offener Teilmengen ist eine offene Teilmenge.

� Jede offene Überdeckung von C besitzt eine endliche Teilüberdeckung.

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KAPITEL 2

Möbiustransformationen

In diesem Kapitel wollen wir Möbiustransformationen behandeln, eine spezielle Klasse vonAbbildungen, die auf der komplexen Zahlenebene definiert sind. Diese wurden erstmals sys-tematisch untersucht von ihrem Namensgeber AUGUST FERDINAND MÖBIUS (1790 - 1868).Diese illustrieren zum einen schön die Geometrie der komplexen Ebene, wie wir sie in Ab-schnitt 1.4 kennengelernt haben, und sind zum anderen grundlegend für verschiedene Teileder höheren Funktionentheorie, wie etwas der Theorien der Automorphen Funktionen, derKlein’schen und der Fuchs’schen Gruppen.

2.1 Die Gruppe der Möbiustransformationen

Für eine invertierbare komplexe (2× 2)-Matrix

M :=(

a bc d

)∈ GL2(C) = {A ∈ C2×2 | det A 6= 0}

betrachten wir die Abbildung

ϕM :

{C → C,z 7→ M〈z〉 = a z+b

c z+d .

Diese Definition ergibt noch keinen Sinn, wenn wir z = ∞ einsetzen oder der Nenner cz + dverschwindet. Damit ϕM wohldefiniert ist, setzen wir daher noch

M〈− dc 〉 = ∞ und M〈∞〉 = a

c falls c 6= 0,M〈∞〉 = ∞ falls c = 0.

(2.1)

Aus dieser Definition sehen wir sofort ein, dass für jedes λ ∈ Cr {0} die Matrix λ · M dieselbe Abbildung liefert wie M selbst. Es gibt insbesondere keinen Eins-zu-eins-Zusammenhangzwischen Matrizen aus GL2(C) und Möbiustransformationen.

21

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2.1. Die Gruppe der Möbiustransformationen 22

Definition 2.1. Für ein beliebiges M ∈ GL2(C) heißt die Abbildung ϕM eine Möbiustransforma-tion.

Beispiel. Wählen wir

M =

(0 11 0

)∈ GL2(C),

so erhalten wir die Möbiustransformation z 7→ 1z , die insbesondere M〈0〉 = ∞ und M〈∞〉 = 0 erfüllt.

Abbildung 2.1: Veranschaulichen können wir uns diese Abbildung als Hintereinanderausfüh-rung der Spiegelung an der reellen Achse und der Inversion am Einheitskreis; vergleiche auchBemerkung 1.11.

Proposition 2.2. (a) Für zwei Matrizen A, B ∈ GL2(C) gilt ϕA ◦ ϕB = ϕAB.

(b) Die Abbildung ϕA ist bijektiv mit Umkehrabbildung (ϕA)−1 = ϕA−1 .

(c) Die Möbiustransformationen bilden bezüglich der Hintereinanderausführung eine Gruppe.

Beweis. (b) folgt aus (a), wenn man dort A−1 für B einsetzt.

(c) folgt aus (a) und (b),

denn: Die Assoziativität der Hintereinanderausführung folgt aus (a) und der Assoziativität derMatrizenmultiplikation. ϕI2 = id ist offensichtlich das neutrale Element. Nach (b) hat jedeMöbiustransformation schließlich ein Inverses. #

Es verbleibt (a) zu zeigen. Dies kann man direkt nachrechnen. Mit

A =

(a bc d

)und B =

(a′ b′

c′ d′

)gilt nämlich außerhalb der Sonderfälle (2.1)

(ϕA ◦ ϕB)(z) = ϕA(a′ z + b′

c′ z + d′) =

a a′ z+b′c′ z+d′ + b

c a′ z+b′c′ z+d′ + d

=a(a′ z + b′) + b(c′ z + d′)c(a′ z + b′) + d(c′ z + d′)

=(a a′ + b c′)z + (a b′ + b d′)(c a′ + d c′)z + (c b′ + d d′)

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23 Kapitel 2. Möbiustransformationen

= ϕAB(z).

Den Rest rechnet man analog nach. (vgl. Übungsaufgabe 2.1)

Es gibt drei spezielle Typen von Möbiustransformationen, die hier im Folgenden vorgestelltwerden sollen. Da man alle anderen Möbiustransformationen auf diese zurückführen kann,nennt man sie Elementartypen. Diese sind

Die Inversion

Der erste Elementartyp ist die bereits studierte Inversion z 7→ 1z mit M =

(0 11 0

).

Drehstreckungen

Sei a ∈ Cr {0} eine beliebige komplexe Zahl und M =

(a 00 1

). Dann ist die Möbiustransfor-

mation

M〈z〉 ={

a z für z ∈ C,∞ für z = ∞

eine Drehstreckung. Geometrisch veranschaulichen können wir uns dies mit der Interpretationder komplexen Multiplikation aus Abschnitt 1.3. Dafür schreiben wir a = r(cos ϕ + i sin ϕ) mitr ∈ R>0 und ϕ ∈ R.

Abbildung 2.2: Für r = 1 erhalten wir eine Multiplikation mit cos ϕ+ i sin ϕ, also eine Drehunggegen den Uhrzeigersinn um den Winkel ϕ. Für ϕ = 0 erhalten wir eine Multiplikation mitr ∈ R>0, also eine Streckung um den Faktor r.

Verschiebungen

Für M =

(1 b0 1

)mit einem beliebigen b ∈ C erhalten wir

M〈z〉 ={

z + b für z ∈ C,∞ für z = ∞.

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2.2. Möbiustransformationen und verallgemeinerte Kreise 24

Geometrisch wird zu jedem Punkt der komplexen Zahlenebene ein fester Vektor b addiert.

Proposition 2.3. Die Gruppe der Möbiustransformationen wird von den Elementartypen erzeugt.

Beweis. Sei ϕM durch eine Matrix

M =

(a bc d

)∈ GL2(C)

gegeben.

Ist c = 0, so wird dies zu

ϕM(z) =

{ad z + b

d für z 6= ∞,∞ für z = ∞,

und wir können ϕM als Hintereinanderausführung einer Drehstreckung und einer Translationdarstellen.

Ist c 6= 0, so errechnet man sofort

ϕM(z) =

ac +

b c−a dc(c z+d) für z 6∈ {− d

c , ∞},∞ für z = − d

c ,ac für z = ∞.

Dies lässt sich auf folgende Weise aus Inversionen, Drehstreckungen und Translationen zusam-mensetzen.

z 7→ c z 7→ c z + d 7→ 1c z + d

7→ b c− a dc(c z + d)

7→ ac+

b c− a dc(c z + d)

= ϕM(z);

die beiden Sonderfälle überprüft man wieder separat. (vgl. Übungsaufgabe 2.2)

2.2 Möbiustransformationen und verallgemeinerte Kreise

Satz 2.4 (Möbius (1853)). Möbiustransformationen bilden verallgemeinerte Kreise auf verallgemeiner-te Kreise ab.

Beweis. Auch hier genügt es, die Aussage für die Elementartypen zu zeigen. Für Translationenund Drehstreckungen ist dies aus geometrischen Gründen klar, so dass die Aussage für dieInversion zu zeigen bleibt.

Die Inversion bildet definitionsgemäß 0 auf ∞ und ∞ auf 0 ab. Seien also diese beiden Punktein der folgenden Überlegung als Werte von z zunächst ausgenommen. Nach Proposition 1.14lassen sich alle verallgemeinerten Kreise durch eine Gleichung der Form

α|z|2 + β z + β z + γ = 0 mit α, γ ∈ R, β ∈ C und β β > α γ

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25 Kapitel 2. Möbiustransformationen

beschreiben. Setzen wir dann für z ∈ Cr {0} als neue Variable w := 1z und multiplizieren mit

|w|2, so erhalten wir für alle w ∈ Cr {0}

γ|w|2 + β w + β w + α = 0 mit α, γ ∈ R, β ∈ C und β β > α γ.

War 0 Punkt des ursprünglichen verallgemeinerten Kreises, so gilt offensichtlich γ = 0, unddie neue Gleichung beschreibt nach Proposition 1.14 eine Gerade, auf der zwangsläufig derPunkt ∞ liegt. War ∞ Punkt des ursprünglichen verallgemeinerten Kreises, so ist dieser eineGerade, und es gilt α = 0, so dass 0 eine Lösung der neuen Gleichung ist.

Definition 2.5. Sei M ∈ GL2(C). Ein Punkt z0 ∈ C heißt Fixpunkt bezüglich der Möbiustransfor-mation ϕM, falls ϕM(z0) = z0 gilt.

Beispiel. (a) Für M = I2 ist jeder Punkt Fixpunkt von ϕM.

(b) Für M =

(1 10 1

)hat ϕM genau einen Fixpunkt, nämlich z0 = ∞.

(c) Für M =

(2 10 1

)hat ϕM genau zwei Fixpunkte, nämlich z0 = ∞ und z1 = −1.

Proposition 2.6. Jede von der Identität verschiedene Möbiustransformation hat entweder genau einenoder genau zwei Fixpunkte.

Beweis. Sei M =

(a bc d

)∈ GL2(C) mit M〈z〉 6≡ z.

Fall 1: c = 0. Nach Definition gilt dann M〈∞〉 = ∞, so dass mit ∞ ein erster Fixpunkt von ϕMgefunden ist. Außerdem gilt in diesem Fall a 6= 0 6= d, so dass wir für z 6= ∞

M〈z〉 = ad

z +bd

schreiben können. Dies hat für a = d keinen weiteren Fixpunkt,

denn: Für b 6= 0 ist dies klar, da wir so eine Translation um bd 6= 0 erhalten. Andererseits

kann nicht gleichzeitig c = 0, a = d und b = 0 gelten, da sonst M als skalares Vielfaches derEinheitsmatrix trivial operierte, was wir in unserer Voraussetzung ausgeschlossen hatten. #

Nehmen wir also a 6= d an. Dann gilt

z0 ∈ C Fixpunkt von ϕM ⇐⇒ ad

z0 +bd= z0 ⇐⇒ z0 =

bd− a

.

In diesem Fall hat also ϕM genau einen oder genau zwei Fixpunkte.

Fall 2: c 6= 0. In diesem Fall geben die beiden Sonderfälle (2.1) offensichtlich keinen Fixpunkther. Nehmen wir also z 6∈ {− d

c , ∞} an. Ähnlich wie in Fall 1 gilt dann

z0 Fixpunkt von ϕM ⇐⇒a z0 + bc z0 + d

= z0

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2.2. Möbiustransformationen und verallgemeinerte Kreise 26

⇐⇒ c z20 + (d− a)z0 − b = 0

⇐⇒ z20 +

d− ac

z0 −bc= 0

⇐⇒(

z0 +d− a

2c

)2

=bc+

(d− a)2

4c2 .

Nach Proposition 1.13 hat diese Gleichung genau zwei komplexe Lösungen für z0 +d−a2c und

somit auch für z0, falls die rechte Seite ungleich Null ist. Ist andererseits die rechte Seite gleichNull, so ist offensichtlich z0 = − d−a

2c die einzige Lösung. Auch in diesem Fall hat also ϕM genaueinen oder genau zwei Fixpunkte.

Aus Proposition 2.6 kann man eine Folgerung ziehen, die fast noch wichtiger als die Propositi-on ist.

Korollar. Jede Möbiustransformation ist durch die Angabe der Bilder dreier verschiedener Punkte ein-deutig festgelegt.

Beweis. Sei ϕ eine Möbiustransformation, und seien z1, z2, z3, w1, w2, w3 sechs Punkte in C mitϕ(zk) = wk für k ∈ {1, 2, 3}. Nehmen wir nun an, es gebe eine weitere Möbiustransformationψ, die ψ(zk) = wk erfüllt für k ∈ {1, 2, 3}. Da nach Proposition 2.2 die Möbiustransformationeneine Gruppe bilden, ist die Abbildung ψ−1 ◦ ϕ wieder eine Möbiustransformation. Diese hättenach Konstruktion die drei Fixpunkte z1, z2, z3, muss also nach Proposition 2.6 die Identitätsein. Es folgt ψ = ϕ und somit das Korollar.

An dieser Stelle ist die offensichtliche nächste Frage, ob es andersherum auch für vorgege-bene Bilder von drei Punkten z1, z2, z3 ∈ C immer eine Möbiustransformation gibt, die dieseannimmt. Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir ein wenig ausholen.

Proposition 2.7. Seien z1, z2, z3 ∈ C paarweise verschiedene Punkte und z ∈ C ein weiterer Punkt.Dann ist durch

ϕ : z 7→ DV(z, z1, z2, z3) :=

(z−z2)(z1−z3)(z−z3)(z1−z2)

für z1, z2, z3 ∈ C,z−z2z−z3

für z1 = ∞,z1−z3z−z3

für z2 = ∞,z−z2z1−z2

für z3 = ∞

und

ϕ(∞) = DV(∞, z1, z2, z3) :=

z1−z3z1−z2

für z1, z2, z3 ∈ C,1 für z1 = ∞,0 für z2 = ∞,∞ für z3 = ∞

jeweils eine Möbiustransformation gegeben, die

ϕ(z1) = 1, ϕ(z2) = 0 und ϕ(z3) = ∞

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27 Kapitel 2. Möbiustransformationen

erfüllt. Für z 6∈ {z1, z2, z3} heißt hierbei DV(z, z1, z2, z3) das Doppelverhältnis der Punkte z, z1, z2,z3.

Bemerkung 2.8. (a) Die Spezialfälle für zk = ∞ mit einem k ∈ {1, 2, 3} ergeben sich aus demendlichen Fall durch den Grenzübergang zk → ∞.

(b) Nach dem obigen Korollar ist ϕ die einzige Möbiustransformation mit ϕ(z1) = 1, ϕ(z2) = 0 undϕ(z3) = ∞.

Beweis von Proposition 2.7. Falls alle Punkte z1, z2, z3 endlich sind, gilt definitionsgemäß für z 6=∞

ϕ(z) =(z− z2)(z1 − z3)

(z− z3)(z1 − z2)=

(z1 − z3)z− z2(z1 − z3)

(z1 − z2)z− z3(z1 − z2),

Das stimmt auf C offensichtlich mit der Möbiustransformation ϕM zur Matrix

M =

(z1 − z3 −z2(z1 − z3)z1 − z2 −z3(z1 − z2)

)überein, für welche

det M = (z1 − z2)(z1 − z3)(z2 − z3) 6= 0

gilt, da ja nach Voraussetzung die Punkte z1, z2, z3 paarweise verschieden sind. Wie in (2.1) giltzudem

ϕM(∞) =z1 − z3

z1 − z2,

so dass in der Tat ϕM die durch das Doppelverhältnis gegebene Möbiustransformation ist, und

ϕM(z3) = ∞.

Durch Einsetzen in die Formel der Proposition sieht man außerdem direkt

ϕ(z1) =(z1 − z2)(z1 − z3)

(z1 − z3)(z1 − z2)= 1,

ϕ(z2) =(z2 − z2)(z1 − z3)

(z2 − z3)(z1 − z2)= 0.

Die Fälle, in denen einer der Punkte z1, z2, z3 gleich ∞ ist, behandeln sich genauso (vgl. Übungs-aufgabe 2.4).

Das bisher erarbeitete lässt sich zu folgendem Satz über Möbiustransformationen zusammen-fassen.

Satz 2.9 (Klassifizierung der Möbiustransformationen). Sind (z1, z2, z3) und (w1, w2, w3) jeweilsTripel paarweise verschiedener Punkte ausC, so gibt es genau eine Möbiustransformation ϕ mit ϕ(zk) =wk für k ∈ {1, 2, 3}.

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2.2. Möbiustransformationen und verallgemeinerte Kreise 28

Beweis. Nach Proposition 2.7 gibt es durch Doppelverhältnisse definierte Möbiustransforma-tionen ϕ1 und ϕ2 mit

ϕ1(z1) = 1, ϕ1(z2) = 0, ϕ1(z3) = ∞,ϕ2(w1) = 1, ϕ2(w2) = 0, ϕ2(w3) = ∞.

Da die Möbiustransformationen unter Hintereinanderausführung eine Gruppe sind, ist auchϕ−1

2 ◦ ϕ1 eine Möbiustransformation. Nach Konstruktion erfüllt diese die verlangten Eigen-schaften. Mit dem Korollar von Proposition 2.6 folgt die Eindeutigkeit.

Bemerkung 2.10. Satz 2.9 hat eine wichtige geometrische Anwendung, denn es gilt:

Verallgemeinerte Kreise sind durch drei paarweise verschiedene Punkte, die ihre Gleichungerfüllen, eindeutig festgelegt.

Zu je zwei verallgemeinerten Kreisen K1 und K2 gibt es daher und wegen des Satzes 2.4 über dieKreistreue der Möbiustransformationen eine Möbiustransformation ϕ mit ϕ(K1) = K2. Diese ist aller-dings nicht eindeutig; so lassen beispielsweise die Möbiustransformationen z 7→ z + 1 und z 7→ z + 2beide die reelle Achse in der komplexen Ebene fest.

Proposition 2.11 (Invarianz des Doppelverhältnisses). Seien z1, z2, z3 ∈ C paarweise verschiedenund z ∈ C beliebig, und sei ϕ eine beliebige Möbiustransformation. Dann gilt

DV(ϕ(z), ϕ(z1), ϕ(z2), ϕ(z3)) = DV(z, z1, z2, z3).

Beweis. Wie im Beweis des Klassifizierungssatzes 2.9 der Möbiustransformationen eingesehenlässt sich jede Möbiustransformation ϕ schreiben als ϕ = ϕ−1

2 ◦ ϕ1 mit zwei durch Doppelver-hältnisse gegebenen Möbiustransformationen ϕ1 und ϕ2, die

ϕ1(z1) = 1, ϕ1(z2) = 0, ϕ1(z3) = ∞,ϕ2(ϕ(z1)) = 1, ϕ2(ϕ(z2)) = 0, ϕ2(ϕ(z3)) = ∞.

erfüllen. Das ist äquivalent zuϕ2(ϕ(z)) = ϕ1(z),

was nach Einsetzen der Definitionen von ϕ1 und ϕ2 die Behauptung ergibt.

Proposition 2.12. Ein Punkt z ∈ C liegt genau dann auf dem durch z1, z2, z3 bestimmten verallgemei-nerten Kreis K, wenn DV(z, z1, z2, z3) in R∪ {∞} liegt.

Beweis. Betrachten wir die durch das Doppelverhältnis gegebene Möbiustransformation ϕ mitϕ(z1) = 1, ϕ(z2) = 0 und ϕ(z3) = ∞. Mit dem Satz 2.4 über die Kreistreue der Möbiustrans-formationen folgt

z ∈ K ⇐⇒ ϕ(z) ∈ R∪ {∞}.

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29 Kapitel 2. Möbiustransformationen

Bemerkung 2.13. Die Hinrichtung von Proposition 2.12 hat für endliche z, z1, z2, z3 eine schöne geo-metrische Interpretation. Sei

λ = DV(z, z1, z2, z3) =(z− z2)(z1 − z3)

(z− z3)(z1 − z2)

das Doppelverhältnis. Dann gilt

arg (λ) = (arg (z− z2)− arg (z− z3))− (arg (z1 − z2)− arg (z1 − z3)) =: α− β.

Genau dann ist λ reell, wenn arg (λ) durch π teilbar ist, wenn also α ≡ β mod (π) gilt. Fürz, z1, z2, z3 ∈ K ist letzteres gerade der Peripheriewinkelsatz aus der Euklid’schen Geometrie.14

Abbildung 2.3: Liegen z und z1 auf der selben Seite der Sehne z2z3, so stimmen α und β überein.Liegen sie auf verschiedenen Seiten, so gilt α = β− π.

Übungsaufgaben

Aufgabe 2.1. Beenden Sie den Beweis von Proposition 2.2.

Aufgabe 2.2. Beenden Sie den Beweis von Proposition 2.3.

Aufgabe 2.3. Sei ϕ : C → C ein Möbiustransformation. Zeigen Sie, dass für jede offene TeilmengeU ⊆ C auch das Urbild ϕ−1(U) offen in C ist.15

Aufgabe 2.4. Beenden Sie den Beweis von Proposition 2.7.

Aufgabe 2.5. Seien z1, z2 ∈ C, und sei ϕ eine Möbiustransformation mit ϕ(z1) = 0 und ϕ(z2) = ∞.Zeigen Sie die folgenden Aussagen.

14Man beachte, dass hier durch die Definition der Winkel α und β über das Doppelverhältnis im Vergleich zuüblichen Formulierungen des Peripheriewinkelsatzes ein Vorzeichenwechsel eingebaut ist.

15Damit ist gezeigt, dass Möbiustransformationen stetige Abbildungen sind.

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2.2. Möbiustransformationen und verallgemeinerte Kreise 30

(a) ϕ ist von der Form

ϕ(z) = c · z− z1

z− z2

mit einer Konstanten c ∈ C.

(b) Die Urbilder unter ϕ der Geraden durch z = 0 sind verallgemeinerte Kreise durch z1 und z2.

(c) Die Urbilder unter ϕ der konzentrischen Kreise um z = 0 sind Apollonische Kreise bezüglich z1und z2 (vgl. Übungsaufgabe 1.2).

Aufgabe 2.6. In der komplexen Ebene seien vier paarweise verschiedene Geraden mit gemeinsamemSchnittpunkt P ∈ C gegeben und weiter eine Gerade g, die nicht durch P geht und die anderen Geradenwie in der Abbildung dargestellt in Punkten A, B, C, D ∈ C schneidet.

Zeigen Sie, dass für das Doppelverhältnis der Punkte A, B, C, D dann die Identität

DV(A, B, C, D) =sin(α + β) · sin(β + γ)

sin(α + β + γ) · sin(β)

gilt, wobei die Winkel α, β und γ wie in der Abbildung definiert seien. Insbesondere hängt also dasDoppelverhältnis DV(A, B, C, D) nicht von der genauen Lage von g ab.

Hinweis: Im Beweis dürfen Sie den Sinussatz verwenden, der besagt, dass in einem beliebigen Dreieckmit Ecken X, Y, Z ∈ C und Innenwinkeln ϕ bei X und ψ bei Y die Gleichung

sin(ϕ)

|Y− Z| =sin(ψ)|X− Z|

gilt.

Aufgabe 2.7. In Proposition 1.14 wurde für verallgemeinerte Kreise die Schreibweise

α|z|2 + βz + βz + γ = 0 mit α, γ ∈ R, β ∈ C und ββ > αγ

eingeführt. Rechnerisch ist es oft geschickter, dies als(z 1

)· C ·

(z1

)= 0 mit C =

(α β

β γ

)zu schreiben.

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31 Kapitel 2. Möbiustransformationen

(a) Sei M ∈ GL2(C) eine Matrix mit zugehöriger Möbiustransformation ϕM. Zeigen Sie, dass ϕM

einen durch C beschriebenen verallgemeinerten Kreis auf den durch (M−1)t · C · (M−1) beschrie-

benen schickt.

Hinweis: Beweisen und verwenden Sie für z ∈ C und M =a b

c d

∈ GL2(C) mit cz + d 6= 0

die Gleichung

M(

z1

)= (cz + d)

(ϕM(z)

1

).

(b) Sei speziell

M =

(1 −i1 i

)∈ GL2(C).

Zeigen Sie, dass dann ϕM(R∪ {∞}) = {z ∈ C | |z| = 1} gilt.

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KAPITEL 3

Komplexwertige Funktionen

3.1 Stetigkeit

Definition 3.1. Sei D ⊆ C, und sei z0 ∈ C ein Häufungspunkt von D, d. h., in jeder offenen ε-Umgebung von z0 liegen unendlich viele Punkte aus D. Sei weiter f : D → C eine Funktion. Man sagtdann, dass der Limes von f gegen z0 existiert und gleich w0 ist, in Zeichen

limz→z0

f (z) = w0,

wenn es für alle ε > 0 ein δ > 0 gibt mit

| f (z)− w0| < ε für alle z ∈ D mit 0 < |z− z0| < δ.

Definition 3.2. Sei D ⊆ C, und sei f : D → C eine Funktion und z0 ∈ D. Dann heißt f stetig in z0,wenn es zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt mit

| f (z)− f (z0)| < ε für alle z ∈ D mit |z− z0| < δ.

Bemerkung 3.3. (a) Ist z0 ein isolierter Punkt von D, d. h. kein Häufungspunkt von D, dann istjedes f in z0 stetig.

(b) Ist z0 ein Häufungspunkt von D, so ist f genau dann stetig in z0, wenn limz→z0 f (z) = f (z0)gilt.

Lemma 3.4. Sei D ⊆ C. Genau dann ist die Funktion f : D → C im Punkt z0 ∈ D stetig, wenn fürjede Folge (zn)n∈N mit zn ∈ D und limn→∞ zn = z0 die Bedingung

limn→∞

f (zn) = f (z0)

gilt.

Beweis. Wortwörtliche Übertragung aus der Analysis 1.

32

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33 Kapitel 3. Komplexwertige Funktionen

Lemma 3.5. Sei D ⊆ C, und sei z0 ∈ D. Seien weiter f , g : D → C in z0 stetige Funktionen. Danngelten die folgenden Aussagen.

(a) f + g :

{D → C,z 7→ f (z) + g(z)

und f · g :

{D → C,z 7→ f (z) · g(z)

sind stetig in z0.

(b) z 7→ Re f (z), z 7→ Im f (z), z 7→ f (z) und z 7→ | f (z)| sind stetig in z0.

(c) Ist g(z0) 6= 0, so gibt es eine δ-Umgebung Uδ(z0) von z0 mit g(z) 6= 0 für alle z ∈ D ∪ Uδ(z0),und die Abbildung

fg

:

{Uδ(z0)

∪ D → C,z 7→ f (z)

g(z)

ist stetig in z0.

Beweis. (a) und (b) sowie der zweite Teil von (c) folgen sofort aus Lemma 3.4 und den Grenz-wertrechenregeln aus Lemma 1.16.

Es verbleibt der erste Teil von (c) zu zeigen. Sei also g(z0) 6= 0. Dann ist ε := |g(z0)|2 > 0. Da g in

z0 stetig ist, existiert zu diesem ε > 0 ein δ > 0 mit

|g(z)− g(z0)| < ε für alle z ∈ D mit |z− z0| < δ.

Für solche z gilt dann

|g(z)| =∣∣g(z0)−

(g(z0)− g(z)

)∣∣≥∣∣|g(z0)| − |g(z0)− g(z)|

∣∣≥ |g(z0)| − |g(z)− g(z0)|= 2ε− |g(z)− g(z0)|> 2ε− ε = ε > 0.

Es ist also g(z) 6= 0 für alle z ∈ D ∪ Uδ(z0), was zu zeigen war.

Lemma 3.6. Sind D, E ⊆ C, sind f : D → C und g : E → C zwei Funktionen mit f (D) ⊆ E, undsind f in z0 und g in f (z0) stetig, so ist auch ihre Hintereinanderausführung g ◦ f in z0 stetig.

Beweis. Siehe Analysis 2.

Beispiel. (a) Sei p(z) =∑n

ν=0 aνzν mit aν ∈ C ein Polynom. Dann ist p stetig in jedem z0 ∈ C.

(b) Sei S1 := {z ∈ C | |z| = 1} der Einheitskreis. Für z ∈ S1 sei Arg z der Hauptwert desArguments von z, also Arg z = ϕ ∈ (−π, π] mit z = cos ϕ + i sin ϕ. Dann ist die Abbildung

S1 → C,z 7→ Arg z

nicht stetig in z0 = −1,

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3.2. Komplex differenzierbare Funktionen 34

denn: Seien für alle n ∈ N

an = cos(π − 1n) + i sin(π − 1

n),

bn = cos(π +1n) + i sin(π +

1n).

Dann sind alle an, bn ∈ S1, und es gilt

limn→∞

an = limn→∞

bn = cos π + i sin π = −1.

Andererseits gilt für die Funktionswerte

Arg an = π − 1n

n→∞→ π und Arg bn = −π +1n

n→∞→ −π,

so dass nach Lemma 3.4 Arg z in z0 = −1 nicht stetig ist. #

3.2 Komplex differenzierbare Funktionen

Die komplexen Zahlen C bilden einen Körper, insbesondere kann man durch alle von Nullverschiedenen komplexen Zahlen dividieren. In Analogie zur Analysis 1 ist daher folgendeDefinition naheliegend.

Definition 3.7. Sei D ⊆ C offen. Sei z0 ∈ D und f : D → C. Genau dann heißt f in z0 komplexdifferenzierbar, wenn der Grenzwert

limz→z0

f (z)− f (z0)

z− z0

existiert. Dieser heißt dann die komplexe Ableitung von f in z0 und wird mit f ′(z0) bezeichnet. Ist fin jedem z0 ∈ D komplex differenzierbar, so heißt f auf D holomorph.

Bemerkung 3.8. Natürlich ist

limz→z0

f (z)− f (z0)

z− z0= lim

h→0

f (z0 + h)− f (z0)

h,

wenn die Limites existieren. Hierbei ist natürlich h komplex.

Beispiel. (a) Die Funktion f (z) = zn ist für alle n ∈ N in jedem Punkt z0 ∈ C komplex differen-zierbar, ist also auf C holomorph. Ihre komplexe Ableitung in z0 ist f ′(z0) = n zn−1

0 ,

denn:

f (z0 + h)− f (z0)

h=

1h((z0 + h)n − zn

0)

=1h

(n∑

ν=0

(nν

)hν zn−ν

0 − zn0

)

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35 Kapitel 3. Komplexwertige Funktionen

=1h

(zn

0 + n h zn−10 +

n∑ν=2

(nν

)hν zn−ν

0 − zn0

)

= n zn−10 +

n∑ν=2

(nν

)hν−1 zn−ν

0

h→0→ n zn−10 .

#

(b) Die komplexe Konjugation

· :

{C → C,z 7→ z

ist in keinem Punkt z0 ∈ C komplex differenzierbar,

denn:z0 + h− z0

h=

hh=

{1 falls h ∈ R,−1 falls h ∈ iR.

#

Lemma 3.9. Sei D ⊆ C offen, z0 in D enthalten und weiter f : D → C eine Funktion. Dann sind diefolgenden Aussagen äquivalent.

(i) f ist in z0 komplex differenzierbar, und es gilt f ′(z0) = w0.

(ii) Es gibt eine in z0 stetige Funktion ϕ : D → C mit

f (z) = f (z0) + ϕ(z)(z− z0) und ϕ(z0) = w0.

Beweis. Sei zunächst f in z0 komplex differenzierbar und w0 = f ′(z0). Dann setzen wir

ϕ(z) :=

{f (z)− f (z0)

z−z0für z ∈ D r {z0},

w0 für z = z0.

Für dieses ϕ giltlimz→z0

ϕ(z) = f ′(z0) = w0 = ϕ(z0),

es ist also in z0 stetig.

Sei nun umgekehrt ein ϕ mit den in (ii) angegebenen Eigenschaften gegeben. Für z 6= z0 giltdann:

f (z)− f (z0)

z− z0= ϕ(z)

z→z0→ ϕ(z0) = w0,

also ist f in z0 komplex differenzierbar, und es gilt w0 = f ′(z0).

Lemma 3.10. Sei D ⊆ C offen, z0 in D enthalten und weiter f : D → C eine Funktion. Ist f in z0komplex differenzierbar, so ist f in z0 auch stetig.

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3.2. Komplex differenzierbare Funktionen 36

Beweis. Sei f in z0 differenzierbar. Nach Lemma 3.9 gibt es dann eine in z0 stetige Funktionϕ : D → Cmit f (z) = f (z0) + ϕ(z)(z− z0). Wegen

limz→z0

ϕ(z) = ϕ(z0) und limz→z0

(z− z0) = 0

folgtlimz→z0

f (z) = f (z0) + limz→z0

ϕ(z)(z− z0) = f (z0),

so dass f in z0 stetig ist.

Proposition 3.11. Sei D ⊆ C offen, z0 in D enthalten und f , g : D → C in z0 komplex differenzierbar.Dann gelten die folgenden Aussagen.

(a) f + g ist in z0 komplex differenzierbar und hat dort die komplexe Ableitung

( f + g)′(z0) = f ′(z0) + g′(z0).

(b) f · g ist in z0 komplex differenzierbar und hat dort die komplexe Ableitung

( f · g)′(z0) = f ′(z0) · g(z0) + f (z0) · g′(z0).

(c) Ist g(z0) 6= 0, so ist auch fg (definiert für z nahe bei z0) in z0 komplex differenzierbar und hat dort

die komplexe Ableitung (fg

)′(z0) =

f ′(z0) g(z0)− f (z0) g′(z0)

g2(z0).

Beweis. Genauso wie in Analysis 1.

Beispiel. Nach Teil (a) des letzten Beispiels und Teil (a) von Proposition 3.11 sind Polynome p(z) =∑nν=0 aν zν auf C holomorph und besitzen die komplexe Ableitung

p′(z) =n∑

ν=1

ν aν zν−1.

Proposition 3.12 (Kettenregel). Seien D, E ⊆ C offen und f : D → C und g : E → C Funktionenmit f (D) ⊆ E. Sei weiter z0 ∈ D. Sind f in z0 und g in w0 := f (z0) komplex differenzierbar, so istauch g ◦ f : D → C in z0 komplex differenzierbar und hat dort die komplexe Ableitung

(g ◦ f )′(z0) = g′( f (z0)) f ′(z0).

Beweis. Nach Lemma 3.9 gibt es eine in w0 stetige Funktion ψ : E→ Cmit

g(w)− g(w0) = ψ(w)(w− w0) und ψ(w0) = g′(w0).

Mit w = f (z) und insbesondere w0 = f (z0) folgt also für z 6= z0

g( f (z))− g( f (z0))

z− z0= ψ( f (z))

f (z)− f (z0)

z− z0

z→z0→ ψ( f (z0)) f ′(z0) = g′( f (z0)) f ′(z0).

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37 Kapitel 3. Komplexwertige Funktionen

Wir hatten ja die komplexen Zahlen C als den mit einer Körpermultiplikation ausgestattetenreellen Vektorraum R2 eingeführt. An dieser Stelle drängt sich daher ein Vergleich der Begriffeder komplexen Differenzierbarkeit in C und der (totalen) reellen Differenzierbarkeit in R2 auf.

Zur Erinnerung: Für eine offene Teilmenge D ⊆ R2 heißt eine Funktion f : D → R in (x0, y0) ∈D total differenzierbar, wenn es eine lineare Abbildung L : R2 → R gibt mit

limh,k→0

f (x0 + h, y0 + k)− f (x0, y0)− L(h, k)||(h, k)|| = 0,

wobei ||(h, k)|| =√

h2 + k2 die Euklid’sche Norm bezeichnet. Die lineare Abbildung L =d f (x0, y0) ist dann eindeutig durch f und (x0, y0) bestimmt. Schreibt man

L(h, k) = A h + B k mit A, B ∈ R,

so sind A = ∂ f∂x (x0, y0) und B = ∂ f

∂y (x0, y0) die partiellen Ableitungen von f in (x0, y0).

Für eine offene Teilmenge D ⊆ R2 heißt eine Funktion f = (u, v) : D → R2 mit u : D → R,v : D → R total differenzierbar in (x0, y0) ∈ D genau dann, wenn u und v in (x0, y0) totaldifferenzierbar sind.

Einen Zusammenhang zwischen reeller und komplexer Differenzierbarkeit stellt nun folgenderwichtiger Satz her.

Satz 3.13. Sei D ⊆ C offen, z0 in D enthalten und f : D → C eine Funktion. Sei weiter z = x + i ymit x, y ∈ R und insbesondere z0 = x0 + i y0. Schreiben wir nun f (x, y) = u(x, y) + i v(x, y) mitu(x, y), v(x, y) ∈ R, so sind folgende Aussagen äquivalent.

(i) f ist in z0 komplex differenzierbar.

(ii) f ist in (x0, y0) total reell differenzierbar, und es gelten die Cauchy-Riemann’schen Differen-tialgleichungen

∂u∂x

(x0, y0) =∂v∂y

(x0, y0),

∂u∂y

(x0, y0) = −∂v∂x

(x0, y0).

Beweis. Sei f in z0 komplex differenzierbar und f ′(z0) =: w0. Dann gilt nach Definition

0 = limt→0

∣∣∣∣ f (z0 + t)− f (z0)

t− w0

∣∣∣∣ = limt→0

∣∣∣∣ f (z0 + t)− f (z0)− w0 · tt

∣∣∣∣ ,was äquivalent zu

0 = limt→0

f (z0 + t)− f (z0)− w0 · t|t|

ist. Schreiben wir w0 = u0 + i v0 mit u0, v0 ∈ R und t = h + i k mit h, k ∈ R, so gilt:

w0 · t = u0 h− v0 k + i(u0 k + v0 h)

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3.2. Komplex differenzierbare Funktionen 38

Nach Aufspaltung in Real- und Imaginärteil ist dies äquivalent zu

limh,k→0

u(x0 + h, y0 + k)− u(x0, y0)− (u0 h− v0 k)||(h, k)|| = 0,

limh,k→0

v(x0 + h, y0 + k)− v(x0, y0)− (u0 k + v0 h)||(h, k)|| = 0.

(3.1)

Setzen wirL1(h, k) := u0 h− v0 k und L2(h, k) := v0 h + u0 k,

so sind L1 und L2 lineare Abbildungen von R2 → R. (3.1) bedeutet also genau, dass u und v in(x0, y0) total differenzierbar sind und die Gleichungen

∂u∂x

(x0, y0) = u0 =∂v∂y

(x0, y0),

∂u∂y

(x0, y0) =−v0 = − ∂v∂x

(x0, y0)

gelten.

Wir haben gerade im Beweis sogar etwas mehr gezeigt, nämlich

f ′(z0) = w0 = u0 + i v0 =∂u∂x

(x0, y0) + i∂v∂x

(x0, y0) =∂ f∂x

(x0, y0),

i f ′(z0) = i w0 = i u0 − v0 = i∂v∂y

(x0, y0) +∂u∂y

(x0, y0) =∂ f∂y

(x0, y0).(3.2)

Korollar. Sei D ⊆ C ein Gebiet, d. h. D ⊆ C offen und zusammenhängend. Sei f : D → C auf Dholomorph und f ′(z) = 0 für alle z ∈ D. Dann ist f konstant auf D.

Beweis. Wir schreiben wieder z = x + i y mit x, y ∈ R und f (z) = u(x, y) + i v(x, y). Nach Satz3.13 ist f auf D total reell differenzierbar, und es gilt (3.2). Mit der Voraussetzung 0 ≡ f ′(z) ≡i f ′(z) folgt daraus

0 ≡ ∂u∂x

+ i∂v∂x

=∂u∂y

+ i∂v∂y

.

Komponentenweise können wir

∂u∂x

=∂v∂x

=∂v∂y

=∂u∂y

= 0

ablesen. Da nach Voraussetzung D ⊆ C ∼= R2 ein Gebiet ist, können wir einen Satz aus derAnalysis 2 anwenden, der besagt, dass u und v auf D konstant sein müssen. Es folgt schließlich,dass auch f auf D konstant ist.

Wie wir im Beweis gerade gesehen haben, ist es aufgrund der komplizierten Notation rechtumständlich mit den partiellen Ableitungen von u und v nach x und y zu arbeiten. Wir werdendaher in Zukunft gelegentlich vereinfachend ux, uy, vx, vy für ∂u

∂x , ∂u∂y , ∂v

∂x , ∂v∂y schreiben.

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39 Kapitel 3. Komplexwertige Funktionen

3.3 Potenzreihen

Wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, stellen Polynome mit Koeffizienten in C stetsholomorphe Funktionen auf ganz C dar und haben eine leicht zu bestimmende Ableitung. Indiesem Abschnitt wollen wir untersuchen, wie sich Potenzreihen in dieser Hinsicht verhalten,die ja sozusagen „Polynome von unendlichem Grad“ sind. Wir bauen die entsprechende Theo-rie aus der reellen Analysis nach, oftmals mit den wortwörtlich gleichen Beweisen.

Definition 3.14. Eine unendliche Reihe der Form∞∑

ν=0

aν(z− z0)ν mit aν ∈ C

heißt Potenzreihe mit den Koeffizienten aν und um den Entwicklungspunkt z0. Die Menge der z ∈ C,für die die Reihe konvergiert, heißt der Konvergenzbereich der Reihe.

Definition 3.15. Sei A ⊆ C eine Teilmenge und für jedes n ∈ N eine Funktion fn : A → C gegeben.Dann heißt die Folge ( fn)n∈N auf A gleichmäßig konvergent, wenn es eine Funktion f : A→ C gibt,für die es für alle ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N gibt mit

| fn(z)− f (z)| < ε für alle n ≥ N und alle z ∈ A.

Lemma 3.16 (Cauchy-Kriterium für Folgen). Sei A ⊆ C eine Teilmenge und für jedes n ∈ N eineFunktion fn : A→ C gegeben.

(a) Genau dann ist ( fn)n∈N auf A gleichmäßig konvergent, wenn es für alle ε > 0 ein N = N(ε) ∈N gibt mit

| fm(z)− fn(z)| < ε für alle m, n ≥ N und alle z ∈ A.

(b) Ist ( fn)n∈N auf A gleichmäßig konvergent gegen f : A → C und sind alle fn auf A stetig, so istauch f auf A stetig.

Beweis. Wie in Analysis 1.

Definition 3.17. Eine Reihe∑∞

n=1 fn(z) mit Funktionen fn : A → C heißt auf A gleichmäßigkonvergent, wenn die Folge der Partialsummen (SN)N∈N auf A gleichmäßig konvergiert. Hierbei istwie in Analysis 1 die N-te Partialsumme gegeben durch

SN =N∑

n=1

fn(z).

