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Rationale Heuristik Die Funktion der Kritik im ,,Contexv of Discovery" KLAUS FISCHER Summary As a logical consequence of recent developments in the philosophy of science the concept of rationality has lost much of its impact. It seems that the rationality of methodological decisions in science can be defined no longer in an absolute sense but only in relation to a given context and in hindsight. This failure of methodology in assessing once and for all the rights and wrongs of scientific decisions is taken as a clue for reanalyzing the strategical intervention-points of methodological norms. It is shown that relativism and irrationalism are to be avoided by not cutting the process of scientific investigation into intrinsically different portions: context of justification and context of discovery. This dichotomy opens a logical and psychological gap between different stages of scientific evolution that the idea of comparing factual contents or degrees of justification is no longer able to bridge. In two case studies, the development of modern science in the 16th and 17th centuries and the development of special and general realtivity it is shown that the dichotomy is inherently implausibel. But if it is possible to analyze the context of justification (criticism) and the context of discovery in same terms, the logical (and psychological) chain of reasoning is closed. This problem-shift defies both irrationalism and relativism and leads to a different view of scientific progress as an increase of information-processing capacity that can be measured by a certain set of indicators radically different from the received one. 1. DIE RENAISSANCE DES ENTDECKUNGSZUSAMMENHANGS In seinem ,,Dialog tiber Einw~inde gegen die Relativit~itstheorie" l~,iflt Einstein den ,,Kritikus" einleitend bemerken, er wisse wohl, ,,daft Kritik nicht selten den Mangel an eigenen Gedanken zum Vater hat". 1 Dies war als Entschuldigung gemeint. Folgt man den methodischen Rege!n der neueren Wissenschaftstheorie, so war diese Entschuldigung iiberfliissig - nicht mehr als eine Geste der H6flichkeit oder ein Zeichen der Anerkennung. Seit den Tagen des Logischen Empirismus sind die Bereiche des ,,context of discovery" und des ,,context of justification" (bei Popper sinngem~ifl: ,,context of criticism") streng getrennt. Eine Entdeckung, die Erfindung einer neuen Theorie sind im Lichte der Methodologie nicht als ,,rational" rekonstruierbar. Sic sind mentale Episoden, Aha-Erlebnisse, deren Untersuchung eine Sache der Psychologie ist.2 Wissen- 1 A. Einstein, in: Die Naturwissenschaften 6 (1918), S. 102. 2 Der Einwand driingte sich auf, daft diese Auffassung im Kern nichts anderes ist als eine Ubertragung alter biologischer Theorien yon der spontanen Entstehung der Arten auf die Ebene ihrer symbolischen Prodnkte. Warum sic in ihrem neuen Anwendungsbereiche erfolgreicher sein soHen als im urspriinglichen, ist eine Frage, die an die Vertreter der Kontextdichotomie zu rlchten wiire. Im Unterschied zur urspriinglichen biologischen Auffassung handek es sich bei der Zeitschrift fiir allgemeine Wissenschaftstheorie XIV/2 (1983) © Franz Steiner Verlag GmbH, D-6200 Wiesbaden

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Rationale Heuristik

Die Funktion der Kritik im ,,Contexv of Discovery"

KLAUS FISCHER

Summary

As a logical consequence of recent developments in the philosophy of science the concept of rationality has lost much of its impact. It seems that the rationality of methodological decisions in science can be defined no longer in an absolute sense but only in relation to a given context and in hindsight.

This failure of methodology in assessing once and for all the rights and wrongs of scientific decisions is taken as a clue for reanalyzing the strategical intervention-points of methodological norms. It is shown that relativism and irrationalism are to be avoided by not cutting the process of scientific investigation into intrinsically different portions: context of justification and context of discovery. This dichotomy opens a logical and psychological gap between different stages of scientific evolution that the idea of comparing factual contents or degrees of justification is no longer able to bridge. In two case studies, the development of modern science in the 16th and 17th centuries and the development of special and general realtivity it is shown that the dichotomy is inherently implausibel. But if it is possible to analyze the context of justification (criticism) and the context of discovery in same terms, the logical (and psychological) chain of reasoning is closed. This problem-shift defies both irrationalism and relativism and leads to a different view of scientific progress as an increase of information-processing capacity that can be measured by a certain set of indicators radically different from the received one.

1. DIE RENAISSANCE DES ENTDECKUNGSZUSAMMENHANGS

In seinem ,,Dialog tiber Einw~inde gegen die Relativit~itstheorie" l~,iflt Einstein den ,,Kritikus" einleitend bemerken, er wisse wohl, ,,daft Kritik nicht selten den Mangel an eigenen Gedanken zum Vater hat". 1 Dies war als Entschuldigung gemeint.

Folgt man den methodischen Rege!n der neueren Wissenschaftstheorie, so war diese Entschuldigung iiberfliissig - nicht mehr als eine Geste der H6flichkeit oder ein Zeichen der Anerkennung. Seit den Tagen des Logischen Empirismus sind die Bereiche des ,,context of discovery" und des ,,context of justification" (bei Popper sinngem~ifl: ,,context of criticism") streng getrennt. Eine Entdeckung, die Erfindung einer neuen Theorie sind im Lichte der Methodologie nicht als ,,rational" rekonstruierbar. Sic sind mentale Episoden, Aha-Erlebnisse, deren Untersuchung eine Sache der Psychologie ist. 2 Wissen-

1 A. Einstein, in: Die Naturwissenschaften 6 (1918), S. 102. 2 Der Einwand driingte sich auf, daft diese Auffassung im Kern nichts anderes ist als eine

Ubertragung alter biologischer Theorien yon der spontanen Entstehung der Arten auf die Ebene ihrer symbolischen Prodnkte. Warum sic in ihrem neuen Anwendungsbereiche erfolgreicher sein soHen als im urspriinglichen, ist eine Frage, die an die Vertreter der Kontextdichotomie zu rlchten wiire. Im Unterschied zur urspriinglichen biologischen Auffassung handek es sich bei der

Zeitschrift fiir allgemeine Wissenschaftstheorie XIV/2 (1983) © Franz Steiner Verlag GmbH, D-6200 Wiesbaden

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schaftliche Methode besteht nach dieser Auffassung einzig in der Rechtferti- gung von Theorien durch Induktion, bzw. ihrer Kritik (Falsifikation) durch deduktive Schlui~weisen. Alles andere ist ,,Heuristik" und als solche in das Belieben des einzelnen gestellt. Die faktische Kontinuit~it und der reate Zusammenhang von Innovation und Kritik wird auf diese Weise in zwei inkommensurable Bereiche zerrissen, fiir deren Begriindung die angebliche Rationalit~itsliicke im Akte der Erfindung herhalten mug. Alle Versuche der Wissenschaftstheoretiker yon Whewell bis Holton, eine Geschichte wissen- schaftlicher Innovationen zu schreiben, die diese als verniinftige Entscheidun- gen unter den gegebenen Randbedingungen erscheinen lassen, w~iren somit miit~ige Glasperlenspiele, Vergeudung von Energien und Ressourcen - aus einer simplen Verkennung der Natur des Entdeckungszusammenhangs her- riihrend.

Wie alle sofort einleuchtenden Dogmen, so zeichnet auch dieses sich vor allem durch zwei Merkmale aus : Z~lebigkeit und Sch~idlichkeit. Die Degene- ration der Wissenschaftstheorie yon der ,,Wissenschaftlichen Weltauffassung" des Wiener Kreises zur weltanschaulichen Wissenschaft Feyerabends ist reale Wirkung und logische Folge der methodischen Dichotomisierung yon Entdek- kung und Kritik und des Verzichts auf eine metatheoretische Analyse von Prozessen wissenschaftlicher Innovation.

Bei n~iherem Hinsehen wird sofort klar, daft die Dichotomie nur haltbar ist, wenn Kritik (bzw. Rechtfertigung) einer Theorie logisch und psychologisch unabh~ingig sind vom Weg ihrer Erfindung, oder - anders gewendet - wenn Forschungspsychologie und Forschungslogik sich nicht nut nicht widerspre- chert k/Snnen, sondern inkommensurabel sind. Unabh~ingig davon stellt sich die weiterreichende Frage, welche Merkmale Erkenntnislogik hat, die sie vor Erkennmispsychologie auszeichnen. Man ist geneigt, an Russels Aphorismus anzukniipfen, daft Mathematik, sofern sie sich auf Wirklichkeit bezieht, nicht sicher sei, und dai~ sie - soweit sicher - sich eben nicht auf Wirklichkeit bezieht. Die Analogie gilt, wenn man statt ,,Mathematik" ,,Wissenschaftslo- gik" und an Stelle yon ,,Wirklichkeit" ,,Wissenschaft" setzt. Die Idee einer Logik der Forschung w~ire somit nichts anderes als die Fortsetzung des alten platonischen Traumes einer,,prima philosophia", die sicherer w~ire als die Wissenschaft. Doch wie kann man eine Wissenschaft fordern, die sich auf Reales bezieht - n~imlich auf Wissenschaft - und die gleichzeitig sicherer ist als diese ? Man erhielte den togischen Widerspruch, es gebe eine Wissenschaft, die sicherer sei als sie selbst. Die bisherige Wissenschaftstheorie - Popper eingeschlossen - nimmt den Satz, daf~ es kein synthetisches Apriofi gibt, nicht ernst) Rorty: ,,Ihr k6nnt Psychologie haben oder gar nichts. ''4

Emergenztheorie wissenschaftlicher Innovationen nicht einmal um eine begr/indete Annahme, sondern nur um eine ,Hatzhalterhypothese" zur Ausffillung von Leerstellen im Erkl'~ungszu- sammenhang.

3 Popper beispielsweise begeht den Fehler, seine Definition von ,,Falsifikation" zugleich als Antwort auf die Frage nach dem Kriterium ffir ,,Falschheit" zu nehmen. Der Irrtum besteht darin, daf~ das erste eine rein logische Angelegenheit bleibt, w~ihrend im zweiten Fall etwas fiber die Wirklichkeit behauptet wird. Zu wissen, wann eine Theorie widerlegt ist, hat mit der schwierigen

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Die Idee einer Logik der Entdeckung ist auch w~arend der Vorherrschaft der Emergenztheorie wissenschaftlicher Innovationen niemals v611ig ver- schwunden, s Daft vor allem die Fachwissenschaftler niemals davon zu iiberzeugen waren, Erfindungen und Entdeckungen als zuf~illige, rationale nicht erkl~irbare Gestaltwandel der Wahrnehmung anzusehen, ist eher ein Indiz fiir Praxisferne und fehlendes Beurteilungsverm6gen der Wissenschafts- logiker als fiir einen Mangel an methodischer Kenntnis seitens der Realwissen- schaften. In seinem Nachruf auf Ernst Mach schrieb Einstein: ,,Wie kommt aber ein ordentlich begabter Naturforscher i~berhaupt dazu, sich um Erkennt- nistheorie zu kiimmern ? Gibt es nicht in seinem Fache wertvollere Arbeit ?,,6 Obwohl Einstein dieser Ansicht sofort mit dem Hinweis widersprach, daft gerade die hervorragendsten Wissenschaftler immer auch stark an methodi- schen und forschungsethischen Fragen interessiert sind, so zeigte sich doch schon damals dreierlei" 1. Allgemein war unter Fachwissenschaftlern der Eindruck vorherrschend, man habe yon den professionellen Erkenntnistheoretikern und Methodologen nichts zur LSsung der eigenen Probleme zu erwarten. 2. Abgesehen von der kleinen Elite der Spitzenforscher iibertrug man diese Meinung auch auf Methodologie und Wissenschaftslehre als solche. 3. Die Vertreter der Elite, die ,,frontier scientists" wuflten, daf~ methodische und philosophische Erw~igungen bei Entscheidungen in unerwarteten Situatio- nen, bei der Bewertung neuentdeckter Effekte, neuer Experimente und neuer Hypothesen stets eine Rolle spielten. Aber sie waren gezwungen, ihre eigenen Metatheoretiker zu sein.

Heute - nach einem halben Jahrhundert intensiver wissenschaftstheoreti- scher Forschung - erscheint die Lage, abgesehen von gewissen modischen, faktisch jedoch wenig wirksamen Ausschl~igen in einigen Sozialwissenschaften, im wesentlichen unver~indert. Die Behauptung ist kaum iibertrieben, daft die Wissenschaftstheorie ihr Ziet, die Entwicklung einer anwendungsreifen, praxisleitenden Logik der Forschung - programmatisch eingegrenzt auf den Bereich der Priifung, Bew~ihrung und Kritik spontan erzeugter Theorie - verfehlt hat. Aus der Not eine Tugend zu machen und als einzigen methodi- schen Grundsatz die Nichtexistenz irgendeines Grundsatzes zu behaupten (Feyerabend), mag als Resultat der bisherigen Entwicklung seine Schliissigkeit

Aufgabe, sie real scheitern zu lassen, nichts zu tun. Ein analoges Problem ergibt sich bekanntlich bei Tarski : Die Definition yon ,,Wahrheit" (,,x" ist wahr dann und nut dann, wenn x) bringt uns der Aufgabe, ,,x" zu verifizieren, um nichts n~her.

4 R. Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophle, Frankfurt 1981, S. 253. Sch/irfer formuliert: ,,Obgleich w~r also Quine vollkommen darin zustimmen kSnnen, daft, wenn iiber das menschliche Erkennen iiberhaupt Entdeckungen zu machen sind, diese wahrscheinlich aus der Psychologie hervorgehen werden, k6nnen wir gleichzeitig mit derAuffassung sympathisie- ren, die Quine Wittgenstein zuschreibt: das einzige, was hinsichtlich der Erkenntnistheorie zu tun ist, ist ,die Heilung der Philosophen vonder Wahnvorstellung, daf~ es erkennmistheoretische Probleme gibt'." (A. a. O., S. 254)

5 Vgl. die Arbeiten yon Krajewski, Hanson, Potya, Medawar. 6 A. Einstein, Ernst Mach, in: Physikalische Zeltschrlft 17 (1916), S. 101.

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haben, dem Fachwissenschaftler hilft es nicht. 7 Und vor allem widerlegt es nicht die Vermutung, daf~ andere Ergebnisse m6glich sind, wenn man die ungepriiften Voraussetzungen der bisherigen metatheoretischen Forschung herausstellt, sic analysiert und den strategischen Ansatzpunkt der Methodolo- gie verlegt - mit anderen Worten: wenn man den gleichen Fleif~ und Scharfsinn, der dem ,,context of criticism" (justification) bisher so erfolglos zuteil wurde, auf den ,,context of discovery" richter, wissenschaftliche T~itigkeit als komplexe Interaktion beider Teile zu konstruieren versucht.

Daft dies nicht wilde Spekulation, sondern begriindete Zuversicht ist, zeigt die Tatsache, dat~ seit wenigen Jahren - abseits vom wahrgenommenen Zentrum wissenschaftstheoretischer Aktivit~it - genau dieses metatheoretische Programm im Entstehen beobachtet werden kann. 8 Ist es erfolgreich, so gewinnt Kritik - bisher auf den Status einer begrenzenden Instanz, eines ,,Falsifikators" beschnitten - einen vrllig neuen, gewichtigeren und konstruk- tiveren Stellenwert: Kritik im context of discovery ist nicht mehr nur Falisfikation des Alten, sondern zugleich Hinweis aufs Neue, bisher Unent- deckte, das die gewohnten Vorstellungen zugleich widerlegt und ersetzt. Nicht mehr Kritik um der blof~en Falsifizierung willen ist gefragt, sondern Kritik als strategisches Mittel fiir Innovation und Entwicklung.

Von Feyerabends Vorschlag, Theorien zu protiferieren, ,,tausend Blumen bliihen zu lassen", um Gesichtspunkte zur Kritik der akzeptierten Vorstellun- gen zu gewinnen, unterscheidet die neue Auffassung sich durch die Gerichtet- heit, der Anisotropie der kritischen T~itigkeit. Bei Feyerabend ist Kritik isotrop: Theorie X kritisiert Theorie Y in gleicher Weise, wie Y X kritisiert. Keine Theorie ist ihrer Konkurrentin objektiv unterlegen - und wenn, so w~ire es nicht mef~bar oder intersubjektiv beweisbar. In der neuen Auffassung hat Kritik eine weitaus komplexere Struktur - eine Struktur allerdings die weder verallgemeinerbar und in mechanisch anwendbare Regeln umsetzbar noch durch rein logische Uberlegungen erschliei~bar ist. Sie ist nicht in abstrakter Form - ,,wissenschaftslogisch" - kodifizierbar, sondern nur ,,in Aktion" sichtbar. 9 Sie zum Vorschein zu bringen, ist Aufgabe empirischer und begrifflicher Analyse geeigneter Perioden derWissenschaftsentwicklung. Nicht nur in den hervorragendsten und anerkanntesten Beispielen grenziiberschrei-

7 Dat~ die Zeit, in der der Miflerfolg der bisherigen Wissenschaftstheorie uniibersehbar wird, mit der Phase ihres grrf~ten 6ffentlichen Ansehens zusaammenf~itlt, ist ein interessantes Beispiel fiir Verz/Sgerungseffekte in Prozessen der Diffusion von Informationen.

8 Siehe: T. Nickles (ed.), Scientific Discovery, Logic and Rationality, Dordrecht 1980; ders. (ed.), Scientific Discovery: Case Studies, Dordrecht 1980; M. D. Grmek/R. S. Cohen/G. Cimino (eds.), On Scientific Discovery, Dordrecht 1981; D. Shapere, Scientific Theories and their Domains, in: F. Suppe (ed.), The Structure of Scientific Theories, Urbana/Chicago/London 1974 (21977); L. Laudan, Progress and its Problems. Towards a Theory of Scientific Growth, Berkeley/ Los Angeles/London 1977; L. Darden/N. Maull, Interfield Theories, in: Philosophy of Science 44 (1977); C. A. Hooker. On Global Theories, in: Philosophy of Science 42 (1975); L. Darden, Reasoning in Scientific Change: Charles Darwin, Hugo de Vries, and the Discovery of Segregation, in: Studies in History and Philosophy of Science 7 (1976), S. 127-69; R. Rorty, Der Spiegel der Natur, op. cit.

9 Ygl. Nicktes, Introduction, in: Nickles (ed.), Scientific Discovery, op. cir., S. XVII.

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tender Wissenschaft wird sie zu linden sein, sondern auch dort, wo die Voraussetzungen globaler Reinterpretation noch nicht geschaffen waren.

Von einem allerdings sollte man Abschied nehmen- und dies ist als Resultat von fiinf Dezennien intensiver metatheoretischer Arbeit vielleicht doch bemerkenswert: die Idee wissenschaftlicher T~itigkeit als eines kontinuierli- chen Prozesses der Anniiherung an die Wahrhek erweist sich als nicht nur unbeweisbar, sondern als nicht einmal logisch explizierbar) ° Im Lichte der neuen Auffassung wird ,,Approximation an Wahrheit" ersetzt durch den abstrakteren und nicht-teleologischen Begriff des ,,Lernens des Lernens". 11 An die Stelle der Akumulation von Wahrheitsgehalt tritt die L6sung von Problemen. n Wie kam es zu dieser Wende?

2. DER ZUSAMMENBRUCH DES IDEALS DER OBJEKTIVEN KRITIK

Der bisherigen Wissenschaftstheorie erschien es stets als paradox und irrational, daft Wissenschaftler ihre Theorien nicht sofort aufgaben, wenn sie ,,falsifiziert" wurden, dat~ heii~t ein der Theorie widersprechender Effekt auftauchte. Diese Anomalie ist im Rahmen einer Theorie des Begriindungszu- sammenhangs nicht erkl~irbar und wiire nach dem Grundsatz der Selbstbeziig- lichkeit ausreichend, den Falsifikationismus selbst zu ,,falsifizieren". Daf~ man diesen Schlufl zun~ichst nicht zog, hat seinen Grund in der Schwierigkeit, den Status der Methodologie selbst zu bestimmen. Wissenschaftstehre kann sich, soll sie die ihr zugedachte Aufgabe erfiillen, offensichtlich nicht darauf beschr~inken, die tats~ichlich beobachteten Entscheidungen in ihrem Objektbe- reich zu beschreiben. Vielmehr hat sie die Aufgabe zu diskriminieren, die Spreu vom Weizen zu trennen, richtige Entscheidungen vor falschen auszu- zeichnen. Das 14eiflt, sie ist vor allem normativ.

