die einbeziehung der internationalen klassifikation der
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Die Einbeziehung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit in soziale Diagnostik als Beitrag zur Zielorientierung
in Klinischer Sozialer Arbeit Die Entwicklung der ICF
Inclusion of the International Classification of Functioning, Disability and Health in social diagnosis as contribution for goal orientation in Clinical Social
Work Development of the ICF
Masterarbeit
Zur Erlangung des akademischen Grades
Master of Arts in Social Sciences
der Fachhochschule FH Campus Wien
Masterstudiengang: Klinische Soziale Arbeit
Vorgelegt von:
Patrizia Graf, BA
Personenkennzeichen:
1610534011/ 01226515
ErstbetreuerIn / ErstbegutachterIn:
FH-Prof. Dr. Heinz Wilfing
ZweitbetreuerIn / ZweitbegutachterIn:
Mag. Saskia Ehrhardt
Eingereicht am:
20.09.2018
Erklärung:
Ich erkläre, dass die vorliegende Bachelorarbeit / Masterarbeit von mir selbst verfasst
wurde und ich keine anderen als die angeführten Behelfe verwendet bzw. mich auch
sonst keiner unerlaubter Hilfe bedient habe.
Ich versichere, dass ich diese Bachelorarbeit / Masterarbeit bisher weder im In- noch im
Ausland (einer Beurteilerin/einem Beurteiler zur Begutachtung) in irgendeiner Form als
Prüfungsarbeit vorgelegt habe.
Weiters versichere ich, dass die von mir eingereichten Exemplare (ausgedruckt und
elektronisch) identisch sind.
Datum: 20.09.2018 .............. Unterschrift: ...............................................................
i
Vorwort
Ich möchte mich zu allererst bei meinen InterviewpartnerInnen bedanken, die sich
alle die Zeit genommen haben und mir Rede und Antwort bei all meinen Fragen
gestanden haben. Ohne euer Zutun und eure Initiative wäre die Arbeit so nicht
möglich gewesen.
Außerdem möchte ich mich bei meinem Freund Mirko bedanken, der mich immer
unterstützt und mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat.
Mein Dank gilt des Weiteren auch meinen Eltern, ohne deren Unterstützung und
Vertrauen ich das Masterstudium gar nicht studieren hätte können.
Außerdem vielen Dank auch an meinen Betreuer Prof. Dr. Wilfing, der so spontan
als Betreuer für mich eingesprungen ist und mir geholfen hat, mein
Forschungsinteresse zu strukturieren und umzusetzen.
Ich danke zudem Manfred und Gabriela, die ihr noch in allerletzter Minute euch
meine Arbeit angesehen habt.
Zuletzt auch noch vielen Dank an Amra, Katja, Marina, Angelina und Alexe für
eure immer lieben und unterstützenden Worte und unsere hilfreiche Lerngruppe!
ii
Kurzfassung
Die Teilhabe am sozialen Leben hat nicht nur in der Klinischen Sozialen Arbeit
einen hohen Stellenwert, sondern rückt auch gesellschaftlich immer mehr in den
Vordergrund. Aus diesem Grund beschäftigt sich die vorliegende Masterarbeit mit
der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Gesundheit und
Behinderung der Weltgesundheitsorganisation, die auf dem Biopsychosozialen
Modell basiert. Es wird der Frage nachgegangen, mit welchen Schwerpunkten die
ICF in die Soziale Diagnostik einzubeziehen ist und wie sie zur Zielorientierung in
klinisch-psychosozialer Fallarbeit beitragen kann. Des Weiteren wird die Frage
beantwortet, wie sich die ICF entwickelt hat. Im theoretischen Teil der Arbeit
liegen die Schwerpunkte auf der Sozialen Diagnostik der Klinischen Sozialen
Arbeit, der Familie der Internationalen Klassifikationen der WHO und ihre
Referenzklassifikationen sowie der ICF. Für die empirische Forschung in der
Praxis wurden sechs leitfadengestützte ExpertInneninterviews mit
SozialarbeiterInnen oder ähnlichen Professionen aus dem sozialarbeiterischen
Bereich in Österreich und Deutschland durchgeführt. Die ExpertInnen wurden in
den Interviews zu ihrem Feld und der ICF Anwendung befragt. Das Datenmaterial
wurde anhand der Grounded Theory Methodology nach Kathy Charmaz
ausgewertet und interpretiert. Dabei wurde deutlich, dass die ICF sich als
besonders hilfreich erweist, um komplexe Fälle zu strukturieren und abzubilden.
Durch die Ressourcenorientierung der Klassifikation und die personenbezogen
und Kontextfaktoren rücken die Wünsche und Bedürfnisse der KlientInnen bei der
Zielorientierung in den Vordergrund. Hinsichtlich aktuellerer Entwicklungen der
ICF stand vor allem das neue deutsche Bundesteilhabegesetz sowie die dadurch
ausgelösten Veränderungen und Herausforderungen in vielen deutschen
Organisation und die mögliche Auswirkung auf Österreich im Fokus.
iii
Abstract
Participation on social life has not only a high significance in Clinical Social Work,
but also comes to the fore in society. For that reason, this master thesis will deal
with the International Classification of Functioning, Disability and Health of the
World Health Organization, which is based upon the biopsychosocial model. The
work will respond to the question, with which emphasis the ICF can be involved in
social diagnosis and how it can contribute to goal orientation in clinical-
psychosocial casework. In addition, the question how the ICF developed will be
answered. In the theoretical part of this work, the emphasis will lay on social
diagnosis in Clinical Social Work, the Family of International Classifications and its
reference classifications as well as the ICF. For the empirical field research, there
were held six expert interviews with social workers and similar professions in the
field of social work in Austria and Germany. The experts have been questioned
about their field and the application of the ICF. The data set was evaluated and
interpreted based on the grounded theory methodology of Kathy Charmaz.
Hereby it became apparent, that the ICF is especially helpful to structure and
display complex cases. Through the resource orientation of the classification and
the personal and environmental factors, the needs and requests of the clients
come to the fore. Concerning the question of the development of the ICF, the
current German “Bundesteilhabegesetz” went into focus, as well as
accompanying changes and challenges in many german organizations and the
possible effects on Austria.
iv
Abkürzungsverzeichnis
BTHG Bundesteilhabegesetz
Bzgl. bezüglich
Bzw. beziehungsweise
CC Collaborating Centers
CTS Classification, Terminologies and Standards
DIMDI Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information
DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
Et al. Und andere
Ebd. eben da
Etc. et cetera
FDRG Functioning and Disability Reference Group
GAF Global Assessment of Functioning Scale
GT(M) Grounded Theory (Method)
IA Interventionsassessment
ICD International Classification of Diseases
ICF International Classification of functioning, disability and health
ICHI International Classification of Health Interventions
ICIDH International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps
ICPM International Classification of Procedures in Medicine
IC3 Inklusionschart 3
OBDS Österreichischer Berufsverband der Sozialen Arbeit
ÖGSA Österreichische Gesellschaft der Sozialen Arbeit
OPD Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik
PIE Person-in-environment
UCR Update and Revision Committee
UN United Nations
UN-BRK United Nations Behindertenrechtskonvention
usw. und so weiter
WHA Weltgesundheitsversammlung
WHO World Health Organization
WHO FIC WHO Family of International Classifications
z.B. zum Beispiel
ZEA Zielerreichungsanalyse
v
vi
Schlüsselbegriffe
Klinische Soziale Arbeit
Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Gesundheit und Behinderung
WHO Family of International Classifications
Teilhabe
Psychosoziale Diagnostik
Zielorientierung
1
Inhaltsverzeichnis
VORWORT ....................................................................................................... I
KURZFASSUNG ................................................................................................ II
ABSTRACT ..................................................................................................... III
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS .............................................................................IV
SCHLÜSSELBEGRIFFE .....................................................................................VI
1. EINLEITUNG ............................................................................................. 3
1.1 Forschungsrelevanz ......................................................................... 3
1.2 Forschungsfragen und Ziel der Arbeit ........................................... 5
1.3 Forschungsstand .............................................................................. 5
1.4 Aufbau der Arbeit ............................................................................. 7
2. PSYCHOSOZIALE DIAGNOSTIK IN DER KLINISCHEN SOZIALEN ARBEIT ........ 8
2.1 Verfahren psychosozialer Diagnostik .......................................... 11
2.1.1 Formen psychosozialer Diagnostik .............................................................. 11
2.1.2 Koordinaten psychosozialer Diagnostik ....................................................... 15
2.2 Zielorientierung in der psychosozialen Diagnostik .................... 17
2.2.1 Zielerreichungsanalyse ................................................................................ 21
3. DIE INTERNATIONALE KLASSIFIKATION FÜR FUNKTIONSFÄHIGKEIT, GESUNDHEIT UND BEHINDERUNG .................................................................. 25
3.1 WHO Family of International Classifications ............................... 26
3.1.1 ICD .............................................................................................................. 27
3.1.2 ICHI ............................................................................................................. 30
3.1.3 ICF .............................................................................................................. 31
4. ICF ....................................................................................................... 33
4.1 Struktur und Aufbau ....................................................................... 33
4.2 Die Entwicklung der ICF ................................................................. 38
4.3 Die ICF als globaler Standard und ihre Diffusion ........................ 41
4.4 Anwendungsbereiche der ICF ....................................................... 43
4.5 Grenzen und Kritik an der ICF ....................................................... 45
5. EMPIRIE ................................................................................................. 47
5.1 Herangehensweise und Zugang zum Forschungsfeld ............... 47
5.1.1 Zielgruppe ................................................................................................... 49
2
5.2 Qualitative Forschung .................................................................... 50
5.2.1 Datenerhebung mittels leitfadengestützten ExpertInneninterviews .............. 52
5.2.2 Forschung und Auswertung nach Grounded Theory .................................... 54
6. ERGEBNISSE .......................................................................................... 58
6.1 Organisationen ............................................................................... 58
6.2 Die ICF in der Sozialen Arbeit........................................................ 67
6.3 Soziale Diagnostik .......................................................................... 74
6.4 Kritik an der ICF .............................................................................. 79
6.5 Die Entwicklung der ICF ................................................................. 86
7. RESÜMEE .............................................................................................. 94
7.1 Beantwortung der Forschungsfragen .......................................... 96
7.2 Ausblick ........................................................................................... 99
LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................. 101
ABBILDUNGSVERZEICHNIS .......................................................................... 106
ANHANG ..................................................................................................... 108
3
1. Einleitung
Im Mai 2001 wurde die „International Classification of Functioning, Disability and
Health”, ICF von der Weltgesundheitsorganisation WHO verabschiedet. Ihre
Vorgeschichte erstreckt sich jedoch über 20 Jahre (vgl. Meyer 2004:9). Alle 191
WHO Mitgliedsstaaten haben sich in der Erklärung verpflichtet, die ICF zu
verwenden. Im Vergleich zu vorherigen Systemen wird in der ICF die
medizinische Perspektive erweitert. Damit werden nun auch soziale Aspekte von
Behinderung sowie Umweltfaktoren ins Auge gefasst. Die ICF wurde als eine
Mehrzweckklassifikation entwickelt. Demnach kann sie bspw. in Feldern der
Politik, zum Zwecke der Ausbildung, für Statistiken und im Gesundheitswesen
verwendet werden. Die ICF basiert, wie auch das Verständnis der Klinischen
Sozialen Arbeit, auf dem Biopsychosozialen Modell. Die internationale
Klassifikation der WHO wird zur Beschreibung von Krankheitskonsequenzen und
mit Gesundheitsproblemen assoziierten Phänomenen herangezogen. Damit dient
sie zur Ergänzung zur etablierten „Klassifikation der Krankheiten“, ICD. Sie kann
als gemeinsames Vokabular für die Kommunikation zwischen ÄrztInnen,
SozialarbeiterInnen, TherapeutInnen, WissenschaftlerInnen, PatientInnen und
anderen Gruppen fungieren (vgl. Ewert 2012:459ff.). Die Wichtigkeit des Themas
sowie das Interesse an der ICF, haben sich durch das Wahlpflichtfach im
Sommersemester 2017 „ICF gestützte Interventionen Sozialer Arbeit –
Systematisierung komplexer Fallarbeit“ von FH-Prof. Dr. Dettmers der
Fachhochschule Kiel herauskristallisiert.
1.1 Forschungsrelevanz
Das Thema der Inklusion von Menschen mit Behinderung rückt national und
international vermehrt in den Vordergrund. Die UN-Behindertenrechtskonvention,
UN-BRK, wird verstärkt als eine leitende Referenz für Inklusion in der aktuellen
Debatte herangezogen (vgl. Hopmann 2017:135). Die UN-BRK ist ein
Übereinkommen der United Nations, UN über die Rechte der Menschen mit
Behinderung. Durch diesen internationalen Vertrag verpflichten sich alle
4
Unterzeichnerstaaten dazu, Menschen mit Behinderungen in ihren
Menschenrechten zu fördern, zu schützen und ihre Rechte zu gewährleisten. Die
UN-BRK ist in Österreich seit dem 26. Oktober 2008 in Kraft und muss aus
diesem Grund bei der Gesetzgebung und der Vollziehung, der Verwaltung und
Rechtsprechung berücksichtigt werden (vgl. Bundesministerium Arbeit, Soziales,
Gesundheit und Konsumentenschutz 2018). Neben den beigetretenen Staaten
verpflichtet die UN-BRK die Soziale Arbeit, Angebote, Rahmenbedingungen,
Zielgruppenansprachen und theoretische Ausarbeitungen zu hinterfragen und
weiterzuentwickeln. So enthält die systematische Exklusion aufgrund bestimmter
Lebensbedingungen eine menschenrechtliche Dimension, wonach die Exklusion
und Teilhabebehinderungen als Menschenrechtsverletzungen zu denken sind
(vgl. Günther 2015:51ff.). Die ICF kann hier als Instrument der Teilhabe in der
Sozialen Arbeit fungieren.
Während bisher bspw. in der Rehabilitation Therapieziele vor allem anhand von
Symptomen oder Defiziten definiert wurden, wird durch die ICF die Sichtweise um
die soziale Dimension „Teilhabe“ systematisch erweitert (vgl.
Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation 2008:19). Dementsprechend kommt
es mittlerweile bereits in Deutschland zu einer flächendeckenden Umsetzung der
ICF. So ist der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. Träger
des Projekts „Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetz“, das durch das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales bis zum 31. Dezember 2019 nach dem
Beschluss des Deutschen Bundestages gemäß Art. 25 Abs. 2 BTHG gefördert
wird. Dieses Bundesteilhabegesetz, BTHG, hat zum Ziel, Teilhabe und
Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen zu stärken und enthält dafür
weitreichende Änderungen in den Sozialgesetzbüchern. Dafür stellt es
Leistungsträger und Leistungserbringer vor die herausfordernde Aufgabe, diese
komplexen Änderungen und neuen Regeln in die Praxis umzusetzen. Eines der
Themen, welches hierbei im Fokus steht, ist die Bedarfsermittlung von Menschen
mit Behinderungen, die sich an den Kriterien der ICF orientieren soll (vgl. Japing
et al. 2018:1). Aus diesem Grund ist das Thema der ICF nicht nur in Deutschland,
sondern in Europa und damit auch für Österreich und die Soziale Arbeit ein
aktuelles Thema. Aufgrund dessen stellt sich die Frage, wie die ICF in der
klinisch-sozialarbeiterischen Praxis angewendet werden kann.
5
1.2 Forschungsfragen und Ziel der Arbeit
Die psychosoziale Diagnostik ist ein grundlegendes Element der Klinischen
Sozialen Arbeit. Gahleitner und Pauls (2013) zufolge ist es die Aufgabe der
psychosozialen Diagnostik, die Schnittstelle zwischen psychischen, sozialen,
physischen und alltagssituativen Dimensionen zu betrachten (vgl. Gahleitner/
Pauls 2013:14). Demnach stellt sich in dieser Arbeit die Frage, wie die ICF in die
sozialarbeiterische Arbeit und demzufolge auch in die psychosoziale Diagnostik
der Klinischen Sozialen Arbeit einbezogen werden kann. Damit lauten die
leitenden Forschungsfragen dieser Arbeit:
Mit welchen Schwerpunkten ist die Internationale Klassifikation der
Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit in die soziale Diagnostik
einzubeziehen; wie kann sie zur Zielorientierung in klinisch-psychosozialer
Fallarbeit beitragen? Wie hat sich die ICF entwickelt?
Die erste und primär relevante Forschungsfrage dieser Arbeit wird durch den
empirischen Teil der Arbeit, die Interviews, beantwortet werden. Die zweite und
untergeordnete Forschungsfrage wird überwiegend durch den theoretischen Teil
der Arbeit und ansatzweise durch das Datenmaterial beantwortet. Ziel der Arbeit
ist es, eine Antwort auf die Forschungsfragen zu geben sowie den theoretischen
Hintergrund der Forschungsfragen darzulegen. Des Weiteren ist es von Interesse,
einen wissenschaftlichen Beitrag zum aktuellen Diskurs über die ICF leisten zu
können, das Thema und seine Relevanz zu diskutieren und eine Aufklärung über
die derzeitige Situation in Österreich bzgl. der ICF Anwendung zu geben.
1.3 Forschungsstand
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der ICF in der Klinischen Sozialen
Arbeit, ihre Entwicklung, ihr Beitrag für die sozialarbeiterische Zielorientierung und
die Schwerpunkte, mit welchen sie in die soziale Diagnostik miteinbezogen
6
werden kann. Hinsichtlich der ICF und ihrer Entwicklung gibt es bereits einige
Forschungsprojekte. Diese beschränken sich jedoch vorrangig auf die Medizin
und die Rehabilitation. Laufende und abgeschlossene Forschungsprojekte zur
ICF im deutschsprachigen Raum sind auf der Website des Deutschen Instituts für
Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI zu finden (vgl. DIMDI
2018a). Überdies gibt es einige internationale Projekte zur Entwicklung von ICF
Core Sets für die Bereiche „Neurological Conditions“, „Cardiovascular and
Respiratory Conditions“, „Cancer“, „Mental Health“, „Musculoskeletal Conditions“,
Diverse Situation“ und „Other Health Conditions“ (vgl. ICF Research Branch
2017). Jedoch konnten hier keine ICF bezogenen Projekte der Sozialen Arbeit
gefunden werden. Liefring (2015) schrieb in seinem Artikel „Rehabilitation und
Zielorientierung in der manuellen Medizin: Internationale Klassifikation der
Funktionsfähigkeit der WHO“ über die Rehabilitation und den Menschen in seiner
individuellen Lebenssituation, der trotz Beeinträchtigung an der Gesellschaft
teilhaben kann, weshalb in der Rehabilitation die individuelle
Bewältigungsstrategie einen wichtigen Ansatzpunkt beschreibt, der durch die ICF
beschrieben werden kann (vgl. Liefring 2015:112).