Lemma 3.18 (Cauchy-Kriterium für Reihen). Sei A ⊆ C eine Teilmenge und für jedes n ∈ N eineFunktion fn : A→ C gegeben.

(a) Genau dann ist∑∞

ν=1 fν(z) auf A gleichmäßig konvergent, wenn es für alle ε > 0 ein N =N(ε) ∈ N gibt mit

| fn(z) + fn+1(z) + . . . + fn+p(z)| < ε für alle n ≥ N, alle p ∈ N und alle z ∈ A.

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3.3. Potenzreihen 40

(b) Sei∑∞

ν=1 aν mit aν ∈ R≥0 eine Majorante von∑∞

ν=1 fν(z) auf A, gelte also

aν ≥ | fν(z)| für alle z ∈ A.

Konvergiert dann∑∞

ν=1 aν, so ist∑∞

ν=1 fν(z) auf A gleichmäßig absolut konvergent, es istalso

∑∞ν=1 | fν(z)| auf A gleichmäßig konvergent.

Nach (a) ist unter diesen Voraussetzungen auch∑∞

ν=1 fν(z) selbst auf A gleichmäßig konvergent.

Beweis. Wie in Analysis 1.

Beispiel. Sei 0 ≤ q < 1 fest. Ist |z| ≤ q, so folgt |z|n ≤ qn für alle n ∈ N. Die Reihe∑∞

n=0 qn < ∞ist also eine konvergente Majorante von

∑∞n=0 zn auf A := {z ∈ C | |z| ≤ q}. Mit Teil (b) von Lemma

3.18 folgt, dass∑∞

n=0 zn auf A gleichmäßig absolut konvergent ist.

Lemma 3.19. Ist die Potenzreihe∑∞

n=0 an(z − z0)n für z = z1 konvergent und gilt r := |z1 − z0|,so konvergiert sie für alle z ∈ Ur(z0). Ferner konvergiert die Reihe gleichmäßig absolut auf jedemabgeschlossenen Kreis |z− z0| ≤ $ < r.

Beweis. Da∑∞

n=0 an(z1 − z0)n konvergiert, bilden die Glieder dieser Reihe eine Nullfolge, ins-besondere also eine beschränkte Folge. Also existiert ein c > 0 mit

|an|rn = |an(z1 − z0)n| ≤ c für alle n ∈ N, 16

was sich zu|an| ≤

crn für alle n ∈ N

umschreiben lässt, wenn wir ohne Einschränkung annehmen, r sei positiv. Für |z− z0| ≤ $ < rfolgt hieraus

|an(z− z0)n| = |an| |z− z0|n ≤

crn $n = c qn mit q :=

$

r.

Wegen $ < r ist q < 1. Da sowieso q ≥ 0 gilt, ist die Reihe∑∞

n=0 qn konvergent, also wie imBeispiel eine konvergente Majorante für die Potenzreihe

∑∞n=0 an(z− z0)n auf |z− z0| ≤ $.

Satz 3.20. Zu jeder vorgegebenen Potenzreihe∑∞

n=0 an(z− z0)n existiert genau ein r ∈ [0, ∞)∪ {∞},Konvergenzradius genannt, mit folgenden Eigenschaften.

(i) In jedem abgeschlossenen Kreis |z− z0| ≤ $ < r ist die Reihe gleichmäßig absolut konvergent.

(ii) Für |z− z0| > r ist die Reihe divergent.

(iii) Es gilt die Formel von Cauchy-HADAMARD17

r =1

lim supn→∞

n√|an|

.

16Bislang war die Frage, ob Null in den natürlichen Zahlen liegt, nicht wichtig. Hier soll n auch den Wert Nullannehmen dürfen. Wir halten also fest: Für uns ist in dieser Vorlesung stetsN = {0, 1, 2, 3, . . .}.

17Jacques Hadamard (1865 - 1963)

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41 Kapitel 3. Komplexwertige Funktionen

Bemerkung 3.21. (a) Sei (bn)n∈N eine Folge nicht-negativer reeller Zahlen. Nehmen wir zunächstan, (bn)n∈N sei nach oben beschränkt. Dann ist die Menge M der Häufungspunkte von (bn)n∈Nnichtleer und nach oben beschränkt. In diesem Fall setzen wir

lim supn→∞

bn := sup M.

Sei nun andererseits (bn)n∈N nicht nach oben beschränkt. In diesem Fall setzen wir

lim supn→∞

bn := ∞.

Ist (bn)n∈N konvergent, so gilt lim supn→∞ bn = limn→∞ bn.

(b) Ist lim supn→∞

n√|an| = 0 (bzw. ∞), so ist r = ∞ (bzw. r = 0) zu setzen.

(c) Die Formel von Cauchy-Hadamard ist nicht immer zweckmäßig, um r auszurechnen.

Beweis von Satz 3.20. (i) und (ii) und insbesondere die Existenz von r folgen unmittelbar ausLemma 3.19.

Um Behauptung (iii) zu beweisen, zeigen wir nun, dass mit dem gewählten Wert für r die Reihefür 0 ≤ |z− z0| < r konvergiert und für |z− z0| > r divergiert.

Sei dafür zunächst 0 < r ≤ ∞. Wir wählen ein $ ∈ (0, r). Für dieses gilt

lim supn→∞

n√|an| =

1r<

1$

,

so dass es ein N ∈ N gibt mit n√|an| < 1

$ für alle n ≥ N, also

|an(z− z0)n| <

(|z− z0|

$

)n

für alle n ≥ N.

Wie man durch Vergleich mit der geometrischen Reihe einsieht, konvergiert somit die Reihe∑∞n=0 an(z− z0)n für |z−z0|

$ < 1, also für |z− z0| < $. Da $ ∈ (0, r) beliebig gewählt war, folgtdie erste Hälfte von (iii).

Sei nun 0 ≤ r < ∞. Wir wählen ein $ ∈ (r, ∞). Für dieses gilt

1$<

1r= lim sup

n→∞

n√|an|.

Daher existiert eine Folge (np)p∈N natürlicher Zahlen mit

1$<∣∣anp

∣∣ 1np für alle p ∈ N,

also $−np < |anp |. Für |z− z0| > $ folgt deshalb∣∣anp(z− z0)np∣∣ > 1 für alle p ∈ N.

Die Glieder der Reihe∑∞

n=0 an(z− z0)n bilden somit keine Nullfolge, so dass letztere in diesemFall nicht konvergiert. Da $ ∈ (r, ∞) beliebig gewählt war, folgt die zweite Hälfte von (iii).

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3.3. Potenzreihen 42

Beispiel. (a)∑∞

n=0 nn zn hat Konvergenzradius r = 0. (Cauchy-Hadamard)

(b)∑∞

n=0zn

n! hat Konvergenzradius r = ∞. (siehe Proposition 3.26)

(c) Hat∑∞

n=0 an(z− z0)n Konvergenzradius r, so hat auch die (gliedweise abgeleitete) Reihe

∞∑n=1

n an(z− z0)n−1

Konvergenzradius r,

denn: Wegen n√

n n→∞→ 1 hat∑∞

n=1 n an(z− z0)n Konvergenzradius r. Da (z− z0) nicht von nabhängt, folgt mit

∞∑n=1

n an(z− z0)n = (z− z0)

∞∑n=1

n an(z− z0)n−1

die Behauptung. #

Satz 3.22. Sei∑∞

n=0 an(z− z0)n eine Potenzreihe mit Konvergenzradius r > 0, und sei f (z) die durchdiese Reihe auf Ur(z0) gegebene Funktion. Dann ist f (z) auf Ur(z0) holomorph, und es gilt

f ′(z) =∞∑

n=1

n an(z− z0)n−1 für alle z ∈ Ur(z0).

Beweis. Ohne Einschränkung können wir z0 = 0 annehmen, sonst führen wir eine Translationum −z0 durch. Für jedes N ∈ N schreiben wir dann

f (z) = sN(z) + RN(z) mit sN(z) :=N−1∑n=0

an zn und RN(z) :=∞∑

n=N

an zn.

Sei weiter

f1(z) :=∞∑

n=1

n an zn−1 für alle |z| < r

die aus Punkt (c) des Beispiels bekannte Reihe. Da Polynome gliedweise abgeleitet werden, gilt

f1(z) = limN→∞

s′N(z) für alle |z| < r. (3.3)

Der Satz folgt, wenn wir zeigen können, dass f (z) für |z| < r komplex differenzierbar ist undf ′(z) = f1(z) gilt. Wir untersuchen also die Differenzierbarkeit in z1 ∈ C mit |z1| < r. Seiendafür $ ∈ (|z1|, r) und z ∈ Cr {z1}mit |z| < $.

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43 Kapitel 3. Komplexwertige Funktionen

Abbildung 3.1: z darf im rot markierten Bereich liegen, solange es nicht z1 trifft.

Für dieses z gilt

f (z)− f (z1)

z− z1− f1(z1) =

sN(z) + RN(z)− sN(z1)− RN(z1)

z− z1− f1(z1)

=sN(z)− sN(z1)

z− z1− s′N(z1) + s′N(z1)− f1(z1) +

RN(z)− RN(z1)

z− z1.

(3.4)

Es gilt nun natürlich die einzelnen Terme im Betrag nach oben abzuschätzen und zu zeigen,dass der Gesamtausdruck für z gegen z1 verschwindet. Wir betrachten zunächst den letztenTerm. Dieser lässt sich umschreiben zu

RN(z)− RN(z1)

z− z1=

∞∑n=N

anzn − zn

1z− z1

=∞∑

n=N

an

(zn−1 + zn−2 z1 + . . . + z zn−2

1 + zn−11

),

was uns wegen |z1|, |z| < $ < r die Abschätzung∣∣∣∣RN(z)− RN(z1)

z− z1

∣∣∣∣ < ∞∑n=N

|an| n $n−1 <∞∑

n=N

|an| n rn−1

liefert. Nach Teil (c) des Beispiels konvergiert die Reihe in der Mitte, so dass es für jedes ε > 0ein geeignetes NR = NR(ε) ∈ N gibt mit∣∣∣∣RN(z)− RN(z1)

z− z1

∣∣∣∣ < ε

3für alle N ≥ NR und alle z ∈ Cr {z1}mit |z| < $.

Wegen (3.3) gibt es zu demselben ε > 0 wie gerade eben ein N1 ∈ Nmit

|s′N(z1)− f1(z1)| <ε

3für alle N ≥ N1.

Sei jetzt N > max{NR, N1}. Da sN(z) in z1 komplex differenzierbar ist, existiert zu dem gege-benen ε > 0 ein δ > 0 mit∣∣∣∣ sN(z)− sN(z1)

z− z1− s′N(z1)

∣∣∣∣ < ε

3für alle z ∈ Cmit 0 < |z− z1| < δ.

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3.4. Die Exponentialfunktion und die trigonometrischen Funktionen im Komplexen 44

Wir dürfen hierbei ohne Einschränkung δ > 0 so klein wählen, dass |z− z1| < δ schon |z| < $impliziert.18 Setzen wir unsere Ergebnisse in (3.4) ein, so folgt insgesamt für 0 < |z− z1| < δ∣∣∣∣ f (z)− f (z1)

z− z1− f1(z1)

∣∣∣∣ < ε

3+

ε

3+

ε

3= ε

und somit die Behauptung.

Bemerkung 3.23. Leiten wir f (z) sukzessive ab, so erhalten wir durch vollständige Induktion für allek ∈ N

f (k)(z) =∞∑

n=0

(n + k)!n!

an+k(z− z0)n für alle |z− z0| < r.

Setzen wir speziell z = z0, so folgt f (k)(z0) = k! ak, also ak = f (k)(z0)k! für alle k ≥ 0. Insgesamt lässt

sich daher f (z) umschreiben zu

f (z) =∞∑

n=0

f (n)(z0)

n!(z− z0)

n für alle |z− z0| < r. (TAYLORformel19 für Potenzreihen)

3.4 Die Exponentialfunktion und die trigonometrischen Funktionen im Komplexen

In der reellen Analysis spielen die durch Potenzreihen definierten Funktionen ex, sin x undcos x eine gewichtige Rolle. Wir werden sehen, dass dies in der Funktionentheorie nicht andersist, und führen die genannten Funktionen nun auch im Komplexen ein.

Definition 3.24. Für z ∈ C heißt ez := exp z :=∞∑

n=0

zn

n!die (komplexe) Exponentialfunktion.

Bemerkung 3.25. Die komplexe Exponentialfunktion exp z setzt die reelle Exponentialfunktionexp x =

∑∞n=0

xn

n! „natürlich“ ins Komplexe fort. Wir werden gleich in Proposition 3.26 sehen, dassexp z eine holomorphe Funktion auf ganz C ist, und in einem Korollar von Satz 5.6 verstehen, dass siedie einzige holomorphe Fortsetzung von exp x nach C ist.

Proposition 3.26. Es gelten die folgenden Aussagen.

(a) Die Potenzreihe exp z hat Konvergenzradius r = ∞.

(b) Die Ableitung von exp z ist für alle z ∈ C durch exp′ z = exp z gegeben.

(c) Für alle z, w ∈ C gilt das Additionstheorem ez+w = ez · ew.

(d) Für z = x + i y mit x, y ∈ R hat exp(z) die Darstellung

ez = ex ei y mit |ez| = ex und |ei y| = 1.18Es genügt hierfür offensichtlich δ < $− |z1| zu wählen.19Brook Taylor (1685 - 1731)

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45 Kapitel 3. Komplexwertige Funktionen

Beweis. Wir berechnen den Konvergenzradius von exp z mit dem Quotientenkriterium.20 Seidafür z ∈ Cr {0} fest gewählt und an = zn

n! . Dann gilt

∣∣∣∣ an+1

an

∣∣∣∣ =∣∣∣∣∣∣

zn+1

(n+1)!zn

n!

∣∣∣∣∣∣ = |z|n + 1

<12

für n hinreichend groß.

Die Exponentialreihe konvergiert also für alle z ∈ C absolut, was (a) zeigt.

Nach Satz 3.22 dürfen wir exp z gliedweise ableiten. (b) folgt mit

ddz

z0

0!=

ddz

1 = 0 undddz

zn

n!=

n zn−1

n!=

zn−1

(n− 1)!für alle n > 0.

Wir wollen nun das Additionstheorem zeigen. Dafür betrachten wir für ein fest gewähltesc ∈ C die Funktion f (z) := ez · ec−z. Diese ist als Produkt holomorpher Funktionen auf Cholomorph, und es gilt nach (b) und der Produkt- und der Kettenregel für Ableitungen

f ′(z) = ez · ec−z + (−1) ez · ec−z = 0 ∀z ∈ C.

Da C ein Gebiet ist, ist nach dem Korollar von Satz 3.13 f (z) = C ∈ C konstant. Setzt man indieser Gleichung z = 0, so erhält man C = f (0) = ec. Daher folgt für alle c ∈ C

ez ec−z = ec für alle z ∈ C.

Für c = z + w gilt dann speziell

ez ew = ez+w für alle z, w ∈ C,

so dass wir auch (c) gezeigt haben.

20Gemeint ist das übliche Quotientenkriterium für Reihen komplexer Zahlen, nicht das Quotientenkriterium fürPotenzreihen. Letzteres ist eine Verallgemeinerung von ersterem und besagt:

Sei z0 ∈ C eine komplexe Zahl und∑∞

n=0 an(z− z0)n eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R, welche für alle

n ∈ N die Bedingung an 6= 0 erfüllt. Dann gilt

lim infn→∞

|an||an+1|

≤ R ≤ lim supn→∞

|an||an+1|

.

Insbesondere gilt R = limn→∞|an ||an+1| , falls der Grenzwert existiert. Dies zeigen wir in Übungsaufgabe 3.5

Ein Beispiel, das die Schwächen des Quotientenkriteriums für Potenzreihen aufzeigt, ist übrigens durch die Reihe∑∞n=0 anzn mit

an =

{( 23)n für gerades n,

2n−1

3n+1 für ungerades n

gegeben. Nach Cauchy-Hadamard gilt offenbar R = 32 . Für die Quotienten gilt nur

lim infn→∞

|an||an+1|

=14< R < 9 = lim sup

n→∞

|an||an+1|

.

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3.4. Die Exponentialfunktion und die trigonometrischen Funktionen im Komplexen 46

Zum Beweis von (d) verwenden wir zunächst das soeben gezeigte Additionstheorem und er-halten

ez = ex+iy = ex eiy.

Wegen|ez| = |ex eiy| = |ex| · |eiy| = ex · |eiy|

folgt Behauptung (d), wenn wir zeigen können, dass eiy für alle y ∈ R Betrag 1 hat. Aber fürein allgemeines z ∈ C gilt

ez =∞∑

n=0

zn

n!=

∞∑n=0

zn

n!= ez,

denn gilt limn→∞ sn = s, so auch limn→∞ sn = s. Ist speziell z = iy mit y ∈ R, so gilt also

eiy = eiy = e−iy

und|eiy|2 = eiy · eiy = eiy · e−iy = eiy−iy = e0 = 1,

so dass wir auch die letzte Aussage der Proposition bewiesen haben.

Definition 3.27. Für z ∈ C definieren wir die komplexen trigonometrischen Funktionen21 Kosinusund Sinus durch:

cos z :=eiz + e−iz

2und sin z :=

eiz − e−iz

2i.

Proposition 3.28. (a) Für alle z ∈ C gelten die Reihenentwicklungen

cos z = 1− z2

2!+

z4

4!− . . . und sin z = z− z3

3!+

z5

5!− . . . .

Insbesondere stimmen Sinus und Kosinus für reelle z mit den jeweils gleich benannten Funktionenaus der reellen Analysis überein.

(b) Für alle z ∈ C gilt die EULER’sche Formel22

eiz = cos z + i sin z.

Insbesondere gilt für alle y ∈ Reiy = cos y + i sin y.

(c) Für alle z ∈ C giltcos2 z + sin2 z = 1.

(d) Für alle z ∈ C geltensin′ z = cos z und cos′ z = − sin z.

21Der Begriff der trigonometrischen Funktionen wurde übrigens zum ersten Mal 1595 vom damaligen Heidel-berger Oberhofprediger BARTOLOMÄUS PITISCUS (1561 - 1613) in seiner Arbeit Trigonometria: sive de solutione trian-gulorum tractatus brevis et perspicuus verwendet. (Quelle: Robert E. Krebs: Groundbreaking scientific experiments,inventions, and discoveries of the Middle Ages and the Renaissance. Greenwood Publishing Group, 2004)

22Leonhard Euler (1707 - 1783)

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47 Kapitel 3. Komplexwertige Funktionen

Beweis. Für alle z ∈ C gilt nach Definition

cos z =eiz + e−iz

2=

12

(∞∑

n=0

(iz)n

n!+

∞∑n=0

(−iz)n

n!

)=

12

∞∑n=0

zn

n!(in + (−i)n).

Im Summanden gilt

in + (−i)n = (1 + (−1)n)in =

{0 für ungerades n,2 · (−1)n/2 für gerades n,

so dass die Behauptung folgt. Die entsprechende Formel für sin z zeigt man analog.

Die Eulerformel (b) folgt durch Einsetzen der Definitionen von Sinus und Kosinus:

cos z + i sin z =eiz + e−iz

2+ i

eiz − e−iz

2i= eiz.

Als unmittelbare Folgerung sehen wir

cos2 z + sin2 z = (cos z + i sin z) · (cos z− i sin z)(a)= (cos z + i sin z) · (cos(−z) + i sin(−z))(b)= eiz · e−iz = e0 = 1.

Die Ableitung des Sinus berechnet sich als

sin′ z =i eiz + i e−iz

2i=

eiz + e−iz

2= cos z,

für die Ableitung des Kosinus verfährt man analog.

Bemerkung 3.29. (a) Setzen wir in die Eulerformel z = 2π ein, erhalten wir

e2π i = cos 2π + i sin 2π = 1.

Mit dem Additionstheorem folgt ez+2π i = ez, dass also ez periodisch ist mit Periode 2π i.23 Ähn-lich berechnet man weitere spezielle Werte der Exponentialfunktion, vgl. Übungsaufgabe 3.4.

(b) Mit der Eulerformel ist klar, dass exp z in den ganzzahligen Vielfachen von 2π i zu Eins wird. Esgilt aber sogar die Äquivalenz

ez = 1 ⇐⇒ z = 2πik mit k ∈ Z,

denn: Für ez = 1 gilt insbesondere ex = |ez| = 1, was genau für x = 0 richtig ist. Es folgt also

1 = ez = eiy = cos y + i sin y,

so dass y ein ganzzahliges Vielfaches von 2π sein muss, was zu zeigen war. #

(c) Die übrigen trigonometrischen Funktionen definiert man vermittels der nun bekannten Funktio-nen Sinus und Kosinus. So ist beispielsweise

tan z :=sin zcos z

für alle z ∈ C mit cos z 6= 0.

23Hierfür benötigen wir noch ez 6= 0, was aber aus e−z · ez = e0 = 1 folgt.

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3.5. Der komplexe Logarithmus 48

3.5 Der komplexe Logarithmus

In der reellen Analysis hat die Exponentialfunktion eine Umkehrfunktion, den Logarithmus,die ebenfalls sehr wichtig ist. In Analogie hierzu definieren wir zunächst

Definition 3.30. Sei w ∈ Cr {0}. Dann heißt jede Lösung der Gleichung ez = w ein Logarithmusvon w.

Man schreibt dann ungenau z = log w. Das Problem hierbei ist, dass die komplexe Exponen-tialfunktion nach Bemerkung 3.29 periodisch und insbesondere nicht auf ganz C injektiv ist.Genauer bedeutet dies

Proposition 3.31. Jedes w ∈ Cr {0} hat unendlich viele Logarithmen. Schreiben wir w = |w| ·(cos ϕ + i sin ϕ) in Polarkoordinaten, so sind diese durch

log w = log |w|+ i ϕ + 2πi k für alle k ∈ Z

gegeben, wobei log |w| der gewöhnliche Logarithmus der positiven reellen Zahl |w| ist.

Man sagt auch ungenau: Der Logarithmus von w ist durch log |w|+ i arg w gegeben, wobei arg wdas Argument von w ist.

Beweis von Proposition 3.31. Für ein beliebiges k ∈ Z gilt mit dem Additionstheorem

elog |w|+i ϕ+2π i k = elog |w| ei ϕ e2π i k = |w| · (cos ϕ + i sin ϕ) · 1 = w.

Sei umgekehrt ez = w = |w| · (cos ϕ + i sin ϕ). Schreiben wir z = x + yi mit x, y ∈ R undnehmen Absolutbeträge, so erhalten wir |ez| = |w| = ex und also x = log |w|. Da andererseits

ex · (cos y + i sin y) = ex eyi = ez = |w| · (cos ϕ + i sin ϕ)

gilt, folgtcos y + i sin y = cos ϕ + i sin ϕ,

alsoy = ϕ + 2π k mit einem k ∈ Z

und somit die Behauptung.

Es liegt nun nahe, die Eindeutigkeit des Logarithmus’ durch geschickte Wahl eines Vertreterswieder herzustellen.

Definition 3.32. Für w ∈ Cr {0} schreiben wir

Log w := log |w|+ i Arg w. mit − π < Arg w ≤ π Hauptwert des Arguments.

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49 Kapitel 3. Komplexwertige Funktionen

Proposition 3.33. (a) Die Einschränkung exp |A der komplexen Exponentialfunktion auf die Menge

A := {z = x + yi ∈ C | −π < y ≤ π}

liefert eine Bijektion von A auf Cr {0}, deren Umkehrabbildung durch w 7→ Log w gegeben ist.

(b) Die Funktion Log w ist unstetig in allen Punkten der negativen reellen Achse.

Beweis. Wir wollen zunächst die Injektivität der Exponentialfunktion zeigen. Sei dafür ez = ez′

mit z, z′ ∈ A. Dann gilt ez−z′ = 1, also z− z′ ∈ 2π iZ. Das ist gleichbedeutend mit

x = x′ und y− y′ = 2πk für ein k ∈ Z.

Da nach Voraussetzung −π < y, y′ ≤ π gilt, folgt z = z′ und die Injektivität.

Die Surjektivität von exp(z)|A : A→ Cr {0} ist klar,

denn: Für w ∈ Cr {0} können wir in Polarkoordinaten w = |w| · (cos y + i sin y) schreiben mity ∈ (−π, π]. Die reelle Exponentialfunktion exp : R → R>0 ist surjektiv, so dass es ein x ∈ Rgibt mit |w| = ex. Mit der Eulergleichung aus Teil (b) von Proposition 3.28 folgt

w = ex · eyi = ex+yi.

Wir haben also mit z := x + yi ein Urbild von w in A gefunden und somit die Surjektivitätgezeigt. #

Nach Definition wird die Umkehrabbildung durch w 7→ Log w gegeben, so dass Behauptung(a) gezeigt ist.

Es verbleibt zu zeigen, dass Log w in allen Punkten der negativen reellen Achse unstetig ist.Das zeigen wir wie in Teil (b) des Beispiels in Abschnitt 3.1, wo wir schon einen Spezialfallbewiesen haben. Seien also x0 ∈ R<0 und t ∈ R beliebig. Dann gilt

Log(x0 + ti) = log |x0 + ti|+ i Arg(x0 + ti)

und also

limt↓0

Log(x0 + ti) = log |x0|+ i limt↓0

Arg(x0 + ti) = log |x0|+ πi,

limt↑0

Log(x0 + ti) = log |x0|+ i limt↑0

Arg(x0 + ti) = log |x0| − πi.

Daher kann Log w in w = x0 nicht stetig sein, und (b) ist gezeigt.

Unter exp wird das Komplement der Geraden y = π in A genau auf die längs der negativenreellen Achse geschlitzte C-Ebene

C− := Cr {u ∈ R | u ≤ 0}

abgebildet, denn ex+πi = ex · (−1) = −ex.

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3.5. Der komplexe Logarithmus 50

Satz 3.34. Die Funktion Log w ist auf C− holomorph. Es gilt

Log′ w =1w

für alle w ∈ C−.

Beweis. Für w0 ∈ C− schreiben wir Log w0 =: z0 =: x0 + y0i mit x0, y0 ∈ R. Nach Definitiongilt dann |y0| < π. Für ε > 0 betrachten wir die Menge

K := {z = x + yi | |y| ≤ π, |x− x0| ≤ log 2, |z− z0| ≥ ε}.

Diese ist als Durchschnitt dreier abgeschlossener Mengen selbst abgeschlossen und für hinrei-chend kleines ε auch nichtleer. Da K offensichtlich beschränkt ist, ist es sogar kompakt. Dahernimmt die stetige reellwertige Funktion z 7→ |ez − ez0 | auf K ihr Minimum m an. Es ist hierbeim > 0,

denn: Wäre m = 0, so gäbe es in K ein z mit |ez − ez0 | = 0. Wie im Beweis der Injektivität inProposition 3.33 und mit |y0| < π folgte dann z = z0. Andererseits gälte |z− z0| ≥ ε > 0 wegenz ∈ K, was offensichtlich nicht beides sein kann. Also ist m > 0. #

Wir zeigen nun die Stetigkeit von Log w in w0: Sei δ := min{m, ex02 } > 0, und sei w ∈ C− mit

|w− w0| < δ. Dann folgt |Log w− Log w0| < ε,

denn: Sei z = Log w. Angenommen, es gälte |z− z0| = |Log w−Log w0| ≥ ε. Wir wollen zeigen,dass dann z ∈ K folgte. Dies stünde wegen |w− w0| = |ez − ez0 | ≥ m ≥ δ im Widerspruch zurVoraussetzung |w − w0| < δ. Um z ∈ K zu zeigen, genügt es |x − x0| ≤ log 2 zu zeigen, dadie Bedingung |y| ≤ π für w ∈ C− automatisch erfüllt ist. Wir müssen also x0 − log 2 ≤ x ≤x0 + log 2 zeigen.

Fall 1: x > x0 + log 2. Dann folgt:

12 ex0 ≥ δ > |w− w0| = |ez − ez0 |

≥∣∣|ez| − |ez0 |

∣∣ = |ex − ex0 | ≥ ex − ex0

> ex0+log 2 − ex0 = 2ex0 − ex0 = ex0 .

Fall 2: x < x0 − log 2. Dann folgt:

12 ex0 ≥ δ > |w− w0| = |ez − ez0 |

= |ez0 − ez| ≥∣∣|ez0 | − |ez|

∣∣ = |ex0 − ex|≥ ex0 − ex > ex0 − ex0−log 2 = ex0 − 1

2 ex0

= 12 ex0

#

Wir zeigen jetzt, dass Log w in w0 komplex differenzierbar ist, und dass Log′ w0 = 1w0

gilt. Seidafür (wn)n>1 eine Folge mit wn ∈ C− r {w0} und limn→∞ wn = w0. Sei zn := Log wn für allen ∈ N. Wegen der Stetigkeit von Log folgt dann also limn→∞ zn = z0 und somit

1w0

=1

ez0=

1limn→∞

ezn−ez0zn−z0

, ((ez)′(z0) = ez0)

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51 Kapitel 3. Komplexwertige Funktionen

= limn→∞

1ezn−ez0zn−z0

= limn→∞

zn − z0

ezn − ez0

= limn→∞

Log wn − Log w0

wn − w0.

Damit ist der Satz bewiesen.

Definition 3.35. Die holomorphe Funktion Log : C− → C heißt der Hauptzweig des (komplexen)Logarithmus.

Übungsaufgaben

Aufgabe 3.1. Sei U ⊆ C offen, und sei f : U → C gegeben als

f (z) = f (x, y) = u(x, y) + iv(x, y) mit u = Re( f ), v = Im( f ) ∈ C1(U).

Seien weiter∂ f∂z

:=12

(∂ f∂x− i

∂ f∂y

)und

∂ f∂z

:=12

(∂ f∂x

+ i∂ f∂y

).

Zeigen Sie dann die folgenden Aussagen.

(a)(

∂u∂x

=∂v∂y

und∂u∂y

= − ∂v∂x

)⇐⇒ ∂ f

∂z= 0.

(b) u, v ∈ C2(U) =⇒ 4∂

∂z∂

∂zf = 4

∂z∂

∂zf = ∆ f :=

(∂2

∂x2 +∂2

∂y2

)f .

(c)(u, v ∈ C2(U) und f holomorph

)=⇒ ∆u = ∆v = 0.

Bemerkung. Eine zweimal (reell) stetig differenzierbare Funktion h : U → R mit ∆h = 0 heißtauch harmonische Funktion. Wie wir in Satz 4.25 sehen werden, folgt aus der Holomorphie von fautomatisch u, v ∈ C∞(U). Nach Teil (c) sind also Real- und Imaginärteile holomorpher Funktionenstets harmonisch.

Aufgabe 3.2. Kurz nachdem der kostbare Schatz geborgen und sicher an Bord verstaut worden war,stachen die Erben Käpt’n Schwartbarts in See. Beim Durchqueren der Cauchy-Riemann-See geriet dasSchiff in verhextes Gewässer. Der oberste Maat notierte dieser Tage in sein Logbuch:

8. Mai 1663. Es herrscht absolute Windstille. Unser Schiff ist vollkommen den merkwür-digen Strömungen ausgesetzt, die dieses Meeresgebiet durchziehen. In dieser Lage bleibtuns nichts anderes übrig, als die Änderung der Strömungsgeschwindigkeiten bei Blick nachOsten und Norden je entlang der Blickrichtung und senkrecht dazu zu beobachten. SeitTagen ergibt sich dabei stets unverändert das selbe Bild: Blickt man nach Osten, so ändertsich die Strömungsgeschwindigkeit in Blickrichtung in gleicher Weise, wie sie sich bei Blicknach Norden in Blickrichtung ändert. Andererseits gleicht die Änderung der Strömungs-geschwindigkeit in Richtung Norden bei Blick nach Osten dem negativen Wert derer inRichtung Osten bei Blick nach Norden. Darüber hinaus haben wir in unserer Umgebungbetragsmäßig stets unverändert die gleiche Strömungsgeschwindigkeit gemessen.

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3.5. Der komplexe Logarithmus 52

Trotz des unnatürlichen Wellengangs während der Reise erreichten die Erben schließlich doch nochden sicheren Heimathafen. Welche Route hatte ihr Schiff genommen, wenn es beim Eintreten in dasmysteriöse Gewässer nach Osten gesegelt war?

Aufgabe 3.3. Für zwei komplexe Zahlen a, b ∈ Cr {0} definieren wir rekursiv eine Folge (gn)n∈Ndurch

g0 = b,g1 = a + b,

gn+2 = gn+1 + gn für alle n ∈ N.

(a) Bestimmen Sie den Konvergenzradius der Potenzreihe p(z) =∑∞

n=0 gnzn in Abhängigkeit von aund b. Was ist der größte Konvergenzradius, der auftreten kann?

(b) Zeigen Sie, dass es von a und b abhängige Polynome r(z) und s(z) gibt mit

p(z) =r(z)s(z)

für alle z im Inneren des Konvergenzgebiets von p.

Bemerkung. Für a = 1 und b = 0 ergibt sich die Folge

0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, . . .

der FIBONACCI-Zahlen,24 die im Folgenden mit ( fn)n∈N bezeichnet werden soll. Explizit lassen sichihre Glieder angeben durch

fn =1√5(αn − βn),

wobei α = 1+√

52 und β = 1−

√5

2 = − 1α die beiden Nullstellen des Polynoms X2 − X − 1 ∈ C[X]

bezeichnen.

Aufgabe 3.4. Verifizieren Sie die folgenden Funktionswerte der Exponentialfunktion.

eπ i = −1, e±π i

2 = ±i und eπ i4 =

1 + i√2

Aufgabe 3.5. Sei

f (z) =∞∑

n=0

an(z− z0)n mit an ∈ Cr {0} für alle n ∈ N0

eine Potenzreihe mit Konvergenzradius R und Entwicklungspunkt z0 ∈ C. Zeigen Sie, dass dann

lim infn→∞

|an||an+1|

≤ R ≤ lim supn→∞

|an||an+1|

gilt. Hieraus folgt offensichtlich limn→∞|an||an+1| = R, falls der Grenzwert existiert.

24Leonardo da Pisa, genannt Fibonacci (ca. 1170 - ca. 1240)

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53 Kapitel 3. Komplexwertige Funktionen

Aufgabe 3.6. In dieser Aufgabe soll untersucht werden, in wieweit die bekannten Rechenregeln desreellen Logarithmus und die reellen Potenzrechenregeln ins Komplexe übertragen werden können. Zu-nächst untersuchen wir das Additionstheorem des Logarithmus.

(a) Zeigen Sie, dass für je zwei Punkte z, w ∈ Cr {0} die folgende Äquivalenz gilt.

Log(zw) = Log(z) + Log(w) ⇐⇒ Arg(z) + Arg(w) ∈ (−π, π]

Für w ∈ Cr {0} und a ∈ C setzen wir nun wa := ea Log(w) und untersuchen die bekannten Potenzre-chenregeln. Zeigen Sie also die folgenden Aussagen.

(b) Es gilt wa+b = wawb für alle a, b ∈ C.

(c) Für w, z ∈ Cr {0} und a, b ∈ C gilt im Allgmeinen nicht waza = (wz)a oder (wa)b = wab.Geben Sie jeweils ein Gegenbeispiel an.

(d) Gilt in (c) zusätzlich Re(w), Re(z) > 0, dann gilt waza = (wz)a.

(e) Die Abbildung f : C− → C mit f (z) = zs ist für alle s ∈ C komplex differenzierbar, und es giltf ′(z) = szs−1.

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KAPITEL 4

Komplexe Integrationstheorie

4.1 Komplexe Kurvenintegrale

Definition 4.1. Sei I = [a, b] ⊆ R mit a ≤ b ein abgeschlossenes Intervall, und sei γ : I → C eineAbbildung. Für letztere schreiben wir γ = γ1 + i γ2 mit reellwertigen Abbildungen γ1, γ2. Genau dannheißt γ stetig bzw. differenzierbar bzw. stetig differenzierbar, falls die entsprechenden Aussagen fürγ1 und γ2 gelten. Ist γ differenzierbar, so setzt man γ′ := γ′1 + i γ′2.

Zur Erinnerung: Ist f : [a, b] → R differenzierbar, so bedeutet dies in den Randpunkten a undb, dass die einseitigen Limites

f ′(a) = limx↓a

f (x)− f (a)x− a

und f ′(b) = limx↑b

f (x)− f (b)x− b

existieren.

Lemma 4.2. (a) Summen und Produkte differenzierbarer Funktionen sind wieder differenzierbar,und es gelten die üblichen Rechenregeln.

(b) Sei D ⊆ C offen und f : D → C auf D holomorph. Sei δ : I → C eine differenzierbare Abbildungmit δ(I) ⊆ D. Dann ist auch

γ :

{I → C,t 7→ f (δ(t))

differenzierbar und hat die Ableitung

γ′(t) = f ′(δ(t)

)· δ′(t).

Beweis. (a) ist klar.

54

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55 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

Wir wollen nun (b) zeigen und schreiben dafür f = u + i v und δ = δ1 + i δ2 mit reellwertigenu, v und δ1, δ2. Dann gilt

γ(t) = u(δ1(t), δ2(t)

)+ i v

(δ1(t), δ2(t)

).

Nach der Kettenregel aus Analysis 2 und den Cauchy-Riemann’schen Differentialgleichungen3.13 ist somit γ(t) differenzierbar und hat die Ableitung

γ′(t) =∂u∂x(δ1(t), δ2(t)

)· δ′1(t) +

∂u∂y(δ1(t), δ2(t)

)· δ′2(t)

+ i(

∂v∂x(δ1(t), δ2(t)

)· δ′1(t) +

∂v∂y(δ1(t), δ2(t)

)· δ′2(t)

)=

(∂u∂x(δ1(t), δ2(t)

)+ i

∂v∂x(δ1(t), δ2(t)

)) (δ′1(t) + i δ′2(t)

)(3.2)= f ′

(δ(t)

)· δ′(t).

Definition 4.3. Sei I = [a, b] ⊆ R mit a ≤ b ein abgeschlossenes Intervall, und sei γ : I → C einestetige Abbildung. Wir schreiben wieder γ = γ1 + i γ2 mit reellwertigen Abbildungen γ1, γ2. Dannsind Integrale über die Abbildung γ definiert durch

b∫a

γ(t)dt :=

b∫a

γ1(t)dt + i

b∫a

γ2(t)dt und

a∫b

γ(t)dt := −b∫

a

γ(t)dt.

Lemma 4.4. Sei I = [a, b] ⊆ R mit a ≤ b ein abgeschlossenes Intervall, und seien γ, δ : I → C stetig.Dann gelten die folgenden Aussagen.

(a)

b∫a

(c γ(t) + δ(t)

)dt = c

b∫a

γ(t)dt +

b∫a

δ(t)dt für alle c ∈ C.

(b) Die Abbildung t 7→t∫

aγ(x)dx ist auf I differenzierbar und hat die Ableitung

ddt

t∫a

γ(x)dx

= γ(t).

(c) Ist γ : I → C stetig differenzierbar, so gilt

b∫a

γ′(t)dt = γ(b)− γ(a).

Beweis. (a) ist klar, (b) und (c) folgen sofort aus der Definition und dem Hauptsatz derDifferential- und Integralrechnung.

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4.1. Komplexe Kurvenintegrale 56

Lemma 4.5. Sei I = [a, b] ⊆ R mit a ≤ b ein abgeschlossenes Intervall, und sei γ : I → C stetig.Dann gilt ∣∣∣∣∣∣

b∫a

γ(t)dt

∣∣∣∣∣∣ ≤b∫

a

|γ(t)|dt.

Beweis. Offenbar stehen auf beiden Seiten der Behauptung nicht-negative Zahlen, so dass wirnichts zeigen müssen, wenn die linke Seite Null ist. Wir dürfen deshalb ohne Einschränkungannehmen, die linke Seite sei echt positiv. Dann gibt es eine Polarkoordinatendarstellung

b∫a

γ(t)dt = r ei ϕ mit r ∈ R>0 und ϕ ∈ R.

Es gilt dann

r = e−i ϕ

b∫a

γ(t)dt 4.4=

b∫a

e−i ϕ γ(t)dt

=

b∫a

Re(

e−i ϕ γ(t))

dt + i

b∫a

Im(

e−i ϕ γ(t))

dt

Wir können auf beiden Seiten der Gleichung den Realteil betrachten und erhalten so

r =

b∫a

Re(

e−i ϕ γ(t))

dt ≤b∫

a

∣∣∣e−i ϕ γ(t)∣∣∣dt,

wobei wir rechts verwendet haben, dass für alle z0 ∈ C die Abschätzung Re z0 ≤ |z0| gilt. Mit|ei ϕ| = 1 und der Multiplikativität des Absolutbetrags folgt die Behauptung.

Definition 4.6. Sei I = [a, b] ⊆ R mit a ≤ b ein abgeschlossenes Intervall, und sei γ : I → C stetig.Läuft t von a nach b, so sagen wir, γ(t) durchlaufe eine (stetige) Kurve C vom Anfangspunkt γ(a) biszum Endpunkt γ(b) von C. Man sagt hierfür auch, die Kurve C sei für t ∈ I durch die Gleichung γ(t)gegeben. Eine Kurve heißt geschlossen, falls γ(a) = γ(b) ist.

Beispiel. (a) Für feste Punkte z1 6= z2 ∈ C ist die Verbindungsstrecke von z1 nach z2 durch dieGleichung

γ(t) = (1− t)z1 + t z2 mit t ∈ [0, 1]

gegeben.