Die Schwierigkeiten begannen, als es nicht gelang, F~ille zu finden, die zwei Kriterien erfi]llten: 1. Die Beachtung aller postulierten Normen der Methodologie. 2. Die allgemeine Anerkennung des betreffenden Falles als Beispiel fiir Erkenntnisfortschritt.

Aus dieser Lage gabe es offensichtlich nur zwei Auswege. Zum einen konnte man behaupten, daf~ alle bisherige Wissenschaft nach falschen Grunds~itzen verfahren war, zum zweiten, daft die vorgeschlagene Methode unbrauchbar ist.

10 Siehe: A. Griinbaum, Can A Theory Answer more Questions than one of its Rivals, in: The British Journal for the Philosophy of Science (BJPS) 27 (1976); ders. Is the Method of Bold Conjectures and Attempted Refutations Justifiably the Method of Science ?, in: BJPS 27 (1976); P. Tich~, On Popper's Definition of Verisimilitude, in: BJPS 25 (t974); D. Miller, Popper's Qualitative Theory of Verisimilitude, in: BJPS 25 (1974); Fortsetzungen dieser Diskussion sind zu finden bei Tich~- und Miller. in: BJPS 27 (1976), Tich~, Miller, Tuomela, Mort, Niiniluoto in: Synthese 38 (1978) und bei Niiniluoto, Rosenkrantz und L. J. Cohen in: Synthese 45 (1980).

11 Vgl. D. Shapere, The Character of Scientific Change, in: Nickles op. tit., S. 87ff.; R. M. Burian, Understanding Scientific Discovery, in: a. a. O., S. 323ff.

12 Siehe Laudan, op. cit.

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Der erste Schlu£ h~itte die normative Interpretation der Methodologie zum Extrem getrieben und widersprach aufterdem der nicht zu leugnenden Tatsache, daft die Wissenschaft seit ihrem Beginn in der Vorzeit betr~ichtliche Fortschritte gemacht hat. Da man auch zur v611igen Verwerfung der Methode nicht bereit war - immerhin erschien der Falsifikationismus nach dem Scheitern aller Versuche, eine induktive Logik zu entwickeln, als Gewinn - begann man, die methodologischen Kriterien fiir ad~iquate Entscheidungen so zu liberalisieren, daft sie Ver~inderungen, die allgemein als fortschrittlich bewertet wurden, als ,,rational" auszeichneten und vice versa. Das Problem dabei war, daft gerade die herausragendsten Beispiele yon Erkenntnisfort- schritt allen Versuchen trotzten, sie unter eine allgemeine Regel zu bringen. Man fand, daft Falsifikationen entweder fehlten oder schon lange - ohne daft Konsequenzen daraus gezogen wurden - bekannt waren, und daft sie auch dort, wo sie vorkamen, nicht die Rolle spielten, die die Methodologie ihnen zuschrieb. Aufterdem stiel~ man auf Episoden, in denen sie den Erkenntisfort- schrittt eindeutig behindert hatten, weil nicht die verworfene Hypothese, sondern ein noch unbekannter Faktor fiir den Konflikt zwischen Theorie und Erfahrung verantwortlich war. Hier lag offensichtlich ein Fall vor, in dem Dogmatismus - undenkbar fiir Popper - den Erkennmisfortschritt beschleu- nigt h~itte. Die unmittelbare Konsequenz dieser Entdeckung war, daft Dogma- tismus sichtlich ein Faktor des Erkenntnisfortschritts sein konnte, dem auch in der Methodologie Rechnung zu tragen war. Wollte man aber nicht jede Form yon Starrsinn als ,,rational" auszeichnen - was das Ende jeder Wissenschafts- lehre und auch der wissenschaftlichen T~itigkeit als intersubjektives Unterneh- men bedeutet h~itte -, dann mufte man Limitationsprinzipien sowohl fiir dogmatisches als auch fiir kritisches Verhalten entwickeln. Sehr deutlich wird dies in der ,,Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme", die Lakatos in starker struktureller Anlehnung an Kuhn formulierte. Lakatos hat zwei Prinzipien der Limitation von Kritik bzw. von Dogmatismus: ein zeitliches und ein inhaltliches. In der Phase normaler Entwicklung des Programms ist sein ,,harter Kern" vor Kritik abzuschirmen. Die Last der Verteidigung vor widerspenstigen Fakten tr~igt ein Schutzgiirtel yon Hilfshy- pothesen. Bricht dieser zusammen, dann ist diese Strategie aufzugeben und der harte Kern in die Kritik einzubeziehen, unter Umst~inden sogar aufzugeben und durch einen besseren (ein neues Forschungsprogramm) zu ersetzen. Allerdings gelingt es Lakatos nicht, brauchbare Kriterien fiir den Zeitpunkt anzugeben, zu dem das Forschungsprogramm objektiv degeneriert ist. Es ist niemals auszuschlieften, dat~ es sich wieder erholt, falls eine genfigende Anzahl f~ihiger Wissenschaftler bereit ist, Zeit, Energie und Scharfsinn in die Beseiti- gung der Probleme zu investieren. So kommt es, daft bei Lakatos - ebenso wie zuvor schon bei Kuhn - nicht mehr von Falsifikation im Sinne Poppers die Rede sein kann, sondern nur mehr von einem Konflikt innerhalb eines umfassenden theoretischen Systems, um eine Inkonsistenz, die auf vielfiiltige Weise beseitigt werden kann. Poppers Konventionalismus der Basiss~itze wird in der Methodologie der Forschungsprogramme erg~inzt um einen Konventio- nalismus der ,,harten Kerne" theoretischer Systeme.

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Damit ist nicht nur die Rationalit~itsauffassung Poppers aufgegeben - die Unterscheidung zwischen progressivem und degenerativem Dogmatismus ist, wenn iiberhaupt, nur noch im Nachhinein zu treffen -, sondern auch sein Realismus, nach dem Theorien nicht passable Konventionen, sondern struktu- relle Beschreibungen der Wirklichkeit sind. Es ist plausibel, daf~ Popper selbst die konventionalistische Wendung Lakatos', Kuhns, im Grunde aller seiner einstigen Schiiler, niemals akzeptierte. Allzu deutlich war, daft es auf dieser Bahn keinen Halt mehr gab, Das Falsifikationsprinzip war dem Induktions- prinzip in logischer Hinsicht iiberlegen. Jede Anpassung an die tats~iChliche Entscheidungspraxis aber war im Grunde ad hoc. Wenn man das Prinzip der sofortigen und endgiiltigen Falsifikation in einerWeise zu lockern beabsichtigt, daf~ es alle F~ille, die zum Erfolg fiihrten, positiv, alle anderen, die Mif~erfolge zeitigten, negativ sanktioniert, so hat man anscheinend nur die Wahl, die Vorurteile der Wissenschaftspraxis zu iibernehmen oder Metakriterien voraus- zusetzen, die unabh~ingig vom Falsifikationsprinzip zwischen Fortschritt und Riickschritt diskriminieren k6nnen. Im ersten Fall mangek es an Eindeutig- keit, im zweiten ist der infinite Regref~ unausweichlich. Der Entschtut~ Poppers, jed~ Abweichung vom logischen Prinzip abzulehnen, erscheint daher nicht unplausibel, wenngleich er dazu fiihrte, daft der Wissenschaftslogik der erstrebte Kontakt zur Forschungswirklichkeit versagt blieb. Es ist erstaunlich, daf~ ein Mitglied des Wiener Kreises - Otto Neurath - schon 1935 genau dies voraussagte: ,,Popper versperrt sich den Weg zu voller Wiirdigung der Forschungspraxis und Forschungsgeschichte, denen doch eigentlich sein Buch gewidmet ist, durch eine bestimmte Form des Pseudorationalismus. Er macht n~imlich nicht die Mehrdeutigkeit der Realwissenschaften zur Grundlage seiner Betrachtungen, sondern strebt gewissermaflen in Anlehnung an den Laplace- schen Geist, nach einem einzigen, ausgezeichneten System von S~itzen, als dem Paradigma aller Realwissenschaften . . . . Wir bes t r e i t en , daf~ sich die von e inem Forsche r b e v o r z u g t e Enzyclop~idie mit Hi l fe e iner genere l l s k i z z i e r b a r e n M e t h o d e logisch a u s s o n d e r n liif~t (im Orig. kursiv). ''13 Neurath geht noch weiter. Er behauptet, dat~ es durchaus verniinf- tig sein k6nne, eine gut bew~rte ,,falsifizierende" Hypothese beiseite zu schieben, daft universelle Existenzs~itze - bei Popper als ,,metaphysisch" (- nichtfalsifizierbar) aus der Wissenschaft ausgeklammert - durchaus in dieser ihren Platz haben, und daf~ im Extrem sogar eine Wissenschaft ohne jegliche falsifizierende Experimente - analog der des platonischen H6hlengleichnisses - m6glich sei. Auch die Vorstellung, da~ eine Theorie den Gehalt ihrer Vorgiinger zumindest in Anniiherung enth~ilt, wird von Neurath anhand der Wissenschaftsgeschichte verworfen.

Die Frage stellt sich, warum diese Kritik, die bereits alle wesentlichen Punkte anspricht, an denen man heute das Poppersche Programm gescheitert sieht, im Jahre des Erscheinens der ,,Logik der Forschung" verpuffte. - Die Abkehr vom ,Prinzip der reinen Falsifikation" - ausgel/Sst vor allem durch

15 O. Neurath, Pseudorationalismus der Falsifikation, in: Erkennmis V (1935), S. 353f.

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Kuhns Werk iiber die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 14 - und die nachfolgenden Anpassungsprozesse an die Praxis erfolgreicher Wissenschaft jedenfalls folgten einer Logik, die im Nachhinein als unausweichlich erscheint. Wenn Lakatos die Kriterien zur objektiven Bewertung von Forschungspro- grammen zerflief~en und er die Kompetenz fiir Verwerfung oder F6rderung aus der Hand der beteiligten Forscher nimmt und sie den Herausgebern wissenschaftlicher Zeitschriften, den Lektoren der Verlage und den fiir die Verteilung von Ressourcen verantwortlichen Politikern iibertr~igt, dann ist es zu einem Konventionalismus (nach anderer Lesart: Anarchismus) objektiv gleichberechtigter Forschungsprogramme nur noch ein halber Schritt.

Diesen machte Feyerabend. Ihm gelang es in der Tat, eine Wissenschafts- lehre zu formulieren, die mit dem tats~ichlichen Entscheidungsverhalten der Forscher nicht mehr in Konflikt geraten konnte: Anything goes! Wenn man keine Normen vorschreibt, kann sie keiner verletzen - soviel ist sicher. Sicher ist aber auch, daf~ man dann keine Wissenschaftslehre hat, kein noch so vages Kriterium fiir Wissenschaft iiberhaupt, das diese von beliebigen anderen des Grol~hirn in Mitleidenschaft ziehenden Unternehmen zu unterscheiden vermag.

Die logische Folge einer derartigen Konstellation ist nicht mehr nur Theorierelativismus, sondern Kulturrelativismus. is Wenn keine Theorie und keine kulturelle Tradition der anderen im objektiven Sinne iiberlegen ist, dann ist gegenseitige Kritik sicherlich bis zur Nausea m6glich. Aber sie hat keine (logischen) Folgen mehr. Jedem ist es unbenommen, beliebig scharfe Kritik einfach abzulehnen (,,I don't like it") und den eigenen Standpunkt ohne

14 Hier existiert eine Parallele zu Neurath. Ludwik Fleck hatte bereits 1935 Uberlegungen angestellt, die denen Kuhns in vieler Hinsicht ~nlich sind. Kuhn selbst weist im Vorwort seines Buches auf Flecks Arbeit zur ,,Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache" bin. Das Erstaunliche an diesem Beispiel ist aber, daf~ Flecks Analyse im Lichte der neuesten Tendenzen innerhalb der Wissenschaftstheorie ,,moderner" erscheint als die Kuhns. W~ihrend Kuhn noch an der Entdeckung/Begriindung-Dichotomie festh~ilt und die Erfindung eines neuen Paradigmas nur als ,,Gestaltwandel" beschreiben kann, findet man bei Fleck die Entstehungsge- schichte eines Paradigmas selbst im einzelnen analysiert als Genese von Ordnung aus Amorphie. Auch Approximation an Wahrheit hat in Flecks Theorie keinen Platz: Fleck konstatiert zwar Entwicklung, aber keine Finalit~/t. ,,Man tut iiberhaupt schlecht daran, wenn man . . stilgem~i~e, yon einem ganzen Denkkollektiv anerkannte und mit Nutzen angewandte Anschauungen als ,Wahrheit oder Irrtum' ansprechen will. Sic sind f6rdernd gewesen, sic haben befriedigt. Sie sind iiberholt worden, nicht weil sie falsch waren, sondern weil sich das Denken entwickelt. (Fleck a. a. O., S. 85) . . . Es existiert keine ,Erfahrung an sich', der man zug~nglich oder unzug~inglich sein k6nne. Jedes Wesen erlebt nach seiner Art und Weise. Gegenw~irtige Erlebnisse verkniipfen sich mit friiheren und ver~aadern so die Bedingungen zukiinftiger. Jedes Wesen macht also ,Erfahrungen' in diesem Sinne, daf~ es w~ihrend seines Lebens die Reaktionsweise ~indert. (A. a. O., S. 66) . . . Diese Denkstilver~aaderung - d.h. Ver~derung der Bereitschaft fiir gerichtetes Wahrnehmen - gibt neue Entdeckungsm6glichkeiten und schafft neue Tatsachen." (A. a. O., S. 144).

is Vgl. Feyerabend, Erkennmis fiir freie Menschen, Frankfurt 1979. Seine These der Inkommensurabilit~it yon Theorien (allgemein" Glaubenssystemen) best~kt zwar den Relativis- mus noch, ist fiir ihn aber nicht unentbehrlich. Da Feyerabend in einer seiner neueren Arbeiten die Inkommensurabilit~itsbehauptung betr~ichtlich abschw~icht, soll hier auf ihre Diskussion verzichtet werden. (Vgl. Feyerabend, Changing Patterns of Reconstruction, in: BJPS 28 (1977), S. 351ff.)

242 Klaus Fischer

Verletzung irgendeines Rationalit~itsbegriffs oder einer methodologischen Regel beizubehalten. Dieser Zustand gleicht dem eines eingeschlossenen erhitzten Gases, in dem jeder jeden st6f~t, aber kein gerichteter Druck entsteht, der das System als ganzes vom Fleck bringt. Wir erhalten die paradoxe Situation, dat~ ein Maximum an Kritisierbarkeit -nach MaBgabe der jeweils vertretenen relativen Werte - mit einem Minimum an notwendiger Wirkung konform geht. Zwar ist unter Umst~den die faktische Wirkung betr~ichtlich, weil die Beteiligten Feyerabends Anarchismus nicht kennen, nicht wissen, dab sic objektiv unwiderlegbar sind und psychologische Wirkungen von Kritik mit logischen Konsequenzen'verwechseln. Doch diese M6glichkeit ist fiir die Beurteilung des methodologischen Anarchismus irrelevant, weil sic in ihm keinen systematischen Stellenwert besitzt. Feyerabend ist zweifellos einer der geistreichsten Kritiker des Falsifikationismus aus dessen eigener Schule. Aber auch er steht noch so sehr ,,under the spell of Popper", daB er alles daran setzt zu beweisen, der Falsifikationismus - gleich welcher Spielart - sei ungeeignet zur Erkl~irung der Wissenschaftsentwicklung, um aus seinem Scheitern dann sogleich in unzul~issiger Weise riickzuschlief~en auf das notwendige Versagen jedweder Wissenschaftslehre.

3. KRITIK UND INNOVATION ALS HISTORISCHE PROZESSE

3.1 Emanzipation der autonomen Kritik?: Die wissenschaftliche Revolution der Neuzeit

Die neuzeitliche Wissenschaft hat einen Entstehungsmythos. Nach diesem Mythos gab es einst eine Zeit, in der anstelle des Wissens und der kritischen Uberpriifung blinder Glaube und metaphysische Spekulation herrschten. Nicht L~oereinstimmung von Theorien mit Fakten z~ihlte, sondern Uberein- stimmung von Glauben und verschriebenem Dogma. Erkenntnisfortschritt gab es keinen oder allenfalls auf peripheren Gebieten, die den Glauben nicht gefiihrdeten. Dann kamen die Heroen der neuzeitlichen Vernunft - Koperni- kus, Kepler, Galilei, Descartes, Newton - und vertrieben den Ungeist der Dogmen und des'Glaubens, der die Erkenntnis bisher in Fesseln legte, 6ffneten den Menschen zum ersten Mal die Augen f/ir die Wirklichkeit, wie sie ist. Sic taten dies, indem sie es wagten, alle Glaubensgrunds~itze und metaphysischen Voraussetzungen beiseite zu schieben und die Tatsachen unvoreingenommen so zu analysieren, wie man sie vorfindet.

Dieser Mythos ist von Grund auf schief. Er unterstellt die zeitlose Giiltigkeit einer bestimmten Form menschlichen Erkenntnisstrebens - der ,,neuzeiflichen" - und ignoriert dabei die bekannte Tatsache, dab sowohl die Ziele von Wissenschaft als auch ihre Kriterien auf Entscheidungen beruhen, die sich in aller Regel vom Gesamtzusammenhang des jeweitigen Wissens her bestimmen. Die Trennung von Wissen und Glauben, Erkenntnis und Entschei- dung ist nicht naturgegeben, sondern selbst das Produkt einer bestimmten inhaltlichen Struktur des gesamten Wissenssystems. Der Mythos verkennt

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ferner die zuweilen fortschrittliche Rolle des Dogmas in der modernen Wissenschaft, wenn entwicklungsf~ihige Ideen in der Gefahr stehen, durch ,,verunreinigte" Fakten ,,falsifiziert" zu werden, und er impliziert eine grobe Abbildtheorie der Wahrnehmung und der Wissenschaft, die sowohl durch die Wahrnehmungspsychologie als auch durch semantische Analyse widerlegt ist.

Wie kommt man zu einer angemesseneren Rekonstruktion dieses wissen- schaftsgeschichttichen Umschichtungsprozesses ?

Es wird sich unumg~inglich erweisen, das traditionelle Bitd wissenschaftli- cher Konflikte als Konfrontation von Theorien mit Tatsachen (bzw. mit Tatsachen plus anderen Theorien) zu erweitern. Dieses Bitd hat solange seine Berechtigung, als man innerhalb einer bestimmten Tradition verbleibt und keine grundlegenden ~nderungen der WertvorstelIungen und Bewertungs- mat~st~ibe in Rechnung zu stellen hat..Kndern sich die Kriterien dessen, was Wissenschaft iiberhaupt ist und soll, welchen Status Theorien, Tatsachen und Methoden haben, was als vorrangiges ZM menschlichen Daseins zu gelten hat, was die fundamentalen Entit~iten und Kr~ifte innerhalb des Kosmos sind, ob sie often oder verborgen sind, dann erh~ilt ein Konflikt leicht globalen Charakter, wird zu einem Zusammenstoi~ inkommensurabler kognitiver Systeme. Dies w~ire der ExtremfalI. In der Regel wird sich herausstellen, dag selbst umfassende Deutungssysteme kommensurable Bereiche aufweisen, well einer- seits die symbolischen Darstellungsmittel hochgradig redundant sind - ein bestimmter Begriff mithin multidimensional definiert und in verschiedenstem Kontext verwendet wird - andererseits aber auch ein Bruch innerhalb der Tradition nicht derart radikal ist, daf~ er alle alten Begriffe, alle Relationen dieser Begriffe zu anderen, die alten syntaktischen Regeln vollst~indig beseitigt. Es wird also m6glich sein, selbst in revolution~iren Umbriichen Schnittstellen zu linden, die einen Vergleich erlauben. Allerdings sind die Maf~st~ibe des Vergleichs keine absoluten, zeitlosen, sondern zumeist die Maf~st~ibe des Siegers in diesem Konflikt. Erst sehr viel sp~iter, nach erneuten Umbriichen, wird man unter Anwendung eines dritten Theoriensystems zu allgemeineren Ergebnissen kommen (die natiirlich auch keine absoluten werden).