Ließem (2015) schrieb in seinem Artikel „ICF in der Soziotherapie“ über die
Möglichkeit für SoziotherapeutInnen, in ihrer Arbeit die ICF heranzuziehen und
wie sie herangezogen werden kann. Dabei erklärt er, wie die ICF als
Dokumentationssystem in der Soziotherapie eingesetzt werden kann, um eine
Erkrankung aus einer ganzheitlichen Sicht zu betrachten (vgl. Ließem 2015:4ff.).
Des Weiteren spricht Dettmers (2017) in seinem Text „ICF-orientierte Diagnostik
sozialer Teilhabe als konzeptionelle Begründung sozialtherapeutischer
Interventionen“ davon, dass die Klinische Sozialarbeit sich durch
sozialtherapeutische Interventionen nachhaltig etablieren kann. Damit sieht er mit
der Nutzung der ICF, als multiprofessionelle Klassifikationssprache, die
biopsychosoziale Perspektive in Diagnostik und Intervention als
erfolgsversprechend an. In seinem Text beschreibt er, wie durch ICF Items
Verbesserungen hinsichtlich sozialer Sicherheit, Unterstützung und persönlicher
Entwicklung dargestellt und überprüft werden können (vgl. Dettmers 2017:75).
7
Durch die Nutzung der ICF können in der Zukunft klassifikatorische
Sozialdiagnostik und Instrumente in der Sozialen Arbeit entwickelt werden (vgl.
ebd.:88f.). Es gibt jedoch wenige Forschungen hinsichtlich der ICF in der Sozialen
Arbeit oder auch inwiefern die ICF zur Zielorientierung beitragen kann. Aufgrund
dessen stellt das Thema dieser Arbeit eine relevante Forschungslücke dar.
1.4 Aufbau der Arbeit
Nach der Einleitung, die in das Thema dieser Forschungsarbeit eingeführt hat,
beschäftigt sich das zweite Kapitel mit der Psychosozialen Diagnostik in der
Klinischen Sozialen Arbeit. Diese umfasst zum einen die Verfahren wie Formen
und relevante Koordinationen der psychosozialen Diagnostik und zum anderen
die Zielorientierung. Als Beispiel der Zielorientierung wird die
Zielerreichungsanalyse nach Reicherts und Pauls vorgestellt. Das dritte Kapitel
legt seinen Schwerpunkt auf die Familie der Internationalen Klassifikationen und
führt in diese und ihre Klassifikationen ein. Im Anschluss wird die ICF als
Klassifikation näher thematisiert. Dafür wird sie in ihrer Struktur und ihrem Aufbau
beschrieben und ihre Entwicklung skizziert. Anschließend wird erörtert, inwiefern
die ICF einen globalen Standard darstellt und sie sich verbreitet. In weiterer Folge
werden ihre Anwendungsbereiche aufbereitet sowie Kritik an ihr geäußert und
Grenzen aufgezeigt.
Nach dem theoretischen Teil dieser Arbeit wird im empirischen Teil die
Herangehensweise und der Zugang zum Forschungsfeld beschrieben. Hierfür
wird die Zielgruppe definiert. Darauffolgend wird die empirische Methodik
argumentiert und weshalb für die Arbeit die qualitative Forschung und das Führen
von leitfadengestützten Interviews gewählt wurde. Darauffolgend wird die
Auswertungsmethode Grounded Theory nach Kathy Charmaz vorgestellt nach
welchen die Interviews ausgewertet werden.
8
Die Ergebnisse werden im sechsten Kapitel vorgestellt und interpretiert. Dabei
werden die fünf Kategorien beschrieben, sie sich bei der Auswertung des
Datenmaterials gebildet haben. Zuletzt werden im Resümee die Ergebnisse der
Interviews mit dem theoretischen Hintergrund verbunden und ein Fazit darauf
abgeleitet. Aus diesem Fazit werden weitere Schlüsse gezogen und ein Ausblick
gegeben.
2. Psychosoziale Diagnostik in der Klinischen Sozialen Arbeit
In diesem Kapitel der Arbeit wird zunächst auf die Grundlagen der psychosozialen
Diagnostik in der Klinischen Sozialen Arbeit eingegangen. Dafür werden zunächst
Verfahren und Formen von sozialer Diagnostik beleuchtet. Danach wird die
Zielorientierung als Arbeitsschritt beschrieben und die Zielerreichungsanalyse
nach Pauls herangezogen und genauer beschrieben.
Bereits zu Beginn der Entwicklung der Sozialen Arbeit als eine Profession
entstand die Erwartung eines wissenschaftlichen Fundaments und dem Wunsch,
der Sozialen Arbeit eine Diagnostik zu geben, die SozialarbeiterInnen unerlässlich
für das Wohlfahrtswesen macht. Mithilfe einer sozialen Diagnostik sollte eine
Einschätzung des Hilfebedarfs ermöglicht und Leistungen prognostiziert werden.
Die individualisierte Diagnostik führte demnach zu mehr effizienter und
effektiverer sozialer Unterstützung. Aus dieser Logik einer individualisierten
sozialen Diagnostik der Hilfsbedürftigkeit entwickelte sich die Disposition der
Beziehung durch Gespräche und Hausbesuche. Um diese individualisierten
Informationen zu erhalten, war die Entwicklung von Strategien vonnöten, um der
Lebenswelt der KlientInnen näher zu kommen. Erst aus der Beziehungsarbeit
heraus kann es zu einer ExpertInnendiagnose kommen (vgl. Pantucek 2012:13).
Psychosoziale Diagnostik hat Pauls (2013) zufolge die Analyse von Lebenslagen,
-weisen und -krisen sowie ihre Änderungen unter den jeweiligen
Kontextbedingungen, das Verstehen von Zusammenhängen und das fachliche
Begründen von psychosozialen Interventionen zum Ziel. So werden im Dialog
9
zwischen KlientIn und SozialarbeiterIn die zu bearbeitenden Aufgaben
besprochen und Interventionen festgelegt, um in weiterer Folge
Veränderungsziele erreichen zu können (vgl. Pauls 2013:198). „In anderen
Worten, psycho-soziale Diagnostik muss die fallspezifische Komplexität erfassen,
strukturieren und der Bearbeitung sowie der Evaluation zugänglich machen.“
(ebd.)
In den letzten zehn Jahren wurden diagnostische Konzepte in der Sozialen Arbeit
entwickelt und somit an historische Überlegungen von Salomon und Richmond
angeschlossen (vgl. ebd.:198f.). Alice Salomon schrieb nach Mary Richmond im
Jahr 1926 den Text „Soziale Diagnose“ und wies darauf hin, dass anstatt des
Wortes ‚Ermittlung‘ der Begriff soziale ‚Diagnose‘ eingeführt werden sollte, weil in
dem Wort bereits eine methodische Anweisung liegt. Der Begriff würde betonen,
dass die erste Tätigkeit des Fürsorgers oder der Fürsorgerin eine geistige
Leistung benötigt, Material wie Beobachtungen und Aussagen zu untersuchen, zu
vergleichen, zu bewerten, Schlüsse daraus zu ziehen und sich ein Gesamtbild zu
erarbeiten, um einen Behandlungsplan erstellen zu können. Während der Begriff
‚Diagnose‘ bisher überwiegend in der Medizin, Zoologie und Botanik seine
Anwendung fand, soll die soziale Diagnostik soziale Schwierigkeiten möglichst
genau darstellen und ebenso ein vollständiges und zutreffendes Bild eines oder
einer Hilfsbedürftigen geben. Das Material der Ermittlung beinhaltet alle
Informationen aus der Lebensrealität des Klienten oder der Klientin und seiner
oder ihrer Familie (vgl. Salomon 1926:261 zit. n. ebd:201f.). Über 70 Jahre später
schrieben Germain und Gitterman, dass die soziale Abklärung einen
grundlegenden Bestandteil der Praxis darstellt. SozialarbeiterInnen müssen
bereits zu Anfang des Hilfsprozesses bestimmen, an welchen Punkten sie wie auf
den Klienten oder die Klientin, die Familie oder Gruppe eingehen, wie sie
Modalitäten oder zeitliche Regelungen festsetzen wollen, welchen Aussagen sie
nachgehen, an welchen Zielen sie arbeiten wollen und wie sie weitervorgehen
(vgl. Germain/ Gitterman 1999 zit. n. ebd.:202).
10
An der sozialen Diagnostik wird häufig kritisiert, dass sie eine
expertInnenbestimmte Bevormundung der KlientInnen mit sich bringt und die
Selbstwahrnehmungen der KlientInnen nicht betrachtet. An Stelle dessen wurde
oftmals ein reines Aushandeln der zu behandelnden Problematik mit den
KlientInnen gefordert (vgl. ebd.:199). Gahleitner und Pauls (2013) bemerken,
dass ‚Diagnostik‘ über viele Jahrzehnte in psychosozialen Arbeitsfeldern einen
schlechten Ruf hatte und immer noch Fachkräfte KlientInnen aufgrund einer
eventuellen Etikettierung nicht begutachten oder diagnostizieren möchten. Jedoch
müssen im professionellen Alltag durchgehend Einschätzungen vorgenommen
werden, egal ob gewollt oder nicht (vgl. Gahleitner/ Pauls 2013:14).
Psychosoziale Diagnostik hat den AutorInnen Gahleitner und Pauls zufolge die
Aufgabe, den Fokus auf die Schnittstelle zwischen psychischen, sozialen,
physischen und alltagssituativen Dimensionen zu geben. Für den Umgang mit
Multiproblemlagen ist ein interdisziplinäres und mehrdimensionales Vorgehen
Voraussetzung. Die Klinische Soziale Arbeit hat zudem die Verantwortung sich in
Zusammenarbeit mit Professionen und Disziplinen, die bereits stärker im
diagnostischen Bereich etabliert sind, wie bspw. die Medizin und die Psychologie,
von diesen abzugrenzen und sich von einem biomedizinischen Modell zu
distanzieren (vgl. ebd.). Dazu kommt der organisationsbezogene Aspekt der
Diagnostik in der Klinischen Sozialen Arbeit. Klinische SozialarbeiterInnen sind
häufig Teil eines interdisziplinären Teams und arbeiten gemeinsam mit ÄrztInnen,
PsychologInnen, Pflegekräften, PädagogInnen, LogopädInnen,
ErgotherpeutInnen usw. an einem gemeinschaftlichen Konzept. Hierbei spielt es
eine sehr zentrale Rolle, dass Klinische SozialarbeiterInnen die interdisziplinäre
Terminologie und diagnostischen Klassifikationen beherrschen, um sich in die
disziplinübergreifenden Begrifflichkeiten integrieren zu können. Aufgrund sehr
begrenzten Zeitressourcen in der diagnostischen Praxis ist es zusätzlich nötig,
dass klinisch-sozialarbeiterische Diagnostik zielführend und ökonomisch ist (vgl.
Pauls 2013:202f.).
11
2.1 Verfahren psychosozialer Diagnostik
Nach einer kurzen Einleitung in die psychosoziale Diagnostik der Klinischen
Sozialen Arbeit wird das folgende Unterkapitel den Fokus näher auf die Formen
psychosozialer Diagnostik und verschiedene Unterscheidungsarten
unterschiedlicher AutorInnen heranziehen und einander gegenüberstellen. Darauf
hin werden die Koordinaten von psychosozialer Diagnostik konkreter abgesteckt.
2.1.1 Formen psychosozialer Diagnostik
Bei den Formen psychosozialer Diagnostik können unterschiedliche
Differenzierungen vorgenommen werden. Pantucek (2012) unterscheidet bspw. in
Sichtdiagnosen, Kurzdiagnosen, Notationssystemen, Netzwerkdiagnostik,
biografische Diagnostik, Lebenslagendiagnostik, Klassifikationssysteme,
Kooperative und Black-Box-Diagnostik, Risikoabschätzung, Symptom- und
Risikofaktorenlisten, Typenbildungen sowie Voodoodiagnostik (vgl. Pantucek
2012:8f.).
Bei den Sichtdiagnosen handelt es sich ihm zufolge um die maßgeblichste Form
der Diagnosen. Während im Alltag jede Begegnung eine Einschätzung der
Person erfordert, um das eigene Verhalten dementsprechend abschätzen zu
können, ist diese auch bei bspw. Hausbesuchen erforderlich sowie bei
Beobachtungen von Personen in sozialen Settings (vgl. ebd.:129). Kurzdiagnosen
kommen zu Beginn eines sozialarbeiterischen Hilfeprozesses zum Einsatz, klären
die Ausgangssituation der Fallbearbeitung und helfen beim Übergang von der
Explorationsphase zur Konstruktionsphase (vgl. ebd.:145). Notationssysteme
stellen fallbezogene Informationen auf strukturierte Art zusammen und machen
sie einer Bewertung zugänglich. Sie befinden sich in der Konstruktionsphase, in
der ein möglichst gemeinsames Bild der Situation der KlientInnen entwickelt wird.
Sie leiten das systemische Sammeln bestimmter Daten an und blenden andere
Daten gezielt aus. Somit kann die Aufmerksamkeit auf einzelne Aspekte der
situationalen Komplexität gelegt werden (vgl. ebd.:156). Bei der
12
Netzwerkdiagnostik geht es um die Erkundung und Einschätzung der Einbindung
eines Individuums in das Soziale und in die Gesellschaft. Bei der Einbindung sind
zum einen die Netzwerke und zum anderen die Inklusion in gesellschaftliche
Prozesse von Interesse. Diagnoseinstrumente sind bspw. die Ecomap oder die
Netzwerkkarte (vgl. ebd.:184). Die biografische Diagnostik rückt die Biografie der
KlientInnen in den Vordergrund, um ein Verständnis für den Klienten oder die
Klientin, ihr oder sein Selbstverständnis, ihre oder seine Erfahrungen, ihre oder
seine Weltsicht oder ihr oder sein Verhalten zu bekommen. Der biografische
Zeitbalken bspw. ordnet Erzählungsbestandteile der KlientInnen in einer
mehrdimensionalen Timeline mit Bezug auf die zeitliche Verortung und Nicht-
Erzähltem (vgl. ebd.:226). Um keine aktuellen Gefahren zu übersehen und
Interventionen ausfindig zu machen, die das Problem nicht direkt, sondern nur
indirekt behandeln, wird die Lebenslagendiagnostik herangezogen. Sie versucht
einen Überblick über die Lebenslage der KlientInnen zu bekommen, während sie
das Problem kurzzeitig außer Acht lässt. Möglich Instrumente sind das Inklusions-
Chart, IC3 und das integrachart (vgl. ebd.:238). Klassifikationssysteme werden
häufig in der Psychiatrie und Medizin verwendet und sind international anerkannt
und gebräuchlich. Durch sie wird das Strukturieren von Diagnosen sowie die
internationale Kommunikation durch universale Codes erleichtert. Sie leisten aus
diesem Grund einen Beitrag zur Entwicklung einer internationalen Kultur und
Wissensbasis. Zudem sind die Kriterien für die Terminologie international
einheitlich, was die international vergleichbare sowie vergleichende Forschung
und Statistik erleichtert. Klassifikationen sind bspw. der ICD, die ICF und das
Person-in-Environment-Classification-System, PIE (vgl. ebd.:282). Unter Black-
Box-Diagnostik werden Verfahren verstanden, die nicht das Ziel von
Informationsgewinnung für die SozialarbeiterInnen haben, sondern die
KlientInnen in ihrer Handlungsfähigkeit fördern. Sie strukturieren die Bewertungen
von Situationen unter Anleitung und Begleitung der SozialarbeiterInnen. Dennoch
haben die SozialarbeiterInnen keinen Einfluss oder Kontrolle über den Prozess.
Das Verfahren ist zur selben Zeit sowohl Diagnostik, als auch Intervention.
Konkrete Instrumente sind das Problemranking, Skalierungen und die 4-Felder-
Matrix des Motivational Interviewing (vgl. ebd.:310). Risikoabschätzungen sind
diagnostische Verfahren, die der Entscheidungsvorbereitung schwerwiegender
13
Entscheidungen mit weitreichenden Folgen für die Betroffenen, wie KlientInnen,
ihr Umfeld und die Organisation dienen sollen. Viele Organisationen wenden bei
solchen Interventionsentscheidungen verlangsamte Prozedere an, die mehrere
MitentscheiderInnen zwingend miteinbeziehen. Ein mögliches Instrument ist das
Interventionsassessment, IA (vgl. ebd.:321). Die Symptom- und
Risikofaktorenlisten haben die größte Nähe zu in der Medizin ähnlichen
Diagnosen. Sie enthalten ‚Verdachtsmomente‘, die, wenn sie häufig vorhanden
sind, Fallmuster nahelegen. Besonders häufig werden Symptomlisten in der
Jugendwohlfahrt zum Schutz von Kindern angewendet. Symptomlisten sind
hilfreich beim Finden von Fallmustern, zeigen aber die spezielle Konstruktion des
Einzelfalls kaum (vgl. ebd.:333). Das Verfahren der Typenbildung beschreibt in
einer Organisation oder auch einer Zielpopulation ‚typische‘ Situationen oder auch
‚typische‘ Verläufe, definiert Merkmale und ordnet Fälle solchen Typen zu.
Vorausgesetzt wird eine qualitative Untersuchung einer AdressatInnengruppe und
ihrer jeweiligen Fallverläufe. Daraus werden dann ‚typische‘ Verläufe extrahiert.