(b) Für feste z0 ∈ C und r ∈ R>0 ist die genau einmal im Gegenuhrzeigersinn duchlaufene Kreislinieum z0 vom Radius r durch

γ(t) = z0 + r e2πit mit t ∈ [0, 1]

gegeben.

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57 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

Definition 4.7. Sei I = [a, b] ⊆ R mit a ≤ b ein abgeschlossenes Intervall, und sei die Kurve C durchdie stetige Abbildung γ : I → C gegeben.

(a) Die Kurve C heißt differenzierbar, wenn γ differenzierbar ist, und glatt, wenn γ stetig differen-zierbar ist.

(b) Die Kurve C−1 ist für t ∈ [a, b] durch die Gleichung γ(a + b− t) gegeben. Geometrisch bedeutetdies, dass C in umgekehrter Richtung von γ(b) nach γ(a) durchlaufen wird.

(c) Sei a = a0 < a1 < . . . < an−1 < an = b eine Unterteilung von I in Teilintervalle. Sei weiter fürjedes k ∈ {1, . . . , n} die Kurve Ck für t ∈ [ak−1, ak] durch eine Gleichung γk(t) gegeben, so dassfür alle 1 ≤ k < n die Bedingung

γk(ak) = γk+1(ak)

erfüllt ist, dass also der Endpunkt von Ck gleich dem Anfangspunkt von Ck+1 ist. Gilt dann

γ(t) = γk(t) für alle t ∈ [ak−1, ak],

so schreiben wir C = C1 · C2 · . . . · Cn. Sind hierbei alle Ck glatt, so heißt C stückweise glatt.

Definition 4.8. Sei D ⊆ C offen und f : D → C eine stetige Abbildung. Sei weiter I = [a, b] ⊆ Rmit a ≤ b ein abgeschlossenes Intervall, und sei durch γ : I → D eine glatte Kurve C gegeben. Danndefinieren wir das komplexe Kurvenintegral von f über C als

∫C

f (z)dz :=

b∫a

f(γ(t)

)γ′(t)dt.

Ist allgemeiner C = C1 · C2 · . . . · Cn stückweise glatt, so setzen wir∫C

f (z)dz :=∫C1

f (z)dz + . . . +∫Cn

f (z)dz.

Lemma 4.9. Sei D ⊆ C offen und f : D → C eine stetige Abbildung. Sei weiter I = [a, b] ⊆ R mita ≤ b ein abgeschlossenes Intervall, und sei durch γ : I → D eine glatte25 Kurve C gegeben. Dann hatdas komplexe Kurvenintegral von f über C die folgenden Eigenschaften.

(a) Das Kurvenintegral ist in der Weise invariant unter (differenzierbarer) Parametertransformationvon [a, b] nach [a, b] mit t(a) = a und t(b) = b, dass

b∫a

f(γ(t)

)γ′(t)dt =

b∫a

f(δ(x)

)δ′(x)dx

gilt, wobei δ(x) := γ(t(x)) gelte für alle x ∈ [a, b]. Dies rechtfertigt die Schreibweise∫

C f (z)dz.

(b)∫

C−1

f (z)dz = −∫C

f (z)dz.

25In Übungsaufgabe 4.1 zeigen wir, dass die selben Aussagen ebenso für stückweise glatte Kurven gelten.

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4.1. Komplexe Kurvenintegrale 58

Beweis. Mit der Substitutionsregel aus Analysis 1 gilt

b∫a

f(γ(t)

)γ′(t)dt =

t(b)∫t(a)

f(γ(t)

)γ′(t)dt

=

b∫a

f(γ(t(x))

)γ′(t(x)

)t′(x)dx

=

b∫a

f(δ(x)

)δ′(x)dx.

Behauptung (a) folgt.

Wir wollen nun Behauptung (b) zeigen. Nach Definition wird C−1 auf [a, b] durch γ(a + b− t)gegeben. Daher gilt ∫

C−1

f (z)dz = −b∫

a

f(γ(a + b− t)

)γ′(a + b− t)dt

t 7→a+b−t=

a∫b

f(γ(t)

)γ′(t)dt

= −b∫

a

f(γ(t)

)γ′(t)dt = −

∫C

f (z)dz,

und die Behauptung folgt.

Lemma 4.10. Sei D ⊆ C offen, und seien f , g : D → C stetige Abbildungen. Sei weiter I = [a, b] ⊆ Rmit a ≤ b ein abgeschlossenes Intervall, und sei durch γ : I → D eine stückweise glatte Kurve Cgegeben. Dann gilt in Analogie zu Teil (a) von Lemma 4.4∫

C

(c f (z) + g(z)

)dz = c ·

∫C

f (z)dz +∫C

g(z)dz für alle c ∈ C.

Wir können dazu auch sagen, das komplexe Kurvenintegral sei linear.

Beweis. Klar.

Definition 4.11. Sei C = C1 · . . . · Cn eine stückweise glatte Kurve, wobei für jedes k ∈ {1, . . . , n} dieKurve Ck durch γk(t) mit t ∈ [ak−1, ak] gegeben ist. Dann heißt

`(C) :=n∑

k=1

ak∫ak−1

|γ′k(t)|dt

die Bogenlänge von C.

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59 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

Bemerkung 4.12. Wird C einfach durchlaufen, sind also für alle k die Abbildungen γk auf den je-weiligen Intervallen [ak, ak+1] injektiv, so ist `(C) die im anschaulichen Sinne gegebene Länge von C.Besonders gut lässt sich dies einsehen, wenn C der Graph einer reell stetig differenzierbaren Abbildungt 7→ y(t) mit t ∈ [a, b] ist. Dann gilt zum einen γ(t) = (t, y(t)) und also

|γ′(t)| = |1 + i y′(t)| =√

1 + y′2(t).

Andererseits können wir C durch einen Polygonzug approximieren und die Länge mithilfe Rie-mann’scher Summen berechnen.

Abbildung 4.1: Die Länge des Geradenstücks zwischen den zwei ausgewählten Punkten ist√(b− a)2 + (y(b)− y(a))2 = (b− a) ·

√1 +

(y(b)−y(a)

b−a

)2.

Beispiel. Wir greifen das Beispiel nach Definition 4.6 wieder auf.

(a) Seien z1 6= z2 ∈ C. Ihre Verbindungsstrecke γ(t) = (1− t)z1 + t z2 mit t ∈ [0, 1] hat dannerwartungsgemäß die Bogenlänge

`(C) =

1∫0

|γ′(t)|dt =

1∫0

| − z1 + z2|dt = |z1 − z2|.

(b) Sei k eine natürliche Zahl, und sei C die k-fach im mathematisch positiven Sinn durchlaufeneEinheitskreislinie. Dann ist C gegeben durch γ(t) = e2π i t für t ∈ [0, k] und die Bogenlänge ist

`(C) =

k∫0

|γ′(t)|dt =

k∫0

|2π i e2π i t|dt = 2π

k∫0

dt = 2π k.

Lemma 4.13 (Standardabschätzung für Integrale). Sei D ⊆ C offen und f : D → C stetig. Seiweiter C eine stückweise glatte Kurve, die ganz in D enthalten ist. Ist f auf C betragsmäßig durch einM ∈ R>0 beschränkt, so gilt ∣∣∣∣∫

C

f (z)dz∣∣∣∣ ≤ M · `(C).

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4.1. Komplexe Kurvenintegrale 60

Beweis. Mit den üblichen Notationen gilt∣∣∣∣∫C

f (z)dz∣∣∣∣ = ∣∣∣∣ n∑

k=1

∫Ck

f (z)dz∣∣∣∣

≤n∑

k=1

∣∣∣∣ ∫Ck

f (z)dz∣∣∣∣ = n∑

k=1

∣∣∣∣ak∫

ak−1

f(γk(t)

)γ′k(t)dt

∣∣∣∣≤

n∑k=1

ak∫ak−1

∣∣ f (γk(t))

γ′k(t)∣∣dt

≤ Mn∑

k=1

ak∫ak−1

|γ′k(t)|dt = M · `(C).

Natürlich ist es nicht schlecht, Integrale abschätzen zu können. Ungleich besser ist aber na-türlich eine Methode zu ihrer exakten Berechnung. Aus der reellen Analysis wissen wir, dasshierzu die Existenz einer Stammfunktion von großem Nutzen wäre.

Satz 4.14. Sei D ⊆ C offen und f : D → C stetig. Wir setzen voraus, dass f auf D eine Stammfunktionhat, dass es also eine holomorphe Funktion F : D → C gibt mit F′(z) = f (z) für alle z ∈ D. Sei weiterC eine ganz in D enthaltene stückweise glatte Kurve mit Anfangspunkt z1 und Endpunkt z2. Dann gilt∫

C

f (z)dz = F(z2)− F(z1).

Beweis. Sei zunächst C glatt und für t ∈ [a, b] durch γ(t) gegeben. Dann gilt

∫C

f (z)dz =

b∫a

f(γ(t)

)γ′(t)dt =

b∫a

F′(γ(t)

)γ′(t)dt

4.2=

b∫a

ddt

F(γ(t)

)dt 4.4

= F(γ(b))− F(γ(a))

= F(z2)− F(z1).

Ist C = C1 · . . . · Cn stückweise glatt, so gilt∫C

f (z)dz =n∑

k=1

∫Ck

f (z)dz

=n∑

k=1

(F(γk(ak)

)− F

(γk(ak−1)

))(mit dem Bisherigen)

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61 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

= −F(γ1(a0)

)+ F

(γn(an)

)(Teleskopsumme)

= F(z2)− F(z1).

Aus dem Satz folgt sofort

Korollar. Gleiche Voraussetzungen wie oben. Dann gilt für alle geschlossenen stückweise glatten Kur-ven C ∫

C

f (z)dz = 0.

Beispiel. Dieses Korollar hat einen sehr wichtigen Spezialfall. Sei dafür r > 0 fest und C die einfachim positiven Sinne durchlaufene Kreislinie mit Radius r. Dann gilt

∫C

zn dz =

{0 n ∈ Zr {−1},2πi n = −1,

denn: Für n 6= −1 ist zn+1

n+1 eine Stammfunktion von zn auf Cr {0}. Da C nach Definition geschlossenist, gilt somit nach dem Korollar

∫C zn dz = 0.

Andererseits gilt mit C : γ(t) = r e2πit für t ∈ [0, 1]

∫C

dzz

=

1∫0

1r e2πit

(2πir e2πit

)dt = 2πi.

Insbesondere hat nach dem Korollar die Funktion 1z auf Cr {0} keine Stammfunktion.26 #

4.2 Der Cauchy’sche Integralsatz

In diesem Abschnitt wollen wir in Ausweitung des Korollars von Satz 4.14 zeigen, dass daskomplexe Kurvenintegral einer holomorphen Funktion f : D → C auf einer offenen TeilmengeD ⊆ C längs geschlossener „Dreieckswege“ immer Null ist. Hieraus wird sich ergeben, dass je-de holomorphe Funktion auf einem „Sterngebiet“ dort immer eine Stammfunktion hat. Dies isteine Schlüsselaussage der Funktionentheorie, aus der sich viele zentrale Sätze ableiten lassen.

Definition 4.15. Die von z1, z2, z3 ∈ C aufgespannte abgeschlossene Dreiecksfläche

{z = t1 z1 + t2 z2 + t3 z3 | t1, t2, t3 ≥ 0, t1 + t2 + t3 = 1}

bezeichnen wir mit4(z1, z2, z3).

26Sie hat mit Log z eine Stammfunktion auf C−.

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4.2. Der Cauchy’sche Integralsatz 62

Das ist die Beschreibung der Dreiecksfläche mit baryzentrischen Koordinaten. Anschaulichbesteht4(z1, z2, z3) aus genau den Punkten z, die auf den Verbindungsstrecken von z1 nach z∗

liegen, wobei z∗ alle Punkte auf der Verbindungsstrecke von z2 und z3 durchläuft.

Abbildung 4.2: Sei z∗ ein Punkt auf der Verbindungsstrecke von z2 und z3, und sei z ein Punktauf der Verbindungsstrecke von z1 und z∗. Dann gelten z = t1 z1 + t∗ z∗ mit t1 + t∗ = 1 undz∗ = t2 z2 + t3 z3 mit t2 + t3 = 1. Setzen wir t2 := t∗ t2 und t3 := t∗ t3, so haben wir offensichtlicheine Darstellung von z als Punkt von 4(z1, z2, z3) gefunden. Die umgekehrte Inklusion zeigtman analog.

Definition 4.16. Wir bezeichnen mit C(z1, z2, z3) die durch

γ(t) :=

z1 + t(z2 − z1) für t ∈ [0, 1],z2 + (t− 1)(z3 − z2) für t ∈ [1, 2],z3 + (t− 2)(z1 − z3) für t ∈ [2, 3]

gegebene geschlossene, stückweise glatte Kurve. Anschaulich ist also C(z1, z2, z3) der genau einmaldurchlaufene Rand von4(z1, z2, z3), angefangen bei z1, dann weiter nach z2, und über z3 zurück nachz1.

Satz 4.17 (Lemma von GOURSAT27). Sei D ⊆ C offen und f : D → C holomorph. Seien weiterz1, z2, z3 ∈ D so gewählt, dass die abgeschlossene Dreiecksfläche 4(z1, z2, z3) ganz in D enthalten ist.Mit der soeben eingeführten Kurve C(z1, z2, z3) gilt dann∫

C(z1,z2,z3)

f (z)dz = 0.

Beweis. Wir schreiben verkürzend 4 := 4(z1, z2, z3) und C := C(z1, z2, z3). Wir können ohneEinschränkung annehmen, dass C im mathematisch positiven Sinn durchlaufen wird, und er-setzen sonst C durch C−1. Weiter können wir annehmen, dass4 ein „nichtentartetes“ Dreieckist, dass also z1, z2 und z3 nicht auf einer Geraden liegen,

denn: Sind zwei Eckpunkte gleich, etwa z1 = z2, so wird nach Teil (a) von Lemma 4.9 zunächstvon z1 nach z2 = z1 integriert, dann von z1 = z2 nach z3 und schließlich von z3 zurück nachz1 = z2. Offensichtlich ist also das Integral Null.

27Édouard Goursat (1858 - 1936)

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63 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

Seien nun die drei Eckpunkte paarweise verschieden, liegen aber trotzdem alle drei auf einergemeinsamen Geraden; ohne Einschränkung können wir also annehmen z3 liege auf der Ver-bindungsstrecke z1z2. Integriert wird nun nach Teil (a) von Lemma 4.9 zunächst von z1 nach z2und dann über z3 zurück nach z1. Nach Teil (b) von Lemma 4.9 ist das Gesamtintegral Null. #

Wir verbinden die Mittelpunkte der Kanten von 4 und erhalten so vier abgeschlossene Drei-ecksflächen41,42,43,44 ⊆ 4. Deren Ränder seien wieder im mathematisch positiven Sinneeinfach durchlaufen und mit C1, . . . , C4 bezeichnet.

Dann gilt ∫C

f (z)dz =

∫C1

f (z)dz +∫C2

f (z)dz +∫C3

f (z)dz +∫C4

f (z)dz,

denn nach Teil (b) von Lemma 4.9 ist die Summe der Integrale in entgegengesetzten Richtungenlängs der Kanten von44 Null. Mit der Dreiecksungleichung folgt∣∣∣∣∫

C

f (z)dz∣∣∣∣ ≤ ∣∣∣∣∫

C1

f (z)dz∣∣∣∣+ . . . +

∣∣∣∣∫C4

f (z)dz∣∣∣∣.

Es gibt unter den vier nicht-negativen reellen Zahlen auf der rechten Seite ein Maximum. Wirwählen ein solches aus und bezeichnen die zugehörige Fläche mit 4(1) und deren Rand mitC(1). Es folgt ∣∣∣∣∫

C

f (z)dz∣∣∣∣ ≤ 4 ·

∣∣∣∣ ∫C(1)

f (z)dz∣∣∣∣.

Wir verfahren jetzt mit4(1) wie zuvor mit4 und erhalten eine abgeschlossene Dreiecksfläche4(2) ⊆ 4(1) mit positiv orientiertem Rand C(2), so dass∣∣∣∣ ∫

C(1)

f (z)dz∣∣∣∣ ≤ 4 ·

∣∣∣∣ ∫C(2)

f (z)dz∣∣∣∣.

Fahren wir induktiv fort, so erhalten wir mit 4(0) := 4 und C(0) := C eine Folge (4(n))n∈Nabgeschlossener Dreiecksflächen mit positiv orientierten Rändern (C(n))n∈N, die für alle n ∈ N

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4.2. Der Cauchy’sche Integralsatz 64

die Aussagen

4(n+1) ⊆ 4(n) und∣∣∣∣∫C

f (z)dz∣∣∣∣ ≤ 4n ·

∣∣∣∣ ∫C(n)

f (z)dz∣∣∣∣

erfüllen. Nach Konstruktion ist die Folge (4(n))n∈N geschachtelt. Nach dem aufC verallgemei-nerten Intervallschachtelungsprinzip gibt es also einen Punkt z0 im Durchschnitt

⋂n∈N4(n),

so dass es für alle δ > 0 ein N = N(δ) ∈ N gibt mit

4(n) ⊆ Uδ(z0) für alle n ≥ N

(siehe Analysis 1 und 2 oder Übung). Wegen z0 ∈ 4 ⊆ D ist f in z0 komplex differenzierbar, esgibt also nach Lemma 3.9 eine in z0 stetige Funktion ϕ : D → Cmit

f (z) = f (z0) + (z− z0)ϕ(z) und ϕ(z0) = f ′(z0).

Wir benutzen jetzt die Stetigkeit von ϕ in z0. Sei dafür ε > 0. Dann gibt es ein δ > 0 mit

|ϕ(z)− f ′(z0)| < ε für alle |z− z0| < δ.

Für hinreichend großes n liegt4(n) in der Umgebung Uδ(z0). Schreiben wir

f (z) = f (z0) + f ′(z0)(z− z0) + (ϕ(z)− f ′(z0))(z− z0)

und integrieren über C(n), so folgt∫C(n)

f (z)dz =

∫C(n)

f (z0)dz +∫

C(n)

f ′(z0)(z− z0)dz +∫

C(n)

(ϕ(z)− f ′(z0)

)(z− z0)dz

= f (z0)

∫C(n)

dz + f ′(z0)

∫C(n)

(z− z0)dz +∫

C(n)

(ϕ(z)− f ′(z0)

)(z− z0)dz.

Da die Integranden der ersten beiden Integrale als Polynome in z Stammfunktionen haben,verschwinden diese Integrale nach dem Korollar von Satz 4.14. Es folgt also∫

C(n)

f (z)dz =

∫C(n)

(ϕ(z)− f ′(z0)

)(z− z0)dz.

Wegen C(n) ⊆ 4(n) ⊆ Uδ(z0) gilt für alle z ∈ C(n) die Abschätzung |ϕ(z) − f ′(z0)| < ε. Fürz ∈ C(n) gilt elementargeometrisch |z− z0| ≤ `(C(n)), denn es war ja z0 ∈ 4(n) vorausgesetzt.Mit der Standardabschätzung 4.13 für Integrale folgt daher∣∣∣∣ ∫

C(n)

f (z)dz∣∣∣∣ ≤ ε · `(C(n))2.

Andererseits gilt nach Konstruktion `(C(n+1)) = 12 `(C

(n)) und induktiv `(C(n)) = 12n `(C), also∣∣∣∣ ∫

C(n)

f (z)dz∣∣∣∣ ≤ ε

4n `(C)2.

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65 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

Zusammengesetzt gilt somit für alle ε > 0∣∣∣∣∫C

f (z)dz∣∣∣∣ ≤ 4n ε

4n `(C)2 = ε `(C)2.

Der Satz folgt, wenn wir ε gegen Null gehen lassen.

Definition 4.18. Eine offene Teilmenge D ⊆ C heißt Sterngebiet, falls es einen Punkt z∗ ∈ D gibt,für den mit jedem z ∈ D auch die Verbindungsstrecke z∗z von z∗ nach z ganz in D enthalten ist. Einsolcher (nicht notwendig eindeutig bestimmter) Punkt z∗ heißt ein Sternmittelpunkt von D.

Beispiel. (a) Offensichtlich sind offene, konvexe Teilmengen vonC Sterngebiete; hier sind alle Punk-te Sternmittelpunkte. Besonders wichtige Beispiele dieses Typs sindC selbst und offene Kreisschei-ben in C.

(b) Wegen des komplexen Logarithmus’ ist natürlich auch die geschlitzte komplexe Ebene C− vonInteresse. Hier sind alle Punkte auf der positiven reellen Achse Sternmittelpunkte.

(c) Cr {0} und Uε(z0)r {z0} sind keine Sterngebiete.

Bemerkung 4.19. Nach Definition sind Sterngebiete wegzusammenhängend, also auch zusammenhän-gend, also Gebiete im Sinne der bekannten Definition.

Satz 4.20 (Cauchy’scher Integralsatz für Sterngebiete). Sei D ⊆ C ein Sterngebiet, und sei f :D → C holomorph. Dann gelten die folgenden Aussagen.

(a) f hat auf D eine Stammfunktion, es gibt also eine holomorphe Funktion F : D → C mit F′ = f .

(b) Ist C eine stückweise glatte Kurve in D, so hängt das Integral∫

C f (z)dz nur vom Anfangspunktund vom Endpunkt von C ab.

(c) Ist C eine geschlossene, stückweise glatte Kurve in D, so ist∫

C f (z)dz = 0.

Beweis. (b) und (c) folgen unmittelbar aus (a), wenn wir Satz 4.14 bzw. sein Korollar anwenden.Es genügt also (a) zu zeigen.

Sei also z0 ∈ D ein Sternmittelpunkt von D. Für z ∈ D sei

F(z) :=

z∫z0

f (w)dw,

wobei wir über die Verbindungsstrecke z0z integrieren, welche ganz in D liegt, da letzteres einSterngebiet ist. Wir wollen zeigen, dass F auf D eine holomorphe Stammfunktion von f ist,und zeigen dafür

limh→0

∣∣∣∣F(z + h)− F(z)h

− f (z)∣∣∣∣ = 0 für alle z ∈ D.

Sei dafür z ∈ D im Folgenden fest gewählt. Ist h ∈ C betragsmäßig klein, so ist 4(z0, z + h, z)ganz in D enthalten,

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4.2. Der Cauchy’sche Integralsatz 66

denn: Da D offen ist, ist z ein innerer Punkt von D, so dass für hinreichend kleines |h| auch z+ hsamt der Verbindungsstrecke z(z + h) in D liegt. Da D ein Sterngebiet ist, enthält es dann auchjeden Punkt auf der Verbindungsstrecke von z0 und jedem Punkt auf obiger Verbindungsstre-cke. Dies zeigt die Behauptung. #

Für |h| klein gilt somit nach dem Lemma von Goursat 4.17

0 =

∫C(z0,z+h,z)

f (w)dw =

z+h∫z0

f (w)dw +

z∫z+h

f (w)dw +

z0∫z

f (w)dw.

Setzen wir die Definition unserer Funktion F ein, erhalten wir

F(z + h)− F(z) =

z+h∫z

f (w)dw.

Für h 6= 0 gilt daher

F(z + h)− F(z)h

− f (z) =1h

z+h∫z

f (w)dw− f (z)

=1h

z+h∫z

f (w)dw− 1h

f (z)

z+h∫z

dw

=1h

z+h∫z

(f (w)− f (z)

)dw.

Sei ε > 0. Da f (w) in w = z stetig ist, gibt es ein δ > 0 mit

| f (w)− f (z)| < ε für alle w ∈ D mit |w− z| < δ.

Wir wählen |h| > 0 so klein, dass insbesondere |h| < δ und 4(z0, z + h, z) ⊆ D gelten. Fürjeden Punkt w = z + t h mit t ∈ [0, 1] auf der Verbindungsstrecke von z nach z + h gilt dann

|w− z| = |t · h| ≤ |h| < δ.

Also folgt | f (w)− f (z)| < ε und somit

∣∣∣∣F(z + h)− F(z)h

− f (z)∣∣∣∣ = 1|h|

∣∣∣∣∣∣z+h∫z

(f (w)− f (z)

)dw

∣∣∣∣∣∣ ≤ 1|h| · ε · |h| = ε.

Daher ist F in z komplex differenzierbar, und es gilt F′(z) = f (z).

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67 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

Beispiel. Für z ∈ C− sei

L(z) :=∫ z

1

dww

,

wobei über irgendeine stückweise glatte Kurve von 1 nach z integriert wird, die in C− enthalten ist.28

Nach 4.14 gilt wegen Log′ w = 1w

L(z) = Log z− Log 1 = Log z.

Wir erhalten also eine neue Darstellung von Log z, die die klassische Formel aus Analysis 1 verallge-meinert.

Bemerkung 4.21. Eine nützliche Anwendung des Cauchy’schen Integralsatzes 4.20 liegt darin, dasswir nun unter geeigneten Bedingungen Integrale über komplizierte Integrationskurven durch solcheüber besonders einfache erklären können. Sei beispielsweise die Kurve C = C1 + C2 gegeben durch

γ1(t) := e2πit für t ∈ [0,34] und γ2(t) := −i + (4t− 3)(1 + i) für t ∈ [

34

, 1].

Sei weiter die Kurve C2 gegeben durch

γ2(t) := e2πit für t ∈ [34

, 1].

Offensichtlich ist die Halbebene (vgl. Beispiel in Abschnitt 1.4)

D = {z ∈ C | Im(2z + i

i + 1)< 0}

ein Sterngebiet, in dem die Funktion f (z) = 1z holomorph ist, und in der die geschlossene Kurve C2−C2

zur Gänze enthalten ist.

Nach dem Cauchy’schen Integralsatz 4.20 und dem Beispiel am Ende des letzten Abschnitts gilt dann∫C

dzz

=

∫C1+C2

dzz

+

∫C2−C2

dzz

=

∫C1+C2

dzz

= 2πi.

28Man beachte, dass C− ein Sterngebiet und 1w auf C− holomorph ist, so dass das Integral nach dem

Cauchy’schen Integralsatz 4.20 wohldefiniert ist.

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4.3. Die Cauchy’schen Integralformeln 68

4.3 Die Cauchy’schen Integralformeln

Lemma 4.22. Sei D ⊆ C offen und K ⊆ D kompakt. Dann gibt es ein r ∈ R>0, so dass für alle a ∈ Kdie offene Kreisscheibe Ur(a) vom Radius r um a ganz in D enthalten ist. Eine solche (nicht eindeutige)Zahl r nennt man eine LEBESGUE’sche Zahl.29

Beweis. Zu jedem a ∈ K wählen wir ein ra ∈ R>0 mit U2ra(a) ⊆ D. Dann ist {Ura(a)}a∈K eineoffene Überdeckung von K. Da K als kompakt vorausgesetzt war, hat diese Überdeckung eineendliche Teilüberdeckung

K ⊆N⋃

ν=1

Urν(aν) mit rν := raν .

Sei r := minν=1,...,N rν. Für jedes feste a ∈ K wählen wir nun ein ν ∈ {1, . . . , N}mit |a− aν| < rν.Sei z ∈ Ur(a). Dann gilt

|z− aν| ≤ |z− a|+ |a− aν| < r + rν ≤ 2 rν.

Insbesondere liegt also z in U2rν(aν) ⊆ D und somit ganz Ur(a) in D.

Satz 4.23 (Cauchy’sche Integralformel). Sei D ⊆ C offen und f : D → C holomorph. Die abge-schlossene Kreisscheibe

Ur(z0) = {z ∈ C | |z− z0| ≤ r}

sei ganz in D enthalten. Dann gilt für alle z in der offenen Kreisscheibe Ur(z0) die Darstellung

f (z) =1

2πi

∫C

f (w)

w− zdw,

wobei C für t ∈ [0, 1] durch die Gleichung z0 + r e2πit gegeben wird.

Beweis. Sei im Folgenden z ∈ Ur(z0) fest gewählt und z1 einer der Schnittpunkte der Gera-den durch z und z0 mit dem Graphen von C. Bezeichne weiter K−1 einen im mathematischnegativen Sinn einfach durchlaufenen ganz in Ur(z0) enthaltenen Kreis um z.

29Henri Léon Lebesgue (1875 - 1941)

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69 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

Wir definieren nun wie in der Abbildung zwei im mathematisch positiven Sinne einfach durch-laufene Kurven C1 und C2 jeweils mit Anfangs- und Endpunkt z1. Hierbei bestehe der Graphvon C1 aus dem großen Halbkreis rechts, dem kleinen Durchmesserstück, dann der rechtenHälfte des Halbkreises K−1 um z und schließlich dem großen Durchmesserstück. C2 besteheaus den entsprechenden Stücken links.

Wegen Ur(z0) ⊆ D sind C1 und C2 zwei stückweise glatte geschlossene Kurven in einem Stern-gebiet,30 auf dem die Funktion w 7→ f (w)

w−z holomorph ist. Nach dem Cauchy’schen Integralsatzfür Sterngebiete 4.20 gilt daher ∫

Ck

f (w)

w− zdw = 0 für k = 1, 2.

Dies lässt sich praktischerweise umformen zu

0 =

∫C1

f (w)

w− zdw +

∫C2

f (w)

w− zdw =

∫K−1

f (w)

w− zdw +

∫C

f (w)

w− zdw,

denn die Integrale entlang der C1 und C2 gemeinsamen Geradenstücke mit entgegengesetzterOrientierung heben sich gegenseitig auf. Wir erhalten∫

C

f (w)

w− zdw =

∫K

f (w)

w− zdw,

wobei K den im mathematisch positiven Sinne durchlaufenen Kreis bezeichne. Es folgt∫C

f (w)

w− zdw = f (z)

∫K

dww− z

+

∫K

f (w)− f (z)w− z

dw. (4.1)

30Wir wählen für ein nach Lemma 4.22 existentes hinreichend kleines ε > 0 die Kreisscheibe Ur+ε(z0) ohne denjeweils passenden von z ausgehenden Schlitz, der senkrecht auf der Verbindungsgeraden von z und z0 steht.

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4.3. Die Cauchy’schen Integralformeln 70

Das erste Integral rechts lässt sich leicht berechnen: Der kleine Kreis K ist durch z + $ e2πit mitt ∈ [0, 1] und $ > 0 gegeben, so dass

∫K

dww− z

=

1∫0

2πi $ e2πit

$ e2πit dt = 2πi

gilt. Wir wollen nun das zweite Integral rechts in (4.1) bestimmen. Sei dafür ε > 0. Da f (w) inw = z stetig ist, gibt es ein δ > 0 mit

| f (w)− f (z)| < ε für alle w ∈ D mit |w− z| < δ.

Wir wählen nun speziell ein $ ∈ (0, δ). Für alle Punkte w = z + $ e2πit auf K gilt dann

|w− z| =∣∣∣$ e2πit

∣∣∣ = $ < δ,

also | f (w)− f (z)| < ε. Es folgt daher∣∣∣∣∫K

f (w)− f (z)w− z

dw∣∣∣∣ = ∣∣∣∣

1∫0

(f (z + $ e2πit)− f (z)

) 2πi $ e2πit

$ e2πit dt∣∣∣∣

= 2π

∣∣∣∣∣∣1∫

0

(f (z + $ e2πit)− f (z)

dt∣∣∣∣ ≤ 2π ε.

Dies gilt für alle ε > 0. Setzen wir dies in (4.1) ein, erhalten wir∣∣∣∣∫C

f (w)

w− zdw− 2πi f (z)

∣∣∣∣ ≤ 2π ε für alle ε > 0.

Der Satz folgt, wenn wir ε gegen Null gehen lassen.

Die Cauchy’sche Integralformel lässt sich kanonisch verallgemeinern auf eine Formel über dien-ten Ableitungen der behandelten Funktion f . Dafür benötigen wir einen Hilfssatz, der unsunter bestimmten Bedingungen erlaubt, Differentiation und Integration zu vertauschen.

Lemma 4.24 (LEIBNIZ’sche Regel31). Seien a < b ∈ R und sei D ⊆ C offen. Sei weiter fC : [a, b]×D → C eine stetige Funktion, die für jedes feste t ∈ [a, b] stetig komplex nach z ∈ D differenzierbar ist.Dann ist die Funktion

gC(z) :=

b∫a

fC(t, z)dt

komplex differenzierbar auf D, und es gilt

g′C(z) =

b∫a

∂ fC(t, z)∂z

dt.

31Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716)

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71 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

Beweis. Wir zeigen zunächst die entsprechende Aussage im Reellen und führen dann das Lem-ma darauf zurück.

Behauptung. Seien a < b ∈ R und c < d ∈ R. Sei weiter fR : [a, b] × [c, d] → R eine stetigeFunktion, die für jedes feste t ∈ [a, b] stetig partiell nach x ∈ [c, d] differenzierbar ist. Dann ist dieFunktion

gR(x) :=

b∫a

fR(t, x)dt

auf (c, d) partiell nach x ∈ [c, d] differenzierbar, und es gilt

g′R(x) =

b∫a

∂ fR(t, x)∂x

dt.

denn: Wir bilden den Differenzenquotienten in einem Punkt x0 ∈ [c, d]:

gR(x)− gR(x0)

x− x0=

b∫a

fR(t, x)− fR(t, x0)

x− x0dt.

Nach dem Mittelwertsatz der Differentialrechnung gibt es ein von t abhängiges ξ zwischen xund x0 mit

fR(t, x)− fR(t, x0)

x− x0=

(∂ fR∂x

)(t, ξ).

Nach dem Satz von der gleichmäßigen Stetigkeit32 gibt es für alle ε > 0 ein δ > 0 mit∣∣∣∣(∂ fR∂x

)(t1, x1)−

(∂ fR∂x

)(t2, x2)

∣∣∣∣ < ε für |x1 − x2| < δ und |t1 − t2| < δ.

Insbesondere gilt ∣∣∣∣(∂ fR∂x

)(t, ξ)−

(∂ fR∂x

)(t, x0)

∣∣∣∣ < ε für |x− x0| < δ,

wobei weiterhin δ nicht von t abhängt. Wir erhalten so mit der reellen Standardabschätzungfür Integrale

∣∣∣∣gR(x)− gR(x0)

x− x0−

b∫a

(∂ fR∂x

)(t, x0)dt

∣∣∣∣ ≤ ε(b− a) für |x− x0| < δ.

Die Behauptung folgt, wenn wir ε gegen Null gehen lassen. #

32Stetige Funktionen auf Kompakta sind gleichmäßig stetig. Hier ist das Kompaktum durch [a, b]× [c, d] gegeben.

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4.3. Die Cauchy’schen Integralformeln 72

Da fC für feste t komplex differenzierbar ist, gilt mit (3.2)

b∫a

∂ fC(t, z)∂z

dt =

b∫a

∂ fC(t, x, y)∂x

dt und

b∫a

i(

∂ fC(t, z)∂z

)dt =

b∫a

∂ fC(t, x, y)∂y

dt. (4.2)

Nach der Behauptung ist dann die Funktion gC(z) = gC(x, y) =∫ b

a fC(t, x, y)dt für feste y reellpartiell differenzierbar nach x und für feste x reell partiell differenzierbar nach y. Offensichtlichsind die partiellen Ableitungen stetig, so dass gC(z) reell total differenzierbar ist.

Schreiben wir nun fC(t, x, y) = uC(t, x, y) + i vC(t, x, y) mit reellwertigen Funktionen uC, vC.Dann gilt nach (4.2)

b∫a

∂ fC(t,z)∂z dt =

b∫a

∂ fC(t,x,y)∂x dt =

b∫a

∂uC(t,x,y)∂x dt + i

b∫a

∂vC(t,x,y)∂x dt

=

(−i)b∫a

i(

∂ fC(t,z)∂z

)dt = (−i) ·

b∫a

∂ fC(t,x,y)∂y dt =

b∫a

∂vC(t,x,y)∂y dt− i

b∫a

∂uC(t,x,y)∂y dt.

Man rechnet leicht nach, dass hieraus die Cauchy-Riemann’schen Differentialgleichungen fürgC(x, y) folgen. Mit Satz 3.13 folgt die komplexe Differenzierbarkeit von gC(z).

Die Formel für die Ableitung ergibt sich schließlich wie folgt.

g′C(z)(3.2)=

∂gC∂x

(x, y) =

b∫a

∂ fC(t, x, y)∂x

dt(4.2)=

b∫a

∂ fC(t, z)∂z

dt.

Satz 4.25. Sei D ⊆ C offen und f : D → C holomorph. Dann gelten folgende Aussagen.

(a) f ist auf D beliebig oft komplex differenzierbar.33

(b) Seien Ur(z0) ⊆ D und C wie im Satz über die Cauchy’sche Integralformel 4.23. Für jedes n ∈ Ngilt dann die Verallgemeinerte Cauchy’sche Integralformel

f (n)(z) =n!

2πi

∫C

f (w)

(w− z)n+1 dw für alle z ∈ Ur(z0),

wobei f (n) die n-te komplexe Ableitung von f bezeichne.

Beweis. Nach der Cauchy’schen Integralformel 4.23 gilt in der gegebenen Situation

f (z) =1

2πi

∫C

f (w)

w− zdw für alle z ∈ Ur(z0). (4.3)

33Das gilt in der reellen Analysis nicht. Holomorphie ist also ein sehr starker Begriff!

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73 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

Der Integrand ist als Funktion von z stetig komplex differenzierbar,34 und es gilt

ddz

(f (w)

w− z

)=

f (w)

(w− z)2 . (4.4)

Leiten wir (4.3) partiell nach z ab, erhalten wir mit der Leibniz’schen Regel 4.24 und (4.4)

f (1)(z) =1

2πi∂

∂z

(∫C

f (w)

w− zdw)=

12πi

(∫C

f (w)

(w− z)2 dw)

für alle z ∈ Ur(z0).

Die Behauptung des Satzes für n > 1 folgt induktiv.

4.4 Direkte Folgerungen aus den Cauchy’schen Integralformeln

Proposition 4.26 (Cauchy’sche Ungleichungen). Sei Ur(z0) eine offene Kreisumgebung um einenPunkt z0 ∈ C, und sei f : Ur(z0)→ C holomorph. Gibt es dann eine positive reelle Zahl M ∈ R>0 mit| f (z)| ≤ M für alle z ∈ Ur(z0), so gilt∣∣∣ f (n)(z0)

∣∣∣ ≤ Mn!rn für alle n ∈ N.

Beweis. Wir verwenden die verallgemeinerte Cauchy’sche Integralformel 4.25 mit z = z0 undIntegrationsweg C gegeben durch γ(t) = z0 + $ e2πit mit t ∈ [0, 1], wobei $ < r gelte. Dann gilt

| f (n)(z0)| =∣∣∣∣ n!2πi

∫C

f (w)

(w− z0)n+1 dw∣∣∣∣

=n!2π·∣∣∣∣

1∫0

f (z0 + $ e2πit)

($ e2πit)n+1 · 2πi $ e2πit dt∣∣∣∣

≤ n!2π

1∫0

∣∣∣∣ | f (z0 + $ e2πit)||($ e2πit)n+1|

∣∣∣∣ ∣∣∣$ 2πi e2πit∣∣∣dt

≤ n!2π

M$n 2π = M

n!$n .

Dies gilt für alle $ ∈ (0, r). Lassen wir $ gegen r gehen, folgt daher

| f (n)(z0)| ≤ Mn!rn

und somit die Behauptung.

Definition 4.27. Eine Funktion f : C→ C, die auf ganz C holomorph ist, heißt eine ganze Funktion.

34Man bemerke, dass wegen z ∈ Ur(z0) und w ∈ C niemals w = z gelten kann.

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4.4. Direkte Folgerungen aus den Cauchy’schen Integralformeln 74

Mit den Cauchy’schen Ungleichungen zeigen wir den folgenden zentralen Satz.

Satz 4.28 (LIOUVILLE35). Eine beschränkte ganze Funktion ist notwendigerweise konstant.

Beweis. Aus der Cauchy’schen Ungleichung 4.26 für n = 1 folgt

| f ′(z0)| ≤Mr

für alle z0 ∈ C und alle r > 0,

wobei M eine Schranke für | f | auf ganz C sei. Lassen wir r gegen unendlich gehen, so folgtdaher | f ′(z0)| = 0 und somit auch f ′(z0) = 0 für alle z0 ∈ C. Also ist f ′ identisch Null, also istf konstant, denn C ist ein Gebiet und insbesondere zusammenhängend.

Bemerkung 4.29. Es gilt sogar noch mehr: Nach dem Kleinen Satz von PICARD36 9.10 ist eine ganzeFunktion bereits konstant, wenn es zwei komplexe Zahlen gibt, die nicht in ihrem Bild liegen.

Mit dem Satz von Liouville kann man beispielsweise das folgende wichtige Resultat beweisen.

Satz 4.30 (Fundamentalsatz der Algebra37). Sei P ein nichtkonstantes Polynom mit komplexen Ko-effizienten. Dann hat P eine komplexe Nullstelle.

Beweis. Schreiben wir P(X) =∑n

ν=0 aνXν ∈ C[X] mit n ≥ 1, aν ∈ C für alle ν ∈ N und an 6= 0.Durch P ist eine Funktion

P :

{C → C,z 7→ P(z) :=

∑nν=0 aνzν

gegeben.38

Angenommen wir hätten P(z) 6= 0 für alle z ∈ C. Dann wäre die Funktion 1/P(z) auf ganz Cdefiniert und holomorph. Für z 6= 0 gälte

P(z) = zn ·n∑

ν=0

aνzν−n = zn · (an + g(z))

mitg(z) :=

an−1

z+ . . . +

a0

zn für alle z 6= 0.