Was sind die Grundlagen des mittelalterlichen Weltbildes ? Die historischen Wurzeln der mittelalterlichen Kosmologie reichen zuriick

bis zum Neoplatonismus, wie er in der Interpretation des Pseudo-Dionysios tradiert wurde. 16 Danach gliedert die Welt sich in eine Anzahl geordneter Hierarchien, unter denen einerseits Korrespondenzen bestehen, die jedoch andererseits nicht gleichwertig sind, sondern eine genaue Ordnung einhalten. Beriicksichtigt man die Verschmelzung der dionysischen Elemente mit dem aristotelischen Corpus, so erhalten wir folgende GrundstrukturlT: Den

16 Vgl. W. Tritsch (Hrsg.), Dionysios Areopagita, Die Hierarchien der Engel und der Kirche, M/.inchen 1955; Thomas von Aquin, Summa Theologica. Pars 1, Quaestio 50-64, 103-9; R. Roques, L'univers dionysien. Structure hi~rarchique du monde selon le Pseudo-Denys, Aubier 1954; E. v. Iv~nka, Plato Christianus, Einsiedeln 1964; S. Gersh. From Jamblichus to Eriugena, Leiden 1978.

17 Vgl. A. O. Lovejoy, The Great Chain of Being, Cambridge/Mass. 1936; C. S. Lewis, The Discarded Image, Cambridge 1964; E. M. W. Tillyard, The Elizabethan World-Picture, Lon-

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Mittelpunkt des Kosmos nimmt das Element Erde ein. Um es herum lagern in konzentrischen Kugelschichten die Elemente Wasser, Luft, Feuer und g_ther. Der abnehmenden Rein~eit der Elemente -von der puren Essenz des ~thers bis zur tr~igen, schweren Erde entspricht ein abnehmender Grad an Vollkom- menheit und Teilhabe am g6ttlichen Wirken und ein zunehmender Grad an Kontingenz und Individuation der aus den jeweiligen Elementen gebildeten K6rper. Daher befindet sich das Empyreum, das Paradies, jenseits der ~itherischen Sph~ire der Fixsterne, wiihrend sein Gegenstiick, die H611e, den schlimmsten denkbaren Ort, den Mittelpunkt der Erde, damit der Wek einnimmt. Jedes Element ist yon Lebewesen bevSlkert, die seiner Natur, seinem Grad an Vollkommenheit entsprechen. Den Sph~iren der Sterne entspricht die Hierarchie der Engel, der ,,Sph~irenintelligenzen", die die Sterne bewegen. Die Sph~iren des Feuers und der Luft werden bev61kert yon den Hierarchien der gefallenen Engel und der Diimonen.

Betrachten wir das kosmische Geschehen nicht yon oben, sondern yon unten, dem Element der Erde aus, so finden wir auf der letzten Stufe blot~e Existenz, unbelebte Materie. Es folgen die Klassen dernur belebten Wesen (vegetative Klasse), der belebten, fiihlenden Wesen (sensitive Klasse) und der belebten, fiihlenden und denkenden Wesen (verniinftige Klasse). Der Mensch, dem allein unter den irdischen Wesen das Verm6gen der Vernunft zukommt, hat daher eine Sonderstellung. Zwar wurzett er - seit seinem SiindenfalI - mit dem Leib im irdischen Element, doch hat er die Fiihigkeit, kraft seiner Vernunft in die vollkommeneren Regionen aufzusteigen. Allein dies ist der Sinn des irdischen Daseins, ja das gesamten kosmischen Geschehens. Zwar gab es im Mittelalter stets Str6mungen in der Theologie, daf~ es in diesem Prozef~ allein auf den Glauben - auf die Gnade Gottes - ankomme, doch setzte sich schliefflich unter dem Druck der Diffusion antiken und islamischen Wissens die Ansicht durch, dal~ die Erkenntnis der kosmischen Zusammenh~inge das Aufsteigen des Geistes in die trans~itherischen Regionen erleichtert und auf~erdem das dem Verm6gen der verniinftigen Seele yon Natur aus zukom- mende Streben ist) 8 Der Mensch ist yon sich aus zur Erkenntis sowohl der stofflichen als auch der unstofflichen Dinge in der Lage, weil er eine verniinftige Se,ele hat und somit an allen Regionen des Kosmos partiziert: er ist ein Mikrokosmos, ein Abbild der Welt im Kleinen. Aber der Zweck dieses Erkennens ist niemals die Erkennmis an sich, sondern die Vervollkommnung der Vernunft, damit ihr Aufstieg ins Empyreum. Der Mensch ist frei, dieses Ziel zu w~ihlen oder ein anderes: ,,Thou, constrained by no limits, in accordance with thine own free will, in whose hand We have placed thee, shalt ordain for thyself the limits of thy nature. We have set thee at the worlds center that thou mayest from thence more easily observe whatever is in the would. We have made thee neither of heaven nor of earth, neither mortal nor

donl11973; G. Rabuse, Der Kosmische Aufbau der Jenseitsreiche Dantes, Graz/K61n 1958; E. Grant, Cosmology, in: D.C. Lindberg (ed.), Science in the Middle Ages, Chicago 1978; C. Baeumker, Witelo, Ein Philosoph und Naturforscher des XIII. Jhts., Miinster 1908.

is Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica, Prima Pars, Quaestio 84-88.

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immortal, so that with freedom of choice and with honor, as though the maker and molder of thyself, thou mayest fashion thyself in whatever shape thou shalt prefer. Thou shatt have the power to degenerate into the lower forms of life, which are brutish. Thou shalt habe the power, out of thy soul's judgement, to be reborn into the higher forms, which are divine. "19.

Doch die aus dieser Anthropologie ableitbare Freiheit ist stets gef~ihrdet. Der Mensch befindet sich im Spannungsfeld des Kampfes zwischen den guten und den brsen Kr~ten des Kosmos, die ihn beide fiir sich gewinnen wollen. 2° Es ist daher Aufgabe einer die guten Kr~ifte symbolisierenden irdischen Instanz, die der Hierarchie der Engel korrespondiert, in diesen Kampf einzugreifen und die Infiltration des B6sen - verkrrpert in D~imonen, Hexen, Zauberern und Ketzern - zu bek~impfen. Dies ist die Kirche. W~rend sie sich mehr um die hrheren Bereiche des Menschen k~immert,/.iberl~iflt sie die Sorge um die krrperliche Sph~ire einer weiteren, parallelen Hierarchie: Dem Staat.

Wir erhatten auf diese Weise eine umfassende Weltordnung, in der alles seinen Platz hat, in der alles in parallele Reihen gegliedert ist, deren hierarchische Strukturen einander korrespondieren. Das Ganze steht zwischen den Polen der guten und der brsen M~ichte, die jeweils versuchen, den im Mittelpunkt des Kosmos stehenden Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Man sollte sich vergegenw~irtigen, mit welcher Radikalit~it diese Weltordnung sich yon der darauffolgenden unterscheidet. ,,In modern, that is, in evolutionary, thought Man stands at the top of a stair whose foot is lost in obscurity; in this, he stands at the bottom of a stair whose top is invisible with light. ''21 Im sichtbaren Universum, ,,dignity, power and speed (are) progressivly dimini- shing as we descend from its circumference to its centre, the Earth. Bu t . . . the intelligible universe reverses it all; there the Earth is the rim, the outside edge where being fades away on the border of nonentity . . . . The universe is thus, when our minds are sufficiently freed from the senses, turned inside down. ''22

Diese System war bemerkenswert kohiirent. Es vereinigte Theologie, Wissenschaft, Ethik und Politik zu einem umfassenden Gedankengeb~iude, das, solange es seine Wirklichkeit erkl~iren und interpretieren konnte, weder yon innen her, als0 togisch, noch von auf~en, mit empirischen Argumenten, zu widerlegen war. Nattirlich gab es auch hier, wie in jedem theoretischen System, Probleme - Schwierigkeiten begrifflicher und empirischer Natur. Und mit der Lrsung eines Problems entstanden in der Regel neue, die nicht weniger brisant waren. Die 13bernahme der antiken Wissenschaft beispielsweise machte den alten Konflikt zwischen ptolem~iischer Astronomic und aristotelischer Physik wieder virulent, der innerhalb des mittelalterlichen Systems niemals

19 Giovanni Pico della Mirandola, Oration on the Dignity of Man, in: P. O. Kristeller/E. Cassirer/J. H. Randall (eds.), The Renaissance Philosophy of Man, Chicago und London 1948, S. 225.

20 Vgl. A. Zimmermann (Hrsg.), Die M~ichte des Guten und des B6sen. (Miscellanea Mediaevalia 11), Berlin 1977; H. D. Rauh, Das Bild des Antichrist im Mittelalter: Von Tyconius zum deutschen Symbolismus, Miinster 1973; Jakob Sprenger/Heinrich Institoris. Malleus Maleficarum, Der Hexenhammer, Berlin 1906, (besonders Tell I).

21 C. S. Lewis, The Discarded Image, Cambridge 1964, S. 74f. 22 Lewis, a. a..O., S. 116.

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gel6st werden konnte. Sie verdeutlichte weiterhin etliche Widerspriiche zwischen der Bibel und Aristoteles - etwa in der Frage der Ewigkeit der Welt oder der Sterblichkeit der Seele. Es entstanden die Lehre yon der doppelten Wahrheit (Wilhelm v. Ockham) als radikale Trennung von Glauben und Wissen, der ,,heterodoxe" (materialistische) Aristotelismus (Siger yon Bra- bant) 23 und die erkennmistheoretische Skepsis (Nicolaus v. Autrecourt) 24. In Oxford entwickelte man eine erste Form mathematischer Physik 2s und die Pariser Nominalisten (J. Buridan, N. Oresme) lieferten Beitr~ige zur physikali- schen Bewegungslehre, die bis zum Prinzip der kinematischen Relativit~it 26 - heute als ,,Galilei-Invarianz" bezeichnet - vordrangen. Dies alles - und noch weir mehr - hat die Scholastik verkraftet. Sie assimilierte sogar Kopernikus! Das heliozentrische System wurde - bevor andere es als physikalische Theorie interpretierten und der Kirche damit den Kampf ansagten - an spanischen Jesuitenschulen als mathematische Hypothese gelehrt. Erst viel sp~iter (1616) kam es auf den Index. Man kann mit einigem Recht behaupten, datg die theoretischen Schwierigkeiten der mittelalterlichen ,,Wissenschaft" gegen Ende des 16. Jahrhunderts nicht gr6fler waren als am Ende des 14. Warum war sie dann, 200 Jahre sp~iter, so viel verletzlicher gegeniiber Kritik ?

Sieht man sich die Geschichte Europas vom 14. bis zum 17. Jahrhundert n~iher an, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, datg die mittelalterli- che Weltauffassung insgesamt als Interpretationsraster fiir eine sich wandetnde Wirklichkeit mehr und mehr versagte. Charakteristisch dafiir war ein verbrei- tetes Gefiihl fiJr ein ,,Altern der Welt", einen Verfall der Natur, der das Ende der Zeiten anzukiindigen schien. ,,Evidence of decay is not discovered in man alone; it is manifested in the elements. The seas have grown fruitless and barren, . . . The earth has also lost its fertility and does not produce the crops which our forefathers raised. Decay is to be discovered even in the heavens themselves. ''2z Lynn White beobachtet: ,,The Age of the Renaissance, 1300 to 1650, was a time of human tragedy unparalleled in Europe, and perhaps elsewhere in world history. ''is Es war eine Zeit der Pest, der Hungersn6te, der Bauernkriege und der Reformationswirren. Das irdische Abbild der himmli- schen Hierarchie selbst - die Kirche - war ins Zwielicht geraten. Der

23 VgL C. Baeumker, Die Impossibilia des Siger von Brabant, Miinster 1898; F. van Steenberghen, Die Philosophie im 13. Jahrhundert, Miinchen 1977.

24 L.A. Kennedy u. a. (eds.), The Universal Treatise of Nicholas of Autrecourt, Milwaukee 1971 ; R. Paqu~, Das Pariser Nominalistenstatut, Berlin 1970.

2s H. L. Crosby (ed.), Thomas of Bradwardine: Tractatus de Proportlonibus, Madison 1955; C. Wilson (ed.), William Heytesbury. Medieval Logic and the Rise of Mathematical Physics, Madison 1960.

26 A. D. Menut/A. J. Denomy (eds.), Nicole Oresme. Le Livre du ciel et du monde, Madison 1968; M. Clagett (ed.), The Science of Mechanics in the Middle Ages, Madison 1961.

27 R. F. Jones, Ancients and Moderns, Gloucester 1961, S. 28; die ,,Skepsis", die ,,Resigna- tion" und den ,,Pessimismus" dieser Zeit analysiert auch R. Stadelmann, Vom Geist des ausgehenden Mittelalters, Halle 1929, ebenso W.E. Peukert, Die grofle Wende, 2 Bde., Hamburg21948 und J. Huizinga, Herbst des Mittelalters, Stuttgart 111975.

2s L. White, Death and the Devil, in" R.S. Kinsman (ed.), The Darker Vision of the Renaissance. Beyond the Fields of Reason, Berkeley 1974, S. 44.

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Niedergang des Kaiserreichs schien durch die wachsende Macht der Landes- herren unausweichlich. Natiirlich sah die Kirche das auf ihre Art. Diese H~iufung von Katastrophen und Krisen konnte in ihrer Interpretation kaum Zufall sein. Die M~ichte des B6sen selbst muf~ten sich zum Angriff verschwo- ren haben, und dem galt es entgegenzuwirken. Da das B6se sein Werk auf der Erde nur durch fleischliche Agenten tun konnte, suchte man Schuldige - und land sie" Ketzer, Juden, Mitglieder abweichender Sekten, Zauberer, Hexen. Sogar Tiere wurden in f6rmlichen Hexenprozessen f/Jr schuldig befunden, dem ,,weltlichen Arm der Gerechtigkeit" iibergeben und lebendig verbrannt. White spricht von dieser Zeit als der ,,most psychically disturbed era in European history, ''29 charakterisiert durch ,,abnormal anxiety". Die Tanz- und Vergniigungswut dieser Zeit ist ebenso bekannt wie eine zwanghafte Besch~ifti- gung mit dem Tod. Hinzu kam in all diesen Wirren ein rapider kultureller und sozialer Wandel: als sozialer Fremdk6rper im feudalen System die Festigung der Macht des Biirgertums, das Wachstum der Stadtwirtschaft, die Unterdriik- kung der Bauern und der langsame Niedergang der Feudalherren - der Zusammenbruch der Korrespondenz von sozialer und himmlischer Hierar- chie !

Erst diese globalen Interpretationsschwierigkeiten des mittelalterlichen Weltbildes schufen die Voraussetzungen f~ir die Wirksamkeit auch lokaler und partieller, im Unterschied zu friiher aber auf die Ausarbeitung von Alternati- ven ausgerichteter Kritik, wie wir sie bei Kopernikus, Kepler, Harvey, van Helmont, Paracelsus, Descartes, Bruno, Galilei, Gilbert usw. linden. Ein intaktes System h~itte keiner dieser Neuerer erschiittern k6nnen. Man behaup- tet, das heliozentrische System h~itte den hierarchischen Aufbau des Kosmos zerst6rt, keinen Ptatz mehr fi~r Himmel und H611e gelassen. Folglich sei der Kirche keine Wahl geblieben als dagegen vorzugehen. Aber warum konnte dann noch im 15. Jahrhundert ein katholischer Kardinal - Nicolaus Cusanus - die Ansicht vom hierarchischen Aufbau der Welt straflos verwerfen, ein unendliches Universum postulieren, das keinen Mittelpunkt hat? Cusanus' Auffassung ,,geht in einigen ihrer kiihnen Affirmationen - oder Negationen - welt ~iber alles hinaus, was Kopernikus jemals zu denken wagte. "3° Die Auffassung, dat~ die Sonne als lebensspendendes Zentralgestirn Mittelpunkt der Welt ist, enth~ilt eine alte stoische Idee und sie wird auch im Corpus Hermeticum 31 vertreten, das in dieser Zeit grof~en Einftuf~ hatte. Sie wider- sprach natiirlich der aristotelischen Physik, ihrer qualitativen Lehre von den Elementen und ihrer Theorie des Raumes. Aber diese wiederum widerspra- chen der ptolem~iischen Astronomie, litten zudem an inneren logischen Schw~ichen oder waren - wie die Bewegungslehre - l~ingst durch eine andere (die Impetustheorie) ersetzt. Beim bekannten Erfindungsreichtum der Jesuiten w~ire es fiber kurz oder lang zweifellos gelungen, auch die heliozentrische Hypothese recht oder schlecht ins System zu integrieren.

29 White, a. a. O., S. 26. 3o A. Koyr~, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt I969, S. 18. 31 Siehe J. Kroll. Die Lehren des Hermes Trismegistos, Miinster 1914; F. A. Yates, Giordano

Bruno and the Hermetic Tradition, London 1974.

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Aber dies war in der gegebenen Situation, in der alles auseinanderzubrechen drohte, schlechthin unm6glich. Jedes weitere Zugest~indnis h~itte die kognitive Krise weiter versch~irft, unter Umst~inden das Ziinglein an der Waage bedeutet. Es ist also ein Irrtum zu glauben, die Neu~rer h~itten das mittelalterliche Weltbild zersttrt. Sie waren in vielem noch genau so ,,mittelalterlich" wie ihre Gegner. Man erinnere sich an Keplers Astrologie, seine Vorliebe fiir die pythagoreische Zahtenmystik, an Giordano Brunos Hermetizismus, an die inhaltliche Abhiingigkeit Descartes' vonder Scholastik, wie sie Koyr~ analy- sierte, an Isaac Newton, der welt mehr iiber Alchemie und Religion geschrieben hat als iiber Naturphilosophie. 32 Die Neuerer wollten die Religion nicht angreifen, waren zum Teil selbst 'Leute der Kirche (Kopernikus, Gassendi, Mersenne).

Eines allerdings l ~ t sich mit Bestimmtheit sagen: Das graduelle Versagen des mittelalterlichen Weltbitdes als interpretatives Raster fiir eine sich wan- delnde Wirklichkeit beseitigte zugleich auch Wahrnehmungsschranken, die es errichtet hatte, begiinstigte somit die Perzeption von Tatbest~inden und Ph~inomenen, die ihm widersprachen, und die zur Erkl~irung alternative Theorien zu erfordern schienen. Eine Nova aus dem Jahre 1572 verdeutlichte mehr noch als beobachtete Kometen, daft auch die Sph~ire der Fixsterne nicht unwandelbar ist. L~ingst bekannte Tatsachen bekamen pl6tzlich eine Bedeu- tung vie hie zuvor: die Gezeiten, Kometen, die Beobachtung, daft sich die inneren Planeten von der Sonne nie welter als bis zu einem bestimmten Winkel entfernten - also beispeilsweise niemals auf der jeweils entgegengesetzten Seite der Erde stehen, die ,,Tatsache, dag jene gleiche Abnahme der Exzentrizit~it der Sonne auf gleiche Weise und im gleichen Verh~iltnis bei den Exzentrizit~iten der iibrigen Planeten wahrgenommen wird ''33, die Erfahrung der Seefahrer, daft ,,eine Bewegung nur durch Vergleich mit irgendeinem festen Ding wahrge- nommen wird ''34 usw.