Die Typen werden gemeinsam mit erfahrenen PraktikerInnen gebildet, die aus
ihrem Handlungsfeld viel Erfahrung im Umgang mit KlientInnen haben. Die
provisorischen Typenbildungen werden dann anhand weiterer Fälle oder
vorhandenen Fälle auf ihre Gültigkeit hin überprüft und modifiziert (vgl. ebd.:339).
Zuletzt folgt die ‚Voodoo-Diagnostik‘, die Pantucek zufolge ‚magische‘ Anteile hat
und mit nennenswerten Showeffekten im Beratungsprozess eingesetzt wird. Der
‚magische‘ Anteil zeigt sich in einer Verabsolutierung des Verfahrens. Es kommt
zu einer Betonung der Einheit von Diagnose und Therapie und das ideologisierte
Verfahren hat Priorität vor der wirklichen Situation. Als Beispiel nennt er die
Familienaufstellung nach Hellinger (vgl. ebd.:343).
Im Vergleich zu Pantuceks Unterscheidung wird bei Heiner (2013) zwischen
Orientierungsdiagnostik, Zuweisungsdiagnostik, Gestaltungsdiagnostik und
Risikodiagnostik unterschieden. Während Orientierungsdiagnostik bereits zu
Beginn eines Hilfeprozesses helfen soll, einen Überblick zu bekommen,
unterstützt die Zuweisungsdiagnostik bei der Findung von geeigneten Hilfeformen
und Interventionen. Die Gestaltungsdiagnostik unterstützt bei der Überprüfung
14
und Adaption von laufenden Interventionen und die Risikodiagnostik wird für die
kurzfristige Einschätzung einer möglichen Gefahrenlage verwendet (vgl. Heiner
2013:18).
Pauls richtet sich bei den Formen der Diagnostik nach Reicherts (1999), der
einmal intuitiv und methodenbasierte Diagnostik einander gegenüberstellt sowie
Status- und Prozessdiagnostik, Eingangs- und Interventionsdiagnostik,
Normorientierte und kriteriumsorientierte Diagnostik sowie individuumsorientierte
und systemorientierte Diagnostik. Er spricht davon, dass in der sozialen Praxis
häufig intuitive Formen der diagnostischen Vorgehensweise zur Anwendung
kommen. In der wissenschaftlich fundierten Klinischen Sozialen Arbeit hingegen,
besteht die Notwendigkeit für rational fundierte und methodenbasierte Diagnostik.
Nichtsdestotrotz muss erfahrungs- und wissensbasierte Intuition der
PraktikerInnen aufgrund der hohen Komplexität von klinisch-sozialen Aufgaben
einbezogen werden, solang sich die Diagnostik methodisch hinterfragen lässt. Bei
der Gegenüberstellung von Status- und Prozessdiagnostik hat Statusdiagnostik
zum Ziel, alle relevanten Dimensionen abzuklären wie bspw. die Ereignisse,
Kontextbedingungen und Beziehungsverhältnisse. Prozessdiagnostik legt den
Fokus auf Veränderungsprozesse, die im Verlauf einer Maßnahme auftreten,
erfasst und bewertet sie. Des Weiteren wird zwischen Eingangs- und
Interventionsorientierter Diagnostik unterschieden. Eingangsdiagnostik findet zu
Beginn einer Maßnahme statt und erfasst wichtige Merkmale. Besonders in
klinischen Arbeitsbereichen ist eine Diagnose voraussetzend für eine
Kostenübernahme vonseiten des Trägers. Darüber hinaus ist sie für eine
interdisziplinäre Kooperation notwendig. Zu Beginn einer Intervention ist ein
Abklärungsprozess nötig, um feststellen zu können, ob und inwiefern das Problem
der KlientInnen akkurat in der jeweiligen Organisation behandelt werden kann.
Interventionsorientierte Diagnostik hingegen erarbeitet Informationen für die
Zielbestimmung, die Strategie zur weiteren Vorgehensweise und die
Interventionsmethoden und -techniken. Bei der Unterscheidung zwischen
normorientierter und kriteriumsorientierter Diagnostik ordnet die normorientierte
Diagnostik die Merkmale eines Klienten oder einer Klientin ihrer Position in Bezug
15
auf statistische Normen einer Vergleichspopulation zu. Dabei stellt sich die Frage,
inwieweit die Person von den Durchschnittsnormen abweicht. Die
Kriteriumsorientierte Diagnostik setzt die Merkmale der Personen mit bestimmt
gesetzten Soll-Kriterien ins Verhältnis. Zuletzt folgt die individuums- und
systemorientierte Diagnostik. Die individuumsorientierte Diagnostik stellt die
Person in den Mittelpunkt, während die systemorientierte Diagnostik sich die
Beziehungen zwischen Person und Umgebung anschaut (vgl. Reicherts 1999 zit.
n. Pauls 2013:203f.) Nach einer ausführlichen Beschreibung der unterschiedlich
definierten Diagnostikformen wird im nächsten Kapitel der Fokus auf Eckpunkte
und Koordinaten der psychosozialen Diagnostik gelegt.
2.1.2 Koordinaten psychosozialer Diagnostik
Psychosoziale Probleme gelten als sehr komplex und können in ihrer Entstehung
und Aufrechterhaltung von unterschiedlichsten Faktoren beeinflusst werden. So
ist bei einer Problemursache nicht von einem einzigen Kontextfaktor oder einer
einzelnen Person die Rede. Nach dem Ansatz der Person-in-environment handelt
eine Person auf ihre Umgebung antwortend und diese reagiert dieser Handlung
entsprechend. So kommt es zu reziproken Interaktions- und Handlungsprozessen
zwischen einem Individuum und seiner Umgebung. Ziel ist eine Mehrebenen-
Diagnostik, die interventionsorientiert ist, Grundlagen liefert und Maßnahmen
evaluiert. Für diagnostische Daten benötigt sie verschiedene Informationsquellen,
wie direkte Beobachtungen von (nonverbalem) Verhalten, Beobachtungen von
Interaktionsverhalten, Selbstbeobachtungen und -berichte der KlientInnen,
Fremdbeobachtungen, psychologische Testverfahren, Computerbasierte
Diagnostik, Erfahrungen und Beobachtungen in der Beziehung zwischen
Fachkraft und KlientIn sowie Informationen aus Akten. Zu den Dimensionen der
Problematik gehören mitunter Hinweise auf das Problem, involvierte Personen
und Systeme, aufrechterhaltende und verursachende Faktoren, unerfüllte
Bedürfnisse, der Entwicklungsstand, in welchem das Problem entstanden ist, die
Problemschwere und die Auswirkungen, mögliche Problembedeutungen, genaue
Eckdaten zum Problemauftreten, die Häufigkeit und Dauer und die Ressourcen
der KlientInnen. Diese Vielzahl an Dimensionen weist auf die Notwendigkeit eines
16
strukturierenden und ordnenden Orientierungsmodells hin. Die Balance zwischen
schädigenden und krankhaften Bedingungen auf der einen Seite und protektiven
inneren und äußeren Bedingungen auf der anderen Seite entscheidet über
Adaptionserfolge im Entwicklungsprozess eines Individuums. Aus diesem Grund
legt die psychosoziale Fallarbeit ihren Fokus auf die Schnittstelle zwischen
Defiziten, Belastungen und Vulnerabilität sowie Ressourcen, Kompetenzen und
unterstützenden Kontextfaktoren (vgl. Pauls 2013:205f.).
Pantucek unterscheidet bei den Dimensionen in „Probleme der
Alltagsbewältigung“, „Relevanzstruktur“, „Normalität“, „mögliche Programme“,
„Einbindung in das Soziale“ und „Status des Unterstützungsprozesses“.
Abbildung 1: Diagnostische Dimensionen (Quelle: Pantucek 2012:126)
Die Grenzen zwischen den Dimensionen sind nur vage, so dass es zu
Überschneidungen und gegenseitiger Beeinflussung kommt. Jeder Dimension
können geeignete Diagnose- und Analyseverfahren zugeordnet werden. Jedoch
17
ist es zunächst erforderlich, alle Dimensionen zu betrachten. Demnach können
Interventionsentscheidungen nicht basierend auf einem einzelnen Verfahren, das
eine Dimension abbildet, getroffen werden. Es ist erforderlich, nachfolgend
Einschätzungen zu machen, welche Interventionsstrategien basierend auf
anderen Dimensionen wie aussehen könnten (vgl. Pantucek 2012:126f.). Nach
einer Beschreibung der Koordinaten von psychosozialer Diagnostik wird im
Folgenden die Zielorientierung als wichtiger Arbeitsschritt der psychosozialen
Diagnostik in der Sozialen Arbeit näher erläutert.
2.2 Zielorientierung in der psychosozialen Diagnostik
Nach einer Situationsanalyse kommt es zur Hypothesenbildung und zur Annahme
dessen, was geändert werden muss, um störende Verhaltensweisen zu ändern
oder auch eine problematische Situation bewältigen zu können. Diesen
Annahmen nahe sind Zielvorstellungen. Bei Zielvorstellungen kann es sich um
das Erwerben von Fähigkeiten oder Kenntnissen handeln oder auch um die
bessere Kontrolle von monatlichen Aufgaben. Oftmals ist der Fall, dass der Klient
oder die Klientin bereits mit Zielvorstellungen kommt (vgl. Stimmer 2000:142).
In der Fachdiskussion wird jedoch häufig die Meinung vertreten, dass gewünschte
Ergebnisse nicht ins kleinste Detail geplant werden können, dass Entwicklungen
nicht vorhersehbar sind und sich jederzeit in eine andere Richtung verändern
können (vgl. Spiegel 1993 zit. n. Spiegel 2006:135). Spiegel (2006) bringt hierbei
an, dass menschliches Handeln intentional und damit auf eine Ursache, ein Motiv,
Anliegen, Ziel oder ein Ergebnis bezogen sei. Im Vergleich zum Handeln im Alltag
wird das methodische Handeln durch seine Zielbezogenheit gekennzeichnet. Das
ist nötig, um über fachliche und moralische Angemessenheit des
Wirkungszusammenhangs zwischen Ausgangslage, dem erwünschten Zustand
und den Interventionen reflektieren zu können (vgl. ebd.). Es besteht außerdem
die Gefahr, beim Formulieren von Hypothesen und Zielen Vorurteilen zu erliegen
oder durch eine begrenzte, vielleicht auch verzerrte Wahrnehmung oder ein
18
unvollständiges Bild Vorurteile anzubieten. Aus diesem Grund ist es besonders
wichtig, methodisch sehr genau vorzugehen. In weiterer Folge werden in
Abstimmung zwischen Fachkraft und KlientIn möglichst klare und eindeutige Ziele
formuliert, auf welchen aufbauend Hypothesen entwickelt werden, die
richtungsweisend für weitere Interventionen sind (vgl. Stimmer 2000:142).
Die Ziele werden auf Grundlage einer Faktensammlung, der Interpretation und
Benennung des Problems sowie einer Situationsanalyse abgeleitet. Hierbei stellt
sich die Frage, was erreicht werden soll. In einem Arbeitsbündnis zwischen
KlientIn und Fachkraft wird ein Kontrakt geschlossen, in dem eine
Zielformulierung, Zielauswahl sowie Zielbegründung ausgehandelt werden. Dabei
hängen Ziele, die Soll-Situation und ebenso Urteile von der jeweiligen
Lebenssituation des Klienten oder der Klientin ab sowie von seinen oder ihren
Sichtweisen, Wertvorstellungen, der inneren Einstellung und den
Menschenbildern. Es ist außerdem von Wichtigkeit, dass Ziele immer wieder
überprüft und gegebenenfalls neu formuliert werden. Dabei kann zwischen
Global-, Grob- und Feinzielen sowie Fern- und Nahzielen unterschieden werden
(vgl. Limbrunner 2004:65).
Werden Ziele formuliert, kommt es zum Anstreben und zur Planung von
Veränderungen, die von Fachkräften meist als Verbesserungen der Ist-Situation
interpretiert werden. Das wird von KlientInnen häufig anders gesehen. Besonders
bei Problembereichen, die bspw. das Kindeswohl betreffen, haben Fachkräfte die
Aufgabe kontrollierend zu intervenieren. Fachkräfte haben fernerhin die Macht
und ein Instrumentarium, um zumindest vordergründig ‚Verbesserungen‘
definieren zu können. Es ist ihnen außerdem möglich, KlientInnen in eine
bestimmte Richtung von Zielen zu steuern und zu lenken. Jedoch ist klar darauf
hinzuweisen, dass es sich hierbei um Manipulation handeln kann, die ethische
und fachliche Postulate der Profession verbieten. Dennoch ist es nötig, sich
bewusst zu machen, dass jeder Eingriff in ein Prozessgeschehen manipulative
Elemente beinhaltet, die vor allem im Hinblick auf Ausmaß und Stärke kontrolliert
werden müssen. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, sich am Charakteristikum der
19
Koproduktion zu orientieren, denn auch in der Praxis erweist es sich als
schwierig, einen Klienten oder eine Klientin von etwas zu überzeugen, das nicht
seine oder ihre eigenen Ziele sind und sie oder ihn auf lange Sicht in diese
Richtung zu steuern. Stattdessen sollten KlientInnen bei der Findung und
Entwicklung eigener Ziele unterstützt und auf dem Weg mit geeigneten
Interventionen und Methoden begleitet werden. Die Fachkraft nimmt auf diesem
oft länger dauernden Weg die Rolle der Moderatoren ein. Hierbei werden
Personen, wie Familie, Gruppe, Gemeinwesen oder Einrichtung, die mitbetroffen
sind, miteinbezogen, indem Ziele zwischen KlientInnen und gesellschaftlichen
Gruppen und Instanzen ausgehandelt werden, was zusätzlich zu Zielkonflikten
führen kann. Mithilfe der Konzeptionsentwicklung oder der Hilfeplanung können
Ziele auf der Management- oder Fallebene ausgehandelt werden. Relevant für die
Zielfindung sind Perspektiven wie Bedürfnisse, Wünsche und Anliegen der
KlientInnen, aber auch Wertvorstellungen, Theorien, Methoden und
Interpretationen der Fachkräfte sowie Vorgaben durch Institutionen und
Kostenträger, als auch sozial- und kommunalpolitische Themen (vgl. Spiegel
2006:135f).
Um Ziele formulieren zu können, ist eine differenzierte Strukturierung vonnöten.
Wenn ein Ziel erreicht wurde, ist es möglich, dass sich daraus unerwünschte und
neue Probleme ergeben. Ebenso kann es sein, dass Ziele so vielfältig sind, dass
kein Überblick mehr vorhanden ist oder Ziele so hochgesteckt sind, dass sie nicht
mehr greifbar zu sein scheinen. Das macht es erforderlich, schon im Vorhinein
Folgen und Nebenfolgen zu bedenken, Ziele zu sammeln und zu strukturieren,
ihre Wechselwirkung zu erkennen und sie in einer Rangordnung zu
hierarchisieren. Ziele sollten so gewählt sein, dass sie für den Klienten oder die
Klientin zu einer Entlastung einer belastenden Situation führen, ein Problem lösen
oder vorsorglich wirken (vgl. Stimmer 2000:124). Hinzu kommt, dass Ziele so
genau wie möglich formuliert sein sollten, damit für den Klienten oder die Klientin
möglichst klar ist, wohin es geht, mit was sie rechnen können, was sie leisten
müssen und wie sie unterstützt werden. Wenn Ziele sehr konkret und realitätsnah
20
formuliert wurden, können Interventionen kongruent geplant und konstruiert
werden (vgl. Spiegel 2006:136).
Aus diesem Grund wird bei der Zielformulierung auf die Form und Inhalte der
Formulierung geachtet. Oftmals tritt der Fall ein, dass Ziele sehr diffus
beschrieben werden, wie bspw. „Verbesserung des Sozialverhaltens“. Oder es
werden bereits eine Hilfeart oder Methode in das Ziel miteingeschlossen, wie
bspw. um den Schulabschluss zu bekommen, benötigt die Klientin eine intakte
Wohngruppe. Auf diese Weise werden andere und möglicherweise geeignetere
Methoden oder Hilfearten bereits im Vorhinein ausgeschlossen. Werden Ziele
bereits negativ formuliert, bleibt offen, wie der Zielzustand aussehen soll, was die
Umsetzung deutlich erschwert (vgl. ebd:138). Spiegel unterscheidet bei Zielen
zwischen Wirkungs-, Teil- und Handlungszielen. Bei Wirkungszielen handelt es
sich um wünschenswerte Verhältnisse für KlientInnen, die eine grobe Orientierung
geben. Aufgrund dessen, dass sich die Planungszeiträume über Jahre erstrecken
können, ist es sinnvoll, Teilziele zu bilden. Diese fungieren als Etappen auf dem
Weg zum Wirkungsziel und werden realitätsnah und konkret formuliert. Auf Basis
der Wirkungs- und Teilziele werden Handlungsziele konstruiert. Bei ihnen handelt
es sich um Arbeitsziele der Fachkräfte, die Vorstellungen über förderliche
Kontextbedingungen für eine Zielerreichung beschreiben, an denen die
Fachkräfte arbeiten können. Es wird zudem zwischen Handlungszielen als
Arbeitsziele für die Fachkräfte und Handlungsschritten für die KlientInnen zu den
Teil- und Handlungszielen unterschieden. Jedoch enthalten die
Zielformulierungen noch keine Handlungsschritte, da diese erst in weiterer Folge
konstruiert werden. Erste Ideen für Handlungsschritte können sich aber auch
schon im Vorab erfasst und notiert werden. Gearbeitet wird überwiegend mit
konkretisierten Teilzielen, die in einem vorab festgelegten Zeitrahmen erreichbar
sein sollten. Das ist häufig von großer Schwierigkeit, sollte aber ernst genommen
werden, da unerreichte Ziele sich in Frustrationen auf beiden Seiten auswirken
können. Teilziele werden so formuliert, dass sie von den KlientInnen selbst
umgesetzt werden können und fallen damit auch in ihren Verantwortungs- und
Zuständigkeitsbereich. Fachkräfte übernehmen die Verantwortung für
21
Unterstützungsszenarien. Neben der Konkretheit, Machbarkeit und positiven
Formulierung der Zielvereinbarungen sollten diese zudem einfach und
verständlich formuliert sein ohne fachliche Termini und Begrifflichkeiten, die den
KlientInnen nicht geläufig sind (vgl. Brack 1997; Meinhold 1998; Walter/ Peller
1996; Heiner 1996 zit. n. ebd:138f.).