Für |z| → ∞ geht g(z) gegen Null, ist also insbesondere kleiner als |an|2 > 0. Für großes |z| gilt

also

|P(z)| = |z|n |an + g(z)| = |z|n∣∣an − (−g(z))

∣∣ ≥ |z|n (|an| − |g(z)|)≥ |z|n |an|

2.39

35Joseph Liouville (1809 - 1882)36Charles Émile Picard (1856 - 1941)37Das klassisch wichtigste Problem der Algebra ist die Lösung algebraischer Gleichungen. Historisch ist das

nichts anderes als die Bestimmung von Nullstellen von Polynomen mit reellen Koeffizienten. Hier ist offensichtlichder von Johann Carl Friedrich GAUSS (1777 - 1855) bewiesene Fundamentalsatz von grundlegender Bedeutung.

38Da C ein unendlicher Körper ist, ist die Abbildung, die einem Polynom die zugehörige komplexe Polynom-funktion zuordnet, sogar injektiv.

39Diese Aussage lässt sich zum Wachstumslemma für Polynome verallgemeinern, vgl. Übungsaufgabe 4.5.

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75 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

Wegen n ≥ 1 und an 6= 0 geht also |P(z)| für |z| → ∞ gegen unendlich. Für ein vorgegebenesM > 0 gibt es also ein R > 0 mit

|P(z)| ≥ M für alle z ∈ Cmit |z| ≥ R,

beziehungsweise mit ∣∣∣∣ 1P(z)

∣∣∣∣ ≤ M−1 für alle z ∈ Cmit |z| ≥ R.

Da 1/P(z) auf ganz C stetig wäre, wäre ihr Betrag |1/P(z)| auf dem durch |z| ≤ R gege-benen Kompaktum beschränkt. Insgesamt wäre also die ganze Funktion 1/P(z) auf ganz Cbeschränkt, nach dem Satz von Liouville also konstant. Es folgte, dass auch P(z) auf ganz Ckonstant wäre, was im Widerspruch zu unserer Annahme stünde. P(z) muss also eine Null-stelle in C haben.

Satz 4.31 (Taylor). Sei Ur(z0) eine offene Kreisumgebung um einen Punkt z0 ∈ C, und sei f :Ur(z0)→ C holomorph. Dann gilt für alle z ∈ Ur(z0) die Taylordarstellung

f (z) =∞∑

ν=0

f (ν)(z0)

ν!(z− z0)

ν.

Beweis. Für |z| < r sei h(z) := f (z0 + z). Dann ist h(z) für |z| < r holomorph. Für $ ∈ (0, r) giltnach der Cauchy’schen Integralformel 4.23

h(z) =1

2πi

∫C

h(w)

w− zdw für alle z mit |z| < $,

wobei C durch $ e2πit mit t ∈ [0, 1] gegeben sei.

Die Idee ist nun, den so genannten „Cauchykern“ 1w−z nach Potenzen von z

w zu entwickeln.Für ζ ∈ C gilt offensichtlich

(1− ζ) (1 + ζ + . . . + ζn−1) = 1− ζn.

Für ζ 6= 1 folgt die Partialsummenformel

1 + ζ + . . . + ζn−1 =1− ζn

1− ζ

für die geometrische Reihe und somit

11− ζ

= 1 + ζ + . . . + ζn−1 +ζn

1− ζ.

Setzen wir nun mit w ∈ C und |z| < $ die Zahl zw für ζ ein, so erhalten wir

1w− z

=1w· 1

1− zw

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4.4. Direkte Folgerungen aus den Cauchy’schen Integralformeln 76

=1w·(

1 +zw

+ . . . +( z

w

)n−1+

( zw

)n

1− zw

)

=1w

+z

w2 + . . . +zn−1

wn +zn

wn ·1

w− z.

Für |z| < $ folgt daher

h(z) =n−1∑ν=0

12πi

∫C

h(w)

wν+1 dw

+zn

2πi

∫C

h(w)

wn(w− z)dw.

Nach der verallgemeinerten Cauchy’schen Integralformel 4.25 gilt

12πi

∫C

h(w)

wν+1 dw =h(ν)(0)

ν!

und somit

h(z) =n−1∑ν=0

h(ν)(0)ν!

zν +zn

2πi

∫C

h(w)

wn(w− z)dw.

Der Satz folgt, wenn wir zeigen können, dass der letzte Summand rechts für n→ ∞ verschwin-det. Dafür betrachten wir ein $ ∈ (0, $) und |z| ≤ $. Für w ∈ C gilt dann

|w− z| ≥ |w| − |z| = $− |z| ≥ $− $ > 0.

Sei M := maxw∈C |h(w)|.40 Für |z| ≤ $ folgt dann∣∣∣∣ zn

2πi

∫C

h(w)

wn(w− z)dw∣∣∣∣ ≤ $n

M$n($− $)

`(C) =(

$

$

)n

· M $

$− $

n→∞→ 0,

denn wir hatten ja $$ < 1 vorausgesetzt. Also folgt

h(z) =∞∑

ν=0

h(ν)(0)ν!

zν für alle z ∈ Cmit |z| ≤ $

beziehungsweise

f (z) =∞∑

ν=0

f (ν)(z0)

ν!(z− z0)

ν für alle z ∈ Cmit |z− z0| ≤ $.

Da $ und $ beliebige reelle Zahlen mit 0 < $ < $ < r waren, ist hiermit der Satz gezeigt.

Aus dem Satz lässt sich folgendes sehr wichtige Korollar gewinnen.

40Dieses Maximum gibt es, da h stetig und C kompakt ist.

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77 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

Korollar. Sei D ⊆ C offen und f : D → C eine Abbildung. Dann sind folgende beiden Aussagenäquivalent.

(i) f ist auf D holomorph.

(ii) f ist auf D analytisch, d. h., f ist um jeden Punkt z0 ∈ D in eine Potenzreihe entwickelbar. Esgibt also zu jedem z0 ∈ D eine offene Kreisumgebung Uε(z0) ⊆ D und eine Potenzreihe

∞∑ν=0

aν(z− z0)ν

mit Entwicklungspunkt z0, die auf Uε(z0) konvergiert und mit f (z) übereinstimmt.

Beweis. Sei zunächst f auf D holomorph. Zu einem beliebigen Punkt z0 ∈ D gibt es dann einhinreichend kleines ε > 0 mit Uε(z0) ⊆ D. f ist dann insbesondere auf Uε(z0) holomorph unddort analytisch nach dem Satz von Taylor 4.31.

Sei nun f auf D analytisch, also in jedem Punkt z0 ∈ D in eine Potenzreihe mit Konvergenz-bereich Uε(z0) entwickelbar. Da Potenzreihen nach Satz 3.22 auf dem Konvergenzbereich ho-lomorph sind, ist f auf Uε(z0) holomorph. Da z0 in D beliebig gewählt war, ist f auf ganz Dholomorph.

Bemerkung 4.32. (a) Die Koeffizienten aν in Aussage (ii) des Korollars sind nach Bemerkung 3.23

notwendigerweise gleich f (ν)(z0)ν! .

(b) Das Analogon des Korollars im Reellen ist im Allgemeinen falsch: Ist I ⊆ R ein offenes Intervallund f : I → R beliebig oft differenzierbar, so braucht f nicht um jeden Punkt x0 ∈ I in einerPotenzreihe entwickelbar zu sein.

Beispiel. Betrachten wir I = (−1, 1) und f : I → R mit

f (x) :=

{e−

1x2 für x 6= 0,

0 für x = 0.

In Analysis 1 zeigt man, dass f auf I beliebig oft differenzierbar ist, aber f (ν)(0) = 0 erfüllt füralle ν ∈ N. Die Taylorreihe von f an der Stelle x0 = 0 ist also identisch Null, die Funktion selbstist aber nur für x0 = 0 gleich Null. f ist also in x0 = 0 nicht in eine Potenzreihe entwickelbar.

(c) Sei D ⊆ C offen und f : D → C holomorph. Sei r > 0 eine positive reelle Zahl mit Ur(z0) ⊆ D.Dann konvergiert nach Satz 4.31 die Taylorreihe von f in z auf Ur(z0) und stimmt dort mit füberein.

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4.4. Direkte Folgerungen aus den Cauchy’schen Integralformeln 78

Abbildung 4.3: Der Konvergenzradius der Taylorreihe von f in z0 ist also der Radius des größ-ten Kreises um z0, der noch in Gänze in D liegt.

Es kann nun passieren, dass die Taylorreihe tatsächlich auf einem sehr viel größeren Bereich kon-vergiert, dort aber nicht mehr notwendigerweise die Funktion f darstellt.

Beispiel. Sei Log(z) der für z ∈ C− definierte Hauptwert des Logarithmus. Sei weiter z0 ∈ C−.Mit

Log′(z) =1z

,ddz

1z= − 1

z2 , . . .

sehen wir, dass

Log(z) = Log(z0) +∞∑

ν=1

(−1)ν−1

zν0 ν

(z− z0)ν für alle z ∈ Ur(z0) ⊆ C−.

die Taylorreihe von Log(z) an der Stelle z = z0 ist. Nach der Formel von Cauchy-Hadamard 3.20hat die Potenzreihe rechts den Konvergenzradius

R =1

lim supν→∞ν√|aν|

=1

lim supν→∞ν

√∣∣∣ (−1)ν−1

zν0 ν

∣∣∣ = |z0|.

Andererseits ist für Rez0 < 0 der Abstand von z0 zur negativen reellen Achse, auf der Log(z)unstetig ist, echt kleiner als |z0|.

Abbildung 4.4: Es gilt |z0|2 = Re(z0)2 + Im(z0)2 und somit |z0| > Im(z0). Vergleiche auch denBeweis der Dreiecksungleichung für den Absolutbetrag 1.10 (iii).

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79 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

Satz 4.33 (Approximationssatz von WEIERSTRASS41). Sei D ⊆ C offen und ( fn)n∈N eine Folge vonFunktionen fn : D → C, die punktweise gegen eine Funktion f : D → C konvergiert. Die Konvergenzsei gleichmäßig auf jeder kompakten Teilmenge von D, und alle fn seien auf D holomorph. Dann ist fauf D holomorph, die Folge ( f ′n)n∈N konvergiert gegen f ′, und die Konvergenz ist gleichmäßig auf jederkompakten Teilmenge von D.

Beweis. Sei z0 ∈ D fest, und sei Ur(z0) eine Kreisumgebung von z0 mit Ur(z0) ⊆ D. Der Ab-schluss U r

2(z0) ist kompakt, so dass nach Voraussetzung die Folge ( fn)n∈N auf U r

2(z0) gleich-

mäßig gegen f konvergiert. Da weiterhin die Funktionen fn stetig sind, folgt wie in der reellenAnalysis die Stetigkeit von f auf U r

2(z0). Da z0 ∈ D beliebig gewählt war, folgt die Stetigkeit

von f in ganz D.

Mit der Cauchy’schen Integralformel 4.23 gilt für alle n ∈ N

fn(z) =1

2π i

∫C

fn(w)

w− zdw für alle z ∈ Ur(z0),

wobei die Integrationskurve C durch z0 + r e2πit mit t ∈ [0, 1] gegeben sei. Für z ∈ U r2(z0) und

w ∈ C gilt

|w− z| = |(w− z0)− (z− z0)| ≥ |w− z0| − |z− z0| ≥ r− r2=

r2

. (4.5)

Da C ⊆ D kompakt ist, konvergiert nach Voraussetzung die Folge ( fn)n∈N auf C gleichmäßiggegen f , für alle ε > 0 gibt es also ein N ∈ Nmit

| fn(w)− f (w)| < ε für alle n > N und alle w ∈ C.

Für z ∈ U r2(z0) und w ∈ C folgt dann mit (4.5)∣∣∣∣ fn(w)

w− z− f (w)

w− z

∣∣∣∣ = | fn(w)− f (w)||w− z| ≤ 2 ε

r.

Das bedeutet, dass die Folge(

fn(w)w−z

)n∈N

auf C gleichmäßig gegen f (w)w−z konvergiert. Für alle

z ∈ U r2(z0) folgt somit nach Übungsaufgabe 4.2

f (z) = limn→∞

fn(z) = limn→∞

12πi

∫C

fn(w)

w− zdw

=1

2πi

∫C

limn→∞

fn(w)

w− zdw

=1

2πi

∫C

f (w)

w− zdw.

Mit der Leibniz’schen Regel 4.24 folgt, dass f (z) auf U r2(z0) holomorph ist. Wegen z0 ∈ D

beliebig ist also f auf D holomorph. Der Rest der Behauptung wird in Übungsaufgabe 4.7gezeigt.

41Karl Theodor Wilhelm Weierstraß (1815 - 1897)

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4.4. Direkte Folgerungen aus den Cauchy’schen Integralformeln 80

Übungsaufgaben

Aufgabe 4.1. Übertragen Sie Lemma 4.9 auf stückweise glatte Kurven C = C1 · . . . · Cn.

Aufgabe 4.2. Zeigen Sie die folgenden Aussagen.

(a) Sei C eine durch γ : [a, b]→ C gegebene stückweise glatte Kurve, und sei ( fn)n∈N : γ([a, b])→C eine Folge stetiger Funktionen, die gleichmäßig gegen f konvergiert. Dann gilt

limn→∞

∫C

fn(z)dz =

∫C

f (z)dz.

(b) Sei −∞ ≤ a ≤ b ≤ ∞, und sei C eine durch γ : (a, b)→ C gegebene stetig differenzierbare Kur-ve. Sei weiter f : γ((a, b)) → C stetig. Dann ist (in Analogie zum Reellen) das uneigentlicheKurvenintegral definiert durch∫

Cf (z)dz :=

∫ b

af (γ(t))γ′(t)dt,

wobei rechts das uneigentliche Riemann- oder Regelintegral bzw. das Lebesque-Integral steht (fallsexistent).

Sei nun außerdem ( fn)n∈N : γ((a, b)) → C eine Folge stetiger Funktionen, deren Summe∑n∈N fn(z) lokal gleichmäßig konvergiert und für die

∑n∈N

∫ b

a| fn(γ(t))γ′(t)|dt < ∞

existiert. Dann existiert auch∫

C(∑

n∈N fn(z))dz, und es gilt42

∫C

(∑n∈N

fn(z)

)dz =

∑n∈N

∫C

fn(z)dz.

Aufgabe 4.3. (Satz von MORERA43) Sei D ⊆ C ein Gebiet und f : D → C eine stetige Funktion.Zeigen Sie: Gibt es für alle z0 ∈ D eine offene Kreisumgebung Ur(z0) ⊆ D, in der für alle Dreiecke4(z1, z2, z3) ⊆ D das Integral ∫

C(z1,z2,z3)

f (z)dz

verschwindet, so ist f holomorph.42Beim Beweis hilft der folgende Satz aus der reellen Analysis, der für alle oben genannten Integrale gilt:Seien a < b zwei reelle Zahlen, und sei ( fn)n∈N : (a, b) → R eine Folge auf (a, b) absolut integrierbarer Funktio-

nen. Seien weiter die Summen ∑n∈N

∫ b

a| fn(x)|dx und

∑n∈N

fn(x)

konvergent, und sei die letzte Summe als Funktion in x sogar stetig. Dann existiert das Integral∫ b

a (∑

n∈N fn(x))dxund nimmt den Wert

∑n∈N

∫ ba fn(x)dx an.

43Giacinto Morera (1856 - 1909)

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81 Kapitel 4. Komplexe Integrationstheorie

Aufgabe 4.4. (Riemann’scher Fortsetzungssatz) Sei D ⊆ C offen und A ⊆ D eine abgeschlosseneTeilmenge, die nur aus isolierten Punkten besteht. Zeigen Sie, dass dann folgende Aussagen über eineauf D r A holomorphe Funktion f äquivalent sind.

(i) f ist holomorph nach ganz D fortsetzbar.

(ii) f ist stetig nach ganz D fortsetzbar.

(iii) f ist in einer Umgebung U ⊆ D eines jeden Punktes a ∈ A beschränkt.

(iv) limz→a(z− a) f (z) = 0 für alle a ∈ A.

Aufgabe 4.5. Sei P ∈ C[X] ein Polynom vom Grad n ∈ N. Zeigen Sie, dass es für je zwei Konstanten0 < c1 < 1 < c2 < ∞ eine Schranke R gibt, so dass für alle z ∈ C mit |z| > R die Abschätzungen

c1 |an| |z|n ≤ |P(z)| ≤ c2 |an| |z|n

gelten. Diese Aussage nennt man auch das Wachstumslemma für Polynome.

Aufgabe 4.6. Zeigen Sie die folgenden Behauptungen.

(a) Das Bild einer jeden nichtkonstanten ganzen Funktion f liegt dicht in C.

(b) Jedes nichtkonstante Polynom P ∈ C[X] ist surjektiv, es gilt also P(C) = C.

(c) Sei f ;C → C eine ganze Funktion. Gibt es eine natürliche Zahl n ∈ N und reelle KonstantenM, R > 0 mit

| f (z)| ≤ M|z|n für alle |z| > R,

dann ist f ein Polynom von Grad deg( f ) ≤ n .

Aufgabe 4.7. (a) Beenden Sie den Beweis des Approximationssatzes von Weierstraß 4.33: Sei D ⊆C offen, und sei ( fn)n∈N : D → C eine Folge von holomorphen Funktionen, die punktweisegegen eine holomorphe Funktion f : D → C konvergiert. Die Konvergenz sei gleichmäßig aufjeder kompakten Teilmenge von D. Zeigen Sie, dass dann die Folge ( f ′n)n∈N gegen f ′ konvergiert,und zwar gleichmäßsig auf jeder kompakten Teilmenge von D.

(b) Sei D ⊆ C eine offene Teilmenge, und sei ( fn)n∈N eine Folge holomorpher Funktionen fn : D →C. Sei weiter

F(z) :=∞∑

n=1

fn(z) für alle z ∈ D

eine normal konvergente Reihe, es gebe also für jedes Kompaktum K ⊆ D eine Folge (Mn)n∈Nnichtnegativer reeller Zahlen mit | fn(z)| ≤ Mn für alle z ∈ K und alle n ∈ N, für die dieReihe

∑∞n=1 Mn konvergiert. Zeigen Sie, dass F(z) dann auf D holomorph ist und die komplexe

Ableitung durch

F′(z) =∞∑

n=1

f ′n(z) für alle z ∈ D

gegeben ist.

(c) Zeigen Sie in der Situation von Aufgabenteil (b), dass die Reihe der Ableitungen F′(z) ebenfallsnormal konvergent ist.

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4.4. Direkte Folgerungen aus den Cauchy’schen Integralformeln 82

Aufgabe 4.8. (a) Zeigen Sie, dass das uneigentliche Integral

Γ(z) :=∫ ∞

0tz−1e−tdt

für z ∈ C mit Re(z) > 0 absolut konvergent ist und auf D := {z ∈ C; Re(z) > 0} eineholomorphe Funktion darstellt.

Hinweis: Zum Beweis der Holomorphie zeigt man zunächst, dass die Funktionenfolge (Γn)n∈Nmit

Γn(z) :=∫ n

1/ntz−1e−tdt für alle z ∈ D

auf Kompakta gleichmäßig gegen Γ(z) konvergiert und benutzt die Leibniz’sche Regel 4.24 sowieden Approximationssatz von Weierstraß 4.33.

(b) Zeigen Sie die Funktionalgleichung

Γ(z + 1) = zΓ(z) für alle z ∈ D

und folgern Sie Γ(n + 1) = n! für n ∈ N.

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KAPITEL 5

Lokale Abbildungseigenschaften holomorpher Funktionen

5.1 Elementargebiete

Definition 5.1. Ein Gebiet D ⊆ C heißt Elementargebiet, wenn jede holomorphe Funktion f : D →C auf D eine Stammfunktion hat.

Beispiel. (a) Sterngebiete sind Elementargebiete (siehe Cauchy’scher Integralsatz 4.20).

(b) Cr {0} ist kein Elementargebiet, denn 1z hat aufCr {0} keine Stammfunktion (siehe das Beispiel

nach Satz 4.14).

Satz 5.2. Seien D1, D2 ⊆ C zwei Elementargebiete. Gilt D1∪ D2 6= ∅ und ist D1

∪ D2 zusammen-hängend, so ist auch D1 ∪ D2 ein Elementargebiet.

Beweis. Zunächst einmal ist klar, dass D1 ∪ D2 wieder offen ist. D1 ∪ D2 ist aber auch zusam-menhängend, denn D1 und D2 sind zusammenhängend und haben nichtleeren Schnitt. Insge-samt ist also D1 ∪ D2 ein Gebiet.

Sei nun f : D1 ∪ D2 → C eine holomorphe Funktion. Dann sind insbesondere f |D1 und f |D2

holomorph. Da D1 und D2 Elementargebiete sind, gibt es holomorphe Funktionen F1 : D1 → C

bzw. F2 : D2 → C, deren Ableitungen auf D1 bzw. D2 mit f (z) übereinstimmen. Es folgt

(F1 − F2)′(z) = F′1(z)− F′2(z) = f (z)− f (z) = 0.

Da D1∪ D2 zusammenhängend ist, gilt also F1 = F2 + c auf D1

∪ D2 mit einer Konstanten c ∈C. Mit F2 ist auch F2 + c Stammfunktion von f auf D2. Wir können daher ohne EinschränkungF2 durch F2 + c ersetzen, also annehmen, dass F1 und F2 auf D1

∪ D2 übereinstimmen. Wirsetzen nun

F :

{D1 ∪ D2 → C,z 7→ Fk(z)für z ∈ Dk und k ∈ {1, 2}.

Dann ist F wohldefiniert, holomorph auf D1 ∪ D2 und erfüllt F′ = f auf D1 ∪ D2. Folgerichtigist D1 ∪ D2 ein Elementargebiet.

83

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5.1. Elementargebiete 84

Man kann den Satz benutzen, um zu zeigen, dass nicht jedes Elementargebiet auch ein Stern-gebiet ist.

Abbildung 5.1: D1 und D2 sind als Sterngebiete insbesondere Elementargebiete. Nach demSatz ist also auch D1 ∪ D2 ein Elementargebiet. Man sieht andererseits schnell, dass D1 ∪ D2kein Sterngebiet ist.

Bemerkung 5.3. In Abschnitt 8.3 werden wir zeigen, dass sich Elementargebiete auch geometrischcharakterisieren lassen als einfach zusammenhängende Gebiete, also Gebiete, in denen jede geschlos-sene Kurve nullhomotop ist, sich also stetig auf einen Punkt zusammenziehen lässt. Anschaulich sindElementargebiete also Gebiete „ohne Löcher“.

Auf Elementargebieten lassen sich von holomorphen Funktionen ohne Nullstellen der Loga-rithmus und beliebige Wurzeln ziehen, wie wir in Lemma 5.4 einsehen.

Lemma 5.4. Sei D ⊆ C ein Elementargebiet, und sei f : D → C holomorph. f (z) habe auf D keineNullstelle. Dann gelten die folgenden beiden Aussagen.

(a) Es gibt eine holomorphe Funktion h : D → C mit f (z) = exp(h(z)) für alle z ∈ D.

(b) Für jedes n ∈ N gibt es eine holomorphe Funktion H : D → C mit Hn = f auf D.

Beweis. Da f (z) auf D keine Nullstellen hat, ist die logarithmische Ableitung f ′(z)f (z) auf D ho-

lomorph. Da D ein Elementargebiet ist, hat somit f ′f eine Stammfunktion F auf D. Schreiben

wir

G(z) :=exp F(z)

f (z)mit z ∈ D.

Dann gilt

G′(z) =F′(z) f (z) exp F(z)− exp F(z) f ′(z)

f 2(z)=

f ′(z) exp F(z)− f ′(z) exp F(z)f 2(z)

= 0.

Da D ein Gebiet ist, ist also G(z) = C konstant auf ganz D mit einer Konstanten C ∈ Cr {0}.Andererseits ist exp : C → Cr {0} surjektiv, so dass es ein c ∈ C gibt mit C = ec. Insgesamtgilt

ec =eF(z)

f (z),

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85 Kapitel 5. Lokale Abbildungseigenschaften holomorpher Funktionen

alsof (z) = eF(z)−c.

Wir können daher h := F(z)− c wählen, was Behauptung (a) zeigt.

Setzen wir H(z) := exp( 1n h(z)), so gilt

Hn(z) = exp(h(z)

)= f (z),

und Behauptung (b) folgt.

5.2 Der Identitätssatz

Lemma 5.5 (Identitätssatz für Potenzreihen). Seien∑∞

ν=0 aν(z− z0)ν und∑∞

ν=0 bν(z− z0)ν zweiPotenzreihen mit Entwicklungspunkt z0, die in einer Kreisumgebung Ur(z0) von z0 konvergieren. Seiweiter (zn)∞

n=1 eine Folge in Ur(z0)r {z0} mit Grenzwert limn→∞ zn = z0. Gilt dann

∞∑ν=0

aν(zn − z0)ν =

∞∑ν=0

bν(zn − z0)ν für alle n ∈ Nr {0},

so gilt bereits aν = bν für alle ν ∈ N.

Beweis. Angenommen, es gibt ein ν ∈ N mit aν 6= bν. Sei µ die kleinste nichtnegative Zahl νmit dieser Eigenschaft. Dann gilt

∞∑ν=µ

aν(zn − z0)ν =

∞∑ν=µ

bν(zn − z0)ν für alle n ∈ Nr {0}.

Nach Division durch (zn − z0)µ 6= 0 folgt:

aµ + aµ+1(zn − z0) + . . . =∞∑

ν=µ

aν(zn − z0)ν−µ

=∞∑

ν=µ

bν(zn − z0)ν−µ = bµ + bµ+1(zn − z0) + . . . .

Wegen limn→∞ zn = z0 liegen die Folgenglieder zn schon in einem Kompaktum K ⊆ Ur(z0).Potenzreihen konvergieren auf kompakten Mengen gleichmäßig, und bei gleichmäßig konver-genten Reihen dürfen Grenzübergänge und Summation vertauscht werden. Lassen wir also ngegen ∞ gehen, so folgt wegen limn→∞ zn = z0 die Gleichheit aµ = bµ, was im Widerspruchzu unserer Annahme steht. Es gilt also aν = bν für alle ν ∈ N, so dass das Lemma bewiesenist.

Wie wir wissen, sind holomorphe Funktionen lokal in Potenzreihen entwickelbar. Auf dieseWeise sollten wir das Lemma also auch auf holomorphe Funktionen anwenden können. In derTat:

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5.2. Der Identitätssatz 86

Satz 5.6 (Identitätssatz für holomorphe Funktionen). Sei D ⊆ C ein Gebiet. Seien f , g : D →C zwei holomorphe Funktionen. Es gebe außerdem einen Punkt z0 ∈ D und eine Folge (zn)∞

n=1 inD r {z0} mit Grenzwert limn→∞ zn = z0, für die

f (zn) = g(zn) für alle n ∈ Nr {0}

gilt. Dann stimmen auf ganz D die Funktionen f (z) und g(z) überein.

Beweis. Sei F(z) := f (z)− g(z) für alle z ∈ D. Dann ist F(zn) = 0 für alle n ∈ Nr {0}. Seien

A := {z ∈ D | F(ν)(z) = 0 für alle ν ∈ N},B := {z ∈ D | es gibt ein ν ∈ Nmit F(ν)(z) 6= 0}.

Wir wollen nun zeigen, dass A und B beides offene Mengen sind. Dazu schreiben wir dieFunktion F(z) um: Holomorphe Funktionen sind nach dem Korollar von Satz 4.31 analytisch,und nach Teil (a) von Bemerkung 4.32 kennen wir die Gestalt der lokalen Taylorkoeffizienten.Es gibt somit zu jedem a ∈ D ein ε > 0 mit Uε(a) ⊆ D und

F(z) =∞∑

ν=0

F(ν)(a)ν!

(z− a)ν für alle z ∈ Uε(a). (5.1)

A ist offen,

denn: Sei a ∈ A. Nach (5.1) verschwindet F(z) dann auf ganz Uε(a), insbesondere gilt F(ν)(z) =0 für alle z ∈ Uε(a) und alle ν ∈ N. Es folgt Uε(a) ⊆ A und somit die Offenheit von A. #

B ist offen,

denn: Sei a ∈ B. Dann gibt es ein ν ∈ N mit F(ν)(a) 6= 0. Wegen der Stetigkeit von F(ν) gibt eseine Umgebung V von a, auf der F(ν)(z) keine Nullstelle hat. Insbesondere ist V in B enthalten,und letzteres ist offen. #

Weiter gilt nach Konstruktion

A ∪ B = ∅ und A ∪ B = D,

so dass D die disjunkte Vereinigung zweier offener Mengen ist.

Außerdem ist A 6= ∅,

denn: Wählen wir speziell a = z0 und schreiben F(z) wie in (5.1). Da nach VoraussetzungF(zn) = 0 gilt für alle n ∈ Nr {0}, folgt mit dem Identitätssatz für Potenzreihen 5.5 F(ν)(z0) =0 für alle ν ∈ N. Insbesondere liegt z0 in A. #

Da D zusammenhängend ist, folgt hieraus B = ∅, also D = A. Insbesondere ist F(z) = 0 füralle z ∈ D, also f (z) = g(z) auf ganz D.

Bemerkung 5.7. (a) Der Identitätssatz 5.6 gilt nicht für beliebige offene Teilmengen D ⊆ C.

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87 Kapitel 5. Lokale Abbildungseigenschaften holomorpher Funktionen

Beispiel. Sei D = U1(0)∪U1(3). Dann stimmen die Funktionen f = idD und g : D → Cmit

g(z) =

{z z ∈ U1(0),−z z ∈ U1(3)

auf jeder in U1(0) enthaltenen Folge mit Grenzwert 0 überein, sind aber offensichtlich verschieden.

(b) Nach dem Identitätssatz 5.6 ist der Gesamtverlauf einer holomorphen Funktion auf einem Gebietschon durch ihre Werte auf einer „sehr kleinen Teilmenge“ von D, wie etwa einem Geradenstück-chen, vollständig bestimmt.

Korollar 1 Sei D ⊆ C ein Gebiet. Sei f : D → C holomorph nicht identisch Null auf D. Dann istdie Nullstellenmenge T( f ) := {z ∈ D | f (z) = 0} abgeschlossen in D und besteht nur aus isoliertenPunkten.

Beweis. Wir zeigen beide Aussagen, wenn wir zeigen können, dass T( f ) in D keinen Häufungs-punkt hat. Nehmen wir also an, es gäbe einen Häufungspunkt z0 von T( f ) in D. Es existiertedann eine Folge (zn)n∈N in T( f )r {z0}mit Grenzwert limn→∞ zn = z0. Nach Konstruktion giltf (zn) = 0 für alle n ∈ N. Nach dem Identitätssatz 5.6 gälte dann f ≡ 0 auf D. Das hatten wiraber explizit ausgeschlossen.

Folgendes zweites Korollar des Identitätssatzes ist zwar offensichtlich aber dennoch vongroßem Nutzen.

Korollar 2 (Eindeutigkeit der holomorphen Fortsetzung) Sei D ⊆ C ein Gebiet und M ⊆ D eineTeilmenge, die in D mindestens einen Häufungspunkt besitzt. Sei f : M→ C eine Abbildung. Wenn eseine holomorphe Funktion f : D → C gibt mit f (z) = f (z) auf ganz M, so ist f eindeutig bestimmt.

Beispiel. Die reellen Funktionen ex, sin x, cos x usw. haben genau eine Fortsetzung ins Komplexe.

5.3 Der Satz von der Gebietstreue

Satz 5.8 (Satz von der Gebietstreue). Sei D ⊆ C ein Gebiet. Sei f : D → C holomorph und nichtkonstant auf D. Dann ist auch f (D) ein Gebiet.

Beweis. Da f stetig und D zusammenhängend ist, ist auch f (D) zusammenhängend (Analysis2). Wir müssen also nur zeigen, dass f (D) offen ist.

Sei dafür a ∈ D mit Bild b := f (a). Wir müssen zeigen, dass es eine offene Umgebung Uε(b)von b gibt, die ganz in f (D) enthalten ist. Ersetzen wir dabei gegebenenfalls f (z) durch g(z) :=f (z + a) − f (a) und beachten g(0) = 0 und dass Translationen Homöomorphismen sind, sokönnen wir ohne Einschränkung a = b = 0 annehmen.

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5.3. Der Satz von der Gebietstreue 88

D ist offen, so dass 0 ∈ D ein innerer Punkt ist. Da f holomorph und also analytisch ist, gibt esalso eine offene Umgebung Uε(0) in D und eine auf Uε(0) konvergente Potenzreihe

∑∞ν=0 aν zν

mit

f (z) =∞∑

ν=0

aν zν für alle z ∈ Uε(0).

D ist ein Gebiet. Nach dem Identitätssatz 5.6 können nicht alle Koeffizienten aν Null sein, sonstwäre f (z) auf D konstant Null, was wir ausgeschlossen hatten. Wegen f (0) = 0 gilt aber a0 = 0.Sei also nun n ≥ 1 der kleinste Index ν mit aν 6= 0. Wir können somit

f (z) = zn ·∞∑

ν=n

aν zν−n

︸ ︷︷ ︸=:g(z)

für alle z ∈ Uε(0)

schreiben. Die Funktion g(z) ist hierbei auf Uε(0) holomorph und erfüllt g(0) = an 6= 0. Da gstetig ist, folgt hieraus g(z) 6= 0 in einer ganzen Kreisumgebung Uε1(0) mit einem hinreichendkleinen ε1 ∈ (0, ε). Wir wenden nun Teil (b) von Lemma 5.4 an auf die Funktion

g : Uε1(0)→ C.

Das dürfen wir, da Uε1(0) ein Sterngebiet und also insbesondere ein Elementargebiet ist. Esfolgt die Existenz einer holomorphen Funktion

H : Uε1(0)→ Cmit g(z) = Hn(z) für alle z ∈ Uε1(0).

Setzen wir F(z) := z H(z) auf Uε1(0), so erhalten wir dort f (z) = (z H(z))n = Fn(z).44 Fernergilt F(0) = 0 und F′(0) 6= 0,

denn: Es gilt F′(z) = H(z) + z H′(z) und somit F′(0) = H(0) 6= 0. #

Da F′ stetig ist, gibt es ein ε2 ∈ (0, ε1) mit F′(z) 6= 0 für alle z ∈ Uε2(0). Wir wollen den Satzüber die inverse Funktion aus Analysis 2 auf F anwenden und interpretieren dafür C ∼= R2.Das dürfen wir tun,

denn: Wir schreiben F = u + vi mit reellen Funktionen u und v. Als holomorphe Funktion istzum einen F reell stetig total differenzierbar, was die erste Voraussetzung des Satzes über dieinverse Funktion ist. Wir müssen noch zeigen, dass die JACOBIdeterminante45

J(F) = det(

ux uyvx vy

)= ux vy − uy vx

nicht verschwindet. Wegen seiner Holomorphie erfüllt F die Cauchy-Riemann’schen Differen-tialgleichungen ux = vy und uy = −vx (siehe Satz 3.13) und die Folgerung F′ = ux + i vxdaraus (siehe (3.2)). Mit F′ 6= 0 auf Uε2(0) folgt dort also

J(F) = u2x + v2

x 6= 0,

44Insbesondere haben wir hier in Verallgemeinerung von Lemma 5.4 eine n-te Wurzel aus einer nicht nullstellen-freien holomorphen Funktion gezogen. Vgl. hierzu auch Übungsaufgabe 5.1.

45Carl Gustav Jacob Jacobi (1804 - 1851)

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89 Kapitel 5. Lokale Abbildungseigenschaften holomorpher Funktionen

was zu zeigen war. #

Mit dem Satz über die inverse Funktion erhalten wir nun eine offene Umgebung V ⊆ Uε2(0)von 0, für die F(V) offen ist.46 0 = F(0) ist somit ein innerer Punkt von F(V), so dass es einhinreichend kleines r > 0 gibt mit Ur(0) ⊆ F(V). Dann gilt bereits Urn(0) ⊆ f (V) ⊆ f (D),

denn: Wie in Proposition 1.13 können wir ein beliebiges w ∈ Urn(0) in der Form w = τn miteinem τ ∈ C schreiben. Dann gilt |τ|n = |w| < rn und also |τ| < r. Wegen Ur(0) ⊆ F(V) gibtes daher ein z ∈ V mit F(z) = τ. Es folgt

w = τn = F(z)n = Fn(z) = f (z)

und damit die Behauptung. #

Wir haben somit gezeigt, dass es eine offene Umgebung von 0 gibt, die ganz in f (D) enthaltenist. Da wir bereits zu Beginn den Satz auf diese Behauptung zurückgeführt hatten, ist dieserhiermit bewiesen.

Korollar 1 Sei D ⊆ C offen, und sei f : D → C eine holomorphe Funktion, die auf keiner Zusammen-hangskomponente von D konstant ist. Dann ist f eine offene Abbildung, bildet also offene Teilmengenvon D stets auf offene Teilmengen von C ab.

Beweis. Sei für den Beweis zunächst D ein Gebiet. Jede offene Teilmenge A ⊆ D lässt sich alsVereinigung

A =⋃

n∈NAn

von Gebieten An ⊆ D schreiben. Nach Korollar 2 des Identitätssatzes 5.6 ist f als nicht-konstante Funktion auf keinem dieser Gebiete An konstant. Nach dem Satz von der Gebiet-streue 5.8 ist dann für alle n ∈ N das Bild f (An) ⊆ C offen. Die Behauptung folgt, da dieVereinigung beliebig vieler offener Mengen wieder offen ist.

Ist D ⊆ C nun eine beliebige offene Teilmenge, so liegt in der obigen Zerlegung von A jedes Anbereits in einer eindeutigen Zusammenhangskomponente von D. Das Korollar folgt aus demzuerst gezeigten Spezialfall für Gebiete.

Der Satz von der Gebietstreue 5.8 hat noch zwei weitere Korollare, für deren Formulierung wirallerdings zuerst noch etwas Notation einführen wollen.

Definition 5.9. Sei D ⊆ C ein Gebiet, und sei f : D → C eine holomorphe Funktion. Wir sagen, fhabe in z0 ∈ D ein lokales Betragsmaximum bzw. lokales Betragsminimum, wenn es eine offeneUmgebung Uδ(z0) von z0 in D gibt mit

| f (z)| ≤ | f (z0)| bzw. | f (z)| ≥ | f (z0)| für alle z ∈ Uδ(z0).46Die Aussage des Satzes lautet zumeist, dass F unter den genannten Bedingungen eingeschränkt auf eine hin-

reichend kleine Menge bijektiv ist und eine stetig differenzierbare und insbesondere stetige Umkehrfunktion hat.Unser Ergebnis folgt, da die Urbilder offener Mengen unter einer stetigen Funktion wieder offen sind.

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5.3. Der Satz von der Gebietstreue 90

Korollar 2 Sei D ⊆ C ein Gebiet und f : D → C eine holomorphe Funktion, die auf D nicht konstantist. Dann gilt

(a) Die Funktion f hat auf D kein lokales Betragsmaximum. (Maximumprinzip)

(b) Besitzt f in z0 ein lokales Betragsminimum, so gilt f (z0) = 0. (Minimumprinzip)

Beweis. Wir zeigen zunächst das Maximumprinzip. Angenommen, f nähme in z0 ∈ D einlokales Betragsmaximum an. Nach Definition 5.9 gäbe es dann eine offene Umgebung Uδ(z0) ⊆D mit δ > 0 und

| f (z)| ≤ | f (z0)| für alle z ∈ Uδ(z0).

Die Funktion f wäre auch eingeschränkt auf Uδ(z0) nicht konstant,

denn: Der Punkt z0 ist ein Häufungspunkt von Uδ(z0). Wäre also f eingeschränkt auf Uδ(z0)konstant, so nach dem Identitätssatz 5.6 auch auf ganz D, was der Voraussetzung des Satzeswiderspäche. #

Nach dem Satz von der Gebietstreue 5.8 wäre somit auch f (Uδ(z0)) ein Gebiet und insbeson-dere offen, und f (z0) wäre ein innerer Punkt von f (Uδ(z0)). Es gäbe dann also eine offeneUmgebung Uε( f (z0)) ⊆ f (Uδ(z0)) mit ε > 0. Jede solche Umgebung enthält aber einen Punktf (z1) mit z1 ∈ Uδ(z0) und | f (z1)| > | f (z0)|,47 was ein Widerspruch zu unserer Annahme ist.

Der Beweis des Minimumprinzips geht genauso, mit dem einzigen Unterschied, dass im Fallf (z0) = 0 in der Entsprechung zu Fußnote 47 kein Punkt mit kleinerem Betrag zu finden ist.

Korollar 3 (Maximumprinzip auf Kompakta) Sei D ⊆ C ein Gebiet und f : D → C holomorph.Sei weiter K ⊆ D kompakt. Dann nimmt die Einschränkung f

∣∣K ihr Betragsmaximum auf dem Rand

∂K von K an.48

Beweis. Als Kompaktum ist K die disjunkte Vereinigung seines Inneren K und seines Randes∂K. Sei z0 ∈ K ein Punkt, in dem f

∣∣K sein Betragsmaximum annimmt. Liegt z0 auf dem Rand ∂K,

so ist nichts zu zeigen. Liegt z0 im Inneren K, so nimmt f in z0 ∈ D ein lokales Betragsmaximuman, ist also nach dem Maximumprinzip konstant auf D, also auch auf K. Auch in diesem Fallwird also das Betragsmaximum auf dem Rand angenommen.

Satz 5.10 (Lemma von SCHWARZ49). Sei E := {z ∈ C | |z| < 1} die offene Einheitskreisscheibe.Sei f : E→ E holomorph und gelte f (0) = 0. Dann gelten

| f (z)| ≤ |z| für alle z ∈ E und | f ′(0)| ≤ 1.