Es waren genau diese lange zuvor bekannten Tatsachen, denen man wenig Bedeutung zumaf~, solange das alte System seine Aufgabe erfiillte, die zur ,,Heuristik" der neuen Wissenschaft wurden. Wenn nur relative Bewegungen wahrnehmbar sind, obwohl nach Aristoteles allein absolute existieren, so kann man mit Galilei fragen, wie denn eine Mechanik aussehen wiirde, die die Relativit~it gleichftrmiger Bewegungen zum Axiom erhebt. Man kann diese Mechanik ausarbeiten und anhand ihrer Konsequenzen iiberpriifen. Schliefl- lich wird man sie mit der alten Theorie konfrontieren, um ihre Vorziige und Nachteile kennenzutemen. Erst dann wird man in aller Regel auf neue Tatsachen und neue Prognosen, die zu neuen Ph~inomenen fiihren, kommen, wird man sagen ktnnen, daf~ die alte Theorie ,,widerlegt" ist - nicht durch Fakten, sondern durch die neue Theorie. 35

32 Siehe Betty Jo Teeter Dobbs, The Foundation of Newton's Alchemy or ,,The Hunting of the Greene Lyon", Cambridge 1975.

33 G. J. Rheticus, Erster Bericht fiber die 6 Bficher des Kopernikus von den Kreisbewegungen der Himmelsbahnen, Miinchen und Berlin 1943, S. 54f.

34 Rheticus, a. a. O., S. 64. 3s Vgl. Galilei, Dialog fiber die beiden haupts~ichlichsten Weltsysteme, das Ptolem~iische und

das Kopernikanische, Leipzig 1891.

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Kopernikus' Heuristik war ~ihnlich, doch sie war konservativ. Er fragte, wie eine mathematische Astronomie zu konstruieren sei, die das aristotelische Postulat vonde r Gleichf6rmigkeit und KreisfSrmigkeit der Himmelsbewe- gungen strikt einhielt - die ptolem~iische Astronomie tat es bekanntermaf~en nicht. Er nahm die Tatsache ernst, daft die Sonnenbewegung in allen anderen Planetenbewegungen sozusagen als Konstante wieder auftaucht, fragte nach den einfachsten Konstruktionsprinzipien einer Theorie, die dieses Ph~inomen erkl~irt und kam folgerichtig zum Heliozentrismus) 6 Natiirlich spielen Zuf~ille eine RolIe. Ohne die iiber viele Jahre hinreichenden, peinlich genauen Beobachtungsreihen von Tycho Brahe h~itte Kepler niemals auf seine Planeten- gesetze kommen und folglich Newton auch nicht das Gravitationsgesetz entdecken kSnnen. Abet was besagt dies ? Wie wahrscheinlich ist es iiberhaupt, daf~ der einzige Mensch, der iiber diese Sternbeobachtungen verfiigt, mit vielleicht dem einzigen, der sie zu dieser Zeit in korrekter Weise mathematisch auswerten konnte, zusammentrifft, sie - sein Lebenswerk - dem anderen, dessen genaue Absichten ihm unbekannt sind, zur Veffiigung stellt? Die Schwierigkeiten Keplers mit Brahes Erben, ebenso Keplers Taktieren etwas auf~erhalb der Legalit~it - nur, um welter mit den Daten arbeiten zu k6nnen - sind bekannt.

Auch Kepler hatte seine Heuristik. Er akzeptierte die kopernikanischen Argumente, ging aber noch einen Schritt welter. Wenn die Astronomie nach Aristoteles ein Bereich der Physik war, so muf~te man sich fragen, warum man sie bisher nicht physikalisch behandeh hatte, sondern geometrisch. Vom physikalischen Standpunkt aus ist es unzul~issig, die Bewegungen der Him- melsk6rper als Uberlagerungseffekte verschiedener geometrischer - nicht als real interpretierbarer - Kurven zu deuten. Die innerhalb des aristotelischen Systems einzig vertretbare M6gtichkeit, die vollkommene Kreisbewegung als die dem ~ther infolge seiner g6ttlichen Natur gem~if~e Bewegungsform, war schon im ptolem~iischen System nicht mehr erfiillbar. Kopernikus hatte zwar im Gegensatz zu Ptolem~ius nur gleichf6rmige Kreisbewegungen benutzt, aber auch er konnte au{ die l~istigen, physikalisch nur schwer einsehbaren Epizyk- len nicht verzichten. Auf~erdem war kein Sinn darin, mit Hilfe der heliozentri- schen Hypothese die Astronomie an der einen Stetle (in der Frage der gleichf6rmigen Kreisbewegungen) mit Aristoteles in Ubereinstimmung zu bringen, wenn der Preis dafiir ein Widerspruch an anderer Stelle ist, n~imlich die Bewegung des schwersten Elementes (Erde), das nach der peripatetischen Raumtheorie den Mittelpunkt des Kosmos bilden muff.

Keplers Folgerung: Wenn Astronomie also ein Tell der Physik sein muflte, dann waren die Bahnen der Himmelsk6rper auch physikalisch zu behandeln, ohne Verletzung der Stetigkeitsforderung und ohne Bahnabschnitte, die nur geometrischen Sinn hatten. Mit anderen Worten: es muthe die einfachste Kurve gefunden werden, die auf die Daten ,,pai~te". 37 Nach jahrelangem

36 Vgl. H. Kopernikus, Uber die Kreisbewegungen der Weltk6rper. Berlin 1959. 37 Dies ist einer der raren F~itle in der Wissenscha{tsgeschichte, in denen ,,curve-fitting" zur

Entdeckung von Gesetzen fiihrte.

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Rechnen und nach vielen Fehlschl~igen hatte Kepler Erfolg. In einem anderen Punkt, der ihm viel mehr bedeutete, die Konstruktion des Planetensystems mit Hilfe regul~er geometrischer K6rper, harmonischer Verh~iltnisse und pytha- gor~iischer Zahlensymbolik 3s, ertitt er dagegen Schiffbruch: es fehlte die Heuristik - oder besser: die Heuristik, die zugrundelag, war 2000 Jahre alt und hatte ihre M6gl!chkeiten ersch6pft. Wo bleibt bei alldem der methodische Umbruch, die grof~e Wen& von Offenbarung und Apriorismus zu Beobach- tung und Experiment ? Die Wahrheit ist: Diese Wende gibt es nicht. Weder war die mittelalterliche Weltanschauung in ihrer Gesamtheit auf Apriorismus gestiitzt noch ist es die neuzeitliche auf reine Beobachtung. Soweit das Mittelalter Intellektualismus und Apriorismus sch~itzt, ist es direkte Folge seiner Kosmologie. Die hierarchische Welt - mit ihren Korrespondenzen und ihren Abstufungen - stiitzt den Primat der Vernunft in gleicher Weise wie die Vernunft die Richtigkeit des kosmischen Schemas - unter der Voraussetzung, daft dieses Schema alle Erfahrungen, die mit seiner Hilfe m6glich sind, zufriedenstellend interpretiert. Diese Bedingung war ab dem 14. Jahrhundert nicht mehr erfiillt. Erfahrungen folglich waren es, die dem Intellektualismus - langsam, aber stetig - den Boden entzogen. Ab dem 14. Jahrhundert datieren die Bemiihungen, die Grundlagen einer quantifizierenden und messenden Naturwissenschaft zu entwickeln. 39 Eines Francis Bacon h~itte es in dieser Hinsicht nicht bedurft. Dessen Programm hatte vor aJlem politischen und ideologischen Wert. Theoretisch ist es schon in seiner eigenen Hand geschei- tert. Es beinhaltete, daft vor einer halbwegs sicheren Theorienbildung die Sammlung aller bisherigen Tatsachen, Beobachtungsergebnisse, experimentel- len Befunde zu stehen habe, die dann in Listen sachlich zusammengeh6render F~ille zu ordnen seien. Das Resultat seiner eigenen Bemiihungen in dieser Richtung ist u. a. das ,,Sylva Sylvarum ''4°. Wer es kennt, wird die Bemerkung eines Kritikers verstehen, Bacon habe den Augiastall der Wissenschaft von metaphysischem Mist befreit, um ihn mit empirischem anzufiillen. Von Bacons Beitr~igen zu den Realwissenschaften selbst ist nichts geblieben.

Was ist der Grund ? Versuchen wir, seine Heuristik zu linden. Bacon sah, daf~ der extreme Rationalismus der mittelalterlichen Wissen-

schaft zu Konsequenzen fiJhrte, die den Erfahrungen seiner Zeit nicht mehr gerecht wurden. Er sah weiterhin, daf~ dieser Intellektualismus in Zusammen- hang stand mit der Auffassung, den Wert der Erkenntnis vor allem in der Vervollkommnung der menschlichen Vernunft und ihres Aufstiegs ins Paradies zu sehen. Sein Programm lautete folglich: Wenn man die diesseitigen Lebensbedingungen der Menschen verbessern will, dann braucht man eine

3s Vgl. Kepler, Weltharmonik, Darmstadt, 1973; Kepler, Mysterium Cosmographicum, Augsburg 1923. Vergleicht man die genannten Werke mit Keplers ,,Astronomia Nova", so fiihlt man sich in eine an&re Zeit versetzt. Daft die Zeitgenossen Keplers diesen Widerspruch nicht sahen, ist ein sch6nes Beispiel ffdr den Einflu/~ der Theorienentwicklung auf Bewertungsmaflst~ibe.

39 Vgl. H. Blumenberg, Die Vorbereitung der Neuzeit, in: Philosphische Rundschau 9 (1962) S. 125ff.

4o Vgl. F. Bacon, Works, Bd. II (collected and edited by J. Spedding, R. L. Ellis, D. D. Heath), London 1859, S. 325-687.

Rationale Heuristik 251

,,praktische" Wissenschaft, die erfahrungsbezogen ist und daher vor allem auf der Methode vorurteilstoser Beobachtung beruhen mug. Wo liegt der Fehler ?

Bacons Irrtum war, daf~ ein notwendiger Zusammenhang bestehe zwischen der angewandten Methode und den damit erzielbaren Ergebnissen bzw., dag ein dritter Faktor, von dem die beiden anderen abh~ingen, nicht existiere. Dieser dritte Faktor abet ist der theoretische Kontext, der bestimmt, welche Erfahrungen iiberhaupt m6glich sind und welche Methoden in einer Welt, die durch die vorausgesetzten Entit~iten und ihre Relationen hinreichend beschrie- ben ist, Aussicht auf Erfolg haben. Versagen sic, so ist dies nicht unbedingt den Methoden anzulasten, sondern mit weir gr/5i~erer Wahrscheinlichkeit einer Theorie, die ihre Wirklichkeit nicht mehr zu interpretieren vermag. Sollte eine neue Methodologie erforderlich sein, so wird sic sich nur im Zusammenspiet mit einer neuen grundlegenden Theorie entwickeln k6nnen. Doch Galilei, Kepler, Newton ben6tigten keine neue Methode. Ihr Verfahren war das von ,,Resolution und Komposition", das schon in der Antike bekannt war (Galen) und auch im Mittelalter (Dietrich von Freiberg) und in der Renaissance (,,Schule von Padua") Anwendung fand.

Nach dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Weltanschauung war die Richtung, in die die weitere Entwicklung gehen wiirde, keineswegs klar. Auger der mechanischen Philosophic Descartes' erhob auch die chemische Philosophic eines van Helmont, Fludd, Becher und Stahl Anspriiche auf Priorit~it. Wie wir wissen, behielt der Mechanizismus zun~ichst die Oberhand. Vielleicht nur deshalb, weil die chemische Philosophic trotz ihrer Betonung der prometheischen F~ihigkeiten des Menschen einige der mittelalterlichen Korrespondenzen beibehielt, w~ihrend der Mechanizismus von derartigen Reminiszenzen freibtieb. 41 Dies wiirde erkl~iren, warum die Mechanizisten die chemische Philosophic so erbittert bek~impften, nicht aber, warum die Kirche in der mechanischen Auffassung das kleinere Ubel sah. In der Tat sehen wir uns im 17. Jahrhundert der merkwiirdigen Situation gegeniiber, daf~ die Kirche sich mit der Neuen Philosophic gegen einen modernisierten Neoplatonismus und Hermetizismus verbiindete, der ihrer alten Auffassung strukturell sehr viel ~ihnlicher war. Die ganze Welt wurde darin als organische Einheit gesehen, deren Teile durch Kr~ifte, ,,Sympathien" und ,,Antipathien" verbunden waren. Gestiitzt auf die Bibel und auf das ,,Buch der Natur" (Fludd), das bei den chernischen Philosophen im Unterschied zu Galilei nicht in der Sprache der

41 Vgl. A. G. Debus, The Chemical Philosophy, 2 Bde., New York 1977; B. Easlea, Witch- Hunting, Magic and the New Philosophy, Brighton 1980; S. Gaukroger (ed.), Descartes. Philosophy, Mathematics and Physics, Brighton 1980. Eines der stiirksten Argumente fiir den Mechanizismus war die Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey (urn 1628). Wie wandelbar jedoch derartige Einsch~itzungen sind, sieht man an der Tatsache, dag Harveys Freund Robert Fludd, ebenso Joseph Glauber, die Blutzirkulation als Best~itigung der Mikrokosmos- Makrokosmos Analogie ansahen. Descartes, Mersenne und Gassendi zeigten sich der neuen Entdeckung gegeniiber zun~ichst sehr reserviert und kritisch. Erst nach gewissen Uminterpretatio- nen des Harveyschen Vitatismus ging man dazu iiber, den Blutkreislauf als Best~itigung des Mechanizismus zu sehen. (Siehe A. G. Debus, Man and Nature in the Renaissance, Cambridge 1978, S. 54ff.; T. S. Hall, History of General Physiology 600 B. C. to A. D. 1900, Vot. I, Chicago 1975, S. 241ff.)

252 Klaus Fischer

Mathematik, sondern in der Sprache der Chemie geschrieben war, sollte es m6glich sein, diese Kr~ifte zu erforschen, zu erkennen und somit die Natur zu beherrschen. Die chemischen Philosophen entwickelten eine vonder aristoteli- schen abweichende Elementelehre, lehnten die gesamte peripatetische Physik ab und setzten die Sonne ins Zentrum der Welt.

Dieser yon den Chemischen Philosophen postulierte Herrschaftsanspruch des Menschen iiber die Natur bildete die Basis fiir die Symbiose zwischen Kirche und mechanischer Philosophie: der Kirche erschien er als Hybris, zum Mechanizismus geriet er in theoretische Widerspriiche. Wo nur noch Tr~igheit und die mechanische Stof~bewegung elementarer Partikel als Eigenschaften der Materie existieren, gibt es fiir Kfiifte und ,,Sympathien" immaterieller Natur keinen Platz mehr. Alle Macht iiber die Natur bleibt - in der Theorie - bei Gott, der sowohl erste Ursache ist, Baumeister der Welt, als auch derjenige, der sie in Gang h~ilt. Descartes sieht in seiner ,,Theorie der kosmischen Wirbel" sogar die MSglichkeit gegeben, Kopernikus mit der Kirche in Einklang zu bringen. ,,For Copernicus is correct in stating that the earth orbits the sun while the Church is correct in stating that the earth is stationary - stationary that is, Descartes explains, with respect to the aetherial vortex. ''42 Schon einige Zeit vor Descartes, im 16. Jahrhundert, hatte die Kirche in Spanien ihrer Engellehre eine Form gegeben, die stark mechanistischen Charakter tr~igt und die, folgt man der Ansicht von Specht 43, auf Descartes groflen Einfluig hatte. Doch der Anschein der Harmonie triigt. Die Einheit yon Wissenschaft und Religion, die das Friih- und Hochmittelalter so eindrucks- voll repr~isentierte, wurde nicht zuriickgewonnen. Gegen Ende des 17. Jahr- hundert war die cartesische Philosophie durch Newton und Spinoza i~berholt, das Programm der Beherrschung der Natur erneut etabliert und eine bis heute noch ,,okkulte" Kraft zum Fundament der Himmelsmechanik erhoben: Gravitation. Auch in der Synthese der neuzeitlichen Naturwissenschaft hatte Gott seine Platz: er war der Welt selbst immanent; sein ,,Sensorium" (Newton) war - d e r absolute, unendliche euklidische Raum.

3.2 Globale Folgen lokaler Kritik: Die Entstehung der speziellen und der allgemeinen Relativitiitstheorie

,,With respect to the theory of relativity it is not at all a question of a revolutionary act, but of a natural development of a line which can be pursued through centuries 44... Die Relativit~itstheorie kam, weil sie kommen mu£te. Sie ergibt sich zwangsl~iufig aus den Widerspri~chen in der alten Theorie, die sich weder ignorieren noch beseitigen lassen. ''45

42 B. Easley, Witch-Hunting, Magic and the New Philosophy, op. cit., S. 116; Descartes, Die Prinzipien der Philosophic, Teil III.

43 R. Specht, f.~ber Kausalvorstellungen im Cartesianismus, Stuttgart 1966, Kap. 1. 44 Einstein, zit. in Holton. On the Origins of the Special Theory of Relativity, in: ders.,

Thematic Origins of Scientific Thought, Cambridge/London 1973, S. 176. 45 Einstein/Infeld, Die Evolution der Physik (1938), Giitersloh o. J., S. 204.

Rationale Heuristik 253

Wir mfissen es uns an dieser Stelle versagen, eine Entwicklungsgeschichte der Physik von Newton bis Einstein zu schreiben, die alle Probleme, Innovatio- nen, Erweiterungen und begrifflichen Verschiebungen be~cksichtigt, die fiir die zwei Jahrhunderte seit dem Erscheinen von Newtons ,,Principia" charak- teristisch sind. Allgemein l~itSt sich feststellen, daf~ die klassische Mechanik in dieser Zeit, trotz der nach wie vor ungel6sten R~itsel vonder Natur der Gravitation und des absoluten Raumes, Erfolg auf Erfolg verbuchen konnte - nicht zuletzt aufgrund starker Ver~inderung ihrer mathematischen Form (Euler, Fourier, d'Alembert, Poisson, Lagrange, Hamilton) 46. Insbesondere ihre Erweiterungen in Form der mechanischen Lichttheorie und der kineti- schen Gastheorie erwiesen sich als hSchst eindrucksvoll. Eine erste ernsthafte Schwierigkeit entstand erst mit der EntwickIung einer Theorie des Elektro- magnetismus durch Maxwell. Obwohl Maxwell selbst seine Theorie anhand mechanischer Modelle entdeckte und zeitlebens, in gleicher Weise wie Hertz, an der Uberzeugung ihrer mechanischen Begriindbarkeit festhielt 47, gelang es nicht, diese Begriindung real durchzufiihren. Ganz im Gegenteil zeigte sich, dab die Theorie - mittlerweile durch die Versuche von Hertz experimentell best~itigt - zur Postulierung unreduzierbarer elektromagnetischer Vorg~nge (,,Felder" und Wellen im leeren Raum) fiihrte, die ihrem Wesen nach losgel6st sind von jeglicher ponderablen Materie: s

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich folgende Situation ergeben: Auf der einen Seite findet man die Traditionalisten 49, die weiterhin an dem Programm der Reduktion auch des Elektromagnetismus auf die Mechanik arbeiteten, am anderen Pol die Neuerer, s° die im Gegenteil gerade in den Maxwellschen Gleichungen und ihrer weiteren Ausgestaltung die Chance sahen, der Physik ein einheitliches Fundament zuriickzugeben (insbesondere auch das Problem der Gravitation in Analogie zum elektromagnetischen Feldbegriff zu 16sen): das mechanische durch ein elektromagnetisches Weltbild abzul/Ssen. Die mechanischen Eigenschaften der Masseteilchen sollten darin als abh~ngige Variablen ihrer eigenen elektromagnetischen Felder gedeutet wer- den k6nnen. Dieses Programm hatte einen Haken. Die Maxwellschen Feldglei- chungen sind bezfiglich GALILEI-Transformationen (d. h. gegeniiber gleich- f6rmig geradlinigen Translationen) nicht kovariant. Dies wfirde bedeuten, dat~ ein Lichtstrahl, der in bezug auf das Koordinatensystem K die Geschwindig-

46 Dazu : P. Duhem. Die Wandlungen der Mechnaik und der mechanischen Naturerkl~irung, Leipzig 1912.

47 Vgl. J. C. Maxwell, ~3ber physikalische Kraftlinien, Darmstadt 1976, S. 86 (Kommentar von L. Boltzmann).

48 Vgl. Einstein, Autobiographisches, in: P. A. Schilpp (Hrsg.), A. Einstein als Philosoph und Naturforscher, Stuttgart, S. 9.