Nach einer Beschreibung der Zielorientierung als Arbeitsschritt in der Sozialen
Arbeit wird im darauffolgenden Unterkapitel die Zielerreichungsanalyse nach
Pauls und Reicherts als Beispiel und konkrete Methode zur Zielerreichung
herangezogen und genauer beschrieben.
2.2.1 Zielerreichungsanalyse
Pauls und Reicherts (2010) antworten auf die zunehmenden Forderungen von
unterschiedlichsten Kostenträgern und kommunalen Diensten und Jugendämtern
nach empirischer Überprüfung der Effektivität von Fallarbeit mit dem „Verfahren
einer systematischen, interdisziplinär einsetzbaren und schulenunabhängigen
Zielerreichungsanalyse“ (Pauls/Reicherts 2010:10), ZEA. Das evidenzbasierte
Verfahren erfasst und bewertet die Resultate diversifizierter Fallarbeit. Dabei
werden konkrete Veränderungsziele erarbeitet, während des Prozesses der
Zielerreichung erfasst, gesteuert und abschließend evaluiert. Innerhalb des
Prozesses werden zusammen mit dem Klienten oder der KlientIn Zielerreichung
und Evaluation erarbeitet und ausgemacht. Die „interventionsorientierte, erlebens-
und verhaltensnahe Diagnostik“ (ebd.:11) wird in Ergänzung zu anderen
Diagnostiken verwendet und dient als Indikation dafür, welche Maßnahmen
angebracht sind und ist somit Grundlage für die Verlaufskontrolle der
Interventionen. Die diagnostischen Daten geben Hinweise zur Wirkungskontrolle,
Steuerung und Anpassung der Interventionen. Der oder die KlientIn hat die
Möglichkeit, bei der Planung, Durchführung und Evaluation Einfluss zu nehmen
(vgl. ebd.:9ff.).
22
Die Funktionen werden nach Pauls und Reicherts auf zwei Achsen beschrieben:
die psychologischen und die methodisch/sachlogischen Funktionen. KlientInnen
und PatientInnen, die psychosoziale Unterstützung annehmen, haben oft
Qualitäten wie „Gesundheit, Autonomie, Orientierung, ein Gefühl für persönliche
Gestaltungskraft und Wirkung, Kontrolle über das eigene Leben“ (ebd.:13)
verloren. Durch das Erschließen von persönlichen Zielen kann die Motivation für
eine Arbeitsbeziehung gestärkt werden. Mithilfe der Erarbeitung von Zielen und
Wegen zu ihrer Erreichung, wird die Problematik und schwierige Lebenssituation
des Klienten oder der Klientin in den Blick genommen und analysiert. Dabei
spielen auch die Wünsche und Bedürfnisse der Klientin oder des Klienten eine
wichtige Rolle, während der Fokus auf Fähigkeiten, Ressourcen, Optimismus und
sozialen Gelegenheiten liegt (vgl. ebd.:13). Methodische Funktionen sind Aspekte
wie der kooperative Prozess der Zielvereinbarung, bei welchem es die Vorgaben
gibt, dass neben den Zielen zielbezogene Vorgehensweisen entwickelt und
Kriterien zur Bewertung erarbeitet werden. Des Weiteren wird Struktur und
Bezugsrahmen angeboten sowie eine einzelfallbezogene Steuerung und
Verlaufskontrolle. Zuletzt steht im Vordergrund, dass sich der oder die KlientIn
antizipatorisch mit den Zielen durch genaueres Konkretisieren auseinandersetzt
(vgl. ebd.:14f.).
Das Instrument der ZEA ist vor allem bei einer partizipativen Zusammenarbeit mit
dem Klienten oder der Klientin sinnvoll. Im Anwendungskontext von
Einzelfalldiagnostik, Interventionsplanung und Arbeitskontrakt werden
Veränderungsziele wertschätzend und ressourcenorientiert formuliert. Dies kann
mit dem Vier-Phasen-Modell nach Ng und Tsang geschehen. Dieser Prozess hat
einen diagnostischen sowie einen fördernden Effekt. Durch psychosoziale
Interventionen kommt es zur Initiierung, Stabilisierung und Integration von
Veränderungen. Die Ergebnisse können sich innerhalb der Beratung oder auch
außerhalb derer zeigen. Jedoch sollte erst dann von einem Erfolg gesprochen
werden, wenn sich diese Ergebnisse fest in der Funktionsweise verankert haben.
Empirische Studien besagen, dass bei kleinen Erfolgen innerhalb des Settings die
Wahrscheinlichkeit auf einen Behandlungserfolg größer wird (vgl.
23
Orlinsky/Howard 1987 zit. n. ebd.:21). Bei einem Arbeitskontrakt sollte früh genug
eine Formulierung der Ziele stattfinden. Es werden die Probleme identifiziert und
Ziele, Arbeitsschritte und eine Zielerreichungskontrolle abgeklärt (vgl. ebd.:21).
Werden von den KlientInnen keine Unterstützungen oder Veränderungen
gesucht, wird die Klinische Soziale Arbeit vor die Herausforderung gestellt, den
Kontakt und den Wunsch nach Veränderung zu bewirken. Das geht auch immer
mit ethischen Entscheidungen einher, jedoch auch mit einer möglichen Chance,
welche die Klientin oder der Klient sonst nicht bekommen hätte (vgl. ebd.:22).
Ein anderer Kontext sind die Verlaufskontrolle, Evaluation und Qualitätssicherung.
Eine Evaluation ist eine Bewertung, die Informationen über Zweck-Mittel-
Beziehungen, begründete Bewertungen der Nützlichkeit, Rechtfertigungsfähigkeit
der Maßnahmen und bestimmende Normen und Ziele gibt. Anhand dieser können
Umwelt und Lebensführung der Betroffenen verändert werden. Professionen der
Sozialen Arbeit und andere mit psychosozialem Schwerpunkt sind immer mehr
verpflichtet, qualitativ und quantitativ Problemlösungen, Zielerreichungen und
Veränderungen zu evaluieren. Dazu werden Ergebnisse erfasst, dokumentiert
und bewertet. Anhand einer Baseline können Indikatoren vor der Intervention
erfasst werden, um dann die eigentlichen Ergebnisse einschätzen zu können. Die
ZEA kann somit ein Evaluationsinstrument in Qualitätskontrolle und
Qualitätssicherung sein. Die Kontexte der Interventions- und Wirkungsforschung
brauchen die Informationen der ZEA. Bei der ZEA in der Einzelfallforschung wird
beim single-subject design durch eine Veränderung der unabhängigen Variable
und durch das Kontrollieren von anderen Bedingungen, die Veränderungen der
abhängigen Variable erfasst (vgl. Fichter 1989:61 zit. n. ebd.:25). Beim
Gegenstand kann es sich um eine Person, eine Gruppe oder auch eine
Organisation handeln. Im Gegensatz zur USA wird das Verfahren im
deutschsprachigen Raum in der Sozialen Arbeit nur sehr wenig benutzt. Beim
Multiple-Baseline-Design gibt es mehrere Zielverhaltensweisen als Gegenstand
von Interventionen. Zielrelevante Indikatoren werden regelmäßig gemessen.
Dadurch kann gezeigt werden, dass Interventionen die Zielvariablen beeinflussen
(vgl. ebd.:27). Weiters können auch vorgegebene, standardisierte Ziele benutzt
24
werden, um die Zielerreichung im Interventionsprozess einschätzen zu können.
Sie werden mit dem Klienten oder der Klientin besprochen, operationalisiert und
dann danach beurteilt, ob sie erreicht wurden (vgl. ebd.:29).
Es gibt verschiedene Arten von Zielen nach Pauls und Reicherts wie: Problem-
und Defizitziele, Ressourcenziele, Individualziele und Umgebungsziele. In der
Arbeit mit KlientInnen sollte das Ziel auf diese/n bezogen sein und Wichtigkeit
haben. Zudem sollte es einen klaren Fokus auf bestimmte Situationen,
Verhaltensweisen oder Erlebensweisen und Kriterien sowie Handlungsfunktionen
haben (vgl. ebd.:30f.). Zur Ausführung der ZEA sollte sie im Diagnostik- und
Kontrakterarbeitungsprozess eingegliedert sein (vgl. Cournoyer 1996:247ff. zit. n.
ebd.:32). Beim Erarbeiten des Arbeitskontraktes werden die Problembereiche für
die Veränderungsarbeit durch die Reflexion von Seiten des Klienten oder der
Klientin, durch den Blickwinkel der Fachperson auf die Problematik, differenziert.
Darauffolgend können gemeinsam Ziele erarbeitet werden, die das Fundament für
weitere Interventionen, Hilfen und die Behandlung darstellen (vgl. ebd.:32).
Bei der Zielbeschreibung ist es grundlegend, dass Ziele in Form von Fähigkeiten
und Fertigkeiten erfasst werden. Sie sollten zugleich „klar, spezifisch und
überprüfbar“ (ebd.:22) sein. Die Kriterien, welche festlegen, ob ein Ziel erreicht
wurde oder nicht, werden von der Fachperson oder dem Klienten oder der Klientin
festgelegt und müssen vor allem verstanden werden (vgl. ebd.:33). Nach der
Festlegung der operationalisierten Ziele werden diese von der Klientin oder dem
Klienten nach ihrer Relevanz priorisiert. Das hat den Zweck, Verbesserungen
sowie Veränderungen in der Priorisierung der Ziele zu zeigen (vgl. ebd., S.35).
Konnten die Ziele formuliert, priorisiert und dokumentiert werden, wird darüber
hinaus diskutiert, wer in die Diagnostik und Interventionen miteinbezogen wird
und von welchen Ansatzpunkten bei den Veränderungen ausgegangen wird.
Hierbei haben KlientInnen sowie die Fachperson jeweilige Aufgaben. Zu den
KlientInnenaufgaben gehören Handlungen innerhalb und außerhalb des
Beratungsgespräches. Zu den BeraterInnenaufgaben gehören Handlungen in den
Beratungseinheiten sowie zwischen diesen (vgl. ebd.:36).
25
Innerhalb der Zielerreichungsanalyse gibt es mindestens zwei Bewertungen. Die
Menge dieser und die genauen Zeitpunkte sind abhängig von der Interventionsart
und der Art der Anwendung von der ZEA. Gemessen wird meist als Erstmessung
in der zweiten oder dritten Einheit und die Endmessung in der vorletzten Einheit.
Je nach Länge der gesamten Beratung können diese zwei Messungen nah oder
weit weg voneinander stattfinden (vgl. ebd.:38).
Bei der Anwendung der ZEA kann sich außerdem die Gewichtung der Ziele
verändern oder auch neue Veränderungsziele hinzukommen. Die Ursachen dafür
können vielfältig sein, jedoch sollten neue Ziele hinzugefügt werden und
Gewichtungen verändert. Kommt es zu einer Veränderung der Gewichtung von
Zielen, werden alle Ziele noch einmal neu bestimmt und priorisiert (vgl. ebd.:39).
Die Bewertungen werden direkt in den Erhebungsbogen eingetragen, wodurch
Veränderungen bei einem Ziel sofort abgelesen werden können. Kommt es zu
mehreren Messungen, sind auch die Verläufe erkennbar. Der Veränderungsindex,
welcher zu jedem Messzeitpunkt bestimmt werden kann, zeigt die gewichteten
Veränderungen je nach Priorität der Ziele. Diese Auswertung wird zwischen
Fachperson und Klienten oder Klientin gemeinsam besprochen, damit jeder seine
Stellung beziehen kann. Vor allem wird jedoch auf Verbesserungen und
Fortschritte geachtet und diese betont (vgl. ebd.:40).
3. Die Internationale Klassifikation für Funktionsfähigkeit,
Gesundheit und Behinderung
Nach einer ausführlichen Beschreibung psychosozialen Diagnostik in der
Klinischen Sozialen Arbeit sowie dem Beispiel der Zielerreichungsanalyse von
Pauls und Reicherts wird dieses Kapitel den Fokus auf die „Internationale
Klassifikation für Funktionsfähigkeit, Gesundheit und Behinderung“ legen. Dafür
wird die „WHO Family of International Classifications“, WHO-FIC, aus welcher die
ICF entstammt sowie die weiteren dazugehörigen Klassifikationen näher definiert
26
und beschrieben. Danach wird die Aufmerksamkeit auf die ICF gelegt und ihre
Struktur, ihr Aufbau, ihre Entstehung und Entwicklung, ihre internationale
Anwendung sowie die Anwendungsbereiche erläutert. Zuletzt werden ebenso
Kritik und mögliche Grenzen der ICF veranschaulicht.
Mit der Zugehörigkeit zur FIC hat die ICF eine familiäre Verbindung zur
„International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“,
ICD, einen Diagnoseschlüssel, welcher bspw. von ÄrztInnen und PsychologInnen
angewendet wird. Trotz überlappender Sachbereiche beider Klassifikationen
haben sie unterschiedliche Zielsetzungen, die jedoch miteinander in Ergänzung
stehen sollen. Während die ICD für ein Gesundheitsproblem nach einem
medizinischen Modell mit dem Ziel, eine Therapie für das Problem zu finden, eine
Diagnose stellt, stellt die ICF die sozialen Folgen einer Krankheit in den
Vordergrund. Die ICF erfasst die einzelnen gestörten Funktionen und die
Auswirkung auf Aktivitäten und Teilhabe (vgl. Meyer 2004:23).
3.1 WHO Family of International Classifications
Die WHO verwaltet mehrere Klassifikationen, die WHO-FIC. Die Internationalen
Klassifikationen der WHO zeigen eine Ordnung von Daten mit Bezug auf
Gesundheit im weitesten Sinne. Die WHO-FIC stellt ein Instrument dar, das den
Gesundheitszustand von Individuen und Populationen beschreibt und
international vergleicht. Durch die WHO-FIC wird angestrebt, in den WHO
Mitgliedsstaaten die Datenqualität zu erhöhen und die Gesundheit von ganzen
Populationen zukünftig genauer beobachten und fördern zu können. Zudem
sollen die Ursachen bestimmter Krankheitserscheinungen und die
Sterblichkeitsrate besser erkannt, eingeschätzt und bewertet werden (vgl. Kiuppis
2007:16f.).
So dient die Familie der internationalen, gesundheitsrelevanten Klassifikationen
als konzeptueller Rahmen und als gemeinsame Sprache für die
27
Gesundheitsberichterstattung. Durch die Zusammenführung der diversen
Klassifikationen als Familie wird eine umfassende Darstellung der
unterschiedlichen Dimensionen von Gesundheit und der Gesundheitsversorgung
ermöglicht. Die Klassifikationen lassen sich in Kern- oder Referenzklassifikationen
ableiteten und zwischen verwandten Klassifikationen unterscheiden. So
thematisieren die Kernklassifikationen „Krankheit“, „Behinderung“ und „Eingriffe“,
während andere Klassifikationen der Klassifikationsfamilie „Arzneimittel“,
„Unfallursachen“ oder die Gründe für die „Inanspruchnahme des
Gesundheitswesens“ definieren (vgl. Jakob et al. 2007: 926).
Planungen und Aktivitäten, die die Klassifikationen der WHO betreffen werden
hauptsächlich durch das WHO-FIC-Network durchgeführt. Einmal im Jahr findet
ein Treffen statt, an dem alle von der WHO ernannten nationalen Collaborating
Centres anwesend und beteiligt sind (vgl. Schliehe/ Ewert 2013:42).
Die „United Nations Statistical Division“, UNSD hat die „UN Family of International
Economic and Social Classifications“ definiert und Grundsätze für standardisierte
statistische Klassifikationen veröffentlicht. Die WHO Familie der Internationalen
Klassifikationen ist dabei zu den Klassifikationen komprimiert worden, die
international als Richtlinien von der „United Nations Statistical Commission“ oder
anderen zwischenstaatlichen Gremien für Themen wie Ökonomie, Demografie,
Arbeit, Gesundheit, Bildung, Sozialfürsorge, Geographie, Umwelt und Tourismus
genehmigt wurden. Die WHO-FIC unterscheidet drei Referenzklassifikationen: die
“International Classification of Disease”, ICD-10, die “International Classification of
Functioning, Disability and Health”, ICF und die “International Classification of
Health Interventions”, ICHI (vgl. Kiuppis 2007:17f.). Diese drei Klassifikationen
werden im nächsten Kapitel in Kürze vorgestellt.
3.1.1 ICD
Die WHO stellt die ICD, einen Katalog zur Klassifikation von Krankheiten zur
Verfügung, derzeit gültig in der zehnten Revision. Im Vergleich zum
amerikanischen Klassifikationssystem das „Diagnostic and Statistical Manual of
28
Mental Disorders“, DSM-IV wird bei der ICD weniger die wissenschaftliche
Fundierung in den Fokus gerückt als die Kompromissfindung und Anpassung an
unterschiedliche Weltkulturen. Im deutschsprachigen Raum und in den meisten
der europäischen Länder wird das DSM-IV überwiegend für Forschungszwecke
verwendet. Diese Länder verwenden stattdessen eher den ICD-10 der WHO,
während das DSM-IV in Amerika etablierter ist (vgl. Bauer et al. 2014:531). Die
ICD umfasst alle Krankheiten, nicht nur die psychischen. Das aktuell gültige DSM-
IV-TR wird besonders von Wissenschaftlern geschätzt, da es verstärkt auf
Forschungsergebnissen basiert. Es wird durch eine multiaxiale Diagnostik
gekennzeichnet, wodurch diagnostische Einschätzungen auf verschiedenen
Ebenen vornehmbar sind. Auf der ersten Achse erfolgt die Diagnostik der
klinischen Störungen. Auf der zweiten Achse befindet sich die Diagnostik von
geistiger Behinderung und Persönlichkeitsstörungen und auf der dritten Achse
medizinische Krankheitsfaktoren. Auf der vierten Achse liegt die Diagnostik der
psychosozialen Probleme und auf der fünften Achse die Diagnostik des globalen
Funktionsniveau. Das DSM-IV-TR definiert für jede Diagnose einen Zahlencode
zur Abkürzung und ist in diagnostische Kategorien unterteilt. Für ‚Schizophrenie
und andere psychotische Störungen‘ gibt es bspw. eine eigene Kategorie und für
‚Angststörungen‘ eine andere (vgl. Berking/ Rief 2012:12f.).