47Für f (z0) = 0 ist das klar. Für f (z0) 6= 0 können wir f (z1) := (1 + ε2 | f (z0)| ) f (z0) wählen.

48Die Existenz des Betragsmaximums ist gesichert, da f stetig und K kompakt ist.49Hermann Amandus Schwarz (1843 - 1921)

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91 Kapitel 5. Lokale Abbildungseigenschaften holomorpher Funktionen

Beweis. Sei f (z) =∑∞

ν=0 aν zν die Taylorentwicklung (vgl. Satz 4.31) von f um den Nullpunkt.Wegen f (0) = 0 ist a0 = 0, so dass die Funktion g : E→ Cmit

g(z) =

{f (z)

z für z 6= 0,f ′(0) für z = 0

auf dem GebietE holomorph ist und die Taylorentwicklung g(z) =∑∞

ν=1 aν zν−1 um den z = 0hat. Nach dem Maximumprinzip auf Kompakta nimmt daher die Funktion g eingeschränkt aufein beliebiges Kompaktum der Form Kr := {z ∈ C | |z| ≤ r} mit r ∈ (0, 1) ihr Maximum aufdem Rand ∂Kr = {z ∈ C | |z| = r} an. Dort gilt aber

|g(z)| =∣∣∣∣ f (z)

z

∣∣∣∣ = | f (z)|r≤ 1

r,

so dass |g(z)| auf ganz Kr durch 1r beschränkt ist. Lassen wir r gegen 1 gehen, folgt für alle

z ∈ E|g(z)| ≤ 1 und somit auch | f (z)| ≤ |z|.

Außerdem gilt | f ′(0)| = |g(0)| ≤ 1.

Korollar. Gibt es in der Situation des Lemmas von Schwarz 5.10 zusätzlich einen Punkt z0 ∈ Er {0}mit | f (z0)| = |z0|, so gibt es eine Konstante c ∈ C vom Betrag |c| = 1 mit f (z) = cz.50

Beweis. Sei z0 ∈ Er {0}mit | f (z0)| = |z0|, also mit |g(z0)| = 1. Wegen |g(z)| ≤ 1 für alle z ∈ E(vgl. Beweis des Lemmas von Schwarz 5.10) nimmt g dann in z0 ein lokales Betragsmaximuman. Nach dem Maximumprinzip ist also g auf E konstant, so dass wir

g(z) = c für alle z ∈ E

schreiben können mit einer Konstanten c ∈ C. Setzen wir nun z = z0 in g(z) ein, so folgt |c| = 1wegen |g(z0)| = 1. Hieraus folgt offensichtlich das Korollar.

Definition 5.11. Sei D ⊆ C ein Gebiet. Dann heißt

Aut(D) := { f : D → D | f ist bijektiv und f , f−1 sind holomorph}

die Automorphismengruppe von D.51

Übungsaufgaben

Aufgabe 5.1. Sei D ein Elementargebiet und f : D → C holomorph. Weiter sei z0 die einzige Nullstellevon f in D. Zeigen Sie: Genau dann gibt es eine in D holomorphe Funktion h mit (h(z))k = f (z), wennk die Nullstellenordnung von f in z0 teilt.

50Wie wir schon in Abschnitt 2.1 eingesehen haben, ist dann f geometrisch eine Drehung.51Klar, dass Aut(D) mit der Hintereinanderausführung als Verknüpfung tatsächlich eine Gruppenstruktur trägt.

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5.3. Der Satz von der Gebietstreue 92

Aufgabe 5.2. In der reellen Analysis ordnet man einer glatten Funktion f : I → R auf einem offenenIntervall I ⊆ R ihre Taylorreihe

∞∑n=0

f (n)(x0)

n!(x− x0)

n

um den Entwicklungspunkt x0 ∈ I zu. Nach Teil (b) von Bemerkung 4.32 besitzt die Funktion g : R→R mit

g(x) =

{e−

1x2 x 6= 0,

0 x = 0,für alle x ∈ R

zwar mit∑∞

n=0 0xn eine auf ganzR konvergente Taylorreihe um x0 = 0, diese stellt jedoch g offensicht-lich nur im Punkt x = 0 dar. Andererseits besagt der Satz von Taylor 4.31, dass jede auf einer offenenKreisscheibe in C gegebene holomorphe Funktion in allen Punkten der Kreisscheibe durch ihre Taylor-reihe um den Mittelpunkt dargestellt wird. In dieser Aufgabe untersuchen wir, wie sich die Funktion gbeim Übergang ins Komplexe verhält.

(a) Bestimmen Sie alle holomorphen Funktionen

h : Cr {0} → C

mit h(x) = g(x) für alle x ∈ R×.

(b) Zeigen Sie, dass sich keine der in (a) bestimmten Funktionen h stetig nach z = 0 fortsetzen lässt.

(c) Welchen Konvergenzradius hat die reelle Taylorreihe der Funktion g um x = 1?

(d) Wie wir in Kapitel 6 sehen werden, trifft für jede holomorphe Funktion h : D r {a} → C mitD ⊆ C offen und a ∈ D genau einer der folgenden drei Fälle zu.

(a) h ist stetig nach a fortsetzbar.(b) Es gilt |h(z)| → ∞ für z→ a.(c) h kommt in jeder in D gelegenen Umgebung von a jedem Wert in C beliebig nahe.

Welcher Fall trifft jeweils für die in Teil (a) bestimmten Funktionen h zu?

Aufgabe 5.3. Sei D ⊆ C ein Elementargebiet und u : D → R eine harmonische Funktion (vgl.Übungsaufgabe 3.1).

(a) Zeigen Sie, dass es dann eine holomorphe Funktion f : D → C gibt mit Re( f ) = u.

Hinweis: Falls es ein solches f gibt, kann man f ′ durch u ausdrücken.

(b) Folgern Sie mit dem Satz von der Gebietstreue 5.8, dass die Funktion u konstant ist, wenn sie einlokales Extremum hat.

Aufgabe 5.4. In dieser Aufgabe sollen die Automorphismengruppen Aut(E) und Aut(H) bestimmtwerden.

(a) Zeigen Sie, dass die Abbildung

ϕa :

{E → E,z 7→ z−a

az−1

für alle a ∈ E wohldefiniert, selbstinvers und holomorph ist.

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93 Kapitel 5. Lokale Abbildungseigenschaften holomorpher Funktionen

(b) Folgern Sie

Aut(E) ={

αz + β

βz + α| α, β ∈ C mit |α|2 − |β|2 = 1

}und

Aut(H) =

{az + bcz + d

|(

a bc d

)∈ SL2(R)

}.

Hinweis: Ist f ∈ Aut(E), so gibt es ein a ∈ E und ein c ∈ C mit |c| = 1, für die f = c · ϕa giltmit der Funktion ϕa aus Teil (a).

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KAPITEL 6

Singularitäten

6.1 Klassifikation der Singularitäten

Definition 6.1. (a) Sei z0 ∈ C. Dann heißt für alle r > 0

Ur(z0) := {z ∈ C | 0 < |z− z0| < r}

eine punktierte Kreisscheibe um z = z0.

(b) Sei D ⊆ C offen und f : D → C holomorph. Sei z0 ∈ Cr D aber Ur(z0) ⊆ D für ein r > 0.Dann heißt z0 eine (isolierte) Singularität von f .

Bemerkung 6.2. Wir sprechen in der Definition von „isolierten“ Singularitäten, da wir per Konstruk-tion ausgeschlossen haben, dass die Menge der Singularitäten einen Häufungspunkt enthält. Man kannallgemeiner auch Funktionen f : D → C mit nicht-isolierten Singularitäten betrachten, wie etwa

D = Cr {k−1 | k ∈ Zr {0}} und f :

{D → C,z 7→ sin(π

z )−1.

Offensichtlich ist für jedes k ∈ Zr {0} die Stelle zk := k−1 eine isolierte Singularität von f wie in derDefinition. Ebenfalls offensichtlich ist f auch in z0 := 0 nicht definiert. Wegen limk→∞ zk = z0 liegtaber in z0 keine isolierte Singularität vor. Wir werden im Weiteren keine nicht-isolierten Singularitä-ten behandeln und deshalb vereinfachend schlicht von „Singularitäten“ sprechen, wenn wir „isolierteSingularitäten“ meinen.

Definition 6.3. Sei D ⊆ C offen, f : D → C holomorph und z0 eine Singularität von f . Genau dannheißt z0 hebbar, wenn sich f holomorph auf D ∪ {z0} fortsetzen läßt, wenn es also eine holomorpheFunktion f : D ∪ {z0} → C gibt mit f |D = f .

Bemerkung 6.4. (a) Als Vereinigung zweier offener Mengen ist D ∪ {z0} = D ∪Ur(z0) offen.

94

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95 Kapitel 6. Singularitäten

(b) f ist holomorph und insbesondere stetig in z0. Somit gilt

f (z0) = limz→z0z 6=z0

f (z) = limz→z0z 6=z0

f (z),

und f ist, wenn existent, eindeutig durch f bestimmt. Wir schreiben daher auch einfach f statt f .

Beispiel. f (z) =sin z

zfür z ∈ Cr {0}.

Mit der Taylorentwicklung 3.28 des Sinus gilt

f (z) = 1− z2

3!+

z4

5!∓ . . . für alle z ∈ C,

so dass wir eine holomorphe Fortsetzung von f (z) in z = 0 erhalten.

Satz 6.5 (Riemann’scher Hebbarkeitssatz). Sei D ⊆ C offen, f : D → C holomorph und z0 eineSingularität von f . Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent.

(i) z0 ist hebbar.

(ii) Es gibt ein δ > 0 mit Uδ(z0) ⊆ D, so dass f auf Uδ(z0) beschränkt ist.

Beweis. Nehmen wir zunächst an, z0 sei hebbar. f ist in z0 holomorph, also auch stetig. Dahergibt es ein δ > 0 mit ∣∣ f (z)− f (z0)

∣∣ < 1 für alle z ∈ Uδ(z0).

Für z ∈ Uδ(z0) ist f (z) = f (z), also gilt für solche z:

| f (z)| ≤∣∣ f (z)− f (z0)

∣∣+ ∣∣ f (z0)∣∣

=∣∣ f (z)− f (z0)

∣∣+ ∣∣ f (z0)∣∣

≤ 1 +∣∣ f (z0)

∣∣ ,so dass f auf Uδ(z0) beschränkt ist.

Nehmen wir umgekehrt an, es gebe ein δ > 0, für das f auf der punktierten Kreisscheibe Uδ(z0)um z0 beschränkt ist. Wir definieren dann eine Funktion g : Uδ(z0)→ C durch

g(z) :=

{(z− z0)2 f (z) für z 6= z0,0 für z = z0.

Offensichtlich ist g auf Uδ(z0) holomorph. Da f nach Voraussetzung auf Uδ(z0) beschränkt ist,gilt

limz→z0

g(z)− g(z0)

z− z0= lim

z→z0

(z− z0)2 f (z)− 0z− z0

= limz→z0z 6=z0

(z− z0) f (z) = 0,

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6.1. Klassifikation der Singularitäten 96

und g ist auch in z = z0 komplex differenzierbar mit Ableitung g′(z0) = 0. Nach dem Satz vonTaylor 4.31 hat deshalb g auf Uδ(z0) die Taylorentwicklung

g(z) =∞∑

ν=0

aν(z− z0)ν

mit aν = g(ν)(z0)ν! . Wegen g(z0) = g′(z0) = 0 gilt dabei a0 = a1 = 0. Klammern wir nun (z− z0)2

aus und setzen

h(z) :=∞∑

ν=2

aν(z− z0)ν−2 für alle z ∈ Uδ(z0).

Dann ist h nach Konstruktion holomorph auf Uδ(z0) und stimmt auf Uδ(z0) wegen

h(z) =1

(z− z0)2

∞∑ν=2

aν(z− z0)ν =

g(z)(z− z0)2 = f (z) für alle z ∈ Uδ(z0)

mit f überein. h liefert also eine holomorphe Fortsetzung von f auf ganz Uδ(z0). Die Hebbarkeitder Singularität z0 folgt, wenn wir wie folgt eine holomorphe Funktion f : D ∪ {z0} → C mitf |D = f definieren.

f (z) :=

{h(z) für z ∈ Uδ(z0),f (z) für z 6∈ Uδ(z0).

Definition 6.6. Sei D ⊆ C offen, f : D → C holomorph und z0 eine Singularität von f . Genau dannheißt z0 ein Pol von f , wenn es ein δ > 0 gibt mit Uδ(z0) ⊆ D ∪ {z0}, eine holomorphe Funktiong : Uδ(z0)→ C mit g(z0) 6= 0 und ein m ∈ Nr {0} mit

f (z) =g(z)

(z− z0)m für alle z ∈ Uδ(z0).

Die Zahl m heißt hierbei die Polstellenordnung ∞-ord( f ; z0) von f in z0. Ist speziell m = 1, so heißtz0 ein einfacher Pol von f .

Bemerkung 6.7. (a) Die Zahl m ist für eine gegebene Funktion f wie in der Definition eindeutigbestimmt,

denn: Nehmen wir an, es gälte für m > m ∈ Nr {0}

f (z) =g(z)

(z− z0)m =h(z)

(z− z0)m für alle z ∈ Uδ(z0),

wobei g, h : Uδ(z0) → C holomorphe Abbildungen mit g(z0) 6= 0 6= h(z0) seien. Wegenh(z0) 6= 0 und der Stetigkeit von h können wir h(z) in einer kleinen punktierten Umgebung vonz = z0 invertieren, und es gilt dort

(z− z0)m−m =

g(z)h(z)

.

Lassen wir nun z gegen z0 gehen, folgt mit m− m > 0 die Unmöglichkeit g(z0) = 0. Da sichm < m analog ausschließen lässt, folgt m = m und somit die Eindeutigkeit von m. #

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97 Kapitel 6. Singularitäten

(b) Hat f in z0 einen Pol der Ordnung m, so können wir für geeignete δ > 0

f (z) =a−m

(z− z0)m +a−m+1

(z− z0)m−1 + . . . +a−1

z− z0+ a0 + a1(z− z0) + . . . für alle z ∈ Uδ(z0)

schreiben, wobei a−m ∈ Cr {0} gilt. Dafür müssen wir nur g(z) in z = z0 in eine Taylor-reihe entwickeln und g(z0) 6= 0 beachten. Wir werden diesen Effekt in Abschnitt 6.2 genaueruntersuchen.

Beispiel. f (z) =ez

zm mit m ∈ Z>0 ist holomorph in D = Cr {0} und hat einen Pol m-ter Ordnungin z = 0.

Satz 6.8. Sei D ⊆ C offen, f : D → C holomorph und z0 eine Singularität von f . Dann sind folgendeAussagen gleichbedeutend.

(i) z0 ist ein Pol von f .

(ii) limz→z0| f (z)| = ∞.

Beweis. Sei zunächst z0 ein Pol von f und

f (z) =g(z)

(z− z0)m für alle z ∈ Uδ(z0)

mit g und m wie in der Definition. Wegen g(z0) 6= 0, der Stetigkeit von g in z0 und m ≥ 1 folgtdann wie verlangt

limz→z0| f (z)| = lim

z→z0

|g(z)||z− z0|m

= ∞.

Gelte nun umgekehrt die in (ii) gegebene Bedingung limz→z0 | f (z)| = ∞. Dann gibt es einepunktierte Umgebung Uδ(z0) von z0, die ganz in D liegt, und auf der f keine Nullstelle hat.Dort ist 1/ f definiert, holomorph und wegen (ii) auch beschränkt. Nach dem Riemann’schenHebbarkeitssatz 6.5 läßt sich 1/ f somit holomorph zu einer Funktion f auf Uδ(z0) fortsetzen.Diese erfüllt wegen (ii) zwangsläufig f (z0) = 0. Nach dem Satz von Taylor 4.31 hat deshalb fauf Uδ(z0) eine Taylorentwicklung

f (z) =∞∑

ν=m

aν(z− z0)ν mit aν ∈ C für alle ν ∈ Z≥m

mit einem m ∈ Z>0 und am ∈ Cr {0}. Es gilt also

f (z) = (z− z0)m h(z)

mit einer holomorphen Funktion h : Uδ(z0) → C ohne Nullstellen in Uδ(z0).52 Für z ∈ Uδ(z0)gilt somit

f (z) =1

f (z)=

1(z− z0)m h(z)

=

1h(z)

(z− z0)m =g(z)

(z− z0)m ,

wobei g := 1/h auf Uδ(z0) holomorph ist und g(z0) 6= 0 erfüllt.52Dass h in Uδ(z0) keine Nullstellen hat, ist klar. Außerdem gilt h(z0) = am 6= 0.

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6.1. Klassifikation der Singularitäten 98

Bemerkung 6.9. Mit Definition 1.22 lässt sich der Satz so interpretieren, dass die Funktion f in derPolstelle z0 den Wert ∞ ∈ C annimmt.

Definition 6.10. Sei D ⊆ C offen, f : D → C holomorph und z0 eine Singularität von f . Genau dannheißt z0 eine wesentliche Singularität von f , wenn z0 weder hebbar noch ein Pol von f ist.

Beispiel. f (z) = e1z ist holomorph auf D = Cr {0} und hat eine Singularität in z = 0.

Die Folgen( 1

n

)∞n=1 und

( 1i n

)∞n=1 haben beide den Grenzwert 0 für n gegen unendlich. Es gilt aber

f(

1n

)= en n→∞→ ∞ und

∣∣∣∣ f ( 1i n

)∣∣∣∣ = ∣∣∣ei n∣∣∣ = 1 n→∞→ 1,

so dass offenbar f keinen Pol in z = 0 hat und sich dorthin auch nicht holomorph fortsetzen lässt.

Satz 6.11 (Satz von CASORATI-Weierstraß53). Sei D ⊆ C offen, f : D → C holomorph und z0 einewesentliche Singularität von f . Sei weiter Uδ(z0) eine beliebige, vorgegebene punktierte Umgebung vonz0. Dann existiert zu jedem a ∈ C und zu jedem ε > 0 ein z ∈ Uδ(z0)

∪ D mit | f (z)− a| < ε.

Bemerkung 6.12. Die Funktion f kommt also in jeder noch so kleinen punktierten Umgebung U vonz0 jedem Wert a ∈ C beliebig nahe. Es gilt sogar noch mehr: Nach dem Großen Satz von Picard 9.16gibt es für jedes U ein c(U) ∈ C, so dass Cr {c(U)} in f (U) enthalten ist.

Beweis von Satz 6.11. Sei ohne Einschränkung δ > 0 so klein, dass Uδ(z0) ganz in D liegt. An-genommen die Behauptung wäre nicht richtig. Dann gäbe es ein a ∈ C und ein ε > 0 mit

| f (z)− a| ≥ ε für alle z ∈ Uδ(z0).

Es folgte, dass durch

g(z) :=1

f (z)− a

auf Uδ(z0) eine holomorphe und beschränkte Funktion ohne Nullstellen gegeben wäre. Nachdem Riemann’schen Hebbarkeitssatz 6.5 ließe sich dieses g dann holomorph auf Uδ(z0) fort-setzen.

Fall 1: g(z0) 6= 0. Dann gilt f (z) = 1g(z) + a auf ganz Uδ(z0), und f (z) ist auf Uδ(z0) holomorph,

so dass z0 eine hebbare Singularität von f ist. Widerspruch.

Fall 2: g(z0) = 0. Da g auf Uδ(z0) nicht identisch Null ist, gilt nach dem Satz von Taylor 4.31und dem Identitätssatz 5.6

g(z) = (z− z0)m h(z) mit m ∈ Z>0 und h : Uδ(z0)→ C holomorph mit h(z0) 6= 0.

Für z ∈ Uδ(z0) folgt

f (z) =1

g(z)+ a =

1/h(z)(z− z0)m + a =

G(z)(z− z0)m

53Felice Casorati (1835 - 1890)

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99 Kapitel 6. Singularitäten

mitG(z) :=

1h(z)

+ a(z− z0)m für alle z ∈ Uδ(z0).

Es gilt G(z0) =1

h(z0)6= 0, so dass f in z0 einen Pol hat. Widerspruch.

Insgesamt ist der Satz bewiesen.

Bemerkung 6.13. Es gilt auch die Umkehrung des Satzes von Casorati-Weierstraß 6.11,

denn: Liegt das Bild einer beliebigen punktierten Umgebung von z0 dicht in C, so kann z0 nach denSätzen 6.5 und 6.8 weder hebbar noch ein Pol sein. Definitionsgemäß ist z0 dann wesentlich, was zuzeigen war. #

6.2 Laurentzerlegung

Bekanntermaßen können wir eine holomorphe Funktion f : D → C auf einem Gebiet D ⊆ Cin jedem Punkt z0 ∈ D in eine Potenzreihe entwickeln (vgl. Korollar des Satzes von Taylor4.31). Es stellt sich heraus, dass dies in punktierten Umgebungen isolierter Singularitäten imWesentlichen genauso funktioniert. Es lassen sich sogar allgemeiner Reihenentwicklungen fürholomorphe Funktionen auf so genannten Ringgebieten definieren. Letztere wollen wir nuneinführen.

Definition 6.14. Für jedes z0 ∈ C und alle r, R ∈ R∪ {∞} mit 0 ≤ r < R ≤ ∞ heißt das Gebiet

DRr (z0) := {z ∈ C | r < |z− z0| < R}

ein Ringgebiet.

Bemerkung 6.15. Wir werden im Weiteren ohne Einschränkung nur Ringgebiete DRr (z0) mit z0 = 0

studieren, da die allgemeineren Ringgebiete mit z0 6= 0 aus diesen schlicht durch Translation hervorge-hen. Für diese schreiben wir dann kurz DR

r := DRr (0).

Satz 6.16 (Satz von der LAURENTzerlegung54). Seien r, R ∈ R ∪ {∞} mit 0 ≤ r < R ≤ ∞, undsei f : DR

r → C holomorph. Dann besitzt f eine Zerlegung

f (z) = g(z) + h(

1z

)für alle z ∈ DR

r (6.1)

mit holomorphen Funktionen

g : UR(0)→ C und h : U 1r(0)→ C mit h(0) = 0.

Diese Zerlegung ist eindeutig bestimmt. Die Funktion z 7→ h( 1z ) heißt hierbei der Hauptteil und die

Funktion z 7→ g(z) der Nebenteil von f . Die Zerlegung (6.1) heißt die Laurentzerlegung von f .

Bevor wir den Satz beweisen, zeigen wir noch ein technisches Lemma, das wir für die Existenzder Laurentzerlegung benötigen werden.

54Pierre Alphonse Laurent (1813 - 1854)

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6.2. Laurentzerlegung 100

Lemma 6.17. Seien r, $, P, R ∈ R ∪ {∞} mit 0 ≤ r < $ < P < R ≤ ∞, und sei G : DRr → C

holomorph. Dann gilt ∫|w|=$

G(w)dw =

∫|w|=P

G(w)dw,

wobei jeweils einfach im mathematisch positiven Sinn über die angegebenen Kreislinien integriert wird.

Beweis. Sei die Notation wie im folgenden Bild.

Die Wege Ck mit k ∈ {1, . . . , n}55 sind geschlossen und stückweise glatt, und sie liegen jeweilsin einem Sterngebiet, auf dem G(w) holomorph ist. Nach dem Cauchy’schen Integralsatz 4.20gilt daher

n∑k=1

∫Ck

G(w)dw =n∑

k=1

0 = 0.

Da sich die Integrale über die entgegengesetzt orientierten kleinen Geradenstückchen gegen-seitig aufheben, folgt also

0 =

∫|w|=P

G(w)dw +

− ∫|w|=$

G(w)dw

,

und das Lemma ist bewiesen.55Im Bild ist n = 4. Die tatsächlich benötigte Anzahl von Unterteilungen hängt vom Quotienten r

R ab, genauervon arccos r

R , in der folgenden Skizze mit β bezeichnet.

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101 Kapitel 6. Singularitäten

Beweis von Satz 6.16. Wir zeigen zuächst die Eindeutigkeit der Laurentzerlegung. Seien

f (z) = g(z) + h(

1z

)= g(z) + h

(1z

)für alle z ∈ DR

r

zwei Zerlegungen mit Funktionen h und g bzw. h und g wie im Satz gefordert. Mit G := g− gund H := h− h gilt dann

G(z) = −H(

1z

)für alle z ∈ DR

r .

Für z ∈ C setzen wir

F(z) :=

{G(z) für |z| < R,−H

( 1z

)für |z| > r.

Dann ist F wohldefiniert und auf C holomorph. Sei nun $ ∈ (r, R). Auf dem Kompaktum|z| ≤ $ ist die stetige Funktion F(z) = G(z) beschränkt. Ebenso ist die stetige Funktion H(w)auf dem Kompaktum |w| ≤ 1

$ < 1r beschränkt, so dass F(z) = −H( 1

z ) auf |z| ≥ $ beschränkt ist.Insgesamt ist F(z) auf ganzC beschränkt und somit nach dem Satz von Liouville 4.28 konstant.Es gilt

lim|z|→∞

|F(z)| = lim|z|→∞

∣∣∣∣−H(

1z

)∣∣∣∣ = lim|z|→∞

∣∣∣∣H(1z

)∣∣∣∣ = 0,

denn es gilt ja h(0) = 0, h(0) = 0 und H = h− h. Also ist F auf C identisch Null, also sind Gund H identisch Null und somit g = g und h = h.

Es verbleibt die Existenz der Laurentzerlegung zu zeigen. Seien dafür wie Lemma 6.17 r < $ <P < R. Da wir die Eindeutigkeit der Laurentzerlegung bereits gezeigt haben, genügt es, ihreExistenz auf jedem der kleineren Ringgebiete DP

$ zu beweisen. Das wollen wir mit dem Lemmatun. Sei also z ∈ DP

$ fest. Für w ∈ DRr sei

G(w) :=

f (w)− f (z)

w− zfür w 6= z,

f ′(z) für w = z.

Dann ist G(w) auf DRr r {z} holomorph. Außerdem ist G(w) in w = z stetig, denn f ist ja

in w = z komplex differenzierbar. G(w) ist somit in einer Umgebung von w = z beschränktund lässt sich daher nach dem Riemann’schen Hebbarkeitssatz 6.5 holomorph auf ganz DR

rfortsetzen. Nach Lemma 6.17 gilt somit∫

|w|=P

f (w)

w− zdw− f (z)

∫|w|=P

dww− z

=

∫|w|=P

G(w)dw

=

∫|w|=$

G(w)dw

=

∫|w|=$

f (w)

w− zdw− f (z)

∫|w|=$

dww− z

.

(6.2)

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6.2. Laurentzerlegung 102

Die Funktion w 7→ 1w−z ist für w 6= z holomorph. Da wir außerdem |z| > $ vorausgesetzt

hatten, gilt nach dem Cauchy’schen Integralsatz 4.20∫|w|=$

dww− z

= 0.

Nach der Cauchy’schen Integralformel 4.23 gilt zudem wegen |z| < P∫|w|=P

dww− z

= 2πi.

Setzen wir dies in (6.2) ein, ergibt sich

f (z) =1

2πi

( ∫|w|=P

f (w)

w− zdw−

∫|w|=$

f (w)

w− zdw)= g(z) + h

(1z

)

mit

g(z) :=1

2πi

∫|w|=P

f (w)

w− zdw für |z| < P,

h(z) :=−12πi

∫|w|=$

f (w)

w− 1z

dw für 0 < |z| < 1$

.

Analog zum Beweis der verallgemeinerten Cauchy’schen Integralformel 4.25 zeigt man, dassg(z) auf UP(0) und h(z) auf U 1

$(0) holomorph ist. Wir müssen noch zeigen, dass sich h durch

h(0) = 0 holomorph nach z = 0 fortsetzen läßt. Für |w| = $ und |z| < 1$ gilt

∣∣w− 1z∣∣ = ∣∣1

z− w

∣∣ ≥ ∣∣∣∣∣∣1z∣∣∣∣− |w|∣∣ = ∣∣∣∣∣∣1z

∣∣∣∣− $∣∣ > 0.

Mit der Standardabschätzung für Integrale folgt

|h(z)| ≤ 12π

max|w|=$ | f (w)|∣∣1z

∣∣− $· 2π$

z→0→ 0.

Insbesondere ist h(z) beschränkt für z nahe bei 0, hat also nach dem Riemann’schen Hebbar-keitssatz 6.5 eine hebbare Singularität bei z = 0. Aus Stetigkeitsgründen folgt h(0) = 0.

Definition 6.18. Unter einer unendlichen Reihe der Form∑∞

n=−∞ an versteht man das Paar(∞∑

n=0

an,∞∑

n=1

a−n

).

Eine solche Reihe heißt konvergent, wenn∑∞

n=0 an und∑∞

n=1 a−n beide konvergieren; in diesem Fallheißt

∑∞n=1 a−n +

∑∞n=0 an der Grenzwert von

∑∞n=−∞ an, und man schreibt

∞∑n=−∞

an =∞∑

n=0

an +∞∑

n=1

a−n.

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103 Kapitel 6. Singularitäten

Im selben Sinn verwenden wir die Begriffe „absolute Konvergenz“ und „gleichmäßige Konvergenz“ beiobigen Reihen.

Definition 6.19. Eine Laurentreihe (mit Entwicklungspunkt z0 ∈ C) ist eine Reihe der Form∞∑

n=−∞

an(z− z0)n mit an ∈ C für alle n ∈ Z.

Satz 6.20 (Satz von der Laurententwicklung). Sei für z0 ∈ C und 0 ≤ r < R ≤ ∞ eine holomorpheAbbildung f : DR

r (z0)→ C gegeben. Dann besitzt f eine eindeutige Laurententwicklung

f (z) =∞∑

n=−∞

an(z− z0)n für alle z ∈ DR

r (z0),

die auf DRr (z0) absolut und auf jeder kompakten Teilmenge von DR

r (z0) gleichmäßig absolut konvergiert.Für die Koeffizienten gilt

an =1

2πi

∫|w−z0|=$

f (w)

(w− z0)n+1 dw für alle n ∈ Z,

wobei über die genau einmal im mathematisch positiven Sinn durchlaufene Kreislinie vom Radius $ ∈(r, R) um z0 integriert wird.

Beweis. Sei ohne Einschränkung z0 = 0. Sei f (z) = g(z) + h( 1z ) wie im Satz von der Laurent-

zerlegung 6.16. Seien

g(z) =∞∑

n=0

an zn für alle z ∈ UR(0),

h(z) =∞∑

n=1

bn zn für alle z ∈ U 1r(0)

die Taylorreihen von g und h.56 Setzen wir a−n := bn für alle n ≥ 1, so gilt

f (z) = g(z) + h(

1z

)=

∞∑n=−∞

an zn für alle z ∈ DRr .

Die Eindeutigkeit der Laurententwicklung folgt dann aus der entsprechenden Aussage ausdem Satz von der Laurentzerlegung 6.16. Die Aussagen über die Konvergenz folgen aus denwohlbekannten Sätzen über Konvergenz von Potenzreihen.

Es verbleibt die Koeffizientenformel zu zeigen. Für n ≥ 0 gilt hier nach der verallgemeinertenCauchy’schen Integralformel 4.25 und dem Satz von Taylor 4.31

an =g(n)(0)

n!=

12πi

∫|w|=$

g(w)

wn+1 dw für alle $ ∈ (0, R).

56Man beachte h(0) = 0.

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6.2. Laurentzerlegung 104

Sei jetzt zusätzlich $ > r. Die Abbildung w 7→ 1w bildet die Kreislinie |w| = $ auf die Kreislinie

|w| = 1$ ab und ändert die Orientierung. Daher gilt

∫|w|=$

h( 1w )

wn+1 dww 7→ 1

w= −∫

|w|= 1$

h(w)( 1w

)n+1 d(

1w

)=

∫|w|= 1

$

h(w)wn−1 dw,

wobei wir für das zweite Gleichheitszeichen d( 1w ) = −

dww2 beachten. Dieses Integral ist Null,

denn: Nach Voraussetzung gilt 1$ < 1

r , und w 7→ h(w)wn−1 ist für n ≥ 0 holomorph.57 Wirkönnen somit den Cauchy’schen Integralsatz 4.20 anwenden, und die Behauptung folgt. #

Zusammengefasst gilt

an =1

2πi

∫|w|=$

g(w) + h( 1w )

wn+1 dw =1

2πi

∫|w|=$

f (w)

wn+1 dw

wie verlangt.

Für n < 0 argumentiert man ähnlich. (Übung!)

Beispiel.

f (z) =2

z2 − 4z + 3für alle z ∈ Cr {1, 3}.

f (z) hat in D31 eine Laurententwicklung. Diese können wir wie folgt bestimmen. Die Partialbruchzerle-

gung liefert

f (z) =1

1− z+

1z− 3

.

Für 1 < |z| gilt1

1− z= −1

z· 1

1− 1z

= −1z

∑n≥0

1zn = −

∑n≥0

1zn+1 ,

und für |z| < 3 gilt

1z− 3

= −13· 1

1− z3= −1

3

∑n≥0

( z3

)n= −

∑n≥0

zn

3n+1 .

f (z) hat also auf D31 eine Laurentzerlegung f (z) = g(z) + h( 1

z ) mit

g(z) = −∑n≥0

zn

3n+1 für alle |z| < 3,

h(z) = −∑n≥1

zn für alle |z| < 1.

57Man beachte h(0) = 0.

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105 Kapitel 6. Singularitäten

Satz 6.21. Ist D ⊆ C offen, f : D → C holomorph und z0 eine Singularität von f , so ist f auf demRinggebiet UR(z0) = DR

0 (z0) für geeignetes R > 0 holomorph, besitzt dort also nach Satz 6.20 eineLaurententwicklung. In dieser Situation gilt

(a) Genau dann ist z0 hebbar, wenn an = 0 gilt für alle n < 0.

(b) Genau dann ist z0 eine Polstelle der Ordnung m ≥ 1, wenn an = 0 gilt für alle n < −m unda−m 6= 0 erfüllt ist.

(c) Genau dann ist z0 wesentlich, wenn an 6= 0 gilt für unendlich viele n < 0.

Diesen Satz beweisen wir in Übungsaufgabe 6.3.

6.3 Meromorphe Funktionen

Wir haben in den letzten zwei Abschnitten drei Typen isolierter Singularitäten kennengelernt.Wir wollen nun auch Funktionen studieren, die in ihrem Definitionsbereich (isolierte) Singu-laritäten aufweisen. Dies wäre im Allgemeinen recht kompliziert, wir beschränken uns daherauf Funktionen, deren Singularitäten hebbar oder Pole sind. Ist D ⊆ C offen und f : D → C

holomorph mit einem Pol in z0 ∈ C, so setzen wir f (z0) := ∞ und betrachten f als eine Funk-tion mit Werten in der erweiterten komplexen Ebene C (vgl. Abschnitt 1.5). Diese Notationrechtfertigt sich durch den in Satz 6.8 gezeigten Grenzwert limz→z0 | f (z)| = ∞.

Definition 6.22. Sei D ⊆ C offen und f : D → C eine Abbildung. Genau dann heißt f eine mero-morphe Funktion auf D, falls gilt

(i) S( f ) := f−1({∞}) ist abgeschlossen und besteht nur aus isolierten Punkten in D.

(ii) Die Einschränkung f0 := f∣∣DrS( f ) ist holomorph.

(iii) Alle Punkte aus S( f ) sind Polstellen von f0.

Nachdem wir nun meromorphe Funktionen eingeführt haben, wollen wir mit diesen auchrechnen können; wir wollen also sagen, was die Summe, die Differenz, das Produkt oder derQuotient zweier meromorpher Funktionen ist. Dies lässt sich außerhalb der Pol- bzw. Nullstel-lenmenge der betrachteten Funktionen problemlos punktweise definieren. Sind die jeweiligenAusnahmemengen abgeschlossene Mengen isolierter Punkte, so liefern sie die Polstellenmen-ge der Summe, der Differenz, des Produkts bzw. des Quotienten zusammen mit noch einigenhebbaren Singularitäten, die man durch das Studium der jeweiligen Laurententwicklungendingfest machen kann.

Wir wollen als Beispiel nun die Summe zweier meromorpher Funktionen f , g : D → C mitPolstellenmengen S( f ) und S(g) betrachten. Zunächst ist die Summe f0 + g0 eine holomorpheFunktion auf D r (S( f )∪ S(g)), welche die Punkte aus S( f )∪ S(g) als Singularitäten hat. Einesolche Singularität z0 ist hebbar, wenn sich die Hauptteile der Laurententwicklungen von f0und g0 in einer kleinen punktierten Umgebung von z0 nur um das Vorzeichen unterscheiden,

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6.3. Meromorphe Funktionen 106

und sonst eine Polstelle. Daher lässt sich f0 + g0 eindeutig zu einer meromorphen Funktion aufD ergänzen, die wir mit f + g bezeichnen wollen.

Ähnlich definiert man die meromorphen Funktionen f − g, f · g und fg ; letztere allerdings

nur, wenn die Nullstellenmenge von g eine abgeschlossene Menge isolierter Punkte ist.58 InÜbungsaufgabe 6.4 beweisen wir dies und ebenso die folgende Proposition.59

Proposition 6.23. Ist D ⊆ C ein Gebiet, so bilden die meromorphen Funktionen auf D unter dengenannten Rechenoperationen einen Körper M(D). Die Teilmenge der auf D holomorphen Funktionenträgt die Struktur eines Teilrings H(D) darin.

Beispiel. (a) Rationale Funktionen R(z) = P(z)Q(z) mit Polynomen P(z), Q(z) mit Q 6≡ 0 sind mero-

morphe Funktionen auf D = C. Die Menge S(R) ist hierbei eine Teilmenge der Nullstellenmengevon Q.

(b) cot π z :=cos π zsin π z

auf D = C. Es gilt hierbei S(cot π z) = Z.

(c) Allgemeiner Quotienten fg holomorpher Funktionen f , g : D → C mit g nicht identisch Null auf

D.60

Es bietet sich nun an, den Begriff der meromorphen Funktion auch auf offenen TeilmengenD ⊆ C einzuführen, wie wir sie in 1.22 definiert haben.

Definition 6.24. Sei D ⊆ C offen und f : D → C eine Abbildung. Genau dann heißt f eine mero-morphe Funktion auf D, wenn die folgenden Bedingungen gelten.

(i) f ist auf D ∪ C meromorph.

(ii) Die Funktion

f (z) := f(

1z

)ist auf der offenen Menge

D :=

{{z ∈ Cr {0} | 1

z ∈ D}, falls ∞ 6∈ D,{z ∈ Cr {0} | 1

z ∈ D} ∪ {0}, falls ∞ ∈ D

meromorph.58Das ist nach Korollar 1 des Identitätssatzes 5.6 immer der Fall, wenn g nicht identisch verschwindet und D ein

Gebiet ist.59In Funktionentheorie 2 werden wir den Begriff der meromorphen Funktion mithilfe der Theorie der Rie-

mann’schen Flächen konzeptioneller beschreiben und diese Ergebnisse mehr oder weniger gleich mit erhalten.60Man kann sogar zeigen, dass alle meromorphen Funktionen h : D → C von diesem Typ sind. Das zeigt man

mit dem Weierstraß’schen Produktsatz, den wir in Funktionentheorie 2 zeigen werden. Algebraisch formuliert istdann M(D) gerade der Quotientenkörper

Quot(H(D)) = { fg| f , g ∈ H(D), g 6≡ 0}

des Rings der holomorphen Funktionen H(D).

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107 Kapitel 6. Singularitäten

Offensichtlich ist diese Definition für ∞ 6∈ D äquivalent zu Definition 6.22. Im Fall ∞ ∈ Dbedeutet (ii) jedoch eine echte weitere Bedingung, die Meromorphie von f (z) in z = ∞. Dieseentspricht definitionsgemäß gerade der Meromorphie von f (z) in z = 0.61 Das legt folgendeFestsetzungen nahe.

Definition 6.25. (a) Sei D ⊆ C eine offene Teilmenge, die ∞ enthält, und sei f : D r {∞} → C

eine holomorphe Funktion. Dann heißt ∞ eine Singularität von f . Weiter nennen wir ∞ einehebbare Singularität, einen Pol bzw. eine wesentliche Singularität, wenn die Singularität 0der Funktion f die entsprechende Eigenschaft besitzt.

(b) Die Laurententwicklung von f (z) um den Punkt z = ∞ erhält man aus der Laurententwicklungvon f (z) um den Punkt z = 0, indem man z durch 1

z ersetzt.

Beispiel. (a) Seien aν ∈ C für ν ∈ {0, . . . , n} komplexe Zahlen mit an 6= 0 und

P(z) :=n∑

ν=0

aνzν für alle z ∈ C

ein Polynom. Das Verhalten von P(z) bei z = ∞ entspricht definitionsgemäß dem Verhalten von

P(z) = P(

1z

)=

an

zn +an−1

zn−1 + . . . + a0

bei z = 0. P(z) hat also in z = ∞ für n = 0 eine hebbare Singularität und für positives n einenPol n-ter Ordnung.

(b) Sei f (z) =∑∞

n=0 anzn eine ganze Funktion, die kein Polynom ist. Da

f (z) =∞∑

n=0

anz−n =0∑

n=−∞

a−nzn

nach Satz 6.21 in z = 0 eine wesentliche Singularität hat, trifft das auch auf f (z) an der Stellez = ∞ zu.62

61Klammheimlich reden wir hier über holomorphe Abbildungen von der Riemann’schen FlächeC auf sich selbst.Die Struktur als Riemann’sche Fläche von C ist wie folgt gegeben.