49 Vgl. z. B. die Arbeiten von A. Korn in: Physikalische Zeitschrift. so Vgl. W. Wien, l~ber die M/Sglichkeit einer elektromagnetischen Begriindung der Mechanik,

in: Annaten der Physik 5 (1901), S. 501ff. ; M. Abraham, Prinzipien der Dynamik des Elektrons, in: Annalen der Physikl0 (1903), S. 105ff.; H .A. Lorentz, Elektromagnetische Theorien physikalischer Erscheinungen in: Physikalische Zeitschrift 1 (1900) S. 498ff. ; A. I. Miller, A Study of Henri Poincar~'s ,,Sur la Dynamique de l'Elektron", in: Archive for History of Exact Sciences 10 (I973), S. 207-328.

254 Klaus Fischer

keit c hat, ,,in bezug auf K' eine von c verschiedene, vonder Richtung abh~ingige Geschwindigkeit haben miigte. Es ware also der Bezugsraum von K beziiglich seiner physikalischen Eigenschaften von allen relativ bewegten Bezugsr~iumen ausgezeichnet (ruhender _Kther). Alle Versuche haben aber ergeben, dag die elektromagnetischen und optischen Vorg~inge relativ zur Erde als Bezugsk6rper so verlaufen, dal~ sich die Translationsgeschwindigkeit der Erdbewegung nicht bemerkbar macht. ''sl Aus dieser Situation gab es mehrere Auswege. Zum einen konnte man annehmen, dag der Ather selbst in der Umgebung groger Massen wie der Erde ,,mitgerissen" wird. Eine zweite M6glichkeit war, dat~ die K6rper in Richtung ihrer Bewegung eine Kontrak- tion erfuhren, die abh~ingig war von ihrer Relativbewegung gegen den ~ther. Lorentz zeigte 52, dag die erste Annahme theoretisch und empirisch weniger befriedigend ist als die zweite. ,,Die Schwierigkeit, auf welche diese (die erste - K. F.) Theorie bei der Erkl~irung der Aberration st6gt, scheinen mir zu grot~ zu sein, als dat~ ich dieser Meinung sein k6nnte, und nicht vielmehr versuchen solke, den Widerspruch zwischen der Fresnelschen Theorie (ruhender, v611ig durchdinglicher Ather - K. F.) und dem Michelsonschen Ergebnis zu beseiti- gen. "'53 Das Ergebnis der Bemiihungen Lorentz' um Beseitigung des Wider- spruchs sind Gleichungen, die die Kontraktion der Dimensionen von K6rpern in Richtung ihrer Bewegung (vom ruhenden System aus betrachtet) und eine Vefiinderung der Zeit beschreiben,- die LORENTZ-Transformationen. 54 Diese Gleichungen waren - obwohl fiir die Physik als solche ein gewaltiger Schritt vorw~irts - hinsichtlich des Programms eines elektromagnetischen Weltbildes destruktiv. Poincar6 konnte mathematisch ableiten, dat~ das Elek- tron, falls es den Lorentzschen Deformationen unterliegen sollte, kompensato- rische Kr~ifte zu seiner Stabilisierung ben6tigt - Kr~ifte, die nicht aus dem elektromagnetischen Feld herriihren konnten. 5s Anstatt dieses Ergebnis jedoch als Indiz dafiir zu nehmen, dat~ das Programm der Reduktion der Mechanik auf die Elektrodynamik nicht erfolgversprechend war, interpretierte Poincar6 die Schw~ichen der Abrahamschen und der Lorentzschen Elektronentheorien als partielle Sch6nheitsfehler, die sich iiberwinden Iiegen, wenn man nur die n&ige Arbeit auf sich n~ihme. Das Resultat seiner eigenen Bemtihungen (erschienen 1906) war dem von Lorentz iibertegen, fiihrte jedoch zu neuen

sl Einstein. Grundzfige der Relativit~itstheorie, Braunschweig/Wiesbaden 51979, S. 29. s2 H. A. Lorentz, The Relative Motion of the Earth and the Ether, in: ders., Collected Papers

Vol. IV, The Hague 1937; ders., Stokes' Theory of Aberration in: a. a. O.; ders., Concerning the Problem of the Dragging along of the Ether by the Earth, in: a. a.O., ders., Uber die Fortpflanzung des Lichtes in einem sich in beliebiger Weise bewegenden Medium, in: ders., Abhandlungen fiber theoretische Physik, Leipzig/Berlin 1907.

s3 H. A. Lorentz, Der Interferenzversuch Michelsons, in: Lorentz/Einstein Minkowski, Das Relativit~itsprinzip, Stuttgart s1923, S. 2.

54 H.A. Lorentz, Versuch einerTheorie der elektrischen und optischen Erscheinungen in bewegten K6rpern, in: ders., Collected Papers V, The Hague; verbesserte Fassung in: Lorentz, Etektromagnetische Erscheinungen in einem System, das sich mit beliebiger, die des Lichtes nicht erreichender Geschwindigkeit bewegt, m: Lorentz/Emstem/Mmkowski, Das Relauvlt~itsprmzlp, op. cir.

s5 A. I. Miller, A Study of Henry Poincar~'s ,,Sur la Dynamique de l'EIectron", op. cit. S. 234.

Rationale Heuristik 255

Problemen und verlor durch die inzwischen immer bekannter werdende Theorie Einsteins (1905) bald an Interesse.

Von allen Physikern und Mathematikern des ausgehenden 19. und begin- nenden 20. Jahrhunderts war Poincar6 derjenige, der einer Theorie der Relativit~it am n~ichsten kam. ,,Poincar6 seemed to have all the requisite concepts for a relativity theory: a discussion of the various null experiments to first and second order accuracy in v/c; a discussion of the role of the speed of light in length measurements; . . . the concept of the Lorentz group; . . . a correct relativistic kinematics (in the quasi stationary approximation); and a Lorentz covariant gravitational theory in which gravity is propagated through the ether with the speed of light. His relativity theory was to be an inductive one with the laws of electromagnetism as the basis for all of physics. ''s6

Es waren vor allem drei Gr~inde, die Poincar6 den Blick fiir eine konstruktive f3berwindung seiner Schwierigkeiten verstellten: 1. Das Festhalten am Programm des elektromagnetischen Weltbildes. 2. Die Interpretation der Zeittransformation als blof~er Rechengrtf~e ohne

Vergegenwiirtigung ihrer realen Auswirkungen. 3. Das Festhalten am _Kther, obwohl er zugeben muf~te, daf~ seine Existenz

bisher keine realen physikalischen Konsequenzen experimentell feststellba- rer Natur hatte.

Eine solche Strategic, wie sic Poincar6 und Lorentz verfolgten, war fiir Einstein unannehmbar. Einstein ging zwar in gleicher Weise wie sic davon aus, daf~ die klassische Mechanik Newtons streng genommen falsch war, aber dasselbe galt auch fiir die elektromagnetische Theorie von Maxwell. Maxwells Theorie fiihrt zu , ,Asymmetrien. . , welche den Ph~inomenen nicht anzuhaften scheinen... , ,s7 Eine Reduktion der einen Theorie auf die andere war deshalb von vornherein auszuschlietgen. Einstein sah, datg die Schwierigkeiten sowohl der Mechanik als auch des Elektromagnetismus gleiche Ursachen hatten, sich folglich auch nur gemeinsam I6sen liel~en. Seine Heuristik zur Entwicklung eines neuen, iibergeordneten Standpunktes teitet sich zwanglos aus den Hauptschwierigkeiten und Anomalien der Physik seiner Zeit ab: 1. Wenn ein Kther, bzw. ein absoluter Raum und damit ein vor allen anderen

ausgezeichnetes Bezugssystem nicht feststellbar war, hatte man in der Theorie auch explizit davon auszugehen.

2. Wenn ein absolutes Bezugssystem nicht existiert und das Licht relativ zu unserem Bezugssystem den Wert c hat, dann hat es auch in Relation zu allen anderen Bezugssystemen den Weft c.

s6 A. I. Miller, op. cit., S. 319f. Vgl. Poincar~, Science and Hypothesis, New York 1952 (orig. 1902), Kap. 3, 4 und 7; ders., Science and Method, New York o. J. (orig. 1908), S. 93ff.

s7 Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter K/Srper, in: Lorentz/Einstein/Minkowski, Das Relativitiitsprinzip, op. cir. S. 26, zuerst in Annalen der Physik 17 (1905). So h~ngt bei der elektrodynamischen Wechselwirkung das beobachtete Ph~inomen nut ab vonder Relativbewegung von Leiter und Magnet, ,,w~ihrend nach der iiblichen Auffassung die beiden F~ille, daf~ der eine oder der andere dieser K/Srper der bewegte sei, streng voneinander zu trennen sind." (A. a. O.) Aut~erdem widersprach die Maxwellsche Theorie der Planckschen Quantenhypothese. (Vgl. Einstein, Autobiographisches, op. cit. S. 19).

256 Klaus Fischer

3. Die Konsequenzen aus dieser Annahme sind nicht bloi~ rechnerische, sondern physikalisch reale. Um dies immer im Bewut~tsein Zu halten, spricht Einstein nicht yon ,,L~ingen" und ,,Zeiten", sondern von ,,Maflst~- ben" und ,,Uhren" (in den verschiedenen Bezugssystemen).

4. Alle Naturgesetze miissen in allen Bezugssystemen, die zueinander gleich- f6rmig und drehungsfrei bewegt werden (GALILEI-invariant sind) folgtich in gleicher Form gfiltig sein (spezielles Relativit~itsprinzip).

Diese vier Voraussetzungen, die im Lichte der Schwierigkeiten in der Physik seiner Zeit mehr als wahrscheinlich waren, genfigten Einstein zur Formulie- rung der Speziellen Relativit~itstheorie. ,,Die spezielle Relativit~itstheorie weicht also yon der klassischen Mechanik nicht durch das Relativit~itspostulat ab, sondern allein durch das Postulat vonder Konstanz der Vakuum- Lichtgeschwindigkeit, aus welchem im Verein mit dem speziellen Relativit~its- prinzip die Relativit~it der Gteichzeitigkeit sowie die Lorentztransformation und die mit dieser verknfipften Gesetze fiber das Verhalten bewegter starrer K6rper und Uhren in bekannter Weise folgen, ss

In ihrer Erkl~irungsleistung war die neue Theorie derjenigen yon Lorentz zun~ichst kaum iiberlegen. Ihr Vorteil war ein anderer: der Verzicht auf jegliche ad hoc-Annahmen, wie sie fiir die Lorentzschen Transformationsbe- dingungen kennzeichnend waren. Die l~berlegenheit der Relativit~itstheorie bestand also zun~ichst nur in methodisch-formater Hinsicht: Sparsamkeit der Voraussetzungen, Einheitlichkeit der Erkl~irungsprinzipien, metatheoretische Vereinheitlichung von Mechanik und Elektrodynamik.

Es ist ein Irrtum zu gtauben, die neue Theorie sei sofort mit offenen Armen aufgenommen worden 59. Im Jahr ihrer Ver6ffentlichung fehlte jede Reaktion. Ein Jahr sp~iter publizierte der bekannte Experimentalphysiker Kaufmann 6° dann experimentelle Ergebnisse, die sich auf die yon der Relativit~itstheorie und der Lorentzschen Theorie prognostizierte Zunahme der Masse schnellbe- wegter Teilchen bezogen und die mit diesen Theorien in Widerspruch zu stehen schienen. Wiihrend Poincar4 geneigt war, die Falsifikation der Lorentz- Kontraktionen zu akzeptieren, ignorierte sie Einstein. 61 f3berhaupt waren die experimentellen Ergebnisse zu Prognosen aus der Relativit~itstheorie in den ersten Jahren mehrdeutig und schienen eher gegen als fiir die Theorie zu sprechen 62. Selbst die Beweiskraft des Michelson-Experimentes beziiglich der

ss Einstein, Die Grundlagen der allgemeinen Relativit~itstheorie, in: Lorentz/Einstein/Min- kowski, Das Relativit~itsprinzip, op. cit. S. 81.

s9 ,,When Einstein, according to Seelig, submitted his work on relativity as a thesis at Ziirlch University, it was declared by the faculty to be ,inadequate' ; . . . The professor of experimental physics returned Einstein's study, saying: ,I cant't understand a word of what you've written here'." (Lewis Feuer, The Social Roots of Einstein's Theory of Relativity - II, in: Annals of Science 27 (1971), S. 315).

6o Walter Kaufmann, Ober die Konstitution des Elektrons, in: Annalen der Physik 19 (1906). 61 Vgl. Einstein, Uber das Relativit~itsprinzip und die aus demselben gezogenen Folgerungen,

in: Jahrbuch der Radioaktivit~it und Elektronik 4 (1907). 62 Gegen Kaufmann und fur Einstein schreib Max Planck, Die Kaufmannschen Messungen der

Ablenkbarkeit der l~-Strahlen in ihrer Bedeutung fiir die Dynamik der Elektronen, in: Physikalische Zeitschrift 7 (1906); und A .H. Bucherer, Die experimentelle Best~itigung des

Rationale Heuristik 257

Nichtexistenz des g.thers wurde mit guten Griinden angezweifelt 63, (wenn- gleich nicht atlgemein akzeptiert).

Den Durchbruch erzielte erst die Generatisierung der Theorie der speziellen zur Theorie der allgemeinen Relativitiit. Bezeichnend dafiir sind zwei Stellung- nahmen von G. Mie, der selbst eine anspruchsvolle Theorie der Materie entwickelt hatte 64, zur Einsteinschen Theorie. 1914 schrieb er: ,,Bei aller Anerkennung der auflerordentlich scharfsinnigen und miihsamen Arbeit, die Herr Einstein zur Erreichung des gesteckten Zieles aufgewendet hat, kann man doch nichts anders sagen, als dal~ sein Versuch nur ein negatives Resultat gehabt hat." Dagegen 1917: ,,Auf dieses aut~erordentlich fruchtbare Prinzip (der allgemeinen Relativitiit - K. F.) hat Einstein eine wundervolle Theorie der Gravitation aufgebaut . . . . die man wohI als die L6sung des R~itsels vonder Gravitation anzusehen hat. Jedenfalls wird es sich in der n~ichsten Zeit haupts~ichlich darum handeln, die beobachtbaren Konsequenzen dieser Theo- rie zu priifen und alle Folgerungen dieser Theorie zu entwickeln. ''6s Was war inzwischen geschehen ?

Kniipfen wir an das spezielle Relativit~itsprinzip an. Dieses Prinzip war im Grunde noch zur Klassischen Mechanik zu rechnen ; jedoch erst im Verbund mit dem logisch daraus folgenden Gesetz vonde r Konstanz der Lichtge- schwindigkeit in allen Bezugssystemen, die mit Hilfe von GALILEI-Transfor- mationen ineinander iiberfiihrt werden k6nnen, fiihrte das Prinzip zur eleganten Bereinigung einiger altbekannter theoretischer Schwierigkeiten. Neu daran waren weniger die Prinzipien als der Vorsatz, die rechnerischen Ergebnisse auch physikalisch ernst zu nehmen. Doch die Konsequenzen der Theorie 16sten nicht alle Probleme des Newtonschen Weltbildes - vor allem nicht das der Gravitation. L~berdies gab sie Anlaf~ zu neuen Asymmetrien. ,,Wenn dem Begriff der Geschwindigkeit nur ein relativer Sinn zugeschrieben werden kann, soll man trotzdem daran festhalten, die Beschleunigung als

Relativit~itsprinzips, in: Annalen der Physik 28 (1909); gegen Einstein wiederum A. Bestelmeyer, in" Annalen der Physik 22 (1907) und in: Annalen der Physik 30 (1909); Bucherers Antwort auf Bestelmeyer in: Annalen der Physik 30 (1909); ffir Einstein wiederum C. Schaefer, Die tr~ige Masse schnell bewegter Elektronen, in" Physikalische Zeitschrift 14 (1913). In einer anderen Frage, in der die Relativit~itstheorie zu prognostizierten Effekten fiihrt, der Verschiebung der Linien im Sonnenspektrum schreib ffir Einstein: E. Freundlich, Uber die Verschiebung der Sonnenlinien nach dem roten Ende auf Grund der Hypothesen yon Einstein und Nordstr/Sm, in: Physikalische Zeitschrift 15 (1914); gegen Freundlich: K. Schwarzschild, fiber die Verschiebung der Bande bei 3883 A i m Sonnenspektrum, in: Sitzungsberichte der k6niglich-preussischen Akademie der Wissenschaften 1914, 2. Halbband.

63 Vgl. E. Kohl, Uber den Michelsonschen Versuch, in: Annalen der Physik 28 (i909). Fiir den ~ither pl~dieren mit mikrophysikalischen Argumenten noeh 1917 G. Helm, Die ~therhypothese, in: Physikalische Zeitschrift 18 (1917); W. Nernst, in: Verhandlungen der Deutschen Physikali- schen Gesellschaft 18 (1916); Wiechert, in: Physikalische Zeitschrift 12 (1911).

64 G. Mie, Grundlagen einer Theorie der Materie, in: Annalen der Physik 37 (1912), 39 (1912), 40 (1913).

65 G. Mie, Bemerkungen zu der Einsteinschen Gravitationstheorie, Tell II, in: Physikalische Zeitschrift 15 (1914), S. 175; ders., Die Einsteinsche Gravitationstheorie und das Problem der Materie, in: Physikalisehe Zeitschrift 18 (1917), S. 55I.

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absoluten Begriff festzuhalten? ''66 (Die Geschwindigkeit ist die erste, die Beschleunigung die zweite Ableitung des Weges nach der Zeit). Weitere Asymmetrien und begriffliche Unstimmigkeiten ergaben sich durch die Aufspaltung der Energie in ,,zwei wesensverschiedene Teile, kinetische und potentielle Energie", die ,,als unnatiirlich empfunden werden mui~ ''67, durch die Unterscheidung von schwerer und tr~iger Masse und durch die Machsche Frage: ,,Auf welche Weise k6nnen wir dem Tr~gheitsgesetz einen verst~indli- chen Sinn geben? ''6s Die spezielle Relativk~itstheorie war auch nicht in der Lage, die durch das Newtonsche System aufgeworfenen kosmologischen Probleme zu 16sen. Ein Newtonscher Kosmos ist nur dann stabil, wenn die Massen im vorausgesetzten unendlichen euklidiSchen Raum nicht gleichver- teilt sind, sondern eine Art Mitte haben, yon der aus die Sternendichte immer welter abnimmt, um schliefllich einer unendlichen Leere Platz zu machen. Andernfalls wiJrde die auf die einzelnen K6rper wirkende Feldst~irke der Gravitation unendlich grofl werden 69. Zugleich miii~te man fordern, daf~ die Newtonsche ,,Wekinsel" expandiert, veil sie andernfalls unter der Wirkung ihrer eigenen Gravitation kollabieren wiirde.