Abbildung 2: Beispiel für polyaxiale Diagnostik nach DSM-IV (Quelle: Baumann/ Perrez 1998:13)
Die ICD wird auf der ganzen Welt zur Verschlüsselung von Diagnosen verwendet.
Das WHO-Kooperationszentrum für das „System Internationaler Klassifikationen“
29
sowie das „Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information“,
DIMDI beteiligen sich an der Pflege und Weiterentwicklung dieser und anderer
Klassifikationen. Während die ICD-10 weiterentwickelt wird, wurde ebenso an
einer 11. Revision der ICD gearbeitet. Am 18.06.2018 wurde die ICD-11 von der
WHO in Genf vorgestellt und soll 2019 durch die Weltgesundheitsversammlung,
WHA verabschiedet werden. Wann genau die ICD-11 eingeführt werden soll ist
noch offen (vgl. DIMDI 2018b). Neben der ICD gibt es außerdem noch weitere
Skalen wie bspw. die Global Assessment of Functioning Scale, GAF. Sie stellt die
Achse V des DSM-IV dar (vgl. Saß et al. 1998 zit. n. Lange/ Heuft 2002:257). Die
GAF Skala ist eine globale Ratingskala zum psychosozialen Funktionsniveau. Mit
ihr kann ein integrales Gesamturteil über die psychische, soziale und berufliche
Leistungsfähigkeit eines Klienten oder einer Klientin getroffen werden durch einen
Zahlenwert zwischen eins und 100. Sie enthält zehn Punktschritte mit zehn
Ankerpunkten, die Symptome, Leistungsfähigkeit, soziale Beziehungen und
Psychopathologie beschreiben. Es werden jedoch keine
Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund körperlicher oder umweltbedingter
Einschränkungen einbezogen. Angewendet wird die GAF-Skala als
Fremdbeurteilung für Erwachsene im klinisch-psychiatrischen Bereich sowie in
der empirischen Forschung für Diagnostik, Therapieplanung, Prognosestellung,
zur Wirksamkeitsmessung von Behandlungen und zur Validierung von
Messinstrumenten (vgl. ebd.:257f.). Als eine weitere Diagnostik kann die
Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik, OPD genannt werden. Die OPD
ist ein psychodynamisches Instrument, das über die Diagnostik und
Therapieplanung hinaus geht und weitere und für die Behandlung relevante
Aspekte erfasst. Bei diesen Aspekten kann es sich um das Strukturniveau,
typische Konflikte und Behandlungsvoraussetzungen wie die
Behandlungsmotivation oder der Leistungsdruck handeln. Die OPD ist nicht nur
im deutschsprachigen Raum weiter verbreitet, sondern auch international in
einigen Ländern ein fester Teil der psychodynamischen Forschung und
Ausbildung (vgl. Cierpka/ Seiffge-Krenke 2013:5).
30
3.1.2 ICHI
Die ‚International Classification of Health Interventions’, ICHI wird seit 2007 vom
WHO Netzwerk WHO-FIC entwickelt, um eine einheitliche internationale
Klassifikation für Statistik und für Entgeltsysteme im Gesundheitswesen zu
erstellen. Inhaltlich beinhaltet sie Prozeduren aus dem medizinischen und
chirurgischen Bereich, aber auch Gesundheitsinterventionen aus einer Vielzahl
von Bereichen des Gesundheitswesens wie der Rehabilitation, Pflege, Prävention
und dem öffentlichen Gesundheitswesen (vgl. Zaiss/ Dauben 2018:3).
Die ICHI soll für einen internationalen Vergleich und statistischen Austausch
verwendet werden. Auch für Länder, die bisher keine eigene
Prozedurenklassifikation verwenden, soll die ICHI einfach erweiterbar sein. Über
die ICHI können auch Interventionen der traditionellen Medizin und Maßnahmen
des öffentlichen Gesundheitswesens abgebildet werden (vgl. DIMDI 2018c).
Eine Gesundheitsintervention ist der WHO zufolge eine Handlung, die für, mit
oder im Auftrag einer Person oder Bevölkerungsgruppe ausgeführt wird und
deren Zweck es ist, Gesundheit, Funktionsfähigkeit oder Gesundheitszustände zu
bewerten, zu verbessern, beizubehalten, zu fördern oder zu verändern. Die ICHI
deckt Interventionen ab, die von einer breiten Menge an AnbieterInnen im
gesamten Gesundheitssystem durchgeführt werden (vgl. WHO 2018).
Die ICHI wurde entwickelt nachdem lange Zeit auf der ganzen Welt Diagnosen
mit der ICD klassifiziert wurden, die internationale Situation bei
Prozedurenklassifikationen aber sehr verschieden war. Im Jahr 1978 wurde
zunächst die „International Classification of Procedures in Medicine“, ICPM
veröffentlicht. Im selben Jahr wurde jedoch die Pflege und Weiterentwicklung der
ICPM wiedereingestellt. Zwischenzeitlich entwickelten Länder eigene nationale
Prozedurenklassifikationen mit unterschiedlichen Strukturen und Inhalten. Im Jahr
2000 kam die Intention auf, eine simple internationale Prozedurenklassifikation
31
mit einer groben Granularität zu entwickeln, von der WHO herauszugeben und die
vor allem für Länder ohne Prozedurenklassifikationen sinnvoll ist. Im Jahr 2005
entschied man sich anstatt des monoaxialen Ansatzes für einen multiaxialen.
Nach einer Entwicklung von zehn Jahren durch das WHO-FIC Netzwerk konnte
die Beta Version 2018 veröffentlicht werden. Die multiaxiale Klassifikation ICHI
hat drei Achsen: die Achse ‚Target‘, die Einheit, an der die Intervention
durchgeführt wird, die Achse ‚Action‘, die Intervention und die Achse ‚Means‘,
Methoden und Art der Interventionsdurchführung. Damit ICHI auch in Ländern
ohne Prozedurenklassifikation eingesetzt werden kann und ein Fundament für
internationale statische Vergleiche darstellt, wurde ICHI im Bereich der drei
Achsen nur wenig komplex gestaltet. Aus diesen drei Achsen können
Stammcodes gebildet werden, die mit Erweiterungscodes und damit
Detailinformationen ergänzt werden können für Entgeltsysteme im
Gesundheitswesen. Für die ICHI Beta 2018 ist die ICHI-Plattform verfügbar. ICHI
soll voraussichtlich im Jahr 2020 fertig gestellt werden und daraufhin den WHO
Mitgliedsstaaten frei verfügbar gemacht werden (vgl. Zaiss/ Dauben 2018:1ff.).
3.1.3 ICF
Als dritte Referenzklassifikation der WHO folgt die ICF, die für die Arbeit relevante
Klassifikation. Die ICF wurde im Mai 2001 auf der 54. Weltversammlung der WHO
verabschiedet. Damit löste sie ihre Vorgängerversion, die „International
Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps“, ICIDH ab. Im gleichen
Zug wurden die WHO-Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert, die ICF in Forschung,
Berichterstattung, etc. verbindlich anzuwenden. Leider wird die ICF im
deutschsprachigen Raum nur sehr zögerlich aufgenommen (vgl. Seidel 2005:80).
Die ICF hat das Ziel, eine einheitliche und standardisierte Sprache und einen
Rahmen zu geben, um Gesundheitszustände und Zustände, die eng mit
Gesundheit zusammenhängen, zu beschreiben. Die Klassifikation definiert
32
Gesundheitskomponenten und Komponenten von Wohlbefinden, die in
Zusammenhang mit Gesundheit stehen wie bspw. Erziehung, Bildung und Arbeit
(vgl. ICF 2008:9).
Die ICF wurde für die Verwendung im Gesundheitsbereich konzipiert. Sie
klassifiziert Bereiche, in denen Behinderungen auftreten können und erstellt
negative, aber auch positive Bilder der Funktionsfähigkeit. Die ICF ist hierbei kein
Ersatz der ICD-10, sondern wird ergänzend zur ICD-10 verwendet. Während die
ICD-10 Gesundheitsprobleme nach dem medizinischen Modell als Basis für
medizinische Therapie klassifiziert, klassifiziert die ICF die mitunter sozialen
Folgen eines Gesundheitsproblems. Es wird aber nicht die jeweilige Person,
sondern ihre individuelle Situation klassifiziert. Sie ist auf ein Konzept der
funktionalen Gesundheit ausgerichtet, indem sie einzelne gestörte Funktionen,
Auswirkungen auf Aktivität und Teilhabe und die Wechselwirkungen mit der
sozialen und materiellen Umwelt abbildet (vgl. Pantucek 2012:286f.).
Nach der ICF gilt eine Person dann als funktional gesund, wenn ihre körperlichen
Funktionen und ihre Körperstrukturen vor ihrem gesamten Lebenshintergrund die
eines gesunden Menschen sind. Außerdem gilt sie dann als gesund, wenn sie alle
Aktivitäten ausüben kann, die von einem gesunden Menschen ausgeführt werden
können. Hinzukommend gilt sie als gesund, wenn sie sich in allen ihren
Lebensbereichen so entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne
Beeinträchtigung der Körperfunktionen, -strukturen oder Aktivitäten erwartet wird
(vgl. ebd.:287). Die ICF will keine Klassifikation von Menschen sein, sondern
sogar einer Etikettierung von Menschen entgegenwirken und das Herabsetzen
und Stigmatisieren von Menschen verhindern. Anstatt einen Menschen zu
klassifizieren, wird seine individuelle Situation beschrieben mit einer neutralen
oder positiven sowie genauen Sprachformulierung (vgl. Meyer 2004:23).
33
4. ICF
Nach einer Beschreibung der Einbettung der ICF in die WHO FIC und nach einer
kurzen Erklärung und Definition der anderen Klassifikationen wird im folgenden
Kapitel der Fokus auf die ICF an sich gelegt. Dafür wird die ICF in ihrem Aufbau
und ihrer Struktur beschrieben und ihre Entwicklung skizziert. Fernerhin wird auf
ihre internationale Diffusion sowie mögliche Anwendungsbereiche eingegangen.
Zuletzt werden ihre Grenzen und Kritik, der sich die ICF zu stellen hat, aufgezeigt.
4.1 Struktur und Aufbau
Der Aufbau der ICF Klassifikation ist Rentsch und Bucher (2005) zufolge
hierarchisch strukturiert und in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil umfasst die
„Funktionsfähigkeit“ und „Behinderung“ und der zweite Teil die „Kontextfaktoren“.
Die Teile wiederum werden in Komponenten untergliedert, die unabhängig
voneinander klassifiziert sind. Die Kategorien innerhalb einer Komponente sind
nach einem ‚Ast-Zweig-Blatt-Schema‘ aufgebaut. Die Komponenten wiederum
sind in Domänen unterteilt, die physiologische Funktionen, anatomische
Strukturen, Handlungen, Aufgaben oder Lebensbereiche zusammenfassen. Diese
Domänen bilden verschiedene Kapitel und Blöcke, während die Kategorien
innerhalb einer Domäne als Klassen oder Teilklassen bezeichnet werden (vgl.
Rentsch/ Bucher 2005:18f.).
34
Abbildung 3: Struktur der ICF (Quelle: Rentsch/ Bucher 2005:19)
Die Komponenten der ICF sind: „Körperfunktionen“ (klassifiziert),
„Körperstrukturen“ (klassifiziert), „Aktivitäten und Teilhabe“ (klassifiziert),
„Umweltfaktoren“ (klassifiziert) und „Personenbezogene Faktoren“ (sind noch
nicht in der ICF klassifiziert). Personenbezogene Faktoren sind derzeit noch nicht
klassifiziert, damit gibt es für sie noch keine einheitliche Sprache, sie sind aber
miteinzubeziehen (vgl. Schuntermann 2007:66).
Die Teilklassifikationen werden nach Gliederungsprinzipien unterteilt. Bei der
Klassifikation der Körperfunktionen sind die Gliederungsprinzipien unter anderem
Organe, Organsysteme und psychologische Konstrukte. Bei der Klassifikation der
Körperstrukturen sind es ebenfalls Organe und Organsysteme. Bei der
Klassifikation der Aktivitäten und Teilhabe bilden die Lebensbereiche das
Gliederungsprinzip, wobei diese von den elementaren zu den komplexen
aufsteigen. Die Klassifikation der Umweltfaktoren bezieht sich auf die Ebene des
Individuums und auf die Ebene der Gesellschaft. Unter der Ebene des
Individuums versteht man die direkte und persönliche Umwelt einer Person, wie
der häusliche Bereich, die Arbeit und die Schule. Eingeschlossen sind hierbei die
physikalischen und materiellen Umstände und die persönlichen Kontakte zu
bspw. Familie, Bekannte, Freunde und Fremde. Unter der Ebene der Gesellschaft
werden formelle und informelle soziale Strukturen und übergreifende Ansätze
oder Systeme in der Gesellschaft, die das Individuum beeinflussen verstanden.
35
Das umfasst zum einen Organisationen und Dienste in Bezug auf Arbeitsumwelt,
kommunale Aktivitäten, Behörden und das Kommunikations- und Verkehrswesen
und zum anderen Gesetze, Vorschriften, formelle und informelle Regeln,
Einstellungen und Weltanschauungen. Die Klassifikationen der Körperfunktionen,
-strukturen und Aktivitäten/Teilhabe besitzen Bereiche in denen
Beeinträchtigungen auftreten können, es gibt aber keine Bezeichnungen der
Beeinträchtigungen, selbst mit Ausnahme des Schmerzes. Somit sind
Kapitelüberschriften und Items neutral oder positiv geschrieben, wodurch die ICF
ressourcen- und defizitorientiert verwendet werden kann. Eine sinnvolle und
verwendungsfähige Anzahl an Items aus allen Teilklassifikationen der ICF werden
als Domäne bezeichnet. Diese Domänen sind bspw. Kapitel oder Blöcke.
Domäne wird häufig als Oberbegriff für Item-Mengen genannt (vgl. ebd.:66f.).
Die vier Teilklassifikationen Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und
Teilhabe sowie Umweltfaktoren sind hierarchisch in Kapitel, Blöcke und
Kategorien aufgebaut. Die Kapitel sind die erste Gliederungsstufe. Sie haben
jeweils eine Überschrift, werden aber nicht zur Kodierung verwendet. Kapitel
werden wiederum in Blöcke untergliedert, die Zwischenüberschriften zur
Strukturierung des Kapitels haben. Blöcke bilden ebenso keine Codes. Zuletzt
folgen die Kategorien, die Items, die zur Kodierung verwendet werden. Sie sind
nach einem Ast-Zweig-Blatt-Schema angeordnet. Die Kategorien haben
wiederum Attribute, so dass Kategorien auf einer tieferen Gliederungsstufe die
Attribute mit Kategorien auf einer höheren Gliederungsstufe teilen. Eine Kategorie
schließt eine andere aus, wodurch zwei Kategorien auf derselben
Gliederungsstufe dieselben Attribute haben (vgl. ebd:67f.).
36
Abbildung 4: Beispiel für das „Ast-Zweig-Batt“-Schema (AZB-Schema) (Quelle: Schuntermann
2007:68)
Die Item-Kodes sind in Alpha-Teil und numerischen Teil unterteilt und alpha-
numerisch aufgebaut. Der Alpha-Teil ist ein Buchstabe durch den zuordenbar ist
zu welcher Teilklassifikation das Item gehört. Er stellt die Klassifikationskennung
dar. Für die Klassifikation der Körperfunktionen ist die Klassifikationskennung b
von body functions. Für die Klassifikation der Körperstrukturen ist s von body
structures, für die Klassifikation der Aktivitäten und Teilhabe d von life domains
und für die Klassifikation der Umweltfaktoren e von environmental factors. Der
Numerische Teil setzt sich aus fünf Ziffern zusammen. Die erste Ziffer ist die
Nummer des Kapitels, zu dem das Item gehört. Die zweite und dritte Ziffer ist die
Nummer des Items innerhalb eines Kapitels. Die vierte Ziffer untergliedert ein Item
der zweiten Gliederungsstufe und die fünfte Ziffer, sofern sie vorhanden ist,
untergliedert ein Item der dritten Gliederungsstufe (vgl. ebd.:68f.).
Die Funktionsfähigkeit und Behinderung unterteilt sich in die Komponente des
Körpers und die Komponente der Aktivitäten und Partizipation. Die
Körperfunktionen werden als die physiologischen Funktionen von
Körpersystemen definiert. Nach der ICF werden Körperstrukturen als
anatomische Teile des Körpers definiert wie Organe, Gliedmaßen und ihre
Bestandteile. Schädigungen wiederum werden als Beeinträchtigungen der
Körperfunktion oder Struktur verstanden. Eine Aktivität bezeichnet die
Durchführung einer Aufgabe bzw. Handlung durch eine Person, die Partizipation
37
meint das Einbezogen sein in eine Lebenssituation (vgl. Rentsch/ Bucher
2005:19f.).
Der Teil zwei der ICF beinhaltet die Kontextfaktoren, den gesamten
Lebenshintergrund eines Menschen. Sie umfassen die Umweltfaktoren und die
personenbezogenen Faktoren. Sie können einen Menschen mit
Gesundheitsproblem beeinflussen. Umweltfaktoren konstruieren die materielle,
soziale und einstellungsbezogene Umwelt eines Menschen, in welcher der
Mensch gestalten und sich entfalten kann. Die Faktoren befinden sich außerhalb
des Menschen und haben einen Einfluss auf seine Leistung als Mitglied der
Gesellschaft. Die personenbezogenen Faktoren sind spezieller
Lebenshintergrund und Lebensführung eines Menschen und schließen außerhalb
des Gesundheitsproblems oder -zustands liegende Gegebenheiten ein. Das
können bspw. das Geschlecht, Alter, Lebensstil, Bildung, Ausbildung, Beruf, der
Charakter und das Leistungsvermögen sein, die bei einer Behinderung relevant
sein können. Diese personenbezogenen Faktoren sind in der ICF nicht
klassifiziert. Die Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren stehen in
Wechselwirkung mit den Körperfunktionen und -strukturen, den Aktivitäten und
der Partizipation. Aus der komplizierten Verbindung zwischen dem
Gesundheitsproblem, den personenbezogenen Faktoren und den externen
Faktoren resultiert Behinderung. Aus diesem Grund haben verschiedene Arten
und Ausprägungen der Verbindungen sehr verschiedene Einflüsse auf denselben
Menschen mit einem Gesundheitsproblem. Dabei hat die Umwelt mit Barrieren
eine einschränkende Wirkung auf die Leistung eines Menschen und fördernde
Umweltbedingung eine fördernde (vgl. ebd.:23ff.).