Die Menge C wird überdeckt von den offenen Teilmengen C und Cr {0}, die sich jeweils auf eine offene Teil-menge vonC, in diesem FallC selbst, abbilden lassen. Diese Kartenabbildungen ϕ1 : C→ C und ϕ2 : Cr {0} → C

sind durch

ϕ1(z) = z für z ∈ C und ϕ2(z) =

{1z für z ∈ Cr {0},0 für z = ∞

gegeben und homöomorph, d. h. stetig und bijektiv mit stetiger Umkehrabbildung. Auf Cr {0} ist die Karten-wechselabbildung ϕ2 ◦ ϕ−1

1 (z) = 1z defininiert und konform, d. h. holomorph und bijektiv mit holomorpher Um-

kehrabbildung (vgl. Definition 8.1).62Insbesondere ist f (z) keine meromorphe Funktion auf C. In Funktionentheorie 2 werden wir mit der Theorie

der Riemann’schen Flächen zeigen, dass die meromorphen Funktionen aufC gerade aus den rationalen Funktionenbestehen.

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6.3. Meromorphe Funktionen 108

Proposition 6.26. Sei

M =

(a bc d

)∈ GL2(C).

Dann ist die in Abschnitt 2.1 eingeführte zugehörige Möbiustransformation ϕM eine meromorphe Ab-bildung auf C im Sinne von Definition 6.24.

Beweis. Fall 1: c = 0. Dann gilt

ϕM(z) =

{a z+b

d für z ∈ C,∞ für z = ∞,

so dass ϕM gerade ein Polynom von Grad n = 1 wie in Teil (a) des obigen Beispiels ist undinsbesondere eine meromorphe Funktion auf C.

Fall 2: c 6= 0. Dann gilt

ϕM(z) =

a z+bc z+d für z ∈ Cr {− d

c },∞ für z = − d

c ,ac für z = ∞.

Offensichtlich ist ϕM|Cr{− dc }

holomorph, und − dc wegen

a z + bc z + d

=a z + b

c· 1

z− (− dc )

für alle z ∈ Ur(−dc), r hinreichend klein,

ein Pol erster Ordnung. ϕM|C ist also eine meromorphe Funktion auf C. Desweiteren gilt aufeiner kleinen Umgebung von z = 0 in C = C

ϕM(z) = ϕM

(1z

)=

a 1z + b

c 1z + d

=a + bzc + dz

z→0−→ ac

,

die Singularität von ϕM in ∞ ist also hebbar.

Übungsaufgaben

Aufgabe 6.1. Sei D ⊆ C offen und f , g : D → C holomorph mit einer gemeinsamen Nullstelle z0 ∈ D,die für beide Funktionen die selbe Nullstellenordnung k hat. Zeigen Sie die folgenden Aussagen.

(a) Es gibt ein δ > 0 mit Uδ(z0) ⊆ D und g(z) 6= 0 für alle z ∈ Uδ(z0).

(b) Die Funktion f /g : Uδ(z0)→ C hat in z0 eine hebbare Singularität.

(c) limz→z0

f (z)g(z)

=f (k)(z0)

g(k)(z0).

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109 Kapitel 6. Singularitäten

Aufgabe 6.2. Betrachten Sie die folgende Laurententwicklung für die Nullfunktion.

0 =1

z− 1+

11− z

=1z· 1

1− 1z

+1

1− z=

∞∑n=1

1zn +

∞∑n=0

zn =∞∑

n=−∞

zn.

Dies scheint ein Widerspruch zur Eindeutigkeit der Laurententwicklung zu sein. Warum ist es dasnicht?

Aufgabe 6.3. Beweisen Sie Satz 6.21.

Aufgabe 6.4. Sei ∅ 6= D ⊆ C ein Gebiet, und sei M(D) die Menge der meromorphen Funktionen aufD.

(a) Seien f , g ∈ M(D). Zeigen Sie, dass dann auch f − g und f · g in M(D) liegen, und dass diesim Fall g 6= 0 auch auf f /g zutrifft.

(b) Folgern Sie, dass M(D) mit den so definierten Verknüpfungen ein Körper ist.

(c) Gibt es ein 0 6= f ∈M(C) mit f (1/n) = 0 für alle n ∈ N?

Aufgabe 6.5. (a) Sei f : C → C eine ganze Funktion, welche in ∞ eine nicht-wesentliche Singula-rität besitzt. Zeigen Sie, dass f dann ein Polynom ist.

(b) Bestimmen Sie die Automorphismengruppe Aut(C) der komplexen Ebene.

Hinweis: Verwenden Sie den Satz von Casorati-Weierstraß 6.11, um zu zeigen, dass jedesf ∈ Aut(C) eine nicht-wesentliche Singularität in ∞ hat. Welche Polynome definieren bijektiveAbbildungen?

Aufgabe 6.6. Zeigen Sie die folgenden Aussagen.

(a) Jede meromorphe Funktion f : C→ C ist rational.

Hinweis: Zeigen Sie zunächst, dass f nur endlich viele Singularitäten in C haben kann undmodifizieren Sie f geeignet mit den Hauptteilen dieser Singularitäten, um eine Funktion wie inTeil (a) von Aufgabe 6.5 zu erhalten.

(b) Sei f : C→ C meromorph mit f (C) ⊆ C. Dann ist f bereits konstant.

Aufgabe 6.7. In dieser Aufgabe wollen wir

Aut(C) = {ϕM | M ∈ GL2(C)}zeigen. Beweisen Sie dafür die folgenden Aussagen.

(a) Für M ∈ GL2(C) gilt ϕM ∈ Aut(C).

(b) Ist f ∈ Aut(C), dann ist f stetig.

Hinweis: Da C das erste Abzählbarkeitsaxiom erfüllt, sind hier die Begriffe der Stetigkeit undFolgenstetigkeit äquivalent, was ohne Beweis verwendet werden darf. Hierbei ist der topologischeKonvergenzbegriff zu verwenden, d.h. eine Folge konvergiert gegen einen Punkt z ∈ C, wenn jedeoffene Menge in C, die z enthält, auch fast alle Folgenglieder enthält.

(c) Ist f ∈ Aut(C), dann gibt es ein M ∈ GL2(C) mit f = ϕM .

Hinweis: Verwenden Sie Übungsaufgabe 6.5 und beachten Sie, dass dort die Holomorphie derUmkehrfunktion im Beweis nicht benötigt wurde.

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KAPITEL 7

Der Residuensatz

Ist D ⊆ C ein Sterngebiet, so wissen wir, dass für alle geschlossenen stückweise glatten KurvenC in D und für alle holomorphen Funktionen f : D → C das Integral∫

C

f (z)dz = 0

verschwindet. Der Residuensatz lässt uns eine größere Klasse von Integralen berechnen: Seif : D r {z1, . . . , zk} → C holomorph, wobei z1, . . . , zk endlich viele paarweise verschiedenePunkte aus D sind, und sei C eine Kurve, die durch keinen der Punkte z1, . . . , zk läuft. Danngilt ∫

C

f (z)dz = 2πik∑

j=1

χ(C; zj) resz=zj f ,

wobei χ(C; zj) die Umlaufzahl von C bzgl. zj ist und resz=zj f das Residuum von f in zj.

Um den Residuensatz formulieren und dann auch beweisen zu können, müssen wir offenbarzunächst die Begriffe der Umlaufzahl und des Residuums einführen.

7.1 Die Umlaufzahl

Definition 7.1. Sei C eine geschlossene, stückweise glatte Kurve in C und z ∈ Cr C. Dann heißt

χ(C; z) :=1

2πi

∫C

dww− z

die Umlaufzahl von C bzgl. z.

110

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111 Kapitel 7. Der Residuensatz

Beispiel. Sei k ∈ Zr {0}, und sei C die k-fach im mathematisch positiven Sinn durchlaufene Kreisli-nie um einen Punkt z0 ∈ C mit Radius r > 0, so dass C durch die Gleichung

γ(t) = z0 + r e2πikt mit t ∈ [0, 1]

gegeben wird. Offensichtlich gibt hierbei das Vorzeichen von k den Umlaufsinn der Kurve vor. Es giltdann

χ(C; z) =

{0 für |z− z0| > r,k für |z− z0| < r,

denn: Im ersten Fall liegt C im Sterngebiet, auf dem die Funktion w 7→ 1w−z holomorph ist. Mit dem

Cauchy’schen Integralsatz 4.20 folgt somit die Behauptung.

Im zweiten Fall gilt mit der Cauchy’schen Integralformel 4.23 für die Abbildung f (w) ≡ 1

χ(C; z) =1

2πi

∫C

dww− z

= k · 12πi

∫|w−z0|=r

dww− z

= k.

#

Unsere Definition der Umlaufzahl ist ungeometrisch, stimmt aber im gerade untersuchten Bei-spiel mit unserer Anschauung überein. Man kann topologisch begründen, dass die Zahl χ(C; z)tatsächlich angibt, wie oft im Sinne der Anschauung die Kurve C den Punkt z umläuft. Ei-ne mathematisch präzise Definition der Umlaufzahl, die auch unserer Anschauung sehr nahekommt, ist schwer anzugeben. Wir werden uns damit begnügen zu zeigen, dass χ(C; z) stetseine ganze Zahl ist, und dass sie auf Zusammenhangskomponenten von Cr C konstant ist.

Proposition 7.2. Sei C eine geschlossene, stückweise glatte Kurve in C und z ∈ Cr C. Dann giltχ(C; z) ∈ Z.

Beweis. Sei ohne Einschränkung C glatt und für t ∈ [a, b] durch die Gleichung γ(t) gegeben.Wir setzen

h(t) :=

t∫a

γ′(u)γ(u)− z

du für alle t ∈ [a, b].

Dann gilt insbesondere h(b) = 2πi χ(C; z). Nach dem Hauptsatz der Differential- und Integral-rechnung ist h auf [a, b] stetig differenzierbar, und es gilt

h′(t) =γ′(t)

γ(t)− z.

Sei nun weiter H(t) := e−h(t) · (γ(t)− z) für alle t ∈ [a, b]. Dann gilt H′(t) = 0, so dass insbe-sondere H(t) auf [a, b] konstant ist. Mit

H(a) = e−h(a) (γ(a)− z) = e0 (γ(a)− z) = γ(a)− z

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7.2. Das Residuum 112

folgt H(t) ≡ γ(a)− z auf [a, b] und somit

eh(t) =γ(t)− zγ(a)− z

für alle t ∈ [a, b].

Setzen wir nun speziell t = b, so folgt wegen der Geschlossenheit der Kurve C

eh(b) =γ(b)− zγ(a)− z

= 1.

Es folgt h(b) ∈ 2πiZ und damit die Behauptung χ(C; z) ∈ Z.

Proposition 7.3. Sei C eine geschlossene, stückweise glatte Kurve, und seien z0, z1 ∈ Cr C. DiePunkte z0 und z1 seien durch einen Weg in Cr C verbindbar, es existiere also ein stetiges ϕ : [0, 1] →Cr C mit ϕ(0) = z0 und ϕ(1) = z1. Dann gilt

χ(C; z0) = χ(C; z1).

Beweis. Die Teilmenge U := Cr C ⊆ C ist offen. Sei

W(z0) := {z ∈ Cr C | z ist mit z0 durch einen Weg in Cr C verbindbar}.

Nach Konstruktion ist dann W(z0) wegzusammenhängend, es lassen sich also je zwei Punkteaus W(z0) durch einen Weg in W(z0) verbinden. Insbesondere ist W(z0) wie in Analysis 2 auchzusammenhängend. Die Abbildung

Cr C → C,z 7→ χ(C; z)

ist holomorph, also auch stetig. Daher ist mit W(z0) auch χ(C; W(z0)) zusammenhängend.Nach Proposition 7.2 besteht andererseits χ(C; W(z0)) ⊆ Z aus isolierten Punkten. Es folgt,dass χ(C; W(z0)) nur aus einem einzigen Punkt bestehen kann. Da nach Voraussetzung z0 undz1 beide in W(z0) liegen, folgt die Behauptung χ(C; z0) = χ(C; z1).

7.2 Das Residuum

Definition 7.4. Sei D ⊆ C offen, f : D → C holomorph und z0 eine Singularität von f . Sei

f (z) =∞∑

n=−∞

an(z− z0)n für z ∈ UR(z0)

mit einem geeigneten R > 0 die Laurententwicklung von f um z0. Dann heißt der Koeffizient a−1 dasResiduum von f in z0. Wir schreiben dafür

a−1 =: resz=z0 f .

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113 Kapitel 7. Der Residuensatz

Bemerkung 7.5. (a) Nach der Koeffizientenformel aus dem Satz von der Laurententwicklung 6.20gilt für hinreichend kleines $

a−1 =1

2πi

∫|z−z0|=$

f (z)dz.

(b) Ist z0 hebbar, so ist resz=z0 f = 0 (vgl. Satz 6.21).

Beispiel. (a) resz=0cos z

z = 1, denn es gilt cos z = 1− z2

2! ± . . . für alle z ∈ C.

(b) resz=0 e1/z = 1, denn es gilt e1/z =∑∞

n=0(n! · zn)−1 für alle z ∈ Cr {0}.

(c) Analog gilt resz=0 e1/zk= 0 für alle 1 < k ∈ Z.

Lemma 7.6. Sei D ⊆ C offen, f : D → C holomorph und z0 ein Pol von f der Ordnung m ≥ 1. Danngibt es ein R > 0 und eine holomorphe Funktion g : UR(z0)→ C mit g(z0) 6= 0, so dass wir

f (z) =g(z)

(z− z0)m für alle z ∈ UR(z0)

schreiben können. In dieser Situation gilt

resz=z0 f =g(m−1)(z0)

(m− 1)!.

Insbesondere gilt für m = 1, also für einen einfachen Pol,

resz=z0 f = limz→z0

(z− z0) f (z).

Beweis. Sei

g(z) =∞∑

n=0

g(n)(z0)

n!(z− z0)

n für alle z ∈ UR(z0)

die Taylorentwicklung von g um z0. Für z 6= z0 folgt dann

f (z) =g(z)

(z− z0)m =∞∑

n=0

g(n)(z0)

n!(z− z0)

n−m.

Das ist die Laurententwicklung von f um z0; nach Definition des Residuums gilt also

resz=z0 f =g(m−1)(z0)

(m− 1)!.

Ist speziell m = 1, so gilt

resz=z0 f = g(z0) = limz→z0

g(z) = limz→z0

(z− z0) f (z).

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7.3. Der Residuensatz 114

Beispiel. (a) f (z) =ei z

z2 + 1für alle z ∈ Cr {±i}

Offensichtlich hat f (z) in z = ±i jeweils einen einfachen Pol. Daher gilt nach dem Spezialfall desLemmas für m = 1

resz=i f = limz→i

(z− i) f (z) = limz→i

ei z

z + i=

e−1

2i=−i2e

,

resz=−i f = limz→−i

(z + i) f (z) = limz→−i

ei z

z− i=

e−2i

=e i2

.

(b) f (z) =1

(z2 + 1)3 für alle z ∈ Cr {±i}.

Offensichtlich hat f in z = ±i jeweils einen Pol der Ordnung m = 3, und wir können schreiben:

f (z) =g∓(z)(z∓ i)3 mit g∓(z) =

1(z± i)3 für alle z ∈ Cr {∓i}.

Nach dem Lemma für m = 3 gilt dann wegen g′′∓(z) =12

(z±i)5

resz=±i f =g′′∓(±i)

2!=

6(±2i)5 =

∓3i16

.

7.3 Der Residuensatz

Satz 7.7 (Residuensatz). Sei D ⊆ C ein Elementargebiet, und seien z1, . . . , zk endlich viele, paarweiseverschiedene Punkte in D. Sei weiter f : D r {z1, . . . , zk} → C holomorph und C eine geschlossene,stückweise glatte Kurve in D r {z1, . . . , zk}. Dann gilt die Residuenformel∫

C

f (z)dz = 2πik∑

j=1

χ(C; zj) resz=zj f .

Beweis. Definitionsgemäß sind alle zj Singularitäten von f . Sei also für ein geeignetes Rj > 0

f (z) =∞∑

n=−∞

an,j (z− zj)n für alle z ∈ URj(zj)

die Laurententwicklung von f um zj. Nach dem Satz über die Laurentzerlegung 6.16 ist jederHauptteil

hj

(1

z− zj

)=

−1∑n=−∞

an,j(z− zj)n für alle z ∈ Cr {zj}

holomorph. Sei

g(z) := f (z)−k∑

j=1

hj

(1

z− zj

)für alle z ∈ D r {z1, . . . , zk}.

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115 Kapitel 7. Der Residuensatz

Die einzigen Singularitäten von g(z) sind die bekannten Punkte z1, . . . , zk. Da aber die Lau-rententwicklung von g(z) um jeden der Punkte zj keine negativen Terme hat, sind die Sin-gularitäten in allen zj hebbar (vgl. Satz 6.21). Da D ein Elementargebiet ist, hat g auf D eineStammfunktion. Es gilt also

0 =

∫C

g(z)dz

=

∫C

f (z)−k∑

j=1

hj

(1

z− zj

)dz

=

∫C

f (z)dz−k∑

j=1

∫C

hj

(1

z− zj

)dz

=

∫C

f (z)dz−k∑

j=1

∫C

( −1∑n=−∞

an,j(z− zj)n

)dz

Nach Satz 6.20 konvergieren die Laurententwicklungen auf der kompakten Menge C gleich-mäßig, so dass wir in der Summe rechts Integration und Summation vertauschen dürfen. Esgilt somit

0 =

∫C

f (z)dz−k∑

j=1

−1∑n=−∞

an,j

∫C

(z− zj)n dz

=

∫C

f (z)dz−k∑

j=1

a−1,j

∫C

dzz− zj

=

∫C

f (z)dz−k∑

j=1

(resz=zj f

)·(2πi χ(C; zj)

),

wobei wir für das zweite Gleichheitszeichen berücksichtigt haben, dass die Integrale rechts fürn < −1 verschwinden, da dann die Funktion (z − zj)

n mit 1n+1 (z − zj)

n+1 auf Cr {zj} eineStammfunktion hat.63

Bemerkung 7.8. In der Residuenformel liefern nur diejenigen Punkte zj einen Beitrag, deren Umlauf-zahl χ(C; zj) nicht verschwindet, die also im Inneren der Kurve C liegen.

Als Korollar des Residuensatzes erhalten wir die folgende Verallgemeinerung der Cau-chy’schen Integralformel.

Satz 7.9. Sei D ⊆ C ein Elementargebiet, f : D → C holomorph und C eine stückweise glatte,geschlossene Kurve in D. Dann gilt für alle z ∈ D r C

χ(C; z) f (z) =1

2πi

∫C

f (w)

w− zdw.

63Dieses Wegfallen der anderen Terme erklärt übrigens den Namen „Residuum“.

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7.4. Funktionentheoretische Anwendung des Residuensatzes 116

Beweis. Sei z fest gewählt. Dann setzen wir

g(w) :=f (w)

w− zfür alle w ∈ D r {z}.

Die Taylorreihe von f (w) um w = z ist

f (w) = f (z) +f ′(z)

1!(w− z) + . . . ,

so dass sich resw=z g(w) = f (z) ergibt. Des weiteren ist g(w) holomorph auf D r {z}. Nachdem Residuensatz gilt also ∫

C

g(w)dw = 2πi χ(C; z) f (z).

7.4 Funktionentheoretische Anwendung des Residuensatzes

Definition 7.10. Sei D ⊆ C offen, f : D → C holomorph, und sei z0 eine nicht-wesentliche Singula-rität von f , um die es eine punktierte Kreisscheibe gibt, auf der f nicht konstant Null ist. Sei schließlichfür ein hinreichend kleines R > 0

f (z) =∞∑

n=−∞

an(z− z0)n für alle z ∈ UR(z0)

die Laurententwicklung von f um z0. Wir definieren dann die Nullstellenordnung

0-ord( f ; z0) :=

{min{n ∈ Z | an 6= 0} falls es kein n < 0 gibt mit an 6= 0,0 falls es ein n < 0 gibt mit an 6= 0

und erweitern die Definition 6.6 der Polstellenordnung

∞-ord( f ; z0) :=

{0 falls es kein n < 0 gibt mit an 6= 0,−min{n ∈ Z | an 6= 0} falls es ein n < 0 gibt mit an 6= 0.

Satz 7.11 (Satz vom Null- und Polstellen zählenden Integral). Sei D ⊆ C ein Elementargebiet undf 6≡ 0 eine auf D meromorphe Funktion mit endlich vielen Null- und Polstellen a1, . . . , an. Sei C einegeschlossene stückweise glatte Kurve mit aj 6∈ C für alle j ∈ {1, . . . , n}. Dann gilt

12πi

∫C

f ′(z)f (z)

dz =n∑

ν=1

χ(C; aν) ·(0-ord( f ; aν)−∞-ord( f ; aν)

).

Beweis. Die Funktion f ′(z)f (z) ist holomorph auf Dr {a1, . . . , an}. Nach dem Residuensatz gilt also

12π i

∫C

f ′(z)f (z)

dz =n∑

ν=1

χ(C; aν) resz=aν

f ′

f,

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117 Kapitel 7. Der Residuensatz

und es genügt zu zeigen: Ist z0 eine Nullstelle oder ein Pol von f , so gilt

resz=z0

f ′

f= 0-ord( f ; z0)−∞-ord( f ; z0) =: m ∈ Z.

Es gibt ein R > 0 und eine holomorphe Funktion g : UR(z0)→ Cmit g(z0) 6= 0, so dass wir

f (z) = (z− z0)m g(z) für alle z ∈ UR(z0)

schreiben können.64 Für z nahe bei aber ungleich z0 gilt dann

f ′(z) = m(z− z0)m−1 g(z) + (z− z0)

m g′(z)

und somitf ′(z)f (z)

=m(z− z0)m−1 g(z) + (z− z0)m g′(z)

(z− z0)m g(z)=

mz− z0

+g′(z)g(z)

.

Da mit g auch g′g in z0 holomorph ist, folgt mit Lemma 7.6 wie behauptet

resz=z0

f ′

f= m.

Hieraus ergibt sich unmittelbar das folgende Korollar.

Korollar (Argumentprinzip). Seien die Voraussetzungen wie im Satz von Null- und Polstellen zäh-lenden Integral 7.11. Sei weiter

N(0) :=n∑

ν=1

0-ord( f ; aν) bzw. N(∞) :=n∑

ν=1

∞-ord( f ; aν)

die Gesamtanzahl der Null- bzw. Polstellen von f , jeweils mit Vielfachheit gezählt. Dann gilt

12πi

∫C

f ′(z)f (z)

dz = N(0)− N(∞)

für jede geschlossene, stückweise glatte Kurve C, die jeden der Punkte aν genau einmal im positivenSinne umläuft.

Satz 7.12 (ROUCHÉ65). Sei D ⊆ C ein Elementargebiet, seien f und g zwei holomorphe Funktionenauf D, und sei C eine durch γ : [0, 1]→ D parametrisierte geschlossene stückweise glatte Kurve, welchejeden Punkt in ihrem Inneren genau einmal in mathematisch positiver Richtung umläuft.66 Es haben fund g nur endlich viele Nullstellen in D,67 und es gelte

| f (z)− g(z)| < | f (z)| für alle z ∈ γ([0, 1]).

Dann haben f und g im Inneren der Kurve C mit Vielfachheiten gerechnet gleich viele Nullstellen.64Ist hierbei m < 0, so hat f einen Pol, und wir verwenden Lemma 7.6. Ist m > 0, so hat f eine Nullstelle, und die

Behauptung ist klar.65Eugène Rouché (1832-1910)66Wir verlangen also, dass für alle z ∈ D r γ([0, 1]) die Umlaufzahl χ(C; z) entweder 0 oder 1 ist.67Diese Bedingung ist in Wahrheit überflüssig, wie man mit den Methoden von Abschnitt 8.3 einsieht.

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7.4. Funktionentheoretische Anwendung des Residuensatzes 118

Beweis. Wir betrachten für alle t ∈ [0, 1] die Funktion ht := f + t(g− f ) auf D. Offensichtlichgilt h0 = f und h1 = g. Nach Voraussetzung gilt für alle z ∈ γ([0, 1])

|ht(z)| ≥ | f (z)| − |t(g(z)− f (z))| > | f (z)| − t | f (z)| ≥ 0 für t 6= 0,|ht(z)| > | f (z)− g(z)| ≥ 0 für t = 0.

Für t ∈ [0, 1] hat also ht(z) auf γ([0, 1]) keine Nullstellen, und wir können den Satz vom Null-und Polstellen zählenden Integral 7.11 anwenden. Wir erhalten

12πi

∫C

h′t(z)ht(z)

dz =1

2πi

∫C

f ′(z) + t(g′(z)− f ′(z))f (z)− t(g(z)− f (z))

dz = Nt(0),

wobei Nt(0) die Summe der Vielfachheiten der Nullstellen von ht im Inneren von C bezeichne.Wie man der Formel entnimmt, hängt Nt(0) stetig von t ab. Andererseits liegt der Wertebe-reich von Nt(0) in den natürlichen Zahlen, so dass Nt(0) für t ∈ [0, 1] konstant sein muss.Insbesondere folgt N1(0) = N0(0) und somit der Satz.

Satz 7.13 (HURWITZ68). Sei D ⊆ C ein Gebiet und ( fn)n∈N eine Folge holomorpher Funktionenfn : D → C, die auf jeder kompakten Teilmenge von D gleichmäßig gegen eine Funktion f : D → C

konvergiert. Es gelte fn(z) 6= 0 für alle z ∈ D und alle n ∈ N. Dann ist entweder f identisch Null aufD, oder f hat keine Nullstelle auf D.

Beweis. Nach dem Approximationssatz von Weierstraß 4.33 ist f auf D holomorph. Wir neh-men an, f sei nicht identisch Null auf D. Da D ein Gebiet ist, besteht die Nullstellenmenge vonf in D nach Korollar 1 des Identitätssatzes für holomorphe Funktionen 5.6 nur aus isoliertenPunkten. Wir müssen nun für ein beliebiges aber festes z0 ∈ D zeigen, dass f (z0) 6= 0 gilt.Wegen der Isoliertheit der Nullstellen gibt es ein r > 0 mit Ur(z0) ⊆ D und f (z) 6= 0 für alleUr(z0)r {z0}. Insbesondere gilt für dieses r

M := min|z−z0|=r

| f (z)| > 0.

Da ( fn) auf der kompakten Menge |z − z0| = r gleichmäßig gegen f konvergiert, gibt es einN ∈ Nmit

| fn(z)− f (z)| < M2

für alle n > N und alle z ∈ D mit |z− z0| = r.

Für solche n und solche z folgt dann

| fn(z)| = | f (z)− ( f (z)− fn(z))| ≥ | f (z)| − | f (z)− fn(z)| ≥ M− M2

=M2

und somit ∣∣∣∣ 1fn(z)

− 1f (z)

∣∣∣∣ = | f (z)− fn(z)|| fn(z)| · | f (z)|

≤ 2M· 1

M| fn(z)− f (z)|.

68Adolf Hurwitz (1859 - 1919)

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119 Kapitel 7. Der Residuensatz

Da nach Voraussetzung die Folge ( fn)n∈N auf |z − z0| = r gleichmäßig gegen f konver-giert, konvergiert dort also auch die Folge

(1fn

)n∈N

gleichmäßig, und zwar gegen 1f . Nach

der zweiten Aussage des Approximationssatzes von Weierstraß 4.33 konvergiert ( f ′n)n∈N auf|z− z0| = r gleichmäßig gegen f ′, so dass dort insgesamt

(f ′nfn

)n∈N

gleichmäßig gegen f ′f kon-

vergiert. Es folgt

limn→∞

12πi

∫|z−z0|=r

f ′n(z)fn(z)

dz =1

2πi

∫|z−z0|=r

limn→∞

f ′n(z)fn(z)

dz =1

2πi

∫|z−z0|=r

f ′(z)f (z)

dz.

Da die Funktionen fn nach Voraussetzung auf D keine Nullstellen haben, verschwindet nachdem Argumentprinzip (Korollar zu Satz 7.11) die linke Seite für alle n ∈ N. Wenden wir dasArgumentprinzip auf die rechte Seite an, folgt jetzt f (z) 6= 0 für alle z ∈ D mit |z− z0| < r.Insbesondere gilt f (z0) 6= 0 und somit der Satz.

Korollar. Sei D ⊆ C ein Gebiet und ( fn)n∈N eine Folge injektiver holomorpher Funktionen fn : D →C, die auf jeder kompakten Teilmenge von D gleichmäßig gegen ein f : D → C konvergiert. Dann ist fentweder konstant oder auch injektiv.

Beweis. Sei f nicht konstant und z0 ∈ D fest gewählt. Dann sind die Funktionen fn(z)− fn(z0)nullstellenfrei auf dem Gebiet Dr {z0}. Nach dem Satz von Hurwitz 7.13 ist dann f (z)− f (z0)auf Dr {z0} entweder identisch Null oder nullstellenfrei. Der erste Fall ist nach Voraussetzungausgeschlossen, also gilt f (z) 6= f (z0) für alle z ∈ D r {z0}. Da z0 ∈ D beliebig gewählt war,folgt die Injektivität von f auf D.

7.5 Berechnung reeller Integrale mithilfe des Residuensatzes

Satz 7.14. Seien P(X, Y) und Q(X, Y) zwei Polynome in zwei Variablen mit reellen bzw. komplexenKoeffizienten, und sei

R(x, y) :=P(x, y)Q(x, y)

die als Quotient von P und Q gegebene rationale Funktion. Weiter sei Q(x, y) 6= 0 für alle x, y ∈ Rmit x2 + y2 = 1. Dann gilt

2π∫0

R(cos t, sin t)dt = 2π∑z0∈E

resz=z0 f , 69

wobei E = {z ∈ C | |z| < 1} die offene Einheitskreisscheibe sei und f die rationale Funktion

f (z) =1z

R(

12

(z +

1z

),

12i

(z− 1

z

)).

69Man beachte: In der Summe rechts wird in Wirklichkeit nur über die endlich vielen Polstellen von f summiert.

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7.5. Berechnung reeller Integrale mithilfe des Residuensatzes 120

Beweis. Für |z| = 1 ist 1z = z, und die Zahlen

12

(z +

1z

)=

12(z + z) = Rez = x

12i

(z− 1

z

)=

12i(z− z) = Imz = y

sind reell. Wegen 1 = |z|2 = x2 + y2 hat Q(x, y) für solche z nach Voraussetzung keine Null-stellen; insbesondere hat f auf |z| = 1 keine Pole. Damit ist das Integral aus dem Satz definiertund lässt sich umschreiben zu

2π∫0

R(cos t, sin t)dt =1i

2π∫0

R(

12

(eit + e−it

),

12i

(eit − e−it

))e−it i eit dt

=1i

∫|z|=1

R(

12

(z +

1z

),

12i

(z− 1

z

))1z

dz

=1i

∫|z|=1

f (z)dz.

Da die meromorphe Funktion f auf dem Kompaktum E nur endlich viele Polstellen hat, kön-nen wir zur Berechnung des Integrals den Residuensatz 7.7 bezüglich der durch |z| = 1 gege-benen Kurve C anwenden und erhalten

1i

∫|z|=1

f (z)dz =1i

2πi∑z0∈Ez0 Pol

χ(C; z0) resz=z0 f

= 2π

∑z0∈Ez0 Pol

resz=z0 f ,

wobei wir verwenden, dass für z0 ∈ E stets χ(C; z0) = 1 gilt.

Beispiel.

2π∫0

dta + cos t

für ein a ∈ R>1.

Hier gilt R(x, y) = 1a+x , also

f (z) =1z· 1

a + 12

(z + 1

z

) =2

z2 + 2a z + 1=

2(z− α)(z− β)

mitα = −a +

√a2 − 1 und β = −a−

√a2 − 1.

Offensichtlich sind α und β reelle Zahlen. Außerdem gilt |α| < 1,

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121 Kapitel 7. Der Residuensatz

denn:|α| < 1 ⇐⇒ −1 < −a +

√a2 − 1 < 1

⇐⇒ a− 1 <√

a2 − 1 < a + 1⇐⇒ (a− 1)2 < a2 − 1 < (a + 1)2

⇐⇒ −2a + 1 < −1 < 2a + 1⇐⇒ −a < −1 < a.

Wegen a > 1 ist die letzte Zeile erfüllt, und die Behauptung ist gezeigt. #

Durch Ausmultipliziern sehen wir α · β = 1 ein und insbesondere |β| > 1. Wenden wir nun Satz 7.14an, erhalten wir somit

2π∫0

dta + cos t

= 2π resz=α2

z2 + 2a z + 1= 4π resz=α

1(z− α)(z− β)

7.6= 4π lim

z→α

z− α

(z− α)(z− β)

= 4π1

α− β= 2π

1√a2 − 1

.

Definition 7.15. Sei f : R→ R stetig. Dann heißt f integrierbar überR, falls die beiden Grenzwerte

limA→∞

∫ A

0f (x)dx und lim

B→∞

∫ 0

−Bf (x)dx

(unabhängig voneinander) existieren. Wir schreiben dann

∞∫−∞

f (x)dx = limA→∞

A∫0

f (x)dx + limB→∞

0∫−B

f (x)dx.

f heißt absolut integrierbar, falls | f | integrierbar ist. Man zeigt leicht, dass absolute Integrierbarkeitdie Integrierbarkeit impliziert.70

Satz 7.16. Seien P(X) und Q(X) zwei Polynome mit reellen Koeffizienten. Es gelte

deg Q ≥ deg P + 2 und Q(x) 6= 0 für alle x ∈ R.

Für die auf C definierte Quotientenfunktion R(z) := P(z)Q(z) gilt dann

(a) R(x) ist absolut integrierbar über R.

(b)∫ ∞

−∞R(x)dx = 2πi

k∑j=1

resz=zj R,

wobei z1, . . . , zk gerade die Polstellen von R(z) in der oberen HalbebeneH := {z ∈ C | Imz > 0}sind.

70Beweis mit Hilfe eines Analogons des Cauchykriteriums, ähnlich wie bei unendlichen Reihen.

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7.5. Berechnung reeller Integrale mithilfe des Residuensatzes 122

Beweis. Sei m der Grad von P und n der Grad von Q. Dann schreiben wir

P(X) =m∑

ν=0

aν Xν und Q(X) =n∑

ν=0

bν Xν.

Für z ∈ Cr {0} gilt

R(z) =P(z)Q(z)

= zm−n ·a0zm + . . . + amb0zn + . . . + bn

.

Für |z| → ∞ strebt der zweite Faktor gegen am/bn, ist also insbesondere beschränkt. Es gibtsomit Konstanten M > 0 und c > 0 mit

|R(z)| ≤ |zm−n|M für alle |z| > c.

Mit n−m ≥ 2 folgt

|R(z)| ≤ M|z|2 für alle |z| > c.

R(x) ist stetig auf R. Für z = x reell folgt also für hinreichend großes A ∈ R

A∫0

|R(x)|dx =

c∫0

|R(x)|dx +

A∫c

|R(x)|dx

≤c∫

0

|R(x)|dx + M ·A∫

c

dxx2

=

c∫0

|R(x)|dx + M(−x−1

)∣∣∣Ac

=

c∫0

|R(x)|dx + M(− 1

A+

1c

)

≤c∫

0

|R(x)|dx +Mc

< ∞.

Diese Abschätzung ist unabhängig von A. Hieraus folgt leicht, dass der Grenzwert

limA→∞

∫ A

0|R(x)|dx

existiert.71 Genauso zeigt man die Existenz von limB→∞∫ 0−B |R(x)|dx. Insgesamt haben wir

hiermit Aussage (a) gezeigt.

71Das ist das Analogon zur Tatsache, dass eine monoton wachsende, beschränkte Zahlenfolge konvergiert.

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123 Kapitel 7. Der Residuensatz

Es verbleibt (b) zu zeigen. Sei dafür r > 0 und Cr die durch

ϕr(t) =

{t für alle t ∈ [−r, r],r ei(t−r) für alle t ∈ [r, r + π]

gegebene geschlossene, stückweise glatte Kurve. Nehmen wir weiter an, r sei größer als alle|zj| für j = 1, . . . , k, und schreiben wir αr für die durch ϕr|[r,r+π] gegebene Halbkreiskurve. Mitdem Residuensatz 7.7 gilt dann

∫αr

R(z)dz +

r∫−r

R(x)dx =

∫Cr

R(z)dz = 2πik∑

j=1

resz=zj R,

denn für alle j gilt ja χ(Cr; zj) = 1. Andererseits gilt∣∣∣∣∣∣∫αr

R(z)dz

∣∣∣∣∣∣ =∣∣∣∣∣∣

π∫0

R(r eit) ri eit dt

∣∣∣∣∣∣ ≤ r

π∫0

|R(r eit)|dtr�0≤ r

Mr2 π =

M π

rr→∞→ 0.

Offenbar folgt hieraus die Behauptung.

Beispiel.

∞∫−∞

dxx2 + 1

.

Es gilt z2 + 1 = (z− i)(z + i). Also hat 1z2+1 genau eine Polstelle inH, nämlich i, und es gilt

resz=i1

z2 + 1= lim

z→i

1z + i

=12i

.

Mit Satz 7.16 folgt∞∫−∞

dxx2 + 1

= 2πi12i

= π.

Übungsaufgaben

Aufgabe 7.1. Sei D ⊆ C ein Elementargebiet, und sei f : D r {a1, . . . , an} → C eine holomorpheFunktion mit einfachen Polen in aν ∈ D für alle ν = 1, . . . , n. Zeigen Sie: Gilt dann für jede geschlos-sene, stückweise glatte Kurve γ in D r {a1, . . . , an}∫

γf (z)dz ∈ 2πiZ,

so gibt es eine in D meromorphe Funktion g mit f = g′g .

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7.5. Berechnung reeller Integrale mithilfe des Residuensatzes 124

Aufgabe 7.2. Sei D ⊆ C eine offene Teilmenge, sei f : D → C eine injektive, holomorphe Funktion,und sei z0 ∈ D und R > 0 mit UR(z0) ⊆ D. Zeigen Sie, dass dann die Formel

f−1(z) =1

2πi

∫∂UR(z0)

w f ′(w)

f (w)− zdw für alle z ∈ f (UR(z0))

gilt.

Bemerkung: Insbesondere ist f|UR(z0) : UR(z0)→ f (UR(z0)) konform (vgl. Definition 8.1).

Aufgabe 7.3. Diese Aufgabe ist eine erstaunliche Anwendung des Satzes von Rouché 7.12.

Sei f (z) =∑∞

n=0 anzn eine komplexe Potenzreihe mit Konvergenzradius R > 0, und sei z0 ∈ UR(0)ein beliebiger Punkt. Zeigen Sie: Zu jeder offenen Umgebung z0 ∈ U ⊆ UR(0) gibt es ein z1 ∈ U undein N ∈ N mit

f (z0) =∞∑

n=0

anzn0 =

N∑n=0

anzn1 .

Hinweis: Ohne Einschränkung ist f nicht konstant. Dann findet man ε > 0 und δ > 0 mit Uε(z0) ⊆ Uund | f (z0)− f (z)| ≥ δ für alle z ∈ C mit |z0 − z| = ε.

Aufgabe 7.4. Seien f , g ∈ C[X]r {0} zwei Polynome mit deg(g) > deg( f ) und g(x) 6= 0 für allex ≥ 0. Sei außerdem n > 1 eine natürliche Zahl, ζn := e

2πin und An ⊆ C gegeben durch das Segment

An :={

z ∈ C | 0 < Arg(z) <2π

n

}.

(a) Zeigen Sie mithilfe des Residuensatzes 7.7 die Formel∫ ∞

0

f (xn)

g(xn)dx =

2πi1− ζn

∑z∈An

resw=zf (wn)

g(wn).

Hinweis: Betrachten Sie das geschlossene Kurvenintegral∫γR

f (zn)

g(zn)dz :=

∫ R

0

f (zn)

g(zn)dz +

∫δR

f (zn)

g(zn)dz +

∫ 0

ζnR

f (zn)

g(zn)dz,

wobei δR :[0, 2π

n

]→ C das Kreissegment δR(t) = Reit bezeichne.

(b) Berechnen Sie die folgenden uneigentlichen Integrale mithilfe der in Teilaufgabe (a) hergeleitetenFormel.

(i)∫ ∞

0

√x

1 + x + x2 dx, (ii)∫ ∞

0

x1 + x6 dx, (iii)

∫ ∞

0

11 + xn dx.

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KAPITEL 8

Konforme Abbildungen

8.1 Motivation

Definition 8.1. Seien D1, D2 ⊆ C offen. Genau dann heißt eine Abbildung ϕ : D1 → D2 konform(oder biholomorph), wenn die folgenden Bedingungen gelten.

(i) ϕ ist bijektiv.

(ii) ϕ ist holomorph.

(iii) ϕ−1 ist holomorph.

Beispiel. Sei

M =

(a bc d

)∈ GL2(C)

und ϕM die zugehörige Möbiustransformation.

(a) Ist c = 0, so ist offensichtlich ϕM eine konforme Abbildung von C auf sich selbst.

(b) Ist c 6= 0, so ist ϕM eine konforme Abbildung von Cr {− dc } nach Cr { a

c}.

Natürlich lässt sich ϕM auf eine beliebige offene Teilmenge D1 von C bzw. Cr {− dc } einschränken.

Dann erhält man eine konforme Abbildung von D1 auf ϕM(D1). Wir werden gleich sehen, wieso diesnützlich ist.

Definition 8.2. Zwei Gebiete D1, D2 ⊆ C heißen konform äquivalent, wenn es eine konforme Abbil-dung ϕ : D1 → D2 gibt.72

72Dieser Begriff ist insofern wohldefiniert als die konforme Äquivalenz tatsächlich eine Äquivalenzrelation aufder Menge aller Gebiete in C definiert. Letzteres zu überprüfen ist eine leichte Übung.