Das Problem, das zum strategischen Hebel des verallgemeinerten Relativi- t~itspostulates wurde, ergab sich folgerichtig aus den zahlreich zu beobachten- den Bemiihungen, die Theorie der Gravitation in Analogie zu den Maxwell- schen Differentialgleichungen als Nahewirkungstheorie zu formulieren 7°. Einstein wurde bald klar, dal~ die Mittel der speziellen Relativit~itstheorie dafiir nicht ausreichten. ,,Es f~llt auf, dat~ die Theorie (aufler dem vierdimensionalen Raum) zweierlei physikalische Dinge einfiihrt, n~imlich 1. Ma~st~ibe und Uhren, 2. alle sonstigen Dinge, z.B. das elektromagnetische Feld, den materiellen Punkt usw. Dies ist in gewissem Sinne inkonsequent; Maf~st~ibe und Uhren miii~ten eigentlich als L6sungen der Grundgleichungen (Gegen- st'~nde, bestehend aus bewegten atomistischen Gebilden) dargestellt werden, nicht als gewissermal~en theorefisch selbst~ndige Wesen. ''71 Eine neue Relativi- t~itstheorie mutate also auch Gleichungen liefern, denen das Gravitationsfeld selbst geniigt. Da nach der speziellen Theorie und nach den Lorentztransfor- mationen Energie und Tr~igheit einander bedingen, nach Newton und den Versuchen von E6tv6s tr~ige und schwere Masse aber identisch sind, war zu

66 Einstein, Einiges iiber die Entstehung der allgemeinen Retativit~itstheorie, in: ders., Mein Weltbild, Frankfurt I979, S. 135. Einen erkenntnistheoretischen Mangel (,,Mach'sches Paradox"), unter dem die spezielle Relativit~tstheorie in gleicher Weise wie die klassische Mechanik leidet, bespricht Einstein in ,,Die Grundlagen der allgemeinen Relativit~itstheorie" op. cit., S. 82f.

67 Einstein, Autobiographisches op. cit. S. 12. 6s Ernst Mach, Die Mechanik. Historisch-kritisch dargestellt, Darmstadt 1973, S, 233; vgl.

Einstein a. a. O., S, 24. 69 Vgl. Einstein, ~ber die spezielle und die allgemeine Relativit~itstheorie, Brannschweig

211979, S. 84. 7o Vgl. z. B. G. Mie, Grundlagen einer Theorie der Materie, op. tit. ; Gunnar Nordst6m, LYber

den Energiesatz in der Gravitationstheorie, in: Physikalische Zeitschrift 15 (1914); J un Ishiwara, Grundlagen einer relativistischen elektromagnetischen Gravitationstheorie, in: Physikalische Zeitschrift 15 (1914); Max Abraham, Zur Theorie der Gravitation, in: Physikalische Zeitschrift 13 (1912); ders., Das Gravitationsfeld, in: a. a. O.

71 Einstein. Autobiographisches, op. cit. S. 22.

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fordern, daf~ das Gravitationsfeld durch die Verteilung der Energie bestimmt war. ,,Es sind also Differentialgleichungen zu suchen, welche als Verallgemei- nerung yon Poissons Gleichung aufzufassen sind, welche also die g~ (die das Gravitationsfeld bestimmenden Gr6f~en - K. F.) aus den T~ (dem Energieten- sor - K. F.) zu berechnen erlauben; dabei miissen diese Gleichungen allgemein kovariant sein. "'72

Doch war dies nicht der einzige heuristische Anhaltspunkt zur Verallgemei- nerung des Relativit~itsprinzips. Die spezielle Theorie erwies sich nicht nur als unvollst~indig, sondern fiihrte bei der Anwendung auf in Schwerefeldern frei fallende K6rper zu Inkonsistenzen. Sie implizierte n~imlich, dai~ ein K6rper in Abh~ingigkeit yon seinem Energiezustand mit verschiedener Geschwindigkeit f~illt, mit anderen Worten, daf~ tr~ige und schwere Masse nicht identisch sind. Interpretiert man die schwere Masse als Ursache der Bewegungs~inderung des K6rpers im Feld, so ist die tr~ige Masse Ursache des Widerstandes gegen die Ver~inderung des Bewegungszustandes. Nach der speziellen Relativit~itstheorie ist aber nur die tr~ige Masse abh~ingig vom Energiezuwachs des K6rpers. Das Verh~iltnis der tr~igen zur schweren Masse w~ire somit variabel. Diese Ungleichheit widersprach nicht nut der klassischen Theorie und den experi- mentellen Ergebnissen von E6tv6s, sondern auch der im beriihmten Einstein- schen Gedankenexperiment plausibel erscheinenden Gleichheit der Wirkung von Beschleunigung und Gravitation. 73 Auch ,,das so befriedigende Resultat der Relativit~itstheorie, nach welchem der Satz von der Erhaltung der Masse in dem Satz yon der Erhaltung der Energie aufgeht, w~ire nicht aufrecht zu erhalten. ''74 Er h~itte nur noch fiir die gravitierende Masse Giiltigkeit.

Der Unterschied zwisehen dem neuen Einsteinschen Versuch und den konkurrierenden Ans~itzen von Nordstr6m, Abraham, Mie u. a. lag wiederum darin - wie schon zehn Jahre zuvor beim Konflikt um die spezielle Theorie, dat~ die andern an zumindest einigen der klassischen Vorstellungen, d. h. an der durch die Lorentz-Transformationen oder das spezielle Relativit~itsprinzip verbesserten Newtonschen Mechanik, bzw. Maxwellschen Elektrodynamik, festhielten und im Zweifel eine Aufgabe der Identit~it von schwerer und tr~iger Masse vorzogen. 7s Einstein dagegen ergriff die Flucht nach vorne und suchte

72 Einstein, Prinzipielles zur verallgemeinerten Relativit~itstheorie und Gravitationstheorie, in: Physikalische Zeitschrift 15 (1914), S~ 177.

73 Im Fall der spezietlen Retativit~it entspricht diesem Gedankenexperiment ein analoges, das v o n d e r Ununterscheidbarkeit eines ruhenden Systems im feldfreien Raum von einem im Gravitationsfeld frei fallenden ausgeht. (Vgl. Einstein, l~ber die spezielle und die aUgemeine Relativit~itstheorie, op. cit., S. 54ff. ; ders., Zum gegenw~irtigen Stande des Gravitationsproblems, in: Physikalische Zeitschrift 14 (1913), S. 1254f.).

74 Einstein, L~ber den EinfluB der Schwerkraft auf die Ausbreitung des Lichts, in: Lorentz/ Einstein/Minkowski, Das Relativit~itsprinzip, op. cit., S. 74 (orig. : Annalen der Physik 35 (1911)).

7s Vgl. G. Mie, Bemerkungen zu der Einsteinsehen Gravitationstheorie, in: Physikalische Zeitschrift 15 (1914); G. Nordstr6m, Tr~ige und schwere Masse in der Relativit~itsmechanik, in: Annalen der Physik 40 (19t3); M. Abraham, Die Erhaltung der Energie und der Materie im Schwerkraftfelde, in: Physikalische Zeitschrift I3 (1912). Einen von Einstein abweiehenden L6sungsversuch, der die Identit~it yon tr~iger und schwerer Masse bewahrt, gtaubte Nordstr6m gefunden zu haben in ,,Relativit~itsprinzip und Gravitation" (Physikalische Zeitschrift 13 (1912)). Dies sollte nicht zu dem Schluf~ verleiten, Einstein f~ihrte einen einsamen Kampf gegen die

260 Klaus Fischer

eine L6sung in gegeniiber der speziellen Theorie logisch noch einfacheren Grundprinzipien und Transformationseigenschaften, unter anderem natiirlich auch deshalb, weil er sah, daft eine Aufgabe dieser Identit~it nur ein Problem 16ste, die tieferen begrifflichen Unstimmigkeiten aber ungekl~irt liefl. Rational war diese Entscheidung deshalb, weil Einstein eine Heuristik besaf, weil er wuflte, welcher Weg zu gehen war, obwohl natiirlich das genaue Ziel einstweilen noch unbekannt war. Die Probleme der damaligen Physik kreisten um die Unklarheiten der Begriffe Raum, Zeit und Gravitation. Die Gravita- tion, dies war seit Newton bekannt, hing vonder schweren Masse ab. Diese wiederum war mit der tr~igen identisch. Aus den Lorentz-Transformationen und dem speziellen Relativit~itsprinzip kannte man die Abh~ingigkeit der tr~igen Masse vonder Energie, oder, anders gewendet, die Tatsache, daft Energie eine tr~ige Masse besitzt und folglich dem Einfluf der Gravitation, damit der schweren Masse ausgesetzt ist. Letzten Endes reduzierte alles sich auf eine Einwirkung der Energie auf sich selbst, wenn Masse nur eine Form von Energie war. Die Frage war: konnte man auch noch Raum und Zeit als Funktionen von Masse bzw. Energie begreifen? Bekanntnlich hatte Math diesen Gedanken bereits hinsichtlich des Raumes ge~iufert. 76 Nach Mach ist absolute Bewegung ein Begriff ohne physikalischen Inhalt und durch den Begriff der Bewegung gegen das Mittel der anderen Massen zu ersetzen. Bereits aus der spezietlen Theorie folgte auch, dab Maf~st~ibe und der Gang von Uhren von ihrem energetischen Zustand beeinfluft wurden. Die Frage war nur noch, ob diese Beeinflussung als Modifikation eines an sich unabh~ingigen dritten Faktors zu sehen war oder als v6Ilige Determination. W~ihrend Einstein zu Beginn noch der ersten Ansicht zuneigte, entschied er rich sp~iter fiir die zweite.

Doch war diese Frage bei der Konzipierung der allgemeinen Theorie nicht entscheidend. Schon aus der ersten Annahme ergab sich, daft eine Erweiterung der speziellen Theorie um eine Theorie der Gravitation die Form einer Beziehung zwischen Energie einerseits und der vierdimensionalen Raum-Zeit andererseits annehmen mufte, sodaf einer infinitesimalen Ver~inderung der

Anh~inger der alten Theorie. Das Gegenteil ist richtig. Es gab keine klaren Fronten, Einstein hatte ebenso viele potente Fiirsprecher wie Gegner, und auch Mie, Nordstr6m, Abraham et al. fiihlten sich als Vertreter revolution~irer Wissenschaft (zu Recht). Wie schwankend die Fronten waren, ersieht man daran, da~ schliel~lich Ernst Mach, der so viel fiir die Durchsetzung der Relativit~its- idee getan hatte, sich nach anf~glicher Zustimmung gegen die allgemeine Relativit~itstheorie aussprach, zur tiefen Entt~iuschung Einsteins. Die aus der Theorie folgenden Knderungen der Metaphysik des Raumes und der Zeit, ja des gesamten Weltbildes, waren ihm vermutlich zu radikal, zu dogmatisch, zu abstrakt und zu wenig an den Erfahrungstatsachen (den ,Empfindun- gen') ofientiert. Dies ist alles, was seiner allgemeinen Orientierung und seinem Vorwort zu den ,,Prinzipien der physikalischen Optik" (Leipzig 1921; Vorwort von 1913) zu enmehmen ist. Genauere Griinde sind unbekannt, da Mach starb, bevor er seine Vorwfirfe pr~izisieren konnte. Michelson, der mit seinen Experimenten so viel zur Unterminierung der Kthertheorie beigetragen hatte, jedoch niemals Anh~inger der Relativit~itstheorie wurde, soll einst zu Einstein gesagt haben, ,,that he was sorry that his own work may have helped to start this ,monster'." (Zit. nach Holton, Mach, Einstein, and the Search fiir Reality, in: ders., Thematic Origins of Scientific Thought, op. cit. S. 98f.).

76 Vgl. Einstein, Grundziige der Relativit~itstheorie, Braunschweig s1979, S. 98f.

Rationale Heuristik 261

ersteren eine infinitesimale Veriinderung der anderen entsprach. Daf~ die zu verwendende Mathematik Differentialgleichungen sein muf~ten, war schon aus diesen Annahmen ersichtlich, ebenso, dat~ die zugrundeliegende Raum-Zeit- Geometrie nicht die von Euldid, sondern eine mit ver~inderlichen Kriim- mungsmai~en sein muf~te - beispielsweise die yon Gauf~, Riemann oder Lobatschewskij. Daf~ ein mathematischer Kalkiil, der fiir Einsteins Zwecke sehr geeignet war, die Tensoranalysis, bereits entwickelt war, ist ein gliicklicher Zufall, dat~ Einstein auf ihn stief~, war keiner: er hatte nach einem mathemati- schen Instrument gesucht, das der gew6hnlichen Differentiatrechnung iiberle- gen war. Damit war die L6sung, nicht in allen Einzelheiten und Parametern, aber in ihrer wesentlichen Struktur bestimmt. ,,There is only one tensor ( . . . ) in V 4 (a curved Riemannian manifold. - K.F.) which is linear in g¢,, ~¢, contains no higher derivatives of the metric and whose divergence vanishes identically: G¢~ -- R¢~ - 1/2 g¢,R. Vanishing of a divergence represents conser- vation and we legitimately suspect that energy and momentum of m a t t e r . . . should be conserved. Thus we obtain the general relativistic field equations G,~ = - kT,,, where k is a constant. "'z7

,,Das Eigenartige an diesen Gleichungen ist einerseits ihr komplizierter Bau, besonders ihr nichtlinearer Charakter in bezug auf die Feldvariablen und deren Ableitungen, andererseits die fast zwingende Notwendigkeit, mit welcher die Transformationsgruppe dies komplizierte Feldgesetz bestimmt . . . . Wenn irgend etwas - abgesehen yon der Forderung der Invarianz der Gleichungen beziiglich der Gruppe von kontinuierlichen Koordinatentransformationen- in der . . Theorie m6glicherweise endgiiltige Bedeutung beanspruchen kann, so ist es die Theorie des Grenzfalles des reinen Gravitationsfeldes und dessen Beziehung zu der metrischen Struktur des Raumes. ''78

77 A. H. Klotz, On Some Philosophical Aspects of the Unified Field Theories, in: Studium Generale 22 (t969), S. 1197.

78 Einstein, Autobiographisches, op. cit., S. 28. Der bekannte Ausdruck Rik -- I/2 g~ R = - kTik ist ein System von 10 partiellen Differentialgleichungen, aus denen sich, wenn die zehn Komponenten des Energietensors T i bekannt sind, die zehn Komponenten gik des metrischen Tensors berechnen lassen. Rik und R werden aus dem Riemannschen Kriimmungstensor Riklm gebildet und k ist eine universelle Konstante. Im Falle der speziellen Relativit~itstheorie wird Rik gleich Null. ,,Das zweite Glied der linken Seite ist aus formalen Griinden zugefiigt; die linke Seite ist n~imllch so geschrieben, d ~ ihre Divergenz im Sinne des absoluten Differentialkalkiils identisch verschwindet. Die rechte Seite ist eine formale Zusammenfassung aller Dinge, deren Erfassung im Sinne einer Feldtheorie noch problematisch ist." (Einstein, a. a. O., S. 28) Das heiltt, die Relativit~itstheorie, wie sie sich in den genannten Feldgleichungen ausdr/ickt, ist noch unvollst~indig. Sie ist wenig mehr ats eine Theorie des reinen Gravitationsfeldes, das nur ein Element eines umfassenderen Gesamtfeldes darstellt. Allerdings lassen sich aus ihr wiederum heuristische Hinweise gewinnen, welche Richtung eine Verallgemeinerung der Feldtheorie einzuschlagen hat. ,,Die Gruppe der allgemeinen Relativit~it bringt es zum ersten Mal mit sich, dall" das einfachste invariante Gesetz nieht linear und homogen in den Feldvariablen und ihren Differentialquotienten ist. Dies ist aus folgendem Grunde yon fundamentaler Wichtigkeit. Ist das Feldgesetz linear (und homogen), so ist die Summe zweier L6sungen wieder eine L6sung; . . . In einer solchen Theorie kann aus dem Feldgesetz allein nicht auf eine Wechselwirkung von Gebilden geschlossen werden, die isoliert durch L6sungen des Systems dargestellt werden k6nnen. Daher bedurfte es in den bisherigen Theorien neben den Fetdgesetzen besonderer Gesetze fiir die Bewegung der materiellen Gebilde unter dem Einflu£ der Felder . . . . Wiirde man die

262 Klaus Fischer

Was folgt aus den angestellten L~erlegungen ? 1. Bei n~iherem Hinsehen wird klar, daft die der gesamten modernen

Wissenschaftstheorie vom Wiener Kreis bis Feyerabend zugrundeliegende Trennung des Entdeckungs- vom Begriindungszusammenhang und ihre jeweilige Zuordnung zur Psychologie einerseits und zur Logik andererseits fiir die Wissenschaftsgeschichte keine Geltung beanspruchen kann.

2. An den historischen Schnittstellen der Theoriengeschichte, beim Ubergang vom alten zum neuen ,,Paradigma", geht der ,,context of criticism" der alten Theorie in den ,,context of discovery" der neuen iiber. Diese Situation gestattet nur mehr eine analytische Unterscheidung der beiden F~ille. Erst hier erh~ilt die Vorstellung Feyerabends, daft Theorien nur mit Hilfe anderer Theorien kritisiert und nur mit Hilfe einer besseren Alternative widerlegt werden k/Snnen, ihren vollen Sinn: Nur solche Kritik ist ,,gute", wirksame Kritik, die diejenigen Probleme der gegenw~irtigen Theorie aufgreift, die zur Heuristik einer neuen taugen.

3. Die Grundprobleme, die zum ,,Motor" der wissenschaftlichen Entwick- lung werden, sind sehr oft nicht empirischer Natur, sondern in begrifflichen und konstruktiven Schw~ichen der alten Theorien zu suchen. Meist sind es solche, die bereits zu Beginn bekannt waren, ohne da~ man fiber die Mittel verfiigte, sie zu beseitigen. Dies gilt zum Beispiel in der klassischen Physik fiir die Natur der Gravitation, der absoluten Bewegung oder des unbewegli- chen, unendlichen euklidischen Raumes. Erst die weitere Entwicklung stellte die Instrumente bereit, die eine Beseitigung dieser Schwierigkeiten erlaubten: die Geometrien von Gauf~ und Riemann, den Absoluten Differentialkalkiil von Ricci und Levi-Civita 79 und die Maxwellschen Feldgleichungen.

4. Theorien werden durch Experimente weder falsifiziert noch gefunden. Nach den Angaben Einsteins spielte bei der Entwicklung der Speziellen

Fetdgleichungen des Gesamtfetdes haben, so miiflte man verlangen, daft die Teilchen setbst als iiberall singularit~itsfreie Ltsungen der vollstiindigen Feldgleichungen sich darstellen lassen. Dann erst w~e die allgemeine Relativitiitstheorie eine vollst~indige TheorieS' (A. a. O., S. 29f.) Zum Einsteinschen Ltsungsvorschlag vgl. a. a. O. S. 34f. Die Priifung und weitere Entwicklung solcher allgemeiner Feldtheorien scheitert einstweilen noch am Mangel an mathematischen Ltsungsver- fahren. (Vgl. Einstein, Grundziige derRelativit~itstheorie, Braunschweig s1979, S. 162f.) Trotz der weitgehenden Bestimmung der gesuchten Feldgleichungen der Gravitation dutch formale und inhaltliche Ad~iquatheitsbedingungen war die Ltsung yon 1916 (,,Die Grundlagen der allgemeinen Relativit~itstheorie", in: Annalen der Physik 49 (1916) keineswegs auf mechanischem Wege zu finden. Die Komplexit~it des mathematischen Instrumentariums und die Uberdeterminierung der LSsung durch die geforderten Bedingungen machen die Zelt von 1912 bis 1916 zu einem Musterbeispiel fiir die Rolle mathematischen R~isonnierens im wissenschaftlichen Innovationspro- zefl. (Vgl. J. Earman/C. Glymour, Lost in the Tensors: Einstein's Struggles with Covariance Principles 1912-1916, in: Stud. Hist. Phil. Sci. 9 (1978); dies., Einstein and Hilbert: Two Months in the History of General Relativity, in: Archive for Hist. of Exact Sciences 19 (1978)).