38
Abbildung 5: Das biopsychosoziale Modell der Komponenten von Gesundheit der WHO (Quelle:
WHO 2018)
4.2 Die Entwicklung der ICF
Obgleich die ICF im Mai 2001 von der WHO verabschiedet wurde, hat sie eine
Entwicklung von 20 Jahren hinter sich. Der erste Versuch für eine internationale
Klassifikation und einer einheitlichen Definition von „Behinderung“ war die
„International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps“, ICIDH
der WHO von 1980. Eine erste und vollständige deutsche Fassung kam 1990
heraus (vgl. Leistner/ Raspe 1995 zit. n. Meyer 2005:9). Nach ersten Erfahrungen
mit der ICIDH wurde 1993 eine leicht abgeänderte Neuauflage herausgegeben. In
Deutschland wurde erst gegen 1990 mit einer vermehrten Verwendung der ICIDH
begonnen. Im Jahr 1993 wurde ein internationaler Revisionsprozess parallel dazu
eingeführt, um die ICIDH zu verbessern. An diesem Revisionsprozess arbeiteten
mehrere regionale und internationale Arbeitsgruppen mit. In den Treffen konnten
mehrere Entwürfe für eine ICIDH-2 gemacht werden (vgl. Meyer 2005:9).
Im Vergleich zur ICIDH basiert die ICF auf einem Biopsychosozialen Modell der
Komponenten von Gesundheit. Die auf einem medizinischen Modell basierende
ICIDH begriff Behinderung vorrangig als ein Attribut der betroffenen Person und
es wurden Umweltfaktoren sowie personenbezogene Faktoren hinsichtlich ihrer
39
(Wechsel-) Wirkungen in Bezug auf Behinderung nicht berücksichtigt (vgl.
Wenzel/ Morfeld 2016:1125).
Alle ICF betreffenden Planungen und Aktionen der WHO werden durch das WHO-
FIC-Netzwerk durchgeführt. Zu jährlichen Treffen sind ebenso von der WHO
ernannte nationale Collaborating Centres anwesend. Im Jahr 2013 gehörten dem
Netzwerk 13 stimmberechtigte nationale Collaborating Centres an. und sechs
Länder hatten den Status eines ‚Candidate‘ (vgl. Schliehe/ Ewert 2013:42).
Mittlerweile sind es 20 Collaborating Centres und vier “Collaborating Centres for
Classifications, Terminologies and Standards” (vgl. WHO 2017). Die Teams für
“Classification, Terminologies and Standards”, CTS der WHO, die regionalen
WHO Büros und die Collaborating Centres, CCs der FIC arbeiten mit einem
jährlich adaptierten Strategie- und Arbeitsplan. Die ICF-bezogenen Aufgaben des
Netzwerkes werden einer eigenen Referenzgruppe „Functioning and Disability
Reference Group“, FDRG zugeordnet. Für Aufgabenumsetzung gibt es wiederum
unterschiedliche Arbeits- und Projektgruppen, die sich in verschiedene Themen
und Kategorien untergliedern (vgl. Schliehe/ Ewert 2013:42).
Der „Strategy and Work Plan“ setzt ein kontinuierliches Update der ICF voraus.
Aus diesem Grund gibt es auf der Ebene des WHO-Netzwerkes ein
Planungskomitee mit verschiedenen Untergruppen, unter anderem das „Update
and Revision Committee“, UCR. Die FDRG hat alle ICF-bezogenen Aufgaben
übertragen bekommen und eine eigene Arbeitsgruppe für den ICF Update
Prozess erschaffen hat. Innerhalb dieser Arbeitsgruppe wurde eine
Internetplattform entworfen sowie ein Nutzerhandbuch. Auf dieser
Internetplattform können sich alle anmelden und Vorschläge zu Änderungen der
ICF machen. Aus Basis dieser Vorschläge kommt es zu begrenzten Anpassungen
der ICF, sogenannte Minor und Major Updates. Major Updates meinen bspw.
Änderung, Löschung oder Neueinführung von Codes. Zu direkten Änderungen
der Klassifikation an sich kommt es nicht. Jährlich werden dann
Updatedokumente nach Verabschiedung der WHO online veröffentlicht und
werden durch DIMDI übersetzt (vgl. ebd.).
40
Abbildung 6: ICF Update Plaform (Quelle: WHO 2018)
Klassifikationen an sich erheben einen Anspruch auf Vollständigkeit. Dadurch
deckt die ICF als standardisierte Klassifikation mit 1400 Kategorien alle
gesundheitsbezogenen Domänen und den ganzen Gesundheitsbereich ab. Aus
diesem Grund ist die ICF sehr umfangreich und komplex, was die Verwendung
der ICF in der Praxis erschwert. Das führt zu einiger Kritik an der ICF, und viele
empfinden die ICF als zu kompliziert und nicht praktisch in der Arbeit (vgl. Ustun/
Kostanjsek 2004 zit. n. Bickenbach et al. 2012:21). Demzufolge hat die WHO
gemeinsam mit der „ICF Research Branch“ und zusammen mit dem WHO-
Kooperationszentrum für das System Internationaler Klassifikationen in
Deutschland begonnen, ICF Core Sets zu entwickeln (vgl. Stucki et al. 2008 zit. n.
ebd.). Unter einem ICF Core Set wird eine Liste an Kategorien verstanden, die in
einem intensiven und wissenschaftlichen Prozess aus der ICF Klassifikation
ausgewählt wird. Diese wird dann als Instrument in der Praxis zur Beschreibung
von Funktionsfähigkeit und Behinderung angewendet (vgl. ebd.). Verwendet
werden ICF Core Sets für unterschiedliche Bereiche der Gesundheitsversorgung
und für etliche Gesundheitsstörungen sowie Gruppen von Gesundheitsstörungen
(vgl. Stucki 2004 zit. n. ebd.). ICF Core Sets erleichtern insofern die ICF
Anwendung, da sie dem oder der BenutzerIn in seinem oder ihrem Arbeitsalltag
41
eine Auswahl an ICF-Kategorien zur Verfügung stellen, die besonders wesentlich
für eine spezifische Gesundheitsstörung oder eine Gruppe von
Gesundheitsstörungen in einem spezifischen Versorgungsbereich sind. Das
erspart den NutzerInnen das Arbeiten durch die gesamte und komplexe ICF
Klassifikation (vgl. ebd.).
4.3 Die ICF als globaler Standard und ihre Diffusion
Wiegand und Reinhardt (2012) interpretieren die ICF als einen globalen Standard.
Die ICF gibt klare Regeln für ihre Nutzung vor, wobei ihre Implementation auf
Freiwilligkeit beruht. Es wird angenommen, dass globale Standards zu einer
Weltordnungsgenerierung beitragen und damit nicht Nationalstaaten, sondern
Weltorganisationen für das Organisieren von solchen Standards von großer
Wichtigkeit sind. Globale Standards können sich hauptsächlich über Expertise
legitimieren. Durch die über 20-jährige Entwicklung der ICF weist diese eine
einzigartige Wissensbasierung auf. Mit der Einführung der ICF wurde nicht nur ein
biopsychosozialer wissensbasierter Gesundheitsstandard eingeführt, sondern
auch ein Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik von einem kurativen zu
einem menschenrechtsbasierten Modell. Behinderung wird nicht mehr allein einer
diagnostizierten Gesundheitsstörung zugeordnet, sondern primär Umweltfaktoren
zugeschrieben. Zusätzlich konnte die UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK
von 2006 das Modell institutionell manifestieren (vgl. Wiegand/ Reinhardt
2012:244). Die UN-BRK wird immer mehr als eine leitende Referenz für Inklusion
in der momentanen Debatte um eine ‚Inklusive Lösung“ herangezogen. Sie
kodifiziert (völker-) rechtlich und erzeugt explizit oder implizit wirkungsstarke
Maßgaben für fachliche Prämissen (vgl. Hopmann 2017:135).
Die ICF breitet sich auf der ganzen Welt aus. Nach dem sie im Jahr 2001
veröffentlicht wurde, wurde sie zusätzlich in die offiziellen WHO Sprachen
Arabisch, Chinesisch, Französisch, Russisch und Spanisch übersetzt. Mittlerweile
ist sie auch in weiteren 28 Sprachen veröffentlicht worden. Anwendung hat die
42
ICF schon durch Nationalstaaten gefunden. Japan hat die ICF bereits in ihre
Gesetzgebung integriert und auch in Deutschland wurde der Begriff der
Partizipation als Teilhaberecht in die Sozialgesetzgebung eingeführt. Auch in den
nationalen Gesundheitsstatistiken kam es zu einer Einführung der ICF. 2003
hatten 74 Länder das ICF Modell in die nationalen Gesundheitsinstitute
implementiert (vgl. ebd.).
In Deutschland ist zudem die Einführung eines neuen Bundesteilhabegesetzes,
BTHG, aktuell. Dabei handelt es sich um ein umfassendes Gesetzespaket, das
für Menschen mit Behinderungen einige Verbesserungen plant. Es sollen mehr
Teilhabemöglichkeiten sowie mehr Selbstbestimmung für Menschen mit
Behinderungen umgesetzt werden. Menschen mit Behinderungen, die
Eingliederungshilfe beziehen, sollen die Möglichkeit bekommen, mehr von ihren
Einkommen und Vermögen zu behalten. Im selben Zug sollen Kommunen und
Länder entlastet werden, weil Grundsicherungs- und
Eingliederungshilfeleistungen getrennt und teilweise vom Bund übernommen
werden sollen (vgl. BMAS 2018). Dieses neue Gesetzespaket soll ebenso die ICF
als Grundlage für die Bedarfsermittlungsinstrumente im Eingliederungshilferecht
enthalten. Die ICF unterstützt hierbei die individuelle Ermittlung des
Rehabilitationsbedarfs und gleichwertige Lebensverhältnisse für Menschen mit
Behinderungen. Außerdem bildet die ICF neben der Funktion als Instrument zur
Bedarfsermittlung nach § 118 SCB IX-neu die Grundlage für den neuen
Behinderungsbegriff. Dem Biopsychosozialen Modell gleich, welches der ICF
zugrunde liegt, definiert das BTHG in § 2 Abs. 1 SGB IX-neu Behinderung als ein
Ergebnis der Wechselwirkung zwischen Gesundheitsproblem und den personen-
und umweltbezogenen Kontextfaktoren. Hieraus ist deutlich der Bezug zum
Verständnis von Behinderung nach der BRK der Vereinten Nationen deutlich (vgl.
Umsetzungsbegleitung Bundesteilhabegesetzt 2018).
Aus diesen Entwicklungen im Nachbarland Deutschland ist ersichtlich, dass die
Einführung der ICF nicht nur ein Thema einzelner Länder, sondern
möglicherweise sogar zu einem Thema der europäischen Union werden könnte,
43
einerseits durch nationale Einführungen der ICF als Instrument und andererseits
durch die Umsetzung der UN-BRK. Da außerdem zu erwarten ist, dass in
Deutschland in den nächsten Jahren ausschließlich mit der ICF gearbeitet wird,
ist nicht ausgeschlossen, dass auch die österreichische Politik bald mit einer
entsprechenden Gesetzesänderung nachziehen könnte. Nach dem Hervorheben
der Relevanz und Wichtigkeit des Themas der ICF werden im folgenden Kapitel
die Anwendungsbereiche sowie mögliche Anwendungsarten der ICF erörtert.
4.4 Anwendungsbereiche der ICF
Mögliche Anwendungsbereiche der ICF sind dem DIMDI nach zu folgen bspw. die
Verwendung der ICF als statistisches Instrument für die Erhebung und
Dokumentation von Daten. Ebenso kann sie als Forschungsinstrument eingesetzt
werden, um Therapieergebnisse, Lebensqualität oder Umweltfaktoren zu messen.
Zudem fungiert sie als Instrument in der Gesundheitsversorgung, um den Bedarf
zu beurteilen, Behandlungen anzupassen, berufsbezogen zu urteilen und
Ergebnisse zu evaluieren. Die ICF kann als sozialpolitisches Instrument für die
Planung für Sicherheit, Entschädigungssysteme und die Politikgestaltung sowie
ihre Umsetzung eingesetzt werden. Zuletzt kann sie ebenso bei der
Curriculumsentwicklung, die Schaffung von Problembewusstsein und als Anstoß
für soziales Handeln als pädagogisches Instrument fungieren (vgl. DIMDI 2005
zit. n. Hagendorfer 2009:8). Die ICF wird vor allem im Gesundheitswesen
angewendet werden, wird aber auch z.B. im Versicherungswesen, der sozialen
Sicherheit, in der Arbeit, Erziehung und Bildung, Wirtschaft, Sozialpolitik, in der
Gesetzesentwicklung sowie der Umweltveränderung genutzt (vgl. ebd.).
Im sozialmedizinischen Anwendungsbereich bildet die ICF die konzeptionelle
Grundlage für Weiterentwicklungen in Versicherungszweigen. Das ist vor allem an
vielen Ausarbeitungen von Konzepten, Richtlinien, Leitlinien und Vordrucken zu
sehen. In einem Leitlinien Vergleich zur sozialmedizinischen Beurteilung der
Erwerbstätigkeit in 14 europäischen Ländern wurde herausgearbeitet, dass die
44
ICF genutzt werden könnte, um den Harmonisierungsbedarf der Leitlinien
zwischen den Ländern zu beheben. Auch in der beruflichen Rehabilitation gewinnt
die ICF in Forschung und Praxis an Wichtigkeit. Die ICF wird zunehmend in der
beruflichen Rehabilitation für die Unterstützung Planungsprozessen und für die
Dokumentation genutzt. Bezüglich einer Anwendung der ICF in der
Berichterstattung propagiert der „World Report on Disability“ 2011 der WHO eine
weltweite Gesundheitsberichterstattung, die auf der ICF basiert (vgl. Schliehe/
Ewert 2013:47f.).
Aufgrund der Komplexität der ICF in der Anwendung wird die Klassifikation in
vielen Gesundheitsbereichen als nicht durchführbar gesehen. Aus diesem Grund
gibt es viele Projekte, die sich mit der Vorauswahl von ICF Kategorien für die
jeweiligen Einsatzgebiete beschäftigen. Die WHO-Konferenz 2002 in Triest
beschloss, dass die ICF Core Set Entwicklung prioritär ist für die Umsetzung der
ICF. Es gibt mittlerweile etliche Projekte zur Auswahl von ICF Kategorien für
spezifische Bereiche und Fragestellungen (vgl. Ewert/ Stucki 2007:959).
Buchholz (2015) gliedert die Anwendung der ICF in verschiedene
Umsetzungsebenen. Auf der ersten Ebene findet die Orientierung der
Fallkonzeption statt und die Behandlungsplanung am biopsychosozialen Modell.
Hierfür gibt es bereits von vielen Einrichtungen eigens entwickelte
Dokumentationsblätter. Die zweite Ebene umfasst die zusätzliche Anwendung der
ICF-Fachsprache. Die Fachsprache meint die Verwendung der Begrifflichkeiten
wie die ‚Aktivitäten‘, ‚Teilhabe‘, ‚Kontextfaktoren‘, etc. Die nächste Ebene wählt
Kategorien der ICF aus und beurteilt sie. Hier fallen vor allem die ICF Core Sets
hinein. Für eine solche Beurteilung der Beeinträchtigung gibt es mittlerweile einige
Messinstrumente. Eines davon stammt von der WHO selbst, „WHO Disability
Assessment Schedule 2“ und wird zur Verfügung gestellt (vgl. Buchholz 2015:5f.).
Aufgrund der Komplexität der ICF und der erschwerten Nutzung in der klinischen
Anwendung wurde außerdem die ICF-Mini-App entwickelt. Das Mini-ICF-Rating
für psychische Störungen ist ein kurzes Fremdbeurteilungsinstrument um
45
Fähigkeitsstörungen zu operationalisieren und zu quantifizieren. Baron und
Linden (2005) testeten das Instrument erstmals empirisch an 125 PatientInnen
einer psychosomatischen Rehabilitationsklinik. Dabei erwies es sich als ein zur
Erfassung von Fähigkeitsstörungen geeignetes Instrument, für den Einsatz in der
klinischen Routine und der Rehabilitationsmedizin (vgl. Linden/ Baron 2005:144).
Die Mini-ICF-App ermöglicht die Beurteilung des Grads der Beeinträchtigung von
Aktivitäten und Partizipation. Es können jedoch keine ‚Funktionen‘ sowie
Personen und Umweltfaktoren erfasst werden (vgl. Linden/ Baron/ Muschalla
2015:4).
4.5 Grenzen und Kritik an der ICF
Obgleich die ICF wie in den Kapiteln zuvor beschrieben eine große Anzahl an
Vorteilen aufweist, hat sie auch Grenzen und muss sich einiger Kritik durch bspw.
AnwenderInnen stellen. Aus diesem Grund werden in diesem Unterkapitel die
Grenzen der Klassifikation sowie die Kritik, die ihr gegenüber geäußert wird
hervorgehoben.
Buchholz hebt in ihrem Text hervor, dass die ICF nicht in direkter Weise als
Messinstrument eingesetzt werden kann. Stattdessen geben die
Beurteilungsmerkmale stärker eine globale Orientierung über das Ausfallen einer
Beurteilung. Sie sind aber nicht konkret genug beschrieben, um eine exakte
Messung tätigen zu können. Hinzukommt, dass die ICF keine zusammengefasste
Diagnose der funktionalen Gesundheit erstellen kann wie es bspw. mit der ICD-10
möglich ist. Vor allem in der Praxis wird der Umfang der ICF kritisiert und ihre
Komplexität wird sogar oftmals als Anwenderbarriere von AnwenderInnen
bezeichnet (vgl. Buchholz 2015:5).