125

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8.1. Motivation 126

Beispiel. (a) Die obere Halbebene H und die Einheitskreisscheibe E sind konform äquivalent, denndie Möbiustransformation ϕM mit

M =

(1 −i1 i

)∈ GL2(C)

ist nach dem letzten Beispiel konform und bildetH auf E ab,

denn: ∣∣∣∣z− iz + i

∣∣∣∣ < 1⇐⇒ |z− i|2 < |z + i|2

⇐⇒ (z− i)(z + i) < (z + i)(z− i)

⇐⇒ |z|2 + i(z− z) + 1 < |z|2 − i(z− z) + 1⇐⇒ 2i(z− z) < 0

⇐⇒ z− z2i

> 0

⇐⇒ Imz > 0⇐⇒ z ∈ H.

#

(b) C und E sind nicht konform äquivalent,

denn: Eine holomorphe Abbildung f : C → E ist stets beschränkt, nach dem Satz von Liouville4.28 also konstant. Insbesondere kann eine solche holomorphe Funktion f keine Bijektion sein. #

Lemma 8.3. Seien D1, D2 ⊆ C Gebiete und ϕ : D1 → D2 eine Abbildung. Dann sind die folgendenAussagen äquivalent.

(i) ϕ ist konform.

(ii) ϕ ist bijektiv, holomorph und ϕ′(z) hat auf D1 keine Nullstelle.

(iii) ϕ ist bijektiv und holomorph.

Beweis. Wir zeigen zunächst, dass (ii) aus (i) folgt. Sei dafür ϕ konform. Dann gilt ϕ ◦ ϕ−1 = id;also folgt nach der Kettenregel

ϕ′(

ϕ−1(w))(ϕ−1)′(w) = 1 für alle w ∈ D2.

Insbesondere giltϕ′(ϕ−1(w)) 6= 0 für alle w ∈ D2

und wegen der Bijektivität von ϕ−1

ϕ′(z) 6= 0 für alle z ∈ D1.

Dass (iii) aus (ii) folgt, ist trivial.

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127 Kapitel 8. Konforme Abbildungen

Es verbleibt zu zeigen, dass (i) aus (iii) folgt, dass also die Umkehrabbildung ϕ−1 einer bijekti-ven, holomorphen Funktion ϕ : D1 → D2 stets holomorph ist. Zunächst einmal ist ϕ−1 stetig,

denn: Sei U ⊆ D1 eine offene Teilmenge. Als injektive Funktion ist ϕ auf keiner Zusammen-hangskomponente von U konstant, so dass wir das Korollar 1 des Satzes von der Gebietstreue5.8 anwenden können, nach dem das Urbild (ϕ−1)−1(U) = ϕ(U) unter der Umkehrabbildungϕ−1 offen ist. #

Die Ableitung ϕ′ ist wegen der Injektivität auf keinem Teilgebiet von D1 identisch Null, so dassnach Korollar 1 des Identitätssatzes 5.6 die Nullstellenmenge N(ϕ′; 0) von ϕ′ nur aus isoliertenPunkten besteht und abgeschlossen in D1 ist. Wegen der Offenheit von ϕ besteht dann auchN := ϕ(N(ϕ′; 0)) nur aus isolierten Punkten und ist abgeschlossen in D2.

Sei nun w0 ∈ D2 r N mit Urbild z0 := ϕ−1(w0). Dann gilt

ϕ(z) = ϕ(z0) + (z− z0)ψ(z)

mit einer in z0 stetigen Funktion ψ : D1 → C mit ψ(z0) = ϕ′(z0) 6= 0. Setzen wir nun z :=ϕ−1(w) für alle w ∈ D2, so folgt

w = w0 + (ϕ−1(w)− ϕ−1(w0)) · ψ(ϕ−1(w)).

Die Funktion q := ψ ◦ ϕ−1 ist stetig in w0 und erfüllt q(w0) = ψ(z0) 6= 0, es gibt also ein r ∈ R>0mit

ϕ−1(w) = ϕ−1(w0) +w− w0

q(w)für alle w ∈ Ur(w0)

∪ D2.

Hieraus lässt sich ablesen, dass der Differenzenquotient von ϕ−1(w) in w0 durch die stetigeFunktion 1

q(w)gegeben ist, so dass ϕ−1 in w0 komplex differenzierbar ist und dort die Ableitung

(ϕ−1)′(w0) =1

q(w0)=

1ψ(z0)

=1

ϕ′(z0)=

1ϕ′(ϕ−1(w0))

besitzt.

Nach dem eben Gezeigten ist ϕ−1 auf D2 r N holomorph. Andererseits ist ϕ−1 ja auf ganzD2 stetig. Nach dem Riemann’schen Fortsetzungssatz (Übungsaufgabe 4.4) ist somit ϕ−1 holo-morph auf ganz D2.

Zwei Gebiete, die konform äquivalent sind, sollten dieselben funktionentheoretischen Eigen-schaften haben. In der Tat gilt

Lemma 8.4. Seien D1, D2 ⊆ C Gebiete und ϕ : D1 → D2 eine konforme Abbildung. Ist dann D1 einElementargebiet, so auch D2.

Beweis. Sei g : D2 → C holomorph. Wir müssen zeigen, dass g eine Stammfunktion G : D2 → C

hat. Es gilt das folgende kommutative Diagramm.

D1ϕ−→ D2

g ◦ ϕ ↘ ↙ gC

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8.2. Der Kleine Riemann’sche Abbildungssatz 128

Da D1 ein Elementargebiet ist und (g ◦ ϕ) ϕ′ : D1 → C eine holomorphe Abbildung, hat (g ◦ϕ) ϕ′ eine Stammfunktion F : D1 → C. Für G := F ◦ ϕ−1 gilt nun

G′(w) = (F ◦ ϕ−1)′(w)

= F′(

ϕ−1(w))(ϕ−1)′(w)

= (g ◦ ϕ)(

ϕ−1(w))· ϕ′(

ϕ−1(w))· (ϕ−1)′(w)

= g(w) · (ϕ ◦ ϕ−1)′(w)

= g(w).

Es ist also G eine Stammfunktion von g. Es folgt, dass D2 ein Elementargebiet ist.

Die große Fragestellung über konforme Äquivalenz ist offensichtlich die nach einem Vertre-tersystem der Äquivalenzklassen. Wir suchen also eine Liste möglichst schön beschreibbarerGebiete D ⊆ C, so dass jedes Gebiet in C äquivalent ist zu einem Gebiet aus der Liste undkeine zwei Gebiete in der Liste äquivalent sind.

8.2 Der Kleine Riemann’sche Abbildungssatz

Für Elementargebiete ist die Antwort, wenn auch nicht ihr Beweis, auf diese Frage einfach.

Satz 8.5 (Kleiner Riemann’scher Abbildungssatz73). Sei ∅ $ D $ C ein Elementargebiet.74 Dannist D konform äquivalent zur Einheitskreisscheibe E.

Den Beweis des Abbildungssatzes erfolgt in mehreren Schritten und füllt den Rest dieses Ab-schnitts aus.

1. Schritt: Vorbereitung

Lemma 8.6. Sei ∅ $ D1 $ C ein Elementargebiet. Dann ist D1 konform äquivalent zu einem Elemen-targebiet D2 mit 0 ∈ D2 ⊆ E.

Beweis. Nach Voraussetzung gibt es ein c ∈ Cr D1. Die holomorphe Funktion f (z) = z− c hatdann auf D1 keine Nullstelle. Da D1 ein Elementargebiet ist, hat f auf D1 nach Lemma 5.4 eineholomorphe Quadratwurzel, also eine holomorphe Funktion g : D1 → C mit g2(z) = f (z) aufganz D1. Für z1, z2 ∈ D1 gilt dann

g(z1) = ±g(z2) =⇒ f (z1) = f (z2) =⇒ z1 = z2.

Hieraus folgt:

73Wo es einen kleinen Satz gibt, da gibt es auch einen großen: Der Kleine Riemann’sche Abbildungssatz ist einSpezialfall des Großen Riemann’schen Abbildungssatzes, welcher besagt, dass jede einfach zusammenhängendeRiemann’sche Fläche konform äquivalent ist zu C, E oder C.

74In unserer Definition ist auch die leere Menge ein Elementargebiet, für welches der Satz aber offensichtlichfalsch wäre. Weil das unintuitiv ist, wird oft auch die leere Menge als Gebiet verboten.

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129 Kapitel 8. Konforme Abbildungen

(a) g ist injektiv, definiert also eine konforme Abbildung von D1 auf das Elementargebietg(D1), vgl. hierzu Lemma 8.4.

(b) Ist w ∈ g(D1)r {0}, so folgt −w 6∈ g(D1),

denn: Ist w = g(z1) = −g(z2) mit z1, z2 ∈ D1, so gilt nach dem obigen z1 = z2. Setzen wirdies in die ursprüngliche Gleichung ein, erhalten wir w = −w und somit w = 0. #

Da g(D1) offen und nicht leer ist, gibt es ein z0 ∈ Cr {0} und ein r > 0 mit Ur(z0) ⊆ g(D1)und 0 6∈ Ur(z0). Dann gilt

|w + z0| ≥ r für alle w ∈ g(D1),

denn: Gäbe es ein w ∈ g(D1) mit |w + z0| < r, dann läge dieses in Ur(−z0) = −Ur(z0). NachPunkt (b) und den Voraussetzungen an w und z0 ist aber der Durchschnitt −Ur(z0)

∪ g(D1)leer, was einen Widerspruch ergäbe. #

Die Abbildung

h : w 7→ 1w + z0

ist für w 6= −z0 holomorph und injektiv, bildet also g(D1) auf das konform äquivalente Gebieth(g(D1)) ab. Dieses ist beschränkt,

denn: Für w ∈ g(D1) gilt nach dem obigen |w + z0| ≥ r und somit∣∣∣ 1

w+z0

∣∣∣ ≤ 1r . #

Nach Anwenden einer geeigneten Translation t : w 7→ w + a erhalten wir ein konform äquiva-lentes beschränktes Elementargebiet t(h(g(D1))), das 0 enthält. Nach Anwenden einer geeig-neten zentrischen Streckung s : w 7→ $ · w erhalten wir ein konform äquivalentes Gebiet D2,das wie verlangt 0 ∈ D2 ⊆ E erfüllt.

Wir nehmen das Lemma zum Anlass, im weiteren Beweis des Kleinen Riemann’schen Abbil-dungssatzes stets 0 ∈ D ⊆ E vorauszusetzen. Da für D = E nichts zu zeigen ist, können wirim Folgenden sogar 0 ∈ D $ E annehmen.

2. Schritt: Rückführung auf ein Extremalproblem

Lemma 8.7. Sei D ein Elementargebiet mit 0 ∈ D $ E. Dann gibt es eine injektive holomorpheAbbildung ϕ : D → E mit ϕ(0) = 0 und |ϕ′(0)| > 1.

Beweis. Für jedes a ∈ Er {0} gilt

Ma :=(

1 −aa −1

)∈ GL2(C).

Wie wir im letzten Abschnitt eingesehen haben, ist die Möbiustransformation ϕa := ϕMa einekonforme Abbildung von Cr { 1

a} auf sich selbst. Nach Übungsaufgabe 5.4 ist die Einschrän-kung von ϕa|E : E→ E auf die offene Einheitskreisscheibe E ebenfalls konform. Offensichtlichgilt dabei außerdem ϕa(a) = 0.

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8.2. Der Kleine Riemann’sche Abbildungssatz 130

Nach Voraussetzung gibt es ein b ∈ Er D. Das zugehörige ϕb ist daher auf D nullstellenfrei.Da D ein Elementargebiet ist, gibt es eine holomorphe Abbildung h : D → Cmit h2(z) = ϕb(z)für alle z ∈ D. Da außerdem

|ϕb(z)| < 1 für alle z ∈ D

gilt und ϕb auf D injektiv ist, gelten diese beiden Eigenschaften auch für h. Sei c := h(0).75

Dann ist auch ϕ := ϕc ◦ h eine injektive holomorphe Abbildung von D nach E. Weiter gilt

ϕ(0) =h(0)− c

c h(0)− 1=

0|c|2 − 1

= 0.

Es verbleibt zu zeigen, dass die Ableitung von ϕ an der Stelle z = 0 betragsmäßig größer als 1ist. Es gilt

ϕ′(0) =h′(0)

(c h(0)− 1

)− c h′(0)

(h(0)− c

)(c h(0)− 1

)2 =h′(0)

(|c|2 − 1

)(|c|2 − 1)2 =

h′(0)|c|2 − 1

. (8.1)

Wir müssen nun den Term auf der rechten Seite noch genauer untersuchen. Es gilt h2(z) =ϕb(z), also insbesondere

2 h′(0) h(0) = (h2)′(0) = ϕ′b(0) =(b 0− 1)− b(0− b)

(b 0− 1)2= |b|2 − 1.

Andererseits gilt|c|2 = |h(0)|2 = |ϕb(0)| = |b|

und somit |c| = |h(0)| =√|b|. Setzen wir beides in (8.1) ein, erhalten wir

|ϕ′(0)| =∣∣∣∣ 2 h′(0) h(0)2 h(0)(|c|2 − 1)

∣∣∣∣ =∣∣|b|2 − 1

∣∣2 |c|(1− |c|2) =

|b|+ 12√|b|

> 1,

wobei wir in der Abschätzung benutzt haben, dass

|b| − 2√|b|+ 1 > 0 ⇐⇒

(√|b| − 1

)2

> 0

gilt.

Korollar. Sei D ein Elementargebiet mit 0 ∈ D $ E, und sei weiter

K(D) := {ϕ : D → E | ϕ injektiv, holomorph, ϕ(0) = 0}.

Falls es ein ψ ∈ K(D) gibt mit ∣∣ψ′(0)∣∣ ≥ ∣∣ϕ′(0)∣∣ für alle ϕ ∈ K(D), (8.2)

dann ist dieses ψ eine konforme Abbildung von D nach E.75Das geht, da wir 0 ∈ D angenommen hatten.

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131 Kapitel 8. Konforme Abbildungen

Beweis. Angenommen ψ wäre nicht surjektiv, es gälte also ψ(D) $ E. Nach Lemma 8.4 ist mitD auch ψ(D) ein Elementargebiet, so dass wir dann Lemma 8.7 auf ψ(D) anwenden könnten.Nach diesem gäbe es dann ein ϕ ∈ K(ψ(D)) mit |ϕ′(0)| > 1. Es gälte dann ϕ ◦ ψ ∈ K(D) und∣∣(ϕ ◦ ψ)′(0)

∣∣ = ∣∣ϕ′(ψ(0))ψ′(0)∣∣ = ∣∣ϕ′(0)∣∣ · ∣∣ψ′(0)∣∣ > ∣∣ψ′(0)∣∣ .

Dies ist ein Widerspruch zur Maximalität von |ψ′(0)|. Also ist ψ surjektiv und daher nachLemma 8.3 eine konforme Abbildung von D auf E.

Wir haben also den Beweis des Riemann’schen Abbildungssatzes darauf reduziert, die Voraus-setzung (8.2) zu zeigen. Im nächsten Schritt gelingt uns dies mithilfe des Satzes von Montel.

3. Schritt: Rückführung auf den Satz von MONTEL76

Sei K := supϕ∈K(D) |ϕ′(0)|.77 Nach Definition des Supremums gibt es eine Folge (ϕn)n∈N vonFunktionen ϕn ∈ K(D), für die |ϕ′n(0)|mit n→ ∞ gegen K geht.

Lemma 8.8 (Satz von Montel). Sei A ⊆ C offen und ( fn)n∈N eine Folge holomorpher Funktionenfn : A→ C, die auf A beschränkt ist, für die es also ein C > 0 gibt mit | fn(z)| ≤ C für alle n ∈ N undalle z ∈ A. Dann besitzt ( fn)n∈N eine konvergente Teilfolge, und diese konvergiert auf jeder kompaktenTeilmenge von A gleichmäßig.

Beweis. Im 4. Schritt.

Wegen ϕn(D) ⊆ E ist die Folge (ϕn)n∈N von oben beschränkt. Wir können also den Satz vonMontel 8.8 auf sie anwenden, der besagt, dass sie eine Teilfolge besitzt, die auf jeder kompaktenTeilmenge von D gleichmäßig gegen eine Grenzfunktion ψ : D → C konvergiert. Bezeichnenwir die Glieder dieser Teilfolge mit ϕnν .

Wegen ϕnν(0) = 0 undϕnν(0)

ν→∞→ ψ(0)

gilt ψ(0) = 0. Da (ϕnν)ν∈N nach dem Satz von Montel 8.8 auf Kompakta gleichmäßig kon-vergiert, können wir den Weierstraß’schen Approximationssatz 4.33 anwenden, und erhalten,dass die Grenzfunktion ψ auf D holomorph ist, und dass ϕ′nν

(z) → ψ′(z) gilt für alle z ∈ D,insbesondere also für z = 0. Wegen

|ϕ′nν(0)| ν→∞→ K

folgt also K = |ψ′(0)|, insbesondere gilt K < ∞ und |ϕ′(0)| ≤ |ψ′(0)| für alle ϕ ∈ K(D).

Mit der soeben gezeigten Maximalitätseigenschaft von ψ und id |D ∈ K(D) folgt ψ′(0) 6= 0, sodass insbesondere ψ auf dem Gebiet nicht konstant sein kann.78 Da alle ϕnν injektiv sind, istsomit nach dem Korollar des Satzes von Hurwitz 7.13 auch ψ injektiv.

76Paul Antoine Aristide Montel (1876 - 1975)77Das ist ein wohldefiniertes Element ausR≥0 ∪ {∞}, da mit idD ∈ K(D) die Menge K(D) nicht leer ist.78denn sonst wäre ja ψ′(z) = 0 für alle z ∈ D

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8.2. Der Kleine Riemann’sche Abbildungssatz 132

Da die Folge ϕnν(z) für ν → ∞ auf ganz D gegen ψ(z) konvergiert und dort stets |ϕnν(z)| < 1gilt, folgt |ψ(z)| ≤ 1 für alle z ∈ D. Gäbe es ein z0 ∈ D mit |ψ(z0)| = 1, so nähme ψ indiesem z0 ein Betragsmaximum, wäre also nach dem Maximumprinzip konstant, was bereitsausgeschlossen wurde. Also gilt ψ(D) ⊆ E.

Insgesamt liegt also ψ in K(D) und erfüllt die Extremalbedingung (8.2). Mit den Ergebnissendes 2. Schritts haben wir somit gezeigt, dass der Kleine Riemann’sche Abbildungssatz aus demSatz von Montel folgt. Letzteren gilt es nun noch zu beweisen.

4. Schritt: Beweis des Satzes von Montel

Lemma 8.9. Sei A ⊆ C offen, C ∈ R>0 eine Konstante und ( fn)n∈N eine Folge holomorpher Funktio-nen

fn : A→ C mit | fn(z)| ≤ C für alle n ∈ N und alle z ∈ A.

Es gebe eine dichte Teilmenge S ⊆ A, auf der ( fn)n∈N punktweise konvergiert. Dann konvergiert( fn)n∈N auf A, und zwar gleichmäßig auf kompakten Teilmengen.

Beweis. Es genügt zu zeigen, dass es für ein beliebiges Kompaktum K ⊆ A und jedes ε > 0 einenatürliche Zahl N ∈ N gibt mit

| fm(z)− fn(z)| < ε für alle m, n > N und alle z ∈ K, (8.3)

denn: Aus (8.3) folgt wegen der Vollständigkeit von C zunächst die Konvergenz von ( fn(z))n∈Nin jedem z ∈ K. Sei die Grenzfunktion durch

f (z) := limn→∞

fn(z) für alle z ∈ K

gegeben. Wählen wir n > N fest aber beliebig und nehmen in (8.3) den Limes für m → ∞, sofolgt

| f (z)− fn(z)| = limm→∞

| fm(z)− fn(z)| ≤ ε für alle z ∈ K.

Die Folge ( fn)n∈N konvergiert auf K somit gleichmäßig gegen f . #

Sei also K ⊆ A kompakt. Da A offen ist, gibt es zu jedem a ∈ K ⊆ A ein ra > 0 mit U2ra(a) ⊆ A.Die Familie {Ura(a)}a∈K bildet eine offene Überdeckung von K. Da K kompakt ist, hat dieseÜberdeckung eine endliche Teilüberdeckung

K ⊆N⋃

ν=1

Urν(aν) mit a1, . . . , aN ∈ K,

wobei wir kurz rν := raν geschrieben haben. Es folgt insbesondere

K ⊆N⋃

ν=1

Urν(aν) ⊆ A,

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133 Kapitel 8. Konforme Abbildungen

wobei die zweite Inklusion nach Konstruktion der Umgebungen Urν(aν) gilt. Es genügt daher,(8.3) für kompakte Mengen der Form

K = Ur(a) ⊆ A mit a ∈ A und r > 0

zu zeigen, wobei wir noch U2r(a) ⊆ A annehmen dürfen.

Das wollen wir nun tun. Zu einem ε > 0 wählen wir also ein r24C · ε > δ > 0. Seien z0, z1 ∈

U 32 r(a) mit |z0 − z1| < δ. Nach der Cauchy’schen Integralformel 4.23 gilt dann für alle n ∈ N

| fn(z0)− fn(z1)| =∣∣∣ 1

2π i

∫|w−a|=2r

(fn(w)

w− z0− fn(w)

w− z1

)dw∣∣∣

=|z0 − z1|

2π·∣∣∣ ∫|w−a|=2r

fn(w)

(w− z0)(w− z1)dw∣∣∣.

Für |w− a| = 2r und z ∈ U 32 r(a) gilt

|w− z| = |(w− a)− (z− a)| ≥ |w− a| − |z− a| ≥ 2r− 32

r =r2

.

Setzen wir dies in die obige Gleichung ein, so erhalten wir mit der Standardabschätzung fürIntegrale

| fn(z0)− fn(z1)| ≤|z0 − z1|

(2r

)2

· C · 4π r =|z0 − z1| · 8C

r<

r24C· ε · 8C

r=

ε

3.

Es gilt also

| fn(z0)− fn(z1)| <ε

3für alle n ∈ N und alle z0, z1 ∈ U 3

2 r(a) mit |z0 − z1| < δ. (8.4)

Da S dicht in A ist, lässt sich Ur(a) wie folgt überdecken.

Ur(a) ⊆⋃

b∈S∪

U 32 r(a)

Uδ(b).

Da Ur(a) kompakt ist, hat diese Überdeckung eine endliche Teilüberdeckung

Ur(a) ⊆M⋃

µ=1

Uδ(bµ) mit b1, . . . , bM ∈ S ∪ U 32 r(a). (8.5)

Sei z ∈ Ur(a). Dann gibt es also ein µ ∈ {1, . . . , M} mit |z− bµ| < δ. Insbesondere können wir(8.4) anwenden und erhalten für alle m, n, die größer als ein geeignetes Nµ ∈ N sind,

| fm(z)− fn(z)| ≤ | fm(z)− fm(bµ)|+ | fm(bµ)− fn(bµ)|+ | fn(bµ)− fn(z)|

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8.3. Geometrische Charakterisierung von Elementargebieten 134

(8.4)<

ε

3+ | fm(bµ)− fn(bµ)|+

ε

3

3+

ε

3+

ε

3= ε,

wobei wir für die letzte Abschätzung die punktweise Konvergenz der Folge ( fn)n∈N auf S aus-genutzt haben. Da die Überdeckung (8.5) endlich war, existiert das Maximum N := maxM

µ=1 Nµ,

und für alle z ∈ Ur(a) und alle m, n > N gilt die Behauptung.

Beweis des Satzes von Montel 8.8. Sei S eine abzählbare dichte Teilmenge von A, etwa

S = {x + iy ∈ A | x, y ∈ Q},

und sei s1, s2, . . . eine Abzählung von S. Die Folge ( fn(s1))n∈N ist beschränkt, also hat die Folge( fn)n∈N nach dem Satz von BOLZANO-Weierstraß79 eine Teilfolge, die in s1 konvergiert. Einesolche sei f11, f12, f13 . . . . Ebenso hat diese wiederum eine Teilfolge f21, f22, f23, . . . , die in s2konvergiert. Induktiv konstruiert man eine Folge von Folgen, derart dass jede dieser FolgenTeilfolge der vorhergehenden ist und so dass die n-te Folge fn1, fn2, fn3, . . . in s1, . . . , sn konver-giert. Offensichtlich konvergiert dann die Diagonalfolge f11, f22, f33, . . . in allen s ∈ S. Der Satzvon Montel 8.8 folgt somit aus Lemma 8.9.

Insgesamt haben wir so den Kleinen Riemann’schen Abbildungssatz bewiesen.

8.3 Geometrische Charakterisierung von Elementargebieten

Ein Elementargebiet in C ist definitionsgemäß ein Gebiet auf dem jede holomorphe Funktioneine Stammfunktion besitzt. Diese Definition ist zwar gut geeignet, um Sätze in der Integra-tionstheorie zu zeigen, gibt aber nicht gut darüber Aufschluss, ob ein gegebenes Gebiet einElementargebiet ist oder nicht. Wir wollen in diesem Abschnitt zeigen, dass die Elementarge-biete in C gerade diejenigen Gebiete in C sind, die einfach zusammenhängend sind, die alsoanschaulich „keine Löcher haben“. Für dieses Resultat werden wir eine Umformulierung desCauchy’schen Integralsatzes verwenden, die wir nun zunächst herleiten wollen.

Lemma 8.10. Sei D ⊆ C offen und C eine (stetige) Kurve in D, die durch γ(t) mit t ∈ [a, b] gegebenist. Dann existiert eine Unterteilung a = a0 < a1 < . . . < an = b und ein r ∈ R>0, derart dass

Ur(zν) ⊆ D mit zν := γ(aν) für alle 0 ≤ ν ≤ n

undγ([aν, aν+1]) ⊆ Ur(zν)

∪ Ur(zν+1) für alle 0 ≤ ν ≤ n− 1

gelten.

79Bernardus Placidus Johann Nepomuk Bolzano (1781 - 1848)

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135 Kapitel 8. Konforme Abbildungen

Beweis. Die Kurve C = γ([a, b]) ist als Bild einer kompakten Menge unter einer stetigen Ab-bildung wieder kompakt. Nach Lemma 4.22 gibt es daher ein r ∈ R>0 mit Ur(a) ⊆ D für allea ∈ C. Da γ auf dem Kompaktum [a, b] gleichmäßig stetig ist, gibt es zu diesem r ein δ > 0 mit

|γ(t)− γ(t′)| < r für alle t, t′ ∈ [a, b] mit |t− t′| < δ.

Wir wählen nun ein n ∈ Nmit b−an < δ und unterteilen das Intervall [a, b] in die n Teilintervalle[

a +b− a

nν, a +

b− an

(ν + 1)]

mit ν ∈ {0, . . . , n− 1}

der Länge b−an < δ. Seien

aν := a +b− a

nν und zν := γ(aν) für alle ν ∈ {0, . . . , n}.

Dann liegt nach Konstruktion Ur(zν) in D, und für ein beliebiges t ∈ [aν, aν+1] gilt |t− aν|, |t−aν+1| < δ. Mit der gleichmäßigen Stetigkeit von γ folgt dann

|γ(t)− zν| , |γ(t)− zν+1| < r,

also γ(t) ∈ Ur(zν)∪ Ur(zν+1).

Definition 8.11. Sei D ⊆ C offen und f : D → C holomorph. Sei C eine Kurve in D. Sei die Notationwie in Lemma 8.10. Dann ist das Integral von f längs C definiert als

∫C

f (z)dz :=n−1∑ν=0

zν+1∫zν

f (z)dz,

wobei jeweils längs der Verbindungsstrecke von zν nach zν+1 integriert wird.80

Lemma 8.12. (a) Obige Definition ist wohldefiniert in dem Sinne, dass sie unabhängig ist von derAuswahl der Unterteilung.

(b) Ist C stückweise glatt, so ist die rechte Seite der Definition gerade das übliche Kurvenintegral.

Beweis. Um die Wohldefiniertheit (a) zu zeigen, genügt es offensichtlich zu zeigen, dass sichder Wert des Integrals beim Übergang zu einer Verfeinerung der Unterteilung nicht ändert.Genauer sei a = a0 < a1 < . . . < an = b eine Unterteilung von [a, b] wie in Lemma 8.10 unda = a0 < a1 < . . . < am = b eine weitere solche Unterteilung mit m ≥ n und {a0, . . . , an} ⊆{a0, . . . , am}. Dann gilt

n−1∑ν=0

zν+1∫zν

f (z)dz =m−1∑µ=0

γ(aµ+1)∫γ(aµ)

f (z)dz,

denn: Betrachten wir aν = aµ < aµ+1 < . . . < aµ+k = aν+1 mit einem k > 0. Nach Voraussetzungliegen all diese Punkte in der offenen Kreisscheibe Ur(zν). Da letztere konvex ist, sind damit

80Man beachte, dass nach Lemma 8.10 die Punkte zν, zν+1 samt ihrer Verbindungsstrecke in D liegen.

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8.3. Geometrische Charakterisierung von Elementargebieten 136

auch alle Verbindungsstrecken ganz enthalten. Da f (z) auf Ur(zν) holomorph ist, folgt mit demCauchy’schen Integralsatz für Sterngebiete 4.20

zν+1∫zν

f (z)dz =

γ(aν+1)∫γ(aν)

f (z)dz =

µ+k−1∑κ=µ

γ(aκ+1)∫γ(aκ)

f (z)dz.

#

Um Behauptung (b) zu zeigen, nehmen wir nun an, C sei stückweise glatt. Insbesondere trifftdies dann auch auf das Teilstück von zν nach zν+1 zu, also ist dieses zusammen mit der Stre-cke von zν nach zν+1 eine geschlossene stückweise glatte Kurve im Sterngebiet Ur(zν), also istwieder nach dem Cauchy’schen Integralsatz für Sterngebiete 4.20 das Integral von f hierübergleich Null.

Definition 8.13. Sei D ⊆ C offen, und seien C1 und C2 zwei Kurven in D, die für t ∈ [0, 1] durchγ1(t) bzw. γ2(t) gegeben sind. Dabei gelte

γ1(0) = γ2(0) und γ1(1) = γ2(1),

es sollen also die Anfangs- und die Endpunkte von C1 und C2 jeweils übereinstimmen. Genau dannheißen C1 und C2 homotop in D (mit festgehaltenem Anfangs- und Endpunkt), wenn es eine stetigeAbbildung H : [0, 1]× [0, 1]→ D gibt mit

(a) H(t, 0) = γ1(t) und H(t, 1) = γ2(t).

(b) Für alle s ∈ [0, 1] gilt

H(0, s) = γ1(0) = γ2(0) und H(1, s) = γ1(1) = γ2(1).

In diesem Fall nennt man auch H eine Homotopie von C1 nach C2 in D.

Diese Definition bedeutet gerade, dass man C1 in D stetig nach C2 deformieren kann, wobeiAnfangs- und Endpunkt fest bleiben.

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137 Kapitel 8. Konforme Abbildungen

Beispiel. Ist D konvex, so sind je zwei Kurven C1 und C2 in D mit gleichem Anfangs- und Endpunkthomotop in D. Eine Abbildung H mit den geforderten Eigenschaften ist

H(t, s) = γ1(t) + s (γ2(t)− γ1(t)) mit s, t ∈ [0, 1].

Abbildung 8.1: Im konvexen Gebiet D = C sind die gerade Strecke von 0 nach 1 und derHalbkreisbogen von Radius 1

2 um 12 homotop. Eingezeichnet sind die Kurven H(t, s) mit s ∈

{0, 14 , 1

2 , 34 , 1}.

Definition 8.14. (a) Sei D ⊆ C offen und C eine geschlossene Kurve in D mit Anfangs- und End-punkt z0. Genau dann nennen wir C nullhomotop in D, falls C in D zur Punktkurve Cz0

homotop ist.81

(b) Ein Gebiet D heißt einfach zusammenhängend, falls jede geschlossene Kurve in D nullhomotopin D ist.

Abbildung 8.2: Anschaulich ist ein Gebiet D einfach zusammenhängend genau dann, wenn es„keine Löcher“ hat: Im Bild lässt sich die rot eingezeichnete geschlossene Kurve wegen des„Lochs“ im Gebiet D nicht zur Punktkurve Cz0 „zusammenziehen“.

Satz 8.15 (Homotopieversion des Cauchy’schen Integralsatzes). (a) Sei D ⊆ C offen, und sei-en C, C′ zwei Kurven in D mit gleichem Anfangs- und Endpunkten, die in D homotop sind. Seiweiter f : D → C holomorph. Dann gilt∫

C

f (z)dz =

∫C′

f (z)dz.

81Hierbei ist Cz0 gegeben durch γ(t) = z0 für alle t ∈ [0, 1].

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8.3. Geometrische Charakterisierung von Elementargebieten 138

(b) Sei D ein einfach zusammenhängendes Gebiet. Dann ist∫C

f (z)dz = 0

für alle geschlossenen Kurven C in D.

Vor dem Satz zeigen wir noch ein technisches Lemma, das wir für den Beweis benötigen.

Lemma 8.16. Sei D ⊆ C offen, sei Q := [0, 1]× [0, 1], und sei H : Q → D eine stetige Abbildung.Das Bild H(∂Q) des positiv orientierten Randes von Q ist gegeben als Summe C1 + C2 + C3 + C4,wobei für k ∈ {1, 2, 3, 4} die Kurve Ck durch γk mit

γ1(t) := H(t, 0) für t ∈ [0, 1],γ2(t) := H(1, t− 1) für t ∈ [1, 2],γ3(t) := H(3− t, 1) für t ∈ [2, 3],γ4(t) := H(0, 4− t) für t ∈ [3, 4]

parametrisiert sei.

Für jede holomorphe Abbildung f : D → C gilt dann∫H(∂Q)

f (z)dz = 0.

Beweis. Die stetige Funktion H ist auf dem Kompaktum Q gleichmäßig stetig. Ähnlich wiebeim Beweis von Lemma 8.10 kann man daher unter Benutzung von Lemma 4.22 eine derartigeUnterteilung von Q in n2 Teilquadrate

Qµν mit µ, ν ∈ {0, . . . , n− 1}

gleicher Kantenlänge finden, dass die Bildmengen H(Qµν) jeweils ganz in einer offenen Kreis-scheibe Uµν ⊆ D liegen. Da H(∂Qµν) eine geschlossene Kurve ist, gilt dann nach dem Cau-chy’schen Integralsatz 4.2082 ∫

H(∂Qµν)

f (z)dz = 0.

82Diesen dürfen wir anwenden, da das Integral längs der (nur stetigen) Kurve H(∂Qµν) laut Definition 8.11 durchdas Integral längs einer stückweise glatten Kurve gegeben ist.

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139 Kapitel 8. Konforme Abbildungen

Mit ∫H(∂Q)

f (z)dz =∑

0≤µ,ν<n

∫H(∂Qµν)

f (z)dz

folgt hieraus die Behauptung.

Beweis von Satz 8.15. (b) folgt sofort aus (a), denn für die Punktkurve Cz0 gilt ja∫Cz0

f (z)dz = 0.

Wir wollen nun Behauptung (a) zeigen. Sei dafür in der Notation von Lemma 8.16 mit H : Q→D eine Homotopie von C nach C′ gegeben; insbesondere gelte also C = C1 und (C′)−1 = C3,und die beiden Kurven C2 und C4 sind konstant. Nach Lemma 8.16 gilt somit

0 =

∫∂H(Q)

f (z)dz =

∫C

f (z)dz + 0−∫C′

f (z)dz + 0,

und der Satz folgt.

Satz 8.17. Sei D ⊆ C ein Gebiet. Dann sind die folgenden beiden Aussagen äquivalent.

(i) D ist ein Elementargebiet.

(ii) D ist einfach zusammenhängend.

Beweis. Für leeres D ist nichts zu zeigen. Sei also für den Rest des Beweises D nicht leer.

Sei zunächst D einfach zusammenhängend, und sei z1 ∈ D fest gewählt. Zu einer beliebigenholomorphe Abbildung f : D → C definieren wir dann

F(z) :=

z∫z1

f (w)dw für alle z ∈ D.

Integriert wird hierbei entlang einer beliebigen Kurve von z1 nach z. Das ist möglich, daD einfach zusammenhängend ist, und das Integral somit nach der Homotopieversion desCauchy’schen Integralsatzes 8.15 unabhängig von der Auswahl der Kurve ist. Genau wie imBeweis des Cauchy’schen Integralsatzes 4.20 zeigt man, dass F holomorph ist und F′ = f er-füllt. Es folgt, dass D ein Elementargebiet ist.

Sei nun umgekehrt D ein Elementargebiet. Nach dem Kleinen Riemann’schen Abbildungssatz8.5 ist dann D = C, oder D ist konform äquivalent zu E. C und E sind beide konvex und insbe-sondere einfach zusammenhängend. Dass D einfach zusammenhängend ist, folgt nun, wennwir zeigen können, dass Nullhomotopie von Kurven unter konformen Abbildungen erhaltenwird. Dies folgt aus Übungsaufgabe 8.1.

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8.3. Geometrische Charakterisierung von Elementargebieten 140

Korollar. Je zwei nichtleere einfach zusammenhängende Gebiete in der komplexen Ebene sind homöo-morph.

Beweis. Nach Satz 8.17 sind einfach zusammenhängende Gebiete dasselbe wie Elementarge-biete. Nach dem Kleinen Riemann’schen Abbildungssatz gibt es bis auf konforme Äquivalenzgenau zwei nichtleere Elementargebiete, nämlich C und E. Die Behauptung folgt also, wennwir zeigen können, dass C und E homöomorph sind. Tatsächlich ist

ϕ :

{C → E,z 7→ z

1+|z| ,

ein Homöomorphismus,

denn: Zunächst einmal gilt ∣∣∣∣ z1 + |z|

∣∣∣∣ = |z|1 + |z| < 1

und somit tatsächlich ϕ(C) ⊆ E. Dass hier in Wirklichkeit Gleichheit herrscht, dass also ϕ sur-jektiv ist, zeigen wir zusammen mit seiner Injektivität durch Angabe einer Umkehrabbildung:Wie man leicht nachrechnet (Übung!), ist diese durch

ϕ−1 :

{E → C,w 7→ w

1−|w|

gegeben. Dass sowohl ϕ als auch ϕ−1 stetig sind, folgt leicht aus der Stetigkeit von idC bzw.idE und den Rechenregeln aus Lemma 3.5. #

Übungsaufgaben

Aufgabe 8.1. Seien D1, D2 ⊆ C offen, und sei ϕ : D1 → D2 ein Homöomorphismus. Zeigen Sie: Istdann H eine Homotopie in D1, so ist ϕ ◦ H eine Homotopie in D2.

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KAPITEL 9

Bildbereiche holomorpher Funktionen

In diesem Kapitel untersuchen wir Bilder holomorpher Funktionen. Die generische Fragestel-lung ist hier die folgende:

Sei F die Familie holomorpher Funktionen auf einem Gebiet D ⊆ C, die eine be-stimmte Eigenschaft P erfüllen. Wie sieht dann für alle f ∈ F das Bild f (D) aus?

Wir haben bereits Ergebnisse dieser Art bewiesen, wie etwa den Satz von Casorati-Weierstraß6.11. Dieses Kapitel wird in einer Verschärfung dieses Satzes münden, dem Großen Satz von Pi-card 9.16. Bevor wir diesen zeigen können, müssen wir noch eine Reihe weiterer Resultate überden Bildbereich holomorpher Funktionen zeigen, die aber auch jeweils für sich von Interessesind.

9.1 Der Satz von Bloch (?)

Passend zur Notation der Einleitung sei in diesem Abschnitt D = E die offene Einheitskreis-scheibe und D′ ⊆ C ein Gebiet, das den AbschlussE vonE inC enthält. Sei weiter FE die Men-ge aller holomorphen Funktionen f : D′ → Cmit f (0) = 0 und f ′(0) = 1. Wegen f ′(0) = 1 6= 0ist für jedes f ∈ FE das Bild f (E) eine offene Menge und enthält so eine offene Kreisscheibevon positivem Radius. Wir wollen nun mit dem Satz von BLOCH83 zeigen, dass es eine Un-terschranke für den größtmöglichen Radius einer solchen Kreisscheibe gibt. Dafür zeigen wirzunächst einige vorbereitende Lemmata.

Lemma 9.1. Sei C ∈ R>0, und sei f : E→ C holomorph mit

f (0) = 0, f ′(0) = 1 und | f (z)| ≤ C für alle z ∈ E.

Dann gilt C ≥ 1 und f (E) ⊇ U(6C)−1(0).83André Bloch (1893-1948)

141

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9.1. Der Satz von Bloch (?) 142

Beweis. Nach den Cauchy’schen Ungleichungen 4.26 gilt

| f (n)(0)| ≤ Cn! für alle n ∈ N

Die holomorphe Funktion f ist nach dem Satz von Taylor 4.31 auf E durch ihre Taylorentwick-lung

f (z) =∞∑

n=0

anzn mit an =f (n)(0)

n!für alle n ∈ N

mit Entwicklungspunkt z = 0 gegeben, so dass wir stattdessen bequemer auch |an| ≤ C füralle n ∈ N schreiben können. Insbesondere gilt mit 1 = |a1| ≤ C die erste Behauptung.

Es liegen dann alle z ∈ C mit |z| = (4C)−1 in der offenen Einheitskreisscheibe E. Betrachtenwir f auf dieser Kreislinie, so gilt wegen a0 = 0 und a1 = 1 die Abschätzung

| f (z)| ≥ |z| −∣∣ ∞∑n=2

anzn∣∣ (Minus-Dreiecksungleichung)

≥ (4C)−1 −∞∑

n=2

|an| (4C)−n (Dreiecksungleichung)

≥ (4C)−1 −∞∑

n=2

C (4C)−n (|an| ≤ C für alle n ∈ N)

= (4C)−1 − C ·( 1

1− (4C)−1 − (1 + (4C)−1))

(geometrische Reihe)

= (4C)−1 − (16C− 4)−1

≥ (6C)−1.

Betrachten wir nun ein w ∈ U(6C)−1(0), so hat die Funktion g(z) := f (z)−w in E eine Nullstel-le,

denn: Für |z| = (4C)−1 gilt

| f (z)− g(z)| = |w| < (6C)−1 ≤ | f (z)|,

so dass nach dem Satz von Rouché 7.12 die Funktionen f (z) und g(z) in U(4C)−1(0) die selbeAnzahl von Nullstellen haben. Die Behauptung folgt mit f (0) = 0. #

Für ein fest vorgegebenes w ∈ U(6C)−1(0) gibt es also ein z ∈ E mit f (z) = w, was das Lemmazeigt.

Lemma 9.2. Sei R > 0 eine reelle Zahl, und sei g : UR(0)→ C eine holomorphe Funktion mit

g(0) = 0, |g′(0)| =: C1 > 0 und |g(z)| ≤ C2 für alle z ∈ UR(0).

Dann gilt

g(UR(0)) ⊇ Ur(0) mit r =R2C2

16C2

.

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143 Kapitel 9. Bildbereiche holomorpher Funktionen

Beweis. Für alle z ∈ E setzen wir f (z) :=(Rg′(0)

)−1 g(Rz). Dann erfüllt f offensichtlich dieVoraussetzungen von Lemma 9.1 mit C = C2

RC1. Es folgt also

f (E) ⊇ U RC16C2

(0).

Das Lemma folgt unmittelbar, wenn wir in diese Inklusion die Definition von f einsetzen.

Lemma 9.3. Sei z0 ∈ C beliebig, und sei R > 0 eine reelle Zahl. Dann ist jede holomorphe Funktionf : UR(z0)→ C mit

| f ′(z)− f ′(z0)| < | f ′(z0)| für alle z ∈ UR(z0)

injektiv.

Beweis. Seien z1 6= z2 zwei verschiedene Punkte in UR(z0). Sei weiter C das durch γ(t) =z1 + t(z2 − z1) mit t ∈ [0, 1] gegebene Geradenstück. Dann folgt mit der Integraldreiecksun-gleichung

| f (z1)− f (z2)| =∣∣∣∣∫

Cf ′(z)dz

∣∣∣∣≥∣∣∣∣∫

Cf ′(z0)dz

∣∣∣∣− ∣∣∣∣∫C

(f ′(z)− f ′(z0)

)dz∣∣∣∣

≥ | f ′(z0)| · |z1 − z2| −∫

C| f ′(z)− f ′(z0)| |dz|.84

Nach Voraussetzung ist dies eine echt positive Zahl; es folgt also f (z1) 6= f (z2) und somit dieInjektivität von f .

Satz 9.4 (Bloch). Sei f ∈ FE. Dann enthält E eine offene Kreisscheibe U, so dass die folgenden beidenAussagen gelten.

(i) f |U ist injektiv.

(ii) f (U) enthält eine offene Kreisscheibe von Radius 172 .

Beweis. Wir wollen zunächst eine offene Kreisscheibe U finden, auf die eingeschränkt f injektivist. Das tun wir, indem wir für ein geeignetes U die Voraussetzungen von Lemma 9.3 zeigen.Wir interessieren uns also für die Ableitung f ′ von f .

Für r ∈ [0, 1] seiK(r) := max

|z|=r| f ′(z)|.

Die Funktion K : [0, 1] → R ist offenbar stetig und nach dem Maximumprinzip auf Kompak-ta (Korollar 3 des Satzes von der Gebietstreue 5.8) außerdem monoton wachsend. Setzen wirweiterhin

h(r) := (1− r)K(r),

84Wir haben die Schreibweise |dz| nicht eingeführt. Gemeint ist hier das Integral∫ 1

0 | f ′(γ(t))− f ′(z0)| |γ′(t)|dt.

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9.1. Der Satz von Bloch (?) 144

so erhalten wir in h : [0, 1] → R eine stetige Funktion mit h(0) = 1 und h(1) = 0. Mit r0 :=suph(r)=1 r gilt dann aus Stetigkeitsgründen h(r0) = 1 und h(r) < 1 für r > r0. Wegen h(1) = 0folgt außerdem r0 < 1.

Wählen wir nun ein z0 mit |z0| = r0 und | f ′(z0)| = K(r0), so gilt nach Definition von r0

| f ′(z0)| =1

1− r0. (9.1)

Mit der Minus-Dreiecksungleichung zeigt man leicht U 1−r02(z0) ⊆ U 1+r0

2(0). Für ein beliebiges

z ∈ U 1−r02(z0) gilt also

| f ′(z)| ≤ K(|z|) (Definition von K(·))

≤ K(

1 + r0

2

)(Monotonie von K(·) und |z| < 1+r0

2 )

=h( 1+r0

2

)1− 1+r0

2

(Definition von h(·))

<2

1− r0. (h(r) < 1 für alle r > r0)

Mit der Dreiecksungleichung und (9.1) folgt

| f ′(z)− f ′(z0)| ≤ | f ′(z)|+ | f ′(z0)| <3

1− r0für alle z ∈ U 1−r0

2(z0). (9.2)

Mit dem Lemma von Schwarz 5.10 gilt sogar

| f ′(z)− f ′(z0)| <6 |z− z0|(1− r0)2 für alle z ∈ U 1−r0

2(z0),

denn: Betrachten wir die auf E definierte Abbildung

F := ϕD ◦ ϕT ◦ f ′ ◦ ϕT ◦ ϕD,

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145 Kapitel 9. Bildbereiche holomorpher Funktionen

wobei ϕ· mit · ∈ {D, T, T, D} die durch

D =

( 1−r02 00 1

), T =

(1 z00 1

), T =

(1 − f ′(z0)0 1

)und D =

( 1−r03 00 1

)gegebenen Möbiustransformationen seien.85 Offensichtlich gilt F(0) = 0. Mit (9.2) lässt sichaußerdem leicht F(E) ⊆ E zeigen, so dass für F die Voraussetzungen des Lemmas von Schwarz5.10 erfüllt sind. Nach diesem gilt dann

|F(z)| ≤ |z| für alle z ∈ E

⇐⇒ |(ϕD ◦ ϕT)( f ′(z))| ≤ 2 |z− z0|1− r0

für alle z ∈ U 1−r02(z0)

⇐⇒∣∣∣∣1− r0

3( f ′(z)− f ′(z0))

∣∣∣∣ ≤ 2 |z− z0|1− r0

für alle z ∈ U 1−r02(z0)

und somit die Behauptung. #

Insbesondere gilt mit (9.1)

| f ′(z)− f ′(z0)| <32

6 1−r06

(1− r0)2 =1

1− r0= | f ′(z0)| für alle z ∈ U 1−r0

6(z0).

Nach Lemma 9.3 ist dann die Einschränkung von f auf U 1−r06(z0) injektiv. U 1−r0

6(z0) ist demnach

eine mögliche Wahl für die offene Kreisscheibe U aus Teil (i) des Satzes. Es bleibt Teil (ii) desSatzes zu zeigen, dass nämlich U 1−r0

6(z0) eine offene Kreisscheibe vom Radius 1

72 enthält. Das

wollen wir tun, indem wir die offene Kreisscheibe U 1−r06(z0) nach Null verschieben und dann

eine geeignete Funktion g wie in Lemma 9.2 finden.

Betrachten wir also die auf U 1−r06(0) definierte Abbildung

g := ϕT ◦ f ◦ ϕT

mit den durch

T =

(1 z00 1

), T =

(1 − f (z0)0 1

)gegebenen Möbiustransformationen ϕT und ϕT. Mit (9.1) gilt offensichtlich

g(0) = 0 und |g′(0)| = | f ′(z0)| =1

1− r0> 0.

Für z ∈ U 1−r06(0) liegt das durch γ(t) = z0 + tz mit t ∈ [0, 1] gegebene Geradenstück C ganz in

der offenen Kreisscheibe U 1−r06(z0) ⊆ U 1−r0

2(z0). Es gilt daher

|g(z)| =∣∣∣∣∫

Cf ′(w)dw

∣∣∣∣85Wir erinnern uns, dass ϕD und ϕD Drehstreckungen und ϕT und ϕT Translationen sind.

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9.1. Der Satz von Bloch (?) 146

<2 |z|

1− r0(Standardabschätzung und | f ′(w)| < 2

1−r0)

<2 1−r0

61− r0

=13

.

Lemma 9.2 besagt nun, dass das Bild g(U 1−r06(0)) die offene Kreisscheibe Ur(0) mit

r =

(1−r0

6

)2·(

11−r0

)2

6 · 13

=1

72

enthält. Der Satz folgt nach Übersetzen in eine Aussage über f .

Korollar. Sei R > 0 eine reelle Zahl, und sei

RD′ := {z ∈ C | z = Rw für ein w ∈ D′}.

Dann enthält das Bild f (UR(0)) einer jeden holomorphen Funktion f : RD′ → C eine offene Kreis-scheibe vom Radius R | f ′(0)|

72 .

Beweis. Für f ′(0) = 0 ist offenbar die leere Kreisscheibe in f (UR(0)) enthalten, so dass wir fürden weiteren Beweis ohne Einschränkung f ′(0) 6= 0 annehmen können. Es bleibt nun aber nurnoch der Bloch’sche Satz 9.4 auf die Funktion

g(z) :=f (Rz)− f (0)

R f ′(0)

anzuwenden. Das ist erlaubt, da g offensichtlich in FE liegt.

Bemerkung 9.5. Sei für jedes f ∈ FE die Zahl β( f ) gegeben als das Supremum aller reellen Zahlen r,für die es eine offene Kreisscheibe U ⊆ E gibt, so dass f |U injektiv ist und f (U) eine offene Kreisscheibevom Radius r enthält. Der Satz von Bloch 9.4 besagt dann 1

72 ≤ β( f ).

Für die Bloch’sche Konstante B := inff∈FE

β( f ) gilt deshalb und wegen idD′ ∈ FE die Abschätzung

172

< B ≤ 1.

Tatsächlich sind noch sehr viel bessere Abschätzungen von B bekannt; man weiß86

0, 4332 < B ≤ 0, 4719.

Den tatsächlichen Wert von B kennt man nicht.86Die obere Schranke wurde 1937 von LARS VALERIAN AHLFORS (1907-1996) und HELMUT GRUNSKY (1904-

1986) bewiesen, die untere in einer Reihe von Artikeln bis zurzeit 2003 von mehreren Autoren. Die Grundideehierzu lieferte MARIO BONK im Jahr 1990.

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147 Kapitel 9. Bildbereiche holomorpher Funktionen

Ganz ähnlich wie die Bloch’sche Konstante lässt sich die etwas einfachere LANDAU’sche Kon-stante87 einführen.

Definition 9.6. Sei für jedes f ∈ FE

λ( f ) := sup{r ∈ R | r ist Radius einer offenen Kreisscheibe in f (E)}.

Die Landau’sche Konstante L ist dann definiert als L := inff∈FE

λ( f ).

Auch hier bekommt man schnell Abschätzungen geliefert: Es gilt

B ≤ L ≤ 1,

wobei die Abschätzung nach unten trivial ist und die Abschätzung nach oben wie für dieBloch’sche Konstante geschieht. Wieder kann man die Abschätzung signifikant verbessern; esgilt88

0, 5 < L ≤ 0, 5433

und insbesondere B < L.

Proposition 9.7. Für jedes f ∈ FE enthält f (E) eine offene Kreisscheibe vom Radius L.

Beweis. Wir zeigen die etwas stärkere Aussage, dass für jedes f ∈ FE das Bild f (E) eine offeneKreisscheibe vom Radius λ( f ) enthält. Nach Definition von λ( f ) gibt es für jedes n ∈ N>0 einzn ∈ f (E) mit Uλ( f )− 1

n(zn) ⊆ f (E). Da f (E) kompakt ist, gibt es ein z0 ∈ f (E), gegen den eine

Teilfolge von (zn) konvergiert, ohne Einschränkung sei dies bereits die Folge (zn) selbst.

Für ein beliebiges z ∈ Uλ( f )(z0) wählen wir ein n( f ) mit

|z− z0| < λ( f )− 1n( f )

.

Wegen der Konvergenz der Folge gibt es ein n(z) > n( f ) mit

|zn − z0| <(λ( f )− 1

n( f ))− |z− z0| für alle n ≥ n(z).

Es folgt

|z− zn| ≤ |z− z0|+ |z0 − zn| < λ( f )− 1n( f )

< λ( f )− 1n

für alle n ≥ n(z).

Da z ∈ Uλ( f )(z0) beliebig war, folgt Uλ( f )(z0) ⊆ f (E) und somit die Proposition.

Korollar. Sei R > 0 eine reelle Zahl. Dann enthält das Bild f (UR(0)) einer jeden holomorphen Funk-tion f : RD′ → C eine offene Kreisscheibe vom Radius R | f ′(0)| L.

Beweis. Analog zum Beweis des Korollars des Bloch’schen Satzes 9.4.87Edmund Georg Hermann Landau (1877-1938)88Die obere Schranke wurde 1943 von HANS ADOLPH RADEMACHER (1892-1969) bewiesen, die untere 1938 von

RAPHAEL MITCHEL ROBINSON (1911-1995).

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9.2. Der Kleine Satz von Picard (?) 148

9.2 Der Kleine Satz von Picard (?)

Das Ziel dieses Abschnitts, der Kleine Satz von Picard, ist eine Verschärfung des Satzes vonLiouville 4.28. Statt der Beschränktheit der ganzen Funktion wird für ihre Konstanz nur nochgefordert, dass ihr Wertebereich zwei komplexe Zahlen auslässt. Wie im vergangenen Ab-schnitt auch zeigen wir zunächst einige vorbereitende Lemmata.

Lemma 9.8. Sei D ein Elementargebiet und f : D → C holomorph mit {0, 1} ∪ f (D) = ∅. Danngibt es eine holomorphe Funktion g : D → C mit

f (z) = − exp(πi cosh(2g(z))) für alle z ∈ D.

Beweis. Da f auf dem Elementargebiet D holomorph ist und keine Nullstelle hat, gibt es nachLemma 5.4 eine holomorphe Funktion h : D → Cmit f (z) = eh(z).

Nähme nun die Funktion h(z)2πi einen ganzzahligen Wert an, so wäre im Widerspruch zur Vor-

aussetzung der Wert von f an dieser Stelle gleich 1. Da h(z)2πi also insbesondere die Werte 0

und 1 nicht annimmt, ist es, wieder mit Lemma 5.4, möglich, auf D holomorphe FunktionenQ1 : D → C und Q2 : D → Cmit

Q1(z)2 =h(z)2πi

und Q2(z)2 =h(z)2πi− 1 für alle z ∈ D

zu definieren und diese zu einer holomorphen Funktion H : D → Cmit

H(z) := Q1(z)−Q2(z) für alle z ∈ D

zusammenzufügen. Nach Konstruktion hat H(z) auf D keine Nullstellen, so dass wir wie ge-rade eben eine holomorphe Funktion g : D → C finden mit H(z) = eg(z). Es folgt89

cosh(2g(z)) + 1 =12(e2g(z) + e−2g(z)) + 1

=12(eg(z) + e−g(z))2

=12

(H(z) +

1H(z)

)2

=h(z)πi

.

Setzen wir dies in die Definition von h ein, so erhalten wir

f (z) = eh(z) = exp(πi cosh(2g(z)) + πi) = − exp(πi cosh(2g(z))).

89Die letzte Gleichheit erfordert hierbei etwas Rechenarbeit. Die Durchführung dauert zwar ein wenig, kommtaber ohne besondere Tricks aus.

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149 Kapitel 9. Bildbereiche holomorpher Funktionen

Lemma 9.9. Seien D, f und g wie in Lemma 9.8. Dann enthält g(D) keine offene Kreisscheibe vonRadius 1.

Beweis. Wir zeigen das Lemma, indem wir eine Menge M ⊆ C angeben, die mit g(D) leerenSchnitt haben muss, und deren Komplement keine offene Kreisscheibe von Radius 1 enthält.Wir wollen zeigen, dass

M := {± log(√

n +√

n− 1) +mπ

2i | m ∈ Z, n ∈ Z>0}

eine mögliche Wahl ist. Wegen log(√

n + 1 +√

n)− log(√

n +√

n− 1) > 0 sind die Elemen-te von M die Eckpunkte einer Parkettierung der komplexen Ebene mit Rechtecken positiverBreite. Genauer gelten für die Abmessungen dieser Rechtecke die Abschätzungen

Höhe =π

2<√

3

und

Breite = log(√

n + 1 +√

n)− log(√

n +√

n− 1) ≤ log(√

2 + 1)− log(1) < log(e) = 1.

Mit PYTHAGORAS90 folgt, dass die Länge einer jeden Rechtecksdiagonalen echt kleiner ist als2, so dass Cr M keine offene Kreisscheibe von Radius 1 enthalten kann.

Abbildung 9.1: Die Werte für −1 ≤ m ≤ 3 und 1 ≤ n ≤ 7.

Es verbleibt also noch zu zeigen, dass g(D) mit M leeren Schnitt hat. Nehmen wir dafür an, esgäbe einen Punkt z0 ∈ D gibt mit

g(z0) = ± log(√

n +√

n− 1) +mπ

2i

90Pythagoras von Samos (ca. 570-510 v. Chr.)

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9.2. Der Kleine Satz von Picard (?) 150

für geeignete m ∈ Z und n ∈ Z>0. Dann gälte

cosh(2g(z0)) =12(e2g(z0) + e−2g(z0)

)=

12(eπim(

√n +√

n− 1)±2 + e−πim(√

n +√

n− 1)∓2)=

12((−1)m ((√n +

√n− 1)±2 + (

√n−√

n− 1)±2))= (−1)m (2n− 1),

wobei wir beim vorletzten Gleichheitszeichen ausgenutzt haben, dass nach der 3. binomischenFormel

(√

n +√

n− 1)(√

n−√

n− 1) = n− (n− 1) = 1 (9.3)

gilt. Nach der Definition von g folgte f (z0) = − exp(πi (−1)m(2n− 1)). Da 2n− 1 ungeradeist, erhielten wir so

f (z0) = 1,

was nicht sein kann. Der Durchschnitt von g(D) und M ist also tatsächlich leer und das Lemmabewiesen.

Satz 9.10 (Kleiner Satz von Picard). Sei f eine ganze Funktion. Gibt es zwei komplexe Zahlen, dienicht im Bild f (C) liegen, so ist f konstant.

Beweis. Wir können ohne Einschränkung annehmen, dass die zwei komplexen Zahlen, dienicht im Bild von f liegen, gerade 0 und 1 sind,

denn: Wenn a und b zwei verschiene komplexen Zahlen sind, die nicht im Bild von f liegen,dann nimmt die ganze Funktion

f (z)− ab− a

die Werte 0 und 1 nicht an. #

Nach Lemma 9.8 gibt es dann eine ganze Funktion g mit

f (z) = − exp(πi cosh(2g(z))) für alle z ∈ C.

Nach Lemma 9.9 gibt es keine offene Kreisscheibe von Radius 1, die ganz im Bild g(C) enthal-ten ist.

Nehmen wir nun an, f wäre nicht konstant. Dann wäre auch g nicht konstant, so dass es einenPunkt z0 ∈ C gäbe mit g′(z0) 6= 0. Wir können hierbei ohne Einschränkung z0 = 0 annehmen,

denn: Offensichtlich erfüllte die Funktion g(z+ z0) die Bedingung g′(0) 6= 0 und hätte ebenfallskeine offene Kreisscheibe von Radius 1 im Bild. #

Wir können aber auch das Korollar von Proposition 9.7 auf g anwenden. Dieses besagt, dassfür ein beliebiges R ∈ R>0 die Menge g(UR(0)) eine offene Kreisscheibe von Radius R |g′(0)| Lenthält. Insbesondere enthält g(C) eine offene Kreisscheibe von Radius 1, was ein Widerspruchzur Annahme ist, f wäre nicht konstant.

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151 Kapitel 9. Bildbereiche holomorpher Funktionen

9.3 Der Satz von Schottky (?)

Satz 9.11 (SCHOTTKY91). Seien α ∈ (0, ∞) und β ∈ [0, 1) beliebig. Dann gibt es eine KonstanteC(α, β) ∈ R>0 mit folgender Eigenschaft: Ist D′ ein Elementargebiet, das den Abschluss E der offenenEinheitskreisscheibe E enthält, und f : D′ → C eine holomorphe Funktion, welche die Werte 0 und 1nicht annimmt und außerdem | f (0)| ∈ (0, α] erfüllt, so gilt

| f (z)| ≤ C(α, β) für alle z ∈ Uβ(0).

Beweis. Haben wir den Satz für ein festes α0 ∈ (0, ∞) gezeigt, so folgt er offensichtlich für alleα ∈ (0, α0]. Es genügt daher ohne Einschränkung, wenn wir den Satz für α ∈ (2, ∞) zeigen.Den eigentlichen Beweis erledigen wir, indem wir zwei Fälle getrennt studieren.

Fall 1: | f (0)| ∈ [ 12 , α].92 Wir verwenden die Notation aus dem Beweis von Lemma 9.8. Das

heißt, zu unserer gegebenen Funktion f betrachten wir

� eine Funktion h : D → Cmit f (z) = eh(z) auf ganz D,

� Funktionen Q1 : D → C und Q2 : D → Cmit

h(z) = 2πi Q1(z)2 = 2πi (Q2(z)2 + 1) für alle z ∈ D,

� eine Funktion H : D → Cmit H(z) = Q1(z)−Q2(z) auf ganz D,

� eine Funktion g : D → Cmit H(z) = eg(z) auf ganz D.

Die Funktionen h und g sind hierbei offensichtlich nur bis auf Addition ganzzahliger Vielfachervon 2πi eindeutig gewählt. Für unseren Beweis wählen wir die Normierungen93

−π < Im(h(0)) ≤ π und − π < Im(g(0)) ≤ π. (9.4)

Auch die Quadratwurzeln Q1 und Q2 sind nicht eindeutig, es gibt hier jeweils zwei Wahlen,die sich nur um das Vorzeichen unterscheiden. Für H ergeben sich so vier Möglichkeiten, vondenen wir aber keine besondere auswählen.

Wir wollen uns als erstes eine Abschätzung für den Betrag |g(0)| herleiten. Unter Ausnutzungvon | f (0)| ∈ [ 1

2 , α] und α ≥ 2 liefert uns die Normierung (9.4)

|h(0)| = | log | f (0)|+ i Arg( f (0))|≤ | log | f (0)||+ |Arg( f (0))|≤ max{log(2), log(α)}+ π

= log(α) + π

=: 2π C0(α).

(9.5)

91Friedrich Schottky (1851-1935)92An dieser Stelle benötigen wir α ≥ 1

2 . In (9.5) werden wir sehen, warum wir sogar α ≥ 2 vorausgesetzt haben.93Wir können ungenau

h(z) = log( f (z)) = log | f (z)|+ i arg ( f (z)) für alle z ∈ D

schreiben. Dann bedeutet unsere Normierung von h, dass wir für z = 0 den Hauptwert des Arguments auswählenund die Funktion h stetig fortsetzen. Das Analoge gilt natürlich für die Normierung von g.

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9.3. Der Satz von Schottky (?) 152

Dies können wir benutzen, um eine Abschätzung des Betrags von |H(0)| zu bekommen. Wiruntersuchen dabei alle vier Möglichkeiten für H gleichzeitig.

| ±Q1(0)±Q2(0)| ≤ |Q1(0)|+ |Q2(0)|

=

(|h(0)|

) 12

+

(|h(0)− 2πi|

) 12

≤(|h(0)|

) 12

+

(|h(0)|

2π+ 1) 1

2

≤ C0(α)12 +

(C0(α) + 1

) 12

=: C1(α).

(9.6)

Analog zu (9.5) erhalten wir schließlich die gesuchte Abschätzung von |g(0)|. Es gilt

|g(0)| ≤{

log |H(0)|+ π falls |H(0)| ≥ 1,− log |H(0)|+ π falls |H(0)| < 1

=

{log |Q1(0)−Q2(0)|+ π falls |H(0)| ≥ 1,log |Q1(0) + Q2(0)|+ π falls |H(0)| < 1

(9.6)≤ log(C1(α)) + π

=: C2(α),

(9.7)

wobei wir für das zweite Gleichheitszeichen wieder den Trick mit der 3. binomischen Formelaus (9.3) angewendet haben.

Unser nächstes Ziel ist eine Abschätzung für den Betrag |g(z0)|, wenn z0 ∈ E beliebig ist. Seidafür C das durch γ(t) = tz0 mit t ∈ [0, 1] parametrisierte Geradenstück. Dann gilt

|g(z0)| ≤ |g(0)|+ |g(z0)− g(0)|(9.7)≤ C2(α) +

∣∣∣∣∫C

g′(z)dz∣∣∣∣

≤ C2(α) + |z0| maxz∈γ([0,1])

|g′(z)|.

(9.8)

Wir benötigen also eine Abschätzung für |g′(z)|mit z ∈ E. Sei dafür z1 ∈ E fest gewählt. Dannenthält das Bild g

(U1−|z1|(z1)

)⊆ g(E) nach dem Korollar von Proposition 9.7 eine offene Kreis-

scheibe von Radius (1− |z1|) · |g′(z1)| · L.94 Andererseits enthält das Bild g(E) nach Lemma 9.9keine offene Kreisscheibe von Radius 1. Es folgt

|g′(z1)| <1

(1− |z1|) Lfür alle z1 ∈ E.

Setzen wir dies in (9.8) ein, so erhalten wir

|g(z0)| ≤ C2(α) +|z0|

(1− |z0|) L.

94Dafür wenden wir das Korollar auf die um z1 verschobene Funktion g(z + z1) an.

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153 Kapitel 9. Bildbereiche holomorpher Funktionen

Offensichtlich ist die rechte Seite dieser Abschätzung monoton in |z0|. Setzen wir also für einβ ∈ [0, 1)

C3(α, β) := C2(α) +β

(1− β) L,

so folgt|g(z)| ≤ C3(α, β) für alle z ∈ Uβ(0).

Es gilt abschließend für diesen Fall

| f (z)| = | exp(πi cosh(2g(z)))|≤ exp(π | cosh(2g(z))|)≤ exp(π e2|g(z)|)

≤ exp(π e2C3(α,β))

=: C4(α, β).

Fall 2: 0 < | f (0)| < 12 . Dann gilt

12< 1− | f (0)| ≤ |1− f (0)| ≤ 1 + | f (0)| < 3

2,

die Funktion (1− f ) genügt also den Bedingungen von Fall 1 mit α = 32 . Es gilt also

|1− f (z)| ≤ C4(3

2, β)

für alle z ∈ Uβ(0),

und | f (z)| ist für alle z ∈ Uβ(0) durch 1 + C4(32 , β) beschränkt.

In Zusammenfassung von Fall 1 und Fall 2 folgt der Satz mit

C(α, β) := max{

C4(α, β), 1 + C4(3

2, β)}

.

Korollar. Seien R ∈ (0, ∞), α ∈ (0, ∞), β ∈ [0, 1) reelle Zahlen. Sei weiter f : RD′ → C eineholomorphe Funktion, welche die Werte 0 und 1 nicht annimmt und der Bedingung | f (0)| ∈ (0, α]erfüllt. Dann gilt

| f (z)| ≤ C(α, β) für alle z ∈ URβ(0),

wobei C(α, β) die Konstante aus dem Satz von Schottky 9.11 bezeichne.

Beweis. Man wende den Satz von Schottky 9.11 auf die Funktion f (Rz) an.

Der Satz von Schottky (und auch sein Korollar) liefert Folgen von Funktionen, die auf offenenKreisscheiben in E gleichmäßig beschränkt sind. Nach dem Satz von Montel 8.8 hat jede solcheFolge eine auf kompakten Teilmengen gleichmäßig konvergente Teilfolge. Diese Anwendungdes Satzes von Schottky wird uns im nächsten Abschnitt für den Beweis des Großen Satzes vonPicard von Nutzen sein.

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9.4. Der Große Satz von Picard (?) 154

9.4 Der Große Satz von Picard (?)

Bevor wir den Großen Satz von Picard beweisen können, wollen wir noch einige Begriffe defi-nieren.

Definition 9.12. Eine Familie F von Funktionen auf einer offenen Teilmenge D ⊆ C heißt lokalgleichmäßig beschränkt, wenn es für jedes z0 ∈ D eine offene Umgebung U ⊆ D und ein C > 0 gibtmit

| f (z)| < C für alle z ∈ U und alle f ∈ F .

Definition 9.13. Sei D ⊆ C offen.

(a) Genau dann heißt eine Folge ( fn)n∈N von Funktionen fn : D → C kompakt konvergent, wenn( fn)n∈N auf D punktweise konvergiert und die Konvergenz auf jeder kompakten Teilmenge vonD gleichmäßig ist.

(b) Genau dann heißt eine Folge ( fn)n∈N von Funktionen fn : D → C kompakt divergent, wennes für jede kompakte Teilmenge K ⊆ D und jedes C > 0 ein N ∈ N gibt mit

| fn(z)| > C für alle n > N und alle z ∈ K.

(c) Eine Familie F von auf D holomorphen Funktionen heißt normal, wenn jede Folge in F einekompakt konvergente Teilfolge besitzt.

(d) Eine Familie F von auf D holomorphen Funktionen heißt fast normal, wenn jede Folge in Feine kompakt konvergente oder eine kompakt divergente Teilfolge besitzt.

In dieser Sprache lässt sich der Satz von Montel 8.8 wie folgt verallgemeinern.

Lemma 9.14 (Satz von Montel). Sei D ⊆ C offen. Dann ist jede lokal gleichmäßig beschränkte FamilieF auf D holomorpher Funktionen normal.

Beweis. Wir setzenS := {z ∈ D | Re(z), Im(z) ∈ Q}

und wählen eine Abzählung s1, s2, . . . von S.

Für eine beliebige Folge ( fn)n∈N in F gibt es nach Voraussetzung eine offene Umgebung U1 ⊆D von s1, in der ( fn|U1)n∈N beschränkt ist. Nach dem Satz von Montel 8.8 gibt es daher eineauf U1 kompakt konvergente Teilfolge ( f1n)n∈N von ( fn)n∈N. Iterativ erhalten wir so eine auf⋃M

m=1 Um kompakt konvergente Teilfolge ( fmn)n∈N von ( fn)n∈N.

Die Diagonalfolge ( fnn)n∈N konvergiert dann kompakt auf⋃∞

n=1 Un und wegen der Dichtheitvon S in D somit auf ganz D. Das zeigt die Normalität von F und somit die allgemeinereFormulierung des Satzes von Montel.

Eine unmittelbare Anwendung ist das folgende für den Beweis des Großen Satzes von Picardwichtige Ergebnis.

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155 Kapitel 9. Bildbereiche holomorpher Funktionen

Satz 9.15 (Satz von Montel-CARATHÉODORY95). Sei D ⊆ C ein Gebiet und

F := { f : D → C holomorph | f (z) 6= {0, 1} für alle z ∈ D}.

Dann ist F fast normal.

Beweis. Für ein festes z0 ∈ D definieren wir

F1 := { f ∈ F | | f (z0)| ≤ 1} und F2 := { f ∈ F | | f (z0)| > 1}.

Wir werden zeigen, dass F1 normal und F2 fast normal ist.

Zum Beweis der ersten Aussage langt es nach dem Satz von Montel 9.14 die lokal gleichmä-ßige Beschränktheit von F1 zu zeigen. Sei dazu w0 ∈ D beliebig und C eine Kurve in D mitAnfangspunkt z0 und Endpunkt w0. Eine solche Kurve gibt es,

denn: Als Gebiet ist D zusammenhängend und offen. Offene Teilmengen in C ∼= R2 sind lokalwegzusammenhängend, da mit jedem Punkt auch eine (konvexe) offene Kreisscheibe enthaltenist. Eine zusammenhängende und lokal wegzusammenhängende Menge ist aber auch wegzu-sammenhängend. #

Wir wählen nun Punkte z0, z1, . . . , zk−1, zk = w0 auf dem Graphen von C und geeignete Umge-bungen Dκ := Urκ (zκ) mit κ ∈ {0, . . . , k}, für die die folgenden Bedingungen gelten.

(i) zκ−1, zκ ∈ Dκ−1∪ Dκ für alle κ ∈ {1, . . . , k},

(ii) Dκ ⊆ D für alle κ ∈ {0, . . . , k}.

Abbildung 9.2: Nach Konstruktion liegt also jedes zκ nicht nur in Dκ sondern auch in Dκ−1 undDκ+1, falls es diese gibt.

95Constantin Carathéodory (1873-1950)

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9.4. Der Große Satz von Picard (?) 156

Solche Punkte und Umgebungen gibt es,

denn: Der Graph einer Kurve ist als stetiges Bild eines kompakten Intervalls selbst wieder kom-pakt. Nach Lemma 4.22 gibt es also eine Lebesguezahl r ∈ R>0, so dass für alle Punkte z aufdem Graphen die offenen Umgebungen Ur(z) ganz in D liegen. Im vorliegenden Fall wählenwir dann rκ := r

2 für alle κ ∈ {0, . . . , k} um Bedingung (ii) zu erfüllen und setzen k so groß,dass auch Bedingung (i) gilt. #

Für ein beliebiges f ∈ F1 gilt | f (z0)| ≤ 1. Wir können daher auf die Funktion f und das GebietD0 das Korollar des Satzes von Schottky 9.11 anwenden96 und erhalten

| f (z)| < C(1, r0) =: C0 für alle z ∈ D0.

Nach Konstruktion liegt nun z1 in D0. Nach dem eben Gezeigten gilt also | f (z1)| < C0, so dasswir erneut das Korollar des Satzes von Schottky anwenden können, diesmal auf die Funktionf und das Gebiet D1. So erhalten wir

| f (z)| < C(C0, r1) =: C1 für alle z ∈ D1.

Sukzessiv erhalten wir schließlich

| f (z)| < C(Ck−1, rk) =: Ck für alle z ∈ Dk.

Wegen w0 ∈ Dk und der Beliebigkeit von f ∈ F1 haben wir die gleichmäßige Beschränktheitvon F1 in einer offenen Umgebung von w0 gezeigt. Da auch w0 ∈ D beliebig gewählt war, folgtdie lokal gleichmäßige Beschränktheit und nach dem Satz von Montel 9.14 auch die Normalitätvon F1.

Wir wollen nun die zweite Aussage zeigen, dass nämlich F2 fast normal ist. Sei dazu ( fn)n∈Neine Folge in F2. Dann ist offenbar (1/ fn)n∈N eine Folge in F1. Wegen der Normalität von F1gibt es eine Teilfolge von (1/ fn)n∈N, die kompakt gegen eine holomorphe Funktion f : D → C

konvergiert. Jede der Funktionen 1/ fn ist nullstellenfrei, da ja die Funktionen fn holomorphsind. Nach dem Satz von Hurwitz 7.13 ist also entweder f ebenfalls nullstellenfrei oder kon-stant Null auf D. Wegen der kompakten Konvergenz von (1/ fn)n∈N gibt es eine Teilfolge von( fn)n∈N, die kompakt divergiert (falls f die Nullfunktion ist) oder kompakt gegen 1/ f =: fkonvergiert (falls f nullstellenfrei ist). Es folgt, dass F2 fast normal ist.

Damit ist der Satz bewiesen, denn jede Folge in F hat eine Teilfolge in F1 oder in F2.

Satz 9.16 (Großer Satz von Picard). Sei D ⊆ C offen und f : D → C holomorph mit einer wesent-lichen Singularität in z0 ∈ C. Dann nimmt f in jeder Umgebung von z0 in D jeden Wert in C mithöchstens einer Ausnahme unendlich oft an.

Beweis. Wir nehmen nun an, es gäbe eine Umgebung U ⊆ D von z0, in der f mehr als nur einenWert in C nicht annähme, und wollen dies zum Widerspruch führen. Ohne Einschränkung

96Hierfür benötigen wir r0 < 1. Da wir r0 jederzeit kleiner wählen dürfen, ist das aber kein Problem. Dasselbetrifft auf die folgenden Anwendungen des Korollars des Satzes von Schottky und die Abschätzungen der rκ mitκ ∈ {1, . . . , k} zu.

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157 Kapitel 9. Bildbereiche holomorpher Funktionen

dürfen wir dabei annehmen, dabei gälte z0 = 0, und die nicht angenommenen Funktionswertewären 0 und 1,

denn: Anstelle von f (z) betrachten wir f (z− z0) für die erste Annahme und, analog zum Beweisdes Kleinen Satzes von Picard 9.10, f (z)−a

b−a für die zweite Annahme, wobei hier a, b die von fnicht angenommenen Funktionswerte bezeichnen. #

Desweiteren können wir ohne Einschränkung annehmen, U wäre von der Gestalt U = Ur(0)mit einem kleinen r > 0 und ersetzen sonst U durch eine solche punktierte Kreisscheibe in U.Wir definieren nun eine Folge ( fn)∞

n=1 von Funktionen durch

fn(z) = f (zn) für alle z ∈ U.

Die fn sind wohldefiniert, da mit z auch jedes zn mit n ≥ 1 in U liegt, und nach Annahme nähme

keine der Funktionen fn die Werte 0 und 1 an. Es folgte, dass die Folge ( fn)∞n=1 in der Familie

F := { f : U → C holomorph | f (z) 6= {0, 1} für alle z ∈ U}

läge, so dass wir den Satz von Montel-Carathéodory 9.15 anwenden könnten. Nach diesemgäbe es eine Teilfolge ( fnk)k∈N, die kompakt divergiert oder kompakt gegen eine holomorpheFunktion g : U → C konvergiert. In beiden Fällen werden wir im Folgenden einen Wider-spruch herleiten.

Im Falle der kompakten Divergenz gälte

limk→∞

f (z

nk) = lim

k→∞fnk(z) = ∞ für alle z ∈ U.

Da für alle z ∈ U die Folge ( znk) für k gegen unendlich gegen 0 konvergiert, wäre dann z = 0

eine Polstelle von f , was unserer Voraussetzung widerspricht, die Singularität dort sei wesent-lich.

Im Falle der kompakten Konvergenz setzen wir

K := {z ∈ U | |z| = r2} und C := max

z∈K|g(z)|.

Da K kompakt ist, konvergierte ( fnk)k∈N auf K gleichmäßig gegen g. Es gäbe also ein k0 ∈ N,für das

| fnk(z)− g(z)| ≤ C für alle k > k0 und alle z ∈ K

gälte. Es folgte∣∣∣∣ f ( znk

)

∣∣∣∣ = | fnk(z)| ≤ | fnk(z)− g(z)|+ |g(z)| ≤ 2C für alle k > k0 und alle z ∈ K.

Das ist äquivalent zu

| f (z)| ≤ 2C für alle z ∈ U r2nk

(0) mit k > k0.

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9.4. Der Große Satz von Picard (?) 158

Die Funktion f wäre folglich in einer punktierten Umgebung von z = 0 beschränkt und hättedort somit eine hebbare Singularität, was unserer Voraussetzung widerspricht, die Singularitätdort sei wesentlich.

Wir haben nun gezeigt, dass f in einer beliebigen Umgebung einer wesentlichen Singularitätz0 jeden bis auf möglicherweise einen Wert aus C annimmt. Es bleibt noch zu zeigen, dass jederdieser Werte unendlich oft angenommen wird. Nehmen wir also an, es gäbe einen Wert, dervon f in einer Umgebung U von z0 nur endlich oft angenommen wird und einen weiteren, derdort von f ebenfalls nur endlich oft oder sogar gar nicht angenommen wird. Dann wären dieStellen in U, an denen diese Werte angenommen werden, isoliert, und wir könnten in U eineUmgebung von z0 bestimmen, in der beide Werte gar nicht angenommen werden, was nichtsein kann.

Bemerkung 9.17. Sei D ⊆ C offen und f : D → C holomorph mit einer wesentlichen Singularität inz0 ∈ C. Der Satz von Casorati-Weierstraß 6.11 besagt, dass für eine beliebige offene Umgebung U vonz0 das Bild f (U) dicht in C ist. Der Große Satz von Picard 9.16 verschärft diese Aussage dazu, dassCr f (U) höchstens ein Element enthält. Das Beispiel

D = Cr {0}, f (z) = e1/z und z0 = 0

zeigt, dass sich diese Aussage nicht verbessern lässt, denn es gilt bekanntlich f (z) 6= 0 für alle z ∈ D.

Wenden wir den Großen Satz von Picard 9.16 nun auf ganze Funktionen an, so erhalten wireine Aussage in der Form des Kleinen Satzes von Picard 9.10.

Satz 9.18 (Satz von Picard). Sei f eine ganze Funktion, die nicht durch ein Polynom gegeben ist. Dannnimmt f mit einer möglichen Ausnahme jeden Wert in C unendlich oft an.

Beweis. Wie wir schon in Abschnitt 6.3 eingesehen haben, hat f in z = ∞ eine wesentlicheSingularität. Nach dem Großen Satz von Picard 9.16 folgt somit, dass f mit einer möglichenAusnahme jeden Wert in C unendlich oft annimmt.