79 Der Gebrauch der Tensoranalysis war um 1914 unter Physikern noch derart ungewthntich, daft Einstein in seiner Akademiearbeit von 1914 (Die formale Grundlage der allgemeinen Relativit~itstheorie)5/6 des Umfangs auf die Darstellung und Erl~iuterung der mathematischen Grundlagen verwendet. (Sitzungsberichte der ktniglich-preussischen Akademie der Wissenschaf- ten 1914, S. 1030-I085).

Rationale Heuristik 263

Relativit~itstheorie das Michelsonsche Experiment ebensowenig eine Rolle wie das E6tv6ssche (zur Identitiit von triiger und schwerer Masse) bei der Entdeckung der Allgemeinen. Auf der anderen Seite haben weder diese Experimente noch diejenigen von Kaufmann, Bestelmeyer, Bucherer, Neumann u. a. zur Geschwindigkeitsabh~ingigkeit der Elektronenmasse die klassische Physik widerlegt. Einer anderen Theorie, der elektromagneti- schen, w~ire es um ein Haar gelungen. Daf sie schliefflich doch versagte, lag daran, daft sie die gleiche Raum-Zeit-Metaphysik zugrundelegte wie die Theorie, zu deren Uberwindung sie antrat.

5. Der strategische Ansatzpunkt fiir eine L6sung der Probteme lag nicht in den augenf~itligen Konflikten der einzelen Theorien mit bestimmten Ph~inomenen, sondern, wie Einstein sehr klar erkannte, in den tieferen (wenn man will ,,metaphysischen") Asymmetrien, Inkonsistenzen und begrifflichen Widerst~inden, die beide Theorien gemeinsam auszeichneten. Die L6sung land Einstein, indem er nicht wie Lorentz oder Poincar~ interne Anpassungen vornahm, die zwar die empirischen Konflikte besei- tigten, nicht aber die begrifflichen, sondern indem er die metatheoretischen Axiomen ~inderte. Die Richtung der .Knderung ergab sich aus den bisheri- gen Schwierigkeiten, zur L6sung dienten Gedankenexperimente, methodi- sche, logische und ~isthetische Uberlegungen. ,,Gleichungen von solcher Kompliziertheit wie die Gleichungen des Gravitationsfeldes k6nnen nur dadurch gefunden werden, daf eine logisch einfache mathematische Bedin- gung gefunden wird, welche die Gleichungen v611ig oder nahezu determi- niert. Hat man aber jene hinreichend starken formalen Bedingungen, so braucht man nur wenig Tatsachenwissen fiir die AufsteUung der Theorie; bei den Gravitationsgleichungen ist es die Vierdimensionalitiit und der symmetrische Tensor als Ausdruck fiir die Raumstruktur, welche zusam- men mit der Invarianz beziiglich der kontinuierlichen Transformations- gruppe die Gleichungen praktisch vollkommen determinieren. ''8° Erst danach, erst dann, als die neue Theorie ausgereift war, konnte man fragen, welche neuen Ph~inomene aus ihr folgten, konnte man Experimente ersinnen, die zwischen ihr und der alten Theorie diskriminierten. Doch diese Experimente waren nicht entscheidend, weil jedes von ihnen verschie- dene Interpretationen erlaubte, unter Umstiinden verschiedene, sogar konkurrierende Theorien zugleich best~itigen konnte. Schon das Michelson- Experiment und die Zunahme der Masse mit der Geschwindigkeit best~itig- ten sowohl Einstein als auch Lorentz und Poincar~. Die Verschiebung der Linien des Sonnenspektrums war zweideutig und es gab alternative

80 Einstein, Autobiographisches, in: Schilpp (Hrsg.), op. cir., S. 33f. An etlichen anderen Stellen weist Einstein darauf hin, dai~ auch Feldgleichungen yon komplexerer Struktur, mit noch h6herdimensionalen R~iumen, h6heren als nur zweiten Abteitungen und mit komplexeren Transformationsgruppen denkbar seien. Solche Gleichungen sind auch ausgefiihrt worden, sowohl yon Einstein selbst als auch von Kaluza und Weyl. (Vgl. Einstein/Bergmann, On a Generalization of Kaluza's Theory of Electricity, in: Annals of Mathemathics 39 (1938)). Allerdings haben diese komplizierteren Feldtheorien sich nicht bew~ihren k6nnen.

18"

264 Klaus Fischer

Erkl~irungen (Verschiebung durch Druck (J. Evershed))SL Das Vorriicken des Merkur-Perihels wurde von dem bekannten Astronomen Seeliger durch interplanetarische Staubmassen erkl~irt. In Bezug auf das Problem der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit muf~ selbst einer der eifrigsten Verteidi- ger Einsteins, Erwin Freundlich, zugeben, bei der spektroskopischen Untersuchung von Doppelsternen l~igen ,,auffallende Symptome vor, die bisher nur durch die Ver~derlichkeit der Lichtgeschwindigkeit sich erkl~iren lassen. ''82 Bliebe schlieglich die Kriimmung der Lichtstrahlen im Gravitationsfeld der Sonne. Dieser Effekt konnte erst bei der totalen Sonnenfinsternis 1919 von Eddington, Dyson und Davidson gemessen werden, das heiiSt zu einer Zeit, in der die Allgemeine Relativit~itstheorie bereits ihre im wesentlichen endgiiltige Form gefunden hatte (1916) und ihre theoretische und heuristische 12berlegenheit gegeniiber der klassischen Mechanik meistenteils anerkannt war. Auch diese Messung h~itte, selbst wenn sie friihzeitiger gekommen w~ire, kein experimentum crucis abgege- ben, denn auch die Gravitationstheorie von Max Abraham prognostizierte eine Kriimmung der Bahnkurven des Lichts im Gravitationsfeld. 83

6. Der entscheidende Kampf zwischen der klassischen Mechanik, der relativi- stischen Mechanik und ihren Konkurrentinnen wurde auf dem Feld der Heuristik ausgetragen und entschieden. Zur Kritik yon Erich Kretschmann, das Relativit~itsprinzip (= Naturgesetze sind nur Aussagen ~iber zeitr~ium- liche Koinzidenzen und finden ihren natiirlichen Ausdruck daher einzig in allgemein kovarianten Gleichungen) sei keine Aussage iiber die physikali- sche Realit~it, sondern nur eine Forderung hinsichtlich der mathematischen Formulierung der Naturgesetze, bemerkt Einstein: ,,Wenn es .. auch richtig ist, daft man jedes empirische Gesetz in allgemein kovariante Form mug bringen k6nnen, so besitzt das Prinzip .. doch eine bedeutende heuristische Kraft, die sich am Gravitationsproblem ja schon gl~inzend bew~ihrt hat und auf folgendem beruht. Von zwei mit der Erfahrung vereinbarten theoretischen Systemen wird dasjenige zu bevorzugen sein, welches vom Standpunkte des absoluten Differenfialkalkiils das eirrfachere und durchsichtigere ist. Man bringe einmal die Newtonsche Gravitations- mechanik in die Form yon absolut kovarianten Gleichungen (vierdimensio- hal) und man wird sicherlich iiberzeugt sein, daft das Prinzip .. diese Theorie zwar nicht theoretisch, aber praktisch ausschlieflt !,,s4

Die heuristischen Reserven der Atlgemeinen Relativit~itstheorie sind bis heute kam in ihrer vollen Reichweite erkannt, geschweige denn

sl Im iibfigen folgte diese Verschiebung auch aus der Gravitationstheorie yon Nordstr6m. Das Experiment h~itte also nicht zwischen dieser und der Theorie yon Einstein diskriminieren k6nnen. (Vgl. Einstein, Zum gegenw~.rtigen Stand des Gravitationsproblems, in: Physikalische Zeit- schrift 14 (1913), S. 1266).

~2 E. Freundlich, Zur Frage der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, in: Physikalische Zeitschrift 14 (1913), S. 838.

s3 Abraham, Zur Theorie der Gravitation, in: Physikalische Zeitschrift 13 (1912). s4 Einstein, Prinzipielles zur allgemeinen Relativit~itstheorie, in: Annalen der Physik 55 (1918),

S. 242; Kretschmann, ~ber den physika|ischen Sinn der Relativit~tspostulate, in: Armalen der Physik 55 (1917),

Rationale Heuristik 265

ausgesch6pft. 85 Alle kosmologischen Modelle von de Sitter und Hubble bis zu Wheeler, Hawking und Penrose gehen auf sie zuriick. Der Fortschritt v o n d e r statischen, im flachen, unendlichen euklidischen Raum sich verlierenden und stetig zerstrahtenden Sternzusammenballung der klassi- schen Theorie zur vierdimensionalen Raum-Zeit, in der Energie, Raum und Zeit kausal voneinander abh~ingen und die bizarrsten zeitr~iumlichen Strukturen hervorbringen und wieder verschwinden lassen, ist atemberau- bend und verhilft zu fortw~ihrend neuen theoretischen M6glichkeiten und Perpektiven. Die Suche nach Gravitationswellen, die Erforschung der Raum-Zeit-Verzerrung im Nahbereich der Erde, die jiingsten Erfolge der Radio- und R6ntgenastronomie bei der Erforschung yon Quasaren und Black-Holes gehen zuriick auf die heuristische Kraft der Allgemeinen Relativit~itstheorie.

7. Trotz ihrer unsch~itzbaren heuristischen und theoretischen Uberlegenheit ist die Relati~cit~itstheorie der klassischen Mechanik empirisch und hinsicht- lich der praktischen Anwendbarkeit nach wie vor unterlegen. So gelang es erst 1938, nach Ans~itzen aus dem Jahr 1927, allgemein relativistische Approximationen (!) fiir die Bewegung realer K6rper zu finden. 86 Die Rechnungen werden hier derart kompliziert, dal~ die Theorie fiir Anwen- dungen auf F~ille, in denen v/c sehr klein und die Ver~inderlichkeit des Gravitationspotentials vernachl~issigbar ist, nicht in Betracht kommt. Man erh~ilt die paradoxe Situation, daf~ eine ,,falsifizierte" Theorie ihrer Nach- folgerin in theoretischer, methodischer und heuristischer Hinsicht in gleichem Maf~e unterlegen ist wie sie in praktischer und empirischer Hinsicht triumphiert. Der Grund daftir ist nicht die (f~ilschliche) Annahme, die klassische Mechanik sei ein Grenzfall der relativistischen, sondern die Erfahrung, datt selbst approximative L6sungen der ,,richtigen" (relativisti- schen) Gleichungen oft die besten Mathematiker iibeffordern, w~ihrend exakte L6sungen der ,,falschen" (klassischen) Gleichungen schon einem Primaner zuzutrauen sind. Uberdies ist die Anwendbarkeit der Relativitiits- theorie in interessanten Situationen erhebtich dadurch behindert, dal~ keine

ss Dies betrifft vor allem die Anwendung derTheorie auf die Mikrophysik. Dazu Einstein: ,,Ist es denkbar, dat~ eine Feldtheorie die atomistische und Quantenstruktur der Realit~it zu verstehen gestattet ? Diese Frage wird yon fast allen mit ,Nein' beantwortet, tch glaube aber, dall gegenw~irtig niemand etwas Zuverl~issiges dariiber weifl . . . . Wir besitzen ja iiberhaupt keine Methode, singularit~itsfreie L6sungen systematisch abzuleiten. Approximationsmeth/~den helfen nichts, da man nie well1, ob zu einer NKl~erungsl6sung eine singularitiitsfreie strenge L6sung geh6rt. Aus diesem Grunde k6nnen wir gegenw~irtig den Gehalt einer nichtlinearen Feldtheorie nieht mk der Erfahrung vergleichen. Nur ein bedeutender Frotschrittt in den mathematischen Methoden kann hier helfen." (Einstein, Grundziige der Relativit~itstheorie, Braunsehweig s1979, S. 162f.).

86 Einstein/Grommer, Allgemeine Relativit~it und Bewegungsgesetz, in: Sitzungsberichte der preussischen Akademie der Wissenschaften 1927; Einstein, Allgemeine Relativit~it und Bewe- gungsgesetz, in: a. a. O, 1927; Einstein/Infeld/Hoffmann, The Gravitational Equations and the Problem of Motion, in: Annals of Mathematics 39 (1938); Einstein/Infeld. The Gravitational Equations and the Problem of Motion It; in: Annals of Mathematics 41 (I940); vgl. auch Levi- Civita, The n-Body Problem in General Relativity, Dordrecht 1974 (orig. 1950).

266 Klaus Fischer

Operationalisierungsvorschriften existieren. Es besteht bis heute keine M6glichkeit, das Potential eines Gravitations-(Beschleunigungs-)Feldes direkt zu messen.

4. JENSEITS DES ANARCHISMUS: KONTEXTUALE VERNUNFT

Wie wir sahen, hat Kritik in der Wissenschaft eine zugleich schw~ichere und st~irkere Wirkung, als man vom Standpunkt des Falsifikationismus aus annehmen wiirde. Sie ist schw~icher, weil Theorien, sotange sie ihre globale Interpretationsfunktion erfiillen, nicht an partieUen Schwierigkeiten - kontr~i- ren ,,Tatsachen" - scheitern, zumindest nicht, solange keine bessere, alterna- tive Theorie verfiigbar ist. Alternativen werden zwar immer gesucht, in der Regel aber erst dann im einzelnen ausgearbeitet, wenn die Erfiillung der globalen Funktion fraglich geworden, die Wahrnehmung fiir widersprechende Fakten sensibilisiert ist und die vorhandenen Schwierigkeiten ernst genommen werden. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo der Kritik eine Aufgabe zukommt, deren Ergebnis die bisherlge Wissenschaftstheorie nur noch mit Begriffen wie ,,Aha-Erlebnis", ,,Gestaltwandel" oder ~ihnliches zu beschreiben wul~te. Aber diese Kritik ist nicht mehr die etwas ~irmliche Konfrontation von Theorien mit Tatsachen (oder ,,falsifizierenden" Hypothesen), die die bishe- rige Wissenschaftstheorie ins Zentrum stellt, "oder der Zusammenstofl zweier spontan erzeugter Theorien, sondern die heuristische Verwendung bekannter begrifflicher, empirischer, methodologischer, metaphysischer Probleme der alten Theorie zur Suche nach einer neuen. Der ,,context of criticism" der alten Theorie verschmiht mit dem ,,context of discovery" der neuen. Reale Prozesse dieser Art sind naturgem~ifl sehr komplex und mit grofler Sicherheit nicht in eine allgemeine ,,Innovationsvorschrift" transformierbar. 87 Ein bestimmter Typus von Innovation l~iflt sich jedoch anhand unserer Beispiele ktar erkennen: Ihm liegt die Strategie zugrunde, nicht zu fragen, wie man eine altbekan'nte Anomalie, eine empirische, begriffliche, metaphysiche Schwierig- keit zum Verschwinden bringen kann, sondern wie eine Theorie aussehen miiflte, die die Aporie/Paradoxie/begriffliche Liicke ins Positive wendet und zum Axiom erhebt. Die ,,Kunst der Erfindung" liegt ganz offensichtlich darin, daft es nicht gleichgiiltig ist, wo man ansetzt, welches Problem der alten Theorie man zum Angelpunkt der neuen macht. Aus rein 6konomischen Griinden ist es unm6glich, alle Kandidaten zu testen, denn die neue Theorie bedarf schon eines gewissen Grades technischer Durchfiihrung, bis sic zur ernsthaften Konkurrentin der alten werden kann. Grof~en Einflufl auf die Wahl des Problems und auf die Technik derL6sung hat erfahrungsgem~it~ auch der

s7 Es ist erstaunlich, wetche Beweiskraft man dem sicher richtigen Argument, es gebe keine ,,Logik der Entdeckung" im strengen Sinn, bisher zubilligte. Sicherlich ist den Anh~ingern dieses Arguments entgangen, daft es auch keine ,,Logik der Integration mathematischer Gleichungen" gibt, daft man sich oft mit n~iherungsweisen L6sungen oder graphischen Methoden behelfen muff, daft die Integration bestimmter nichtlinearer Feldgleichungen der Allgemeinen Relativit~itstheorie bis heute nicht gelungen ist. Allerdings findet man bei keinem dieser Verfechter ,strenger" Methoden eine Verwerfung des Infinitesimalkalkiils.

Rationale Heuristik 267

Stand jeweiliger Hilfswissenschaften - etwa der Mathematik. So wurde klar, dai~ Einstein ohne die Riemannsche Geometrie gekriimmter Fl~ichen, den Absoluten Differentialkalkiil von Ricci und Levi-Civita und die Maxwellschen Gleichungen niemals zur Allgemeinen Relativit~itstheorie h~itte kommen k/Snnen. In gewissem Sinne sind Leistungen dieser Gr6f~enordnung vom Stand der Wissenschaften insgesamt abh~ingig. Schon viele Wissenschaftler vor Einstein erkannten eine Grundschw~iche der Newtonschen Theorie: die absolute Raumauffassung. Man denke an d'Alembert, Lagrange, Mach, Hertz. Poincar~ und Lorentz schliefflich verwendeten den gr6f~ten Scharfsinn darauf, die Grundlagen der Newtonschen Mechanik und der Maxwellschen Elektro- dynamik zu retten, indem sie die Idee des _Kthers verteidigten und so weiterentwickelten, dat~ sie mit den bekannten Experimenten halbwegs zu vereinbaren war. Einstein ging den anderen Weg, verwies kurz auf einige der bekannten Probleme der Maxwelt-Lorentz'schen Theorie und fragte, wie die Sache aussehen wiirde, wenn man bei der Formulierung von Theorien auf ein absolutes r~iumliches und zeitliches Bezugssystem nicht nur verzichtete, sondern die geforderte Raum-Zeit-Invarianz auch noch zum grundlegenden Axiom erkl~irte. Kann man diese Idee auf die bekannten Schw~ichen der bisherigen Wissenschaftstheorie anwenden ?

Betrachtet man diese nicht mehr als Wissenschafts-Logik, als eine Art prima philosophia, sondern als realwissenschaftliches Unternehmen unter anderen (dies ist bereits der erste heuristische Gesichtspunkt), so besteht kein Grund zu der Annahme, dai~ man es nicht kann. Wo liegen die grundlegenden Schwierigkeiten der alten Metatheorie ? Es erwies sich trotz aller Anstrengun- gen als undurchfiihrbar, Wissenschaftsentwicklung als finalen Prozef~ - Approximation an Wahrheit - zu konstruieren, in dem der Wahrheitsgehalt jeweils aufeinanderfolgender Theorien konserviert, vermehrt und nur die Klasse der falschen Konsequenzen ausgeschieden wird. Es war weiterhin nicht m/Sglich, irgendeine Methode der Bew~ihrung oder Priifung zum allgemeinen Maf~stab zu erheben, an dem rationales Entscheidungsverhalten zu messen war. Unsere Heuristik lautet also in erster Ann~iherung: Wie k6nnte die Metatheorie einer Wissenschaft aussehen, die keinen Wahrheitsgehalt akkumu- liert, sich, obwohl einer Entwicklung unterworfen, nicht nachweisbar der Wahrheit n~ihert, in ihrer Methode pragmatisch, das heifer den jeweiligen Umst~inden entsprechend, verf~ihrt, und trotzdem als verniinftiges Unterneh- men interpretierbar ist ?