Meyer berichtet von einer Ärztin, die meinte, dass die Idee der Klassifikation
sinnvoll sei, um Vergleiche herzustellen, die ICF jedoch zu aufwendig sei und nur
46
recht vage und ergänzungsbedürftige Aussagen mache. Ein Mitglied des
medizinischen Diensts der Spitzenverbände der Krankenkassen meinte zudem,
dass die ICF erhöhte Anforderungen an die AnwenderInnen stellen würde und an
die verschiedenen Anwendungsbereiche angepasst werden müsse (vgl. Meyer
2004:86).
Schuntermann (2002) war selbst an der Entwicklung der ICF beteiligt und
fungierte als Koordinator für die deutschsprachige Fassung. Er äußerte sich, dass
das biopsychosoziale Modell der ICF bereits hohe Anerkennung und Akzeptanz
im deutschsprachigen Raum gefunden hat. Vor allem die Einführung der
Umweltfaktoren und die personenbezogenen Faktoren werden gutgeheißen.
Außerdem erzählt er von positiven Erfahrungen mit der Beta-2 Version in der
Rehabilitation. Allerdings ist seiner Meinung nach auch schon bekannt, dass das
Kodieren mit der ICF sehr komplex und zeitaufwändig ist. Aus diesem Grund
sollte die Anwendbarkeit der ICF verbessert werden. Des Weiteren berichtet
Schuntermann, dass die neutrale Terminologie vor allem im
Rehabilitationsbereich auf Kritik stößt. AnwenderInnen in den Rehabilitationen
beklagen, dass sie restriktive Symptome und Anzeichen der Funktionsfähigkeit
mithilfe negativer Begrifflichkeiten beschreiben müssen, weshalb viele die ICIDH
als hilfreicher empfinden. Aufgrund dessen schlägt er vor die negative
Terminologie der ICIDH für Inklusion und Exklusion in die ICF zu integrieren (vgl.
Schuntermann 2002 zit. n. ebd.). Hollenweger hat ebenso an der Erarbeitung der
ICF mitgearbeitet und fungierte als Koordinatorin für die ICF in der Schweiz. Ihrer
Meinung nach besteht bei der ICF die Gefahr, dass man sich in ihr verliert, wenn
das Wissen darüber fehlt und dadurch die ICF falsch angewendet wird.
Nichtsdestotrotz hält sie die ICF für eine gute Grundlage für eine interdisziplinäre
Zusammenarbeit. Jedoch müssten noch Assessment-Instrumente entwickelt
werden (vgl. ebd.). Diese Meinungen weisen auf die Begrenztheit und auf
Schwächen der ICF hin. Dabei könnte es sich um Gründe für potentielle
AnwenderInnen handeln, die ICF in ihrer Arbeit nicht heranzuziehen. Hieraus
ergeben sich darauf basierend Aufgaben, die noch zu bearbeiten sind, um eine
47
international, Bereichs- und Professionsübergreifende Anwendung zu
ermöglichen.
5. EMPIRIE
Nach einer ausführlichen Beschreibung des theoretischen Hintergrunds dieser
Arbeit sowie die Betonung der Wichtigkeit des Themas der ICF, wird im folgenden
Teil der Arbeit die empirische Herangehensweise an das Forschungsfeld, die
Definition der Zielgruppe, die herangezogen wurde und die Methodik erläutert.
Hierbei wird begründet weshalb im Zuge der Arbeit qualitativ gearbeitet und
qualitative ExpertInneninterviews durchgeführt wurden.
5.1 Herangehensweise und Zugang zum Forschungsfeld
Die Arbeit hat das Ziel eine Verbindung zwischen Theorie und Praxis
herzustellen. Die ICF basiert auf dem Biopsychosozialen Modell, deckt als sehr
umfangreiches und komplexes Instrument viele Bereiche des Lebens ab und legt
den Fokus auf die Teilhabe des Menschen am alltäglichen Leben. Aufgrund der
noch geringen Diffusion der ICF in Österreich beschränkte man sich bei der Arbeit
auf keinen Bereich der Sozialen Arbeit, obgleich die ICF nicht in allen Bereichen
der Sozialen Arbeit angewendet wird und angewendet werden kann. Gesucht
wurden AnwenderInnen und ExpertInnen der ICF in der sozialarbeiterischen
Praxis. Mit ihnen sollten leitfadengestützte Interviews geführt werden. Ziel war es,
mindestens sechs ExpertInnen zu finden, die sich bereit erklären in einem
Interview Fragen zu beantworten.
Um diese ExpertInnen zu erreichen, wurden zunächst Anhaltspunkte durch ein
Gespräch mit dem Betreuer sowie Internetrecherchen gesucht, in welchen
Organisationen und Einrichtungen in Österreich, die ICF zur Anwendung kommen
könnten. Hierbei wurden zunächst die Kategorien „Case Management“,
„Entlassungsmanagements“, „(Privat-) Krankenhäuser“, „Kliniken“, „Psychiatrien“,
48
„Rehabilitationsreinrichtungen“ und „Versicherungen“ gewählt. Mithilfe einer
Internetrecherche wurden mögliche Organisationen in und um Wien recherchiert
und Kontaktdaten gesammelt. In einem nächsten Schritt wurden mögliche
Kontaktpersonen, wenn möglich auch direkt SozialarbeiterInnen, per E-Mail oder
Telefon kontaktiert. In einem weiteren Schritt wurden für weitere Informationen
gegebenenfalls wichtige Verbände kontaktiert. Dabei handelte es sich bspw. um
den Österreichischen Berufsverband der Sozialen Arbeit, OBDS, einen
Behindertenverband, die Österreichische Gesellschaft der Sozialen Arbeit, ÖGSA,
etc. Durch Hinweise dieser Organisationen konnten mögliche weitere
Organisationen wie Jugend am Werk, die Lebenshilfe, Chance B, das Band, etc.
kontaktiert werden. Der letzte und effektivste Schritt war die Suche über soziale
Netzwerke im Internet. Hierbei wurde nach Gruppen im deutschsprachigen Raum
(Österreich, Deutschland, Schweiz) gesucht, die in direkter Verbindung oder
nahem Zusammenhang mit der Sozialen Arbeit standen. Dabei wurden einerseits
Gruppen von Universitäten und Fachhochschulen gewählt sowie Gruppen für
SozialarbeiterInnen und sozialarbeitsähnliche Professionen in der Praxis. Die
Gruppengrößen variierten zwischen 500 und 16.000 Mitgliedern. In diesen
Gruppen wurden mit einem Abstand von eineinhalb Monaten Beiträge
veröffentlicht, um potentielle ExpertInnen zu erreichen. Die Beiträge wurden so
formuliert, dass sie das Interesse für das Forschungsvorhaben wecken und es
InteressentInnen einfach machen sollte, sich zu melden. Vorteil dieser Methode
war es, möglichst viele SozialarbeiterInnen in einem großen geographischen
Raum durch verhältnismäßig wenig Aufwand direkt, ohne den Umweg über eine
Organisation, erreichen zu können.
Für die ExpertInneninterviews konnten sechs InterviewpartnerInnen gefunden
werden. Hierbei handelte es sich um einen Professor, welcher im Bereich ICF
Core Sets forscht und lehrt, einen Klinischen Sozialarbeiter einer ambulanten
Sozialpsychiatrie, eine Interviewpartnerin mit einem sozialen Kolleg als
Teamleiterin dreier Gruppen einer Behinderteneinrichtung, eine Fachberaterin für
Inklusion im Fachbereich Kindertagesstätten und Schulbetreuung, Absolventin
des Masters Beratung in der Arbeitswelt- Supervision, Coaching und
49
Organisationsberatung und Dozentin sowie eine Sozialarbeiterin, Case
Managerin, Dozentin und Teamleitung einer sozialpsychiatrischen Einrichtung.
Von allen InterviewpartnerInnen sind zwei aus Österreich, wobei davon eine
Person in Deutschland lebt und arbeitet, und vier Personen aus Deutschland. Die
InterviewpartnerInnen in Deutschland lagen sehr verstreut. Die österreichische
Interviewpartnerin befand sich im Burgenland.
Aufgrund der örtlichen Distanz und der Schwierigkeit InterviewpartnerInnen in
oder um Wien zu finden, wurden alle Interviews als Telefoninterviews geführt und
mit einem Aufnahmegerät für die Transkription aufgenommen. Zuvor wurde den
InterviewpartnerInnen, falls gewünscht, Vertraulichkeitsvereinbarungen
zugeschickt, um eine Bestätigung einzuholen, dass das Interview aufgenommen
werden darf. Die Vertraulichkeitsvereinbarung versicherte ebenso, dass alle
persönlichen Daten wie Name, Ort, Einrichtung, KlientInnen, KollegInnen usw.
anonymisiert werden, sodass die Interviews nicht mehr auf die Personen
schließen lassen können. Zuletzt wurde die Freiwilligkeit des Interviews betont
und den InterviewpartnerInnen versichert, dass sie das Interview jederzeit
abbrechen oder die Berechtigung zur Verwendung des Materials zurückziehen
können. Bei InterviewpartnerInnen, die keine Vertraulichkeitsvereinbarung haben
wollten, wurden alle diese Punkte vor dem Interview nochmal mündlich
besprochen. Alle Interviews betrugen zwischen 30 und 90 Minuten. Im Durschnitt
dauerte ein Interview 45 Minuten.
5.1.1 Zielgruppe
Zielgruppe dieser Arbeit sind die AnwenderInnen der ICF in der
sozialarbeiterischen Praxis. Gewählt wurden vor allem SozialarbeiterInnen aus
teilweise unterschiedlichen Fachbereichen der Sozialen Arbeit sowie vereinzelt
andere soziale Professionen, die in der sozialarbeiterischen Praxis tätig sind.
Aufgrund der Schwierigkeit eine genügend große Stichprobe der Zielgruppe zu
finden, wurde sich auf keine Fachdisziplin oder einen sozialarbeiterischen Bereich
beschränkt. Zudem wurde die Zielgruppe im gesamten deutschsprachigen Raum,
50
Österreich, Deutschland und Schweiz ohne regionale Begrenzungen gesucht. Bei
der Stichprobe handelte es sich um überwiegend studierte SozialarbeiterInnen
(Bachelor und Master Niveau), ein soziales Kolleg sowie fachähnliche soziale
Studiengänge. Die InterviewpartnerInnen fungierten als ExpertInnen der ICF in
ihrer Anwendung. Dabei lag der Fokus eher auf dem Expertentum in der
praktischen Anwendung als den theoretischen Kenntnissen um die ICF.
Voraussetzung war, dass die ExpertInnen in ihrer Praxis die ICF vollständig oder
auch teilweise in verschiedensten Schritten ihrer Arbeit heranziehen. Dabei war
es möglich, dass die ExpertInnen die ICF vollständig, teilweise oder bspw. auch
als Basis ihres in der Organisation verwendeten Assessment-Instruments
heranzogen. Als Voraussetzung galt, dass alle ExpertInnen die ICF oder ein
Erhebungsinstrument, welches auf der ICF basiert anwenden konnten und
möglichst regelmäßig anwendeten. Wünschenswert war, dass neben praktischen
Kenntnissen auch theoretisches Wissen zur Entstehung, Entwicklung sowie zu
Anwendungen in der Sozialen Arbeit vorherrschte. Das war nur bei der Hälfte der
InterviewpartnerInnen der Fall.
5.2 Qualitative Forschung
Die Klinische Soziale Arbeit ist den Sozialwissenschaften zugehörig und gilt damit
als Wirklichkeitswissenschaften. Das bedeutet, dass sie ihre theoretischen
Aussagen und Vorhersagen einer empirischen Prüfung unterziehen muss und
dieser Überprüfung standhalten. Ohne den Regeln der Methoden der empirischen
Sozialforschung zu folgen, ist es nicht möglich empirisch zu forschen. Diese
Regeln legen fest, wie Daten erhoben, mit Theorien verknüpft und danach
ausgewertet werden (vgl. Baur/ Blasius 2014:41). Der Begriff der qualitativen
Sozialforschung ist ein sehr breiter Begriff und umfasst unterschiedliche
methodologische Ansätze in Psychologie, Soziologie, Pädagogik und der
Sozialen Arbeit. Es gibt jedoch keine umfassende und fächerübergreifende
Methodologie. Setzt man qualitative und quantitative Methoden miteinander ins
Verhältnis, kann den qualitativen Methoden weder eine dienende Funktion, eine
51
alternative Bestimmung, ihre Ausgrenzung, noch ihr Alleinvertretungsanspruch
begründet werden (vgl. Kleinig 1991:11ff.).
Der Grundgedanke der quantitativen Sozialforschung besteht in der Annahme,
dass die Welt nur über die menschlichen Sinne wahrgenommen werden kann.
Damit wird klar, dass keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen natur- und
geisteswissenschaftlicher Methodologie besteht. Es wird angenommen, dass das
soziale Leben einer bestimmten Regelmäßigkeit folgend abläuft und
ForscherInnen das soziale Leben von außen betrachten und beobachten können
und sich erklären. Bei der qualitativen Sozialforschung besteht der Grundgedanke
darin, dass der Mensch nicht bloß ein Untersuchungsobjekt darstellt, sondern
auch ein erkennendes Subjekt. Eine objektivistische Sozialforschung wird einer
solchen Doppelrolle nicht gerecht. Aus diesem Grund liegt dem
Forschungsprozess nicht das Ziel zugrunde, Objektivität nach dem
naturwissenschaftlichen Sinn herzustellen, da hierbei eine Position außerhalb der
Kultur, Gesellschaft und Geschichte gebraucht würde. Um soziales Handeln
erforschen zu können, wird das Wissen um die Verwendung von (Sprach-)
Symbolen benötigt, das vom jeweiligen situativen Kontext abhängig ist. Um
Fremdes verstehen zu können, wird eine Grundlage an gemeinsamen Symbolen
eines Kulturkreises benötigt sowie die Annahme, dass es möglich ist, dass
ForscherInnen sich gedanklich in andere hineinversetzen können (vgl. Lamnek
2006:30). Aufgrund der Wichtigkeit des Sozialen Handelns wird die Arbeit
qualitativ vorgehen und forschen.
„Das Forschungsziel qualitativer Forschung besteht darin, die Prozesse zu
rekonstruieren, durch die die soziale Wirklichkeit in ihrer sinnhaften Strukturierung
hergestellt wird.“ (ebd.) Um das leisten zu können, muss sie sich bestimmten
Anforderungen stellen und bestimmte Merkmale haben. Lamnek zufolge sind die
Merkmale der qualitativen Sozialforschung interpretativ, naturalistisch,
kommunikativ, reflexiv und qualitativ zu sein (vgl. ebd.). Interpretativ meint hierbei,
dass die soziale Realität als gesellschaftlich und nicht objektiv vorgegeben
verstanden wird, die durch Interpretation und durch das Zuweisen von
52
Bedeutungen konstruiert wird (vgl. Berger/ Luckmann 1974 zit. n. ebd.). Beim
Merkmal naturalistisch wird davon ausgegangen, dass das Untersuchungsfeld die
natürliche Welt ist, die mit naturalistischen Methoden untersucht, erfasst und
beschrieben wird (vgl. Schatzmann/ Strauss zit. n. ebd.). Unter kommunikativ wird
angenommen, dass die methodologischen Regeln nicht unabhängig von Regeln
des alltäglichen Kommunikationsprozesses festgelegt werden (vgl. Arbeitsgruppe
Bielefelder Soziologen 1776 zit. n. ebd.:31). Außerdem wird an die
Sozialforschung der Anspruch gestellt, sich selbst vielfach aus verschiedenen
Perspektiven kritisch zu reflektieren (vgl. Müller 1979 zit. n. ebd.). Zuletzt versucht
die Sozialforschung dem Forschungsgegenstand gegenüber offen zu sein,
weshalb sie sich von standardisierten Methoden der empirischen Sozialforschung
distanziert (vgl. Hopf/ Weingarten 1984 zit. n. ebd.).
5.2.1 Datenerhebung mittels leitfadengestützten ExpertInneninterviews
In der qualitativen Forschung werden verbale Daten meist mithilfe der Erzählung
oder des Leitfadeninterviews erhoben. Ist der Fallverlauf und der
Erfahrungskontext im Vordergrund der Forschungsfrage, so wird oftmals das
narrative Interview dem Leitfadeninterview vorgezogen. Werden jedoch konkrete
Aussagen über einen Gegenstand benötigt, so wird das Leitfadeninterview als
effektivere Methode angesehen (vgl. Flick 1999 zit. n. Mayer 2013:37). Da die
Befragung zur Anwendung der ICF verstärkt konkrete Aussagen zum
Forschungsgegenstand benötigt wurde sich bei dieser Arbeit für das
Leitfadeninterview entschieden.
Das Leitfadeninterview wird oftmals auch als teilstrukturiertes oder
semistrukturiertes Interview bezeichnet. Bei der Ausführung der Interviews
können diese sehr verschieden sein. Ein Leitfadeninterview kann sich bspw. über
mehrere Termine ziehen, bei den Fragen oder Themenbereichen stark variieren,
sehr lang oder auch kurz sein können, den InterviewpartnerInnen viel Freiraum in
der Beantwortung der Fragen lassen, sehr unterschiedliche Frageformulierungen
53
haben oder auch bei der Abfolge oder Auswahl der Fragen variieren. Das
Leitfadeninterview unterscheidet sich demnach vom standardisierten Interview,
dass die InterviewpartnerInnen keine vorgegebenen Antworten geben müssen
und dass sie die Freiheit haben, ihre Meinungen und Erfahrungen offen zu
erzählen (vgl. Hopf 1995:177).
Das Leitfadeninterview richtet sich an der Offenheit von qualitativer Forschung
aus, weshalb InterviewerInnen sich zwar an den Leitfaden halten, jedoch auch
Ausschweifungen zulassen. Bei zu weiten Ausschweifungen wird jedoch versucht,
wieder zum Thema zurück zu kommen, um die Interviewzeit nicht zu weit
auszudehnen und nicht für die Forschungsfrage und das Forschungsvorhaben
unnötiges Datenmaterial zu sammeln (vgl. Mayer 2013.:38). Für das
Forschungsvorhaben dieser Arbeit wurde schon vor der Durchführung der
Interviews ein Interviewleitfaden erstellt. Jedoch wurden im Gespräch auch
Änderungen des Gesprächsverlaufs zugelassen, die für die Arbeit von Interesse
waren.
Eine eigene Form des Leitfadeninterviews stellt das ExpertInneninterview dar.
ExpertInnen sind nicht so sehr als die Person interessant, sondern vielmehr in
ihrer Funktion als ExpertInnen für ihr Handlungsfeld. Das ExpertInneninterview
legt den Fokus auf einen konkret formulierten Wirklichkeitsausschnitt. Die
ExpertInnen werden zudem als RepräsentantInnen einer Gruppe gesehen und
weniger als Einzelpersonen. Der Interviewleitfaden hat aus diesem Grund die
Aufgabe, eine steuernde Funktion zu übernehmen hinsichtlich der Vermeidung
von unergiebiger Themen. Vielmehr steht im Vordergrund die ExpertInnen auf das
interessierende Expertentum hin zu befragen (vgl. Flick 1999 zit. n. ebd.). Die
InterviewpartnerInnen dieser Arbeit stellten ExpertInnen unterschiedlichster
Bereiche der Sozialen Arbeit dar. So waren manche Personen ausschließlich
ExpertInnen für den sozialpsychiatrischen Bereich, den Behindertenbereich oder
auch ExpertInnen im Bereich der sozialarbeiterischen Forschung. Aus diesem
Grund wurde der Fokus der Interviewleitfadenfragen von Interview zu Interview
54
unterschiedlich gelegt. Unergiebige Themen wurden nur kurz angesprochen oder
sogar umgangen.
Um die Stichprobe zu bilden, wird bei den InterviewpartnerInnen Expertentum
vorausgesetzt. Ein Experte oder eine Expertin ist eine Person, die auf einem
begrenzten Gebiet ein klares und abrufbares Wissen besitzt. Die Ansichten und
Meinungen basieren auf sicheren Behauptungen (vgl. Meuser/ Nagel 1997 zit. n.
ebd.:41). Meuser und Nagen (1991) definieren als Experten oder Expertin eine
Person, die auf unterschiedliche Weise Verantwortung für den Entwurf, die
Implementierung oder Kontrolle einer Problemlösung innehat. Oder auch einen
privilegierten Zugang zu Informationen über Personengruppen oder
Entscheidungen besitzt (vgl. Meuser/ Nagen 1991 zit. n. ebd.). Bei den
InterviewpartnerInnen dieser Arbeit handelt es sich um überwiegend
Teamleitungen verschiedenster Einrichtungen, die sich in ihrer Einrichtung
verstärkt mit der ICF, ihrer Anwendung und der zukünftigen Umsetzung
auseinandergesetzt haben. Das Expertentum der InterviewpartnerInnen war an
manchen Punkten heterogen, was auch den lokal unterschiedlichen
Entwicklungen der Einrichtungen oder auch den internationalen Unterschieden
zuzuordnen ist. Nichtsdestotrotz galten die InterviewpartnerInnen in ihren
Einrichtungen und Organisationen als eineR der ExpertInnen zur Anwendung der
ICF.
5.2.2 Forschung und Auswertung nach Grounded Theory
Barney Glaser und Anselm Strauss entwickelten in den 1960er Jahren den
Forschungsstil der Grounded Theory Metodologie, GTM und publizierten im Jahr
1967 das erste Mal. Veröffentlicht wurde die Theorie in einer Zeit des
intellektuellen und politischen Aufbruchs und war an junge Sozialforscher
gerichtet, die nach neuen Wegen suchten. Das Buch „The Discovery of Grounded
Theory“ (1967/1998) wurde damit zu einem Klassiker der empirischen
Sozialforschung. Jedoch handelt es sich bei diesem Buch eher um eine Art
grobes Skizzenbuch. Der Begriff der Grounded Theory führt oftmals zu
55
Missverständnissen. Er verweist gleichzeitig auf Prozess und Ergebnis, auf das
Forschungshandeln zur Problemlösung und die gegenstandsbezogenen
Theorien, die dadurch hervorgebracht werden. Das Ergebnis ist demnach nur aus
dem Arbeitsprozess heraus zu verstehen, in welchem es erarbeitet wurde.
Theorie wird als Prozess verstanden, gleich wie bei Strauss (vgl. Strübing 2007
zit. n. Baur/ Blasius 2014:457). GT verweist darauf, dass es sich hierbei nicht um
eine Methode oder Methodologie handelt, sondern um einen Forschungsstil (vgl.
ebd.). Aus diesem Grund richtet sich nicht nur Auswertung der Interviews nach
der GT, sondern es wurde bereits im Stil der GT geforscht.
Zur Bearbeitung und Auswertung des Datenmaterials dieser Arbeit wurde die
Grounded Theory Methodoloy, GMT nach Kathy Charmaz (2006) herangezogen.
Hirbei werden Theorien auf Grundlage empirischer Daten formuliert (vgl. Charmaz
2006:4). Charmaz entwickelte auf Basis der objektivistischen GTM nach Strauß
und Glaser (1967) eine konstruktivistische GTM (vgl. Charmaz 2011:92). Mit ihrer
Forschung stellte sie die traditionelle Vorgehensweise in Frage und erweiterte
diese um ein konstruktivistisches Moment. Ihre Kritik wird im folgenden Zitat aus
einem Dialog zwischen Charmaz und Puddphatt (2011) deutlich gemacht:
„Es geht nicht, die Position des Beobachters bzw. der Beobachterin
auszuklammern, ebenso Fragen der Wahrheit und Exaktheit von Beobachtung.
Da gibt es immer Spannungen, weil Wahrheit ortsgebunden, relativ, historisch,
situativ und kontextuell sein kann.“ (Charmaz 2011:94)
Diese Positionierung trifft auf das Forschungsvorhaben dieser Arbeit zu. Im
Rahmen dieser Arbeit geht es um die ICF und ihre Anwendung und die Wahrheit
dazu ist individuell verschieden.
Die Methodologie nach Charmaz (2006) berücksichtigt die beschriebenen
Aspekte. Nach dieser Begründung, weshalb die Methode für die Arbeit
herangezogen wurde, wird im Folgenden der Auswertungs- und
Erhebungsprozess erläutert. Als Resultat dieses Prozesses soll ein theoretisches
56
Modell entstehen, welches aus den empirischen Daten entwickelt wurde. Da der
Erhebungs- und Auswertungsprozess der GTM zirkulär verläuft, werden somit die
eigenen Annahmen anhand des Datenmaterials immer wieder überprüft (vgl.
ebd.:10). Dadurch wird die Wahrscheinlichkeit reduziert, dass sich gefestigte
Meinungen der Forscherin durchsetzen (vgl. ebd.:53).
Kathleen C. Charmaz promovierte an der University of California in San Francisco
und wurde während ihrer Dissertation von Anselm Strauss betreut. In ihren
Veröffentlichungen zur GTM hinterfragt sie objektivistische Tendenzen des
traditionellen Modells des symbolischen Interaktionismus und erweitert das
Anwendungspotential der GTM um ein Vielfaches (vgl. Charmaz 2011: 89). Der
grundlegende Wunsch der GTM ist es bereits zu Beginn die Verschränkung
zwischen empirischer Forschung und Theoriebildung. Die empirische Forschung
hat zum Ziel hat Theorie zu generieren, die wiederum in der Forschung begründet
sein soll und sich nicht von oben über die Forschung legen soll (vgl. Przyborski/
Wohlrab-Sahr 2014:192). Aus diesem Grund verlief bei diesem
Forschungsvorhaben die Arbeit an der Theorie und das Führen und Auswerten
der Interviews parallel zueinander. Weiters wurde darauf verzichtet, bereits im
theoretischen Teil dieser Arbeit genauestens auf die ICF in der Sozialen Arbeit
einzugehen, um mit möglichst wenig Vorannahmen in die Interviews zu gehen.
Um am Ende ein theoretisches Modell aufzuweisen, werden die
Interviewtranskripte wie folgt bearbeitet. Das Datenmaterial wird in einzelne
Segmente geteilt und den Segmenten werden passende Schlagwörter, Codes
zugeordnet (vgl. ebd.:43). Diesen Arbeitsschritt nennt Charmaz das Kodieren.
Das Kodieren der einzelnen Segmente hat den Zweck, dass zwischen
Datensammlung und theoretischen Annahmen eine Verbindung geschaffen
werden kann (vgl. ebd.:46). Die Daten werden demnach grob sortiert, um im
weiteren Verlauf allgemein beschreibende Kategorien ableiten zu können (vgl.
ebd.:50f.).
57
Zum nächsten Schritt beginnt die Auswertungsphase. Hierbei wird das Tool „line-
by-line Coding“ (Charmaz 2006) verwendet. Es wird nicht jedes Wort bewertet,
sondern viel mehr der Kontext herangezogen, um einen Code für das Segment zu
finden. Diese Segmente werden durch die Codes übersichtlicher und lassen sich
miteinander vergleichen. Einzelne Abschnitte werden in Beziehung zueinander
gesetzt, welches auf eine erste Kategorienbildung abzielt, um darauffolgend eine
höhere Abstraktionsebene für ein allgemeingültiges Modell zu erreichen (vgl.
ebd.:53) Bei einer erneuten Analyse wird nochmals entschieden, welche Codes
zusammengehören. Dabei lassen sich vorher erstellte Kategorien auflösen. Durch
Neusortierung der Codes werden Subkategorien bzw. neue Kategorien entwickelt.
Dadurch, dass die Codes immer wieder miteinander verglichen werden, entwickelt
sich ein fokussiertes Kodieren auf vorherrschende Aspekte. Somit werden die
Kategorien immer ausgeprägter (vgl. ebd.:60). In einem letzten Schritt werden
theoretischen Vorannahmen und Standpunkte der Forscherin mit dem
Datenmaterial in Verbindung gesetzt.
58
6. ERGEBNISSE
In diesem Kapitel werden die aus dem Interviewdatenmaterial herausgearbeiteten
Kategorien näher beschrieben und hinsichtlich der Forschungsfragen dieser
Arbeit interpretiert und analysiert. Die leitenden Fragestellungen dieser Arbeit
lauten:
Mit welchen Schwerpunkten ist die Internationale Klassifikation der
Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit in die soziale Diagnostik
einzubeziehen, wie kann sie zur Zielorientierung in klinisch-psychosozialer
Fallarbeit beitragen? Wie hat sich die ICF entwickelt?
Die darzustellenden Interviewpersonen werden aufgrund der Reihenfolge, in der
die Interviews geführt wurden im Folgenden als Person1, Person2, Person3,
Person4, Person5 und Person6 bezeichnet. Aufgrund der Anonymisierung der
Daten werden hierbei keine Namen genannt. Transkripte der Interviews werden
den Interviewpersonen entsprechend mit Interview1, Interview2 usw. zitiert. Die
Ergebnisse werden in folgenden Kategorien dargestellt, die anhand der
Auswertung nach der Methode der Grounded Theory nach Kathy Charmaz
herausgearbeitet wurden:
6.1 Organisationen
Die erste und grundlegende Kategorie des Datenmaterials ist die Kategorie
„Organisationen“, welche die verschiedenen InterviewpartnerInnen, ihre
Organisationen, Rollen und Aufgaben umfasst, ihre Anwendungsart der ICF sowie
mögliche Einschulungen zu ihrer Verwendung.
Die InterviewpartnerInnen in ihren Organisationen
Person1 arbeitet in einem Behindertenheim im Burgenland und ist in der
Tagesbetreuung für Menschen im Alter zwischen 16 und 70 mit schweren
59
Behinderungen beschäftigt. Sie ist Teamleiterin von drei Gruppen mit insgesamt
12 BetreuerInnen (vgl. Interview1: 24-29). Person2 arbeitet in einer evangelischen
Stiftung mit 5000 MitarbeiterInnen, im Bereich „Betreutes Wohnen“ im
psychosozialen Zentrum. Sein Tätigkeitsbereich ist die ambulante
Eingliederungshilfe für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Weitere seiner
Zuständigkeitsbereiche sind das Aufnahmemanagement, die psychosoziale
Beratung und Qualitätssicherung (vgl. Interview2:48-87). Person3 ist tätig in einer
Lehrerkooperative und arbeitet im Bereich Kindertagesstätten und schulnahen
Betreuungen als Fachberaterin mit dem Schwerpunkt auf Inklusion und
Ganztagsschulentwicklung. Ihre Aufgabe ist die Betreuung und Begleitung von
Teams in Organisationsentwicklungsprozessen in 26 Kindertagesstätten und
Ganztagsschulen. Die Teams werden durch sie bei Themen wie Inklusion oder
Kinderschutz beraten und unterstützt (vgl. Interview3: 14-41). Person4 ist bei
einem örtlichen Sozialhilfeträger angestellt und arbeitet im Fachdienst Teilhabe
von Menschen mit Behinderung. Ihr Aufgabenbereich ist die Hilfeplanung und
Bedarfsermittlung von Eingliederungshilfen für Kinder und Jugendliche mit
körperlicher und oder geistiger Behinderung (vgl. Interview4:34-42). Des Weiteren
folgt Person5, die zur ICF und den ICF Core Sets forscht und lehrt. Zuvor war er
unteranderem in einer psychiatrischen Klinik tätig und betreute den
Konsiliardienst (vgl. Interview5:18-87). Person6 arbeitet als Sozialarbeiterin im
sozialpsychiatrischen Bereich in einer Organisation mit 70 MitarbeiterInnen, die
psychisch kranken Menschen Hilfe leistet. Hierbei gibt es in verschiedenen
Städten und Orten Kontakt- und Beratungsstellen, Tagesstätten, Gruppen- und
Freizeitangebote und ambulant betreutes Wohnen für psychisch kranke
Erwachsene von 18 bis ca. 90 Jahren. Den Hauptbereich stellt das ambulant
60
betreute Wohnen dar für ca. 400 psychisch kranke Erwachsene. Person6 ist
hierbei Teamleiterin von einem Team mit 12 MitarbeiterInnen und hat zudem die
Aufgabe der Begleitung des Antragsverfahrens (vgl. Interview6:9-28).
Hierbei ist ersichtlich, dass zwei von sechs Personen in der Eingliederungshilfe
tätig sind und weitere drei Personen im psychosozialen bzw. psychiatrischen
Bereich der Sozialen Arbeit.
Die Anwendung der ICF in den Organisationen
Die Anwendungsarten der ICF in den Organisationen gestalten sich sehr
unterschiedlich. In den einen Organisationen wird die ICF vollständig in ihrer
ursprünglichen Form herangezogen, in anderen werden zugeschnittene
Instrumente verwendet, die auf der ICF basieren. Es ist zudem unterschiedlich, ob
nur die jeweilige Interviewperson in ihrer Organisation auf Basis der ICF arbeitet
oder eine größere Anzahl der MitarbeiterInnen.
In der Organisation von Person1 wird als Instrument das
Dokumentationsprogramm Vivendi seit März 2018 herangezogen, welches auf
der ICF basiert. Angewendet wird das Instrument von allen MitarbeiterInnen in der
Tagesbetreuung und im Wohnbereich (vgl. Interview1:35-54). Dem
Dokumentationsprogramm liegt die ursprüngliche Form der ICF zugrunde. Das
Instrument wird aufgrund der fehlenden Urteilsfähigkeit der KlientInnen allein von
den BetreuerInnen auf täglicher Basis angewendet (vgl. ebd.:80-103). Dabei
wurde es so angepasst, dass es in möglichst kurzer Zeit täglich als
Dokumentationssystem verwendet werden kann.
„Ah des is unterschiedlich, weil des kommt kommt drauf an wie viel Klienten man dokumentiert. Aber i sog jetzt wenn i meine zehn Klienten aus der Gruppe dokumentier, is es vielleicht a holbe Stund.“ (ebd.:99f.)
In der Organisation von Person2 wird die ICF in Form des Gesamtplans
herangezogen. Diese Gesamtpläne werden seit Beginn der 2000er Jahre in der
Organisation verwendet und wurden durch die verantwortliche Behörde für die
Eingliederungshilfe vorgeschrieben (vgl. Interview2:101-121). Diese Behörde bzw.
das Fachamt für Eingliederung koordiniert und bewilligt die Maßnahmen. Grund
61
dafür ist das Ziel, die Eingliederungshilfe besser zu strukturieren, effektiver,
messbarer und überprüfbarer zu machen und damit die Kosten zu senken (vgl.
ebd.:154-164). Der Gesamtplan gliedert sich in verschiedene Lebensfelder:
Wohnen, alltägliche Lebensführung, Basisversorgung Grundpflege, psychische
Entwicklung, Gesundheitsförderung, Gestaltung sozialer Beziehungen, Teilnahme
am kulturellen gesellschaftlichen Leben, Kommunikation, Orientierung und
Teilhabe, Beschäftigung und Teilhabe. Diese Lebensbereiche werden wiederum
auf die ICF Items heruntergebrochen (vgl. ebd.:172-179). Der Gesamtplan wird in
der Erstplanung innerhalb der Gesamtplankonferenz durch die Behörde
gemeinsam mit dem Klienten oder der Klientin im Beisein des betreuenden
Sozialarbeiters oder der Sozialarbeiterin erstellt und verschriftlicht (vgl. ebd.:187-
192).
Person3 ist die einzige Person in ihrer Organisation, die die ICF in ihrer Arbeit
regelmäßig heranzieht (vgl. Interview3:77).
„Also dadurch - dadurch, dass die ganzen Maßnahmen und dieser dieser ganze Bereich - ausschließlich mein Tätigkeitsfeld ist -- äh - mach das grade ich (lacht).“ (vgl. ebd.:76f.)
Das argumentiert sie damit, dass Inklusion bzw. Teilhabe der Kinder