Es ist anzunehmen, daft es mehr als eine L6sung gibt, die die genannte Bedingung erfiillt. Sie ist noch zu allgemein und bedarf der Pr~izisierung und Eingrenzung. In welcher Weise dies geschehen kann, ist wiederum der Heuristik zu entnehmen. Wenn man feststellt, daf~ Wissenschaft sich zwar nicht nachweisbar ,,der Wahrheit" n~ihert, sich aber aUem Anschein nach ver~indert, m6glicherweise sogar entwickelt, dann erhebt sich die Frage nach geeigneten Kriterien, anhand derer diese Ver~inderung oder Entwicklung bestimmt werden kann. Das Kriterium des Gehalts wurde verworfen. In gleicher Weise werden sich alle Kriterien, die als Funktion der Relation zwischen dem Symbolsystem ,,Wissenschaft" und der ,,realen Aul%nwelt'"

268 Klaus Fischer

definiert sind, in einen infiniten Regrefl verstricken. ,,Was sich der metaphysi- sche Realist wiinscht, was er aber . . . nicht haben kann, ist ein ,radikal nichtepistemischer Wahrheitsbegriff', d. h. ein Wahrheitsbegriff, demzufolge ,eine Theorie, die hinsichtlich ihrer Operationalisierbarkeit, inneren Sch6nheit und Eleganz, Plausibilit~t, Einfachheit und Gediegenheit etc. ideal ist, gleichwohl falsch sein k6nnte.' Der metaphysische Realist glaubte dies sagen zu miissen, well er darin die einzige M6glichkeit sah, zwischen den Pr~dikaten ,wahr' und ,mit Berechtigung behauEtbar' einen klaren Unterschied zu machen . . . . In Wirklichkeit kann der Skeptiker durch nichts widerlegt werden - es ist unm6glich, zu leisten, was die Erkenntnistheorie zu leisten hoffte. Nur innerhalb unserer gegenw~irtigen Theorie/,ibe~r die iibrige Welt k6nnen wit n~'nlich herausfinden, wie die Sprache funktioniert; wie k6nnen nicht einen Tell unserer gegenw~irtigen Theorie dazu benutzen, uns der Giiltigkeit ihrer iibrigen Teile zu versichern . . . . Unsere beste Theorie dariiber, worauf wir sprachlich Bezug nehmen, ist nicht mehr ats das unkontroverse Nebenprodukt unserer besten Theorie fiber die Dinge im allgemeinen. ''88

Somit geht auch die Erkenntistheorie den gleichen Weg, den vor ihr die klassische Mechanik, die (physikalische) Geometric, die (angewandte) Arith- metik und Algebra gingen: sie wird zur Realwissenschaft. Kant glaubte noch, die Newtonsche Mechanik als synthetisch a priori beweisen zu k6nnen; vor Gauss, Riemann und anderen nahm man dasselbe vonder Geometric an. W. R. Hamilton entwickelte eine Form der Algebra (Algebra der Quaternionen, einer Art Hyperzahlen), in der Multiplikation nicht kommutativ ist (d. h. 3 × 4 ist ungleich 4 × 3). Andere seltsame Algebren wurden entwickelt. Helmholtz schlietglich dehnte die Untersuchung auf die Anwendung der Arithmetik im physikalischen Melgprozef~ aus.

Aus der Erkennntis, daft Wissensch'aft, sofern sic etwas iiber die Welt behauptet, nichts, weder Mathematik, noch Logik, noch Methodologie als giiltig unterstellen kann, hat die Wissenschaftstheorie zwei Auswege gefun- den: als Resignationsl6sung den Anarchismus Feyerabends - und als progres- sive L6sung den ,network approach of scientific theories', der seine Wurzeln in der allgemeinen Systemtheorie hat. s9

Die Netzwerktheorie von Wissenschaft, deren Ausarbeitung noch in vollem Gange ist, stelk neue begriffliche M6glichkeiten zur Verfiigung, die die klassischen Aporien vermeiden, und mit deren Hilfe sich Entwicklung und Ver~nderung wissenschaftlicher Satzsysteme erfassen lassen, zum Beispiel die Klasse aller Pr~idikate, die auf Symbol-(Sprach)Systeme anwendbar sind, wie

• " ' " " e " ' " "' "' ,,emfach , ,,komplex", ,,differenziert", ,,mtegn rt ,,,flex, bel , ,,starr , ver- schiedene Typen yon ,,geordnet", ,,abstrakt" usw. Es gibt a priori keine Griinde, anzunehmen, dai~ Wissenschaftsentwicklung mit Hilfe dieser oder

88 R. Rorty. Der Spiegel der Natur, op. cir. S. 322f. (Das Zitat im Zitat ist aus H. Putnam, Realism and Reason, in: Proceedings of the American Philosophical Association Vol. 50 (1977), s. 485.)

s~ Vgl. N. Rescher, Cognitive Systematization. A Systems-Theoretic Approach to a Coher- entist Theory of Knowledge, Oxford 1979; ders., Empirical Inquiry, London 1982.

Rationale Heuristik 269

~ihnlicher Begriffe nicht metatheoretisch beschreibbar ist. Eine andere Frage ist, ob sich mit ihrer Hilfe eine Gerichtetheit der Entwicklung finden und als positiv auszeichnen l~if~t. Diese Frage betrifft den normativen Status der neuen Metatheorie. Ist sie zu bejahen, dann w~e es denkbar, der Forschungspraxis wieder allgemeine Empfehlungen zu geben - etwa: Sucht nach abstrakteren Theorien! Versucht, die Symbolsysteme benachbarter Wissenschaften zu integrieren ! Sucht nach m6glichst wenigen und einfachen obersten Prinzipien ! usw. 9° Solche Empfehlungen w~iren aUerdings keine absoluten mehr wie in der bisherigen Wissenschaftslehre. Es ist ohne weiteres denkbar, dalg ,,Wende- punkte" existieren, die eine Revision der Empfehlungen - vielleicht auch eine Differenzierung hinsichtlich verschiedener Wissenschaften - erfordern.

Eine normative Wendung und damit die Auszeichnung einer bestimmten Entwicklungsrichtung wird davon abh~ingen, ob es gelingt, einen Zusammen- hang zwischen diesen abstrakten Pr~idikaten und weiteren Merkmalen von Wissenschaft zu linden. ,,Wissenschaft" ist bisher nur unzureichend benannt als ,,Symbol- oder Sprachsystem". Dieses Symbolsystem dient natiirlich auch einem gewissen Zweck, traditionsgem~if~ als ,,L6sung yon Problemen" umschrieben. Diese Umschreibung ist so rage, dai~ sich kaum etwas dagegen einwenden l~iflt. Man sollte jedoch beachten, daft die Variationsbreite m6gli- cher Probleme gewaltig ist. Je nach Vorliebe und theoretischer Orientierung kann man der Wissenschaft die Aufgabe stellen, technische, soziale, theoreti- sche, formale, konzeptionelle, moralische, religi6se Probleme, oder was irnmer einem wichtig erscheint, zu behandeln. Doch ist dies nut Ausdruck dafiir, dat~ jede Wissenschaft bestimmte Entscheidungen hinsichtlich ihrer prim~iren Ziele zu treffen hat. Diese Entscheidungen sind zwar in hohem Maf~e von Struktur

9o Wie inamer, so ist auch hier die Wissenschaft selbst ihrer Metatheorie weit voraus. W~rend die Wissenschaftstheoretiker noeh eifrig dariiber streiten, in welchem Sinn man iiberhaupt noch rational Wissenschaft treiben k6nne, wenn der Begriindungszusammenhang sich nicht in allgemeine methodologische Regeln fiir Priifung, Kritik und Best~itigung fassen l~if~t, entwickeln die Mikrophysiker unter Anwendung der oben genannten Prinzipien und des Symmetriegedan- kens Sequenzen yon Theorien, die eine wachsende Integration, Vereinheitlichung und Abstraktion zum Ergebnis haben. Nach der Integration der schwachen und der elektromagnetischen Wechselwirkung durch Lee Glashow, Steven Weinberg u'nd Abdus Salam (SU(2) x U(1)-Theorle) gelang Howard Georgi und Lee Glashow 1973 die Formulierung einer noch abstrakteren Theorie, die auger der schwachen und elektromagnetischen auch die starken Wechselwirkungen (bisher beschrieben durch das SU(3)-Quarkmodell (= Quantenchromodynamik)) vereinheitlicht (SU(5)- Theorie). (Vgl. Howard Georgi, Vereinheitlichung der Kr~ifte zwischen den Elementarteilchen, in: Spektrum der Wissenschaft 6/1981, S. 70ff.). Mit Gestaltwandel, spontaner Erzeugung oder unerkl~irbarem Aha-Erlebnis hat diese Entwicklung nichts gemein. Ihr liegt eine strenge Heuristik zugrunde, die auf die Einbettung der die einzelnen Kr~ifte und Teilchenumwandlungen beschrei- benden Symmetriegruppen in allgemeinere Gruppen - unter Postulierung neuer, kurzlebigerer, reell vielleicht niemals beobachtbarer Elementarteilchen - abzielt. Doch selbst wenn die hohen Energien, die zur Beobachtung von Prozessen in der Gr6~enordnung von 10 -29 cm erforderlich sind (bei dieser Liinge werden die drei genannten Kr~ifte ununterscheidbar), niemals kiinstlich erzeugbar sind (zum Vergleich: wenn das Proton die GrCSf~e der Sonne h~itte, dann entspr~che die postulierte Elementarl~inge einem Betrag von einem tausendstel Millimeter), gibt es andere indirektere Konsequenzen, die die Theorie priifbar machen (Protonenzerfall, Existenz magneti- scher Monopole) und andere Eigenschaften (Integrationsf~ihigkeit, Einfachheit, h6here Symmetrie und Einheitlichkeit der postulierten Kr~ifte und Prozesse), die sie ihren Vorg~ingern iiberlegen machen.

270 Klaus Fischer

und Inhalt des Gesamtsystems ,,Wissenschaft" abh~ingig, doch w~ire gef~ihrlich zu verkennen, daft an diesem Punkt Wissenschaft ,,externer" Kritik am ehesten zug~nglich ist. (Das jiingste Beispiel sind bestimmte wissenschaftsfeindtiche Tendenzen in der Bewegung der ,,Griinen". Diese Tendenzen beziehen sich nicht auf Wissenschaft iiberhaupt, sondern auf einige ihrer gegenw~rtigen Zielsetzungen - einschliei~lich der theoretischen Instrumente, die zur Errei- chung dieser Ziele verwendbar sind.)

Es ist von daher kaum wahrscheinlich, daft sich ein globaler Zusammenhang linden l~iflt zwischen allen genannten Problemtypen und den oben erw~ihnten Pr~idikaten von Symbolsystemen. Jeder Problemtyp erfordert unter Umst~in- den strukturell unterschiedliche symbolische Lrsungen. Selbst wenn sich also herausstellen sollte, daf~ zwischen der Problemlrsungskapazit~it der Wissen- schaft und formalen Merkmalen ihrer Symbolsysteme Zusammenh~inge beste- hen, so sind dies doch nur Zusammenh~inge hinsichtlich bestimmter Problem- typen, damit bestimmter Zielsetzungen von Wissenschaft, die wiederum von der Gesamtheit des jeweiligen ,,Wissens" abh~ingen. Empfehlungen einer Metatheorie h~itten somit immer bedingten Charakter, w~iren Ausdruck nicht absoluter, sondern kontextualer Rationalit~it.

Der Verdacht krnnte entstehen, kontextuale Rationalit~it fiihrte zur Beschneidung der Funktion der Kritik in den Realwissenschaftem. Dies ist nicht der Fall. Ganz im Gegenteil l~ii~t sich sagen, daft Kritik nach der neuen Auffassung erheblich gr/Sflere Chancen besitzt, ein Objekt zu finden als nach den klassischen Modellen des Induktivismus und des Falsifikationismus. W~ihrend nach den alten Konstruktionen wissenschaftliche Kritik vornehmlich als Zusammenstofl von Theorien mit ,,Tatsachen" (bzw. mit alternativen Theorien) gesehen wurde, l~if~t das neue Modell jegliche Begrenzung hinsicht- lich Ziel und Absicht von Kritik fallen. Wenn alle Komponenten gegenw~ir, ti- gen Wissens der Vedinderung und der Entwicklung unterworfen sind, so hat die bisher bevorzugte Form der Kritik keine logische Priorit~it mehr vor anderen: Jede Komponente, in die das gegenw~irtige System des Wissens zerlegbar ist (Ziele, Methoden, Maflst~ibe, Theorien, Metaphysiken, Tatsachen, formale Strukturen, Probleme, Techniken usw.) l~il~t sich im Lichte einer beliebigen anderen Komponente kritisieren und - wenn dies der Lrsung seiner aktuellen Probleme frrderlich ist - auch ver~indern.

Somit wird auch klar, daf~ die Entscheidung hinsichtlich Ziel und vorrangi- ger Problemstellung von ,,Wissenschaft'" keineswegs a priori zu treffen oder gar endg/.iltiger Natur ist, sondern jederzeit, in Abh~ingigkeit von Ver~inderun- gen des theoretischen Kontextes, als Folge neuer ProblemlSsungsversuche auf der Tagesordnung erscheinen kann. ,,A theory is but a problem's way of generating new problems !" (T. Nickles)

5. DISKUSSION EINIGER EINWANDE LIND FRAGEN

1. In welchem Sinn kann Wissenschaft noch als rational bezeichnet werden, wenn sie nicht mehr als streng regelgeleiteter Prozet~ der Ann~iherung an die Wahrheit rekonstruierbar ist ?

Rationale Heuristik 271

In der neuen Auffassung ist ,,rational" kein absoluter Begriff mehr, sondern ein situativer. Wissenschaft kann folglich rational sein in dem Sinn, daf~ alle getroffenen Entscheidungen zu ihrer Zeit, das heit~t bei gegebenem Inventar an Theorien, Methoden, Maflst~iben, Problemen, Tatsachen usw., als beste (progressivste..) Gtiltigkeit beanspruchen ktinnen, ohne daf~ damit irgendein Urteil iiber den Prozef~ insgesamt vorweggenommen w~ire. Da alle Elemente des Inventars veriinderbar sind, ist es m6glich, dat~ die zukiinftige Wissenschaft im Riickblick zu anderen, sogar zu kontr~iren Beurteilungen kommt - ein Prozefl, den man ad infinitum verl~ingern kann. 2. Was unterscheidet diese Auffassung von Rationalit~it noch von einer psychologistischen, die jede Entscheidung als rational bezeichnen kann, weil es nur noch um die Beseitigung individueller kognitiver Inkonsistenzen geht?

Grundlage der Analyse ist nicht das individuelle kognitive System, sondern die Gesamtheit der Wissenschaft. Diese Gesamtheit ist seit der Zeit der Sophistik in verschiedene Bereiche aufgeteilt, die sowohl in ihrer Zahl als auch in ihren Grenzen ver~inderlich sind. Inhalt, Struktur und Grenze eines Bereichs sind definiert durch seine jeweiligen Probleme, Ziele, Methoden, Tatsaehen, Theorien usw. Einige dieser Merkmale hat er mit anderen Bereichen oder mit dem Gesamtsystem gemeinsam, andere sind spezifisch. Entscheidungen, die zur Ver~inderung einer der Komponenten eines Bereichs fiihren, sind daher niemals nur intersubjektiv nicht iiberpriifbare kognitive Restrukturierungs- prozesse, sondern im Zusammenhang eines, mehrerer oder gar aller Bereiche der jeweiligen Wissenschaft kontrollierbar und kritisierbar. 3. Welchen Sinn hat der Begriff des ,,Lernens des Lernens", der Evolution aller Komponenten yon Wissenschaft, wenn man nicht mehr angeben kann, worin sie besteht und wohin sie fiihrt ? Diese Frage ist eine Analogie zur ersten. Die Wissenschaft jeder beliebigen Zeit t kann derjenigen zur Zeit t-1 aufgrund ihrer eigenen Ma~st~ibe iiberlegen sein. Doch diese Mafist~ibe selbst sind ver~inderlich und somit auch die aufgrund der Mafistiibe gefiillten Urteile. Allerdings er6ffnet die Wissenschaftsgeschichte die M6glichkeit, bestimmte Richtungen des Wandels zu bevorzugen, andere dagegen auszusparen - mit anderen Worten: eine Wiederholung der Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Doch diese sich in ,,Regeln der Evolution" niederschlagenden Erfahrungen haben prinzipiell den gleichen Status wie alle anderen S~itze des jeweiligen Wissenschaftssystems. Sie k6nnen jederzeit im Lichte neuer Erfahrungen und neuer Probleme durch Alternativen oder sogar durch ,,Metaregeln der Evolution" ersetzt werden. (Als Analogie mag das Mutatorgen der biotogischen Evolutionstheorie dienen, das die ,,Schrittweite" der einzelnen Mutationen bestimmt). 4. Was unterscheidet den Begriff des ,,Lernens des Lernens" vom traditionel- len Begriff des ,,Erkennmisfortschritts", den auch Laudan 9~ noch beibehalten will, obwohl er ihn nicht mehr als Wachstum an Wahrheitsgehalt, sondern als Zunahme an objektiver Probleml6sungsf~ihigkeit definiert?

91 Vgl. Laudan, op. cit., S. 31, 66ff., 106.

272 Klaus Fischer

Der neue Begriff ist in einem entschiedenen und pr~izisen Sinne nicht- teleologisch. Er stellt ausdrficklich in Rechnung, daft wissenschaftliche Evolu- tion (wie die biologische) zu jedem Zeitpunkt nicht nur hinsichtlich ihrer Ergebnisse, sondern auch hinsichtlich ihrer Spielregeln often ist. Die Zielge- richtetheit und Rationalit~it jeder einzelnen Entscheidung - gemessen an ihren eigenen Maflst~iben - gibt keine Garantie, daf~ die Wissenschaft zu einem sp~iteren Zeitpunkt, im Lichte neuer Erfahrungen und neuer, vielleicht unl6sbarer Probleme, nicht zu dem Schlufl kommen k6nnte, daf~ die gesamte bisherige Entwicklung einem globalen Irrtum aufgesessen ist und in eine Sackgasse geffihrt hat. Die neue Auffassung nimmt den Satz ernst, daft es kein synthetisches Apriori gibt, das heit~t keine faktisch gehaltvollen Aussagen fiber die Wirklichkeit, die mit absoluter Sicherheit gelten, l~berzeugungen hinsicht- lich der Permanenz oder der Stetigkeit der Wirklichkeit, ihres gesetzm/ifligen Charakters, der Unm6glichkeit umfassender T~iuschung usw. sind nfitzliche Ergebnisse der biologischen Evolution, aber zugleich bar jeden epistemischen Werts. 5. Wenn wit feststellen, dat~ Wissenschaft den einzigen ,,festen" Punkt, den sie nach der fallibilistischen Wende noch besafl - eine rationale Methodologie - verloren hat und dem Grunde nach, wenngleich nicht aktual, alles zur Disposition steht, ,,someone might th ink . , that in five hundred years science might have changed so much that it becomes basically what we now call playing football. "92 Was k6nnte man antworten ? Vielleicht nicht mehr als das folgende: ,,As to whether science could become football, I think your worry is motivated by a feeling of certainty that science just couldn't become football, and that we know this in advance, so that science must have an essence that differs from that of football. But the cash value of that feeling cannot amount to more than the following: given everything we believe about science and football today (,our meanings' of ,science' and ,football' ?), we have no reason to think that science will ever become football. What other reasons could we hope to give ?,,93

Adresse des Autors: Dr. Klaus Fischer, Institut fiir Wirtschafts- und Sozialwissenschaften/Soziologie der Westfiili- schen Wilhelms-Universit~it Mfinster, Kleimann-Str.5, D-4400 Miinster.

92 G. Gutting, in: Discussion of Shapere's Paper, in: Nickles (ed.), Scientific Discovery, Logic and Rationality, Dordrecht 1980, S. 102.

93 D. Shapere, in: a. a. O., S. 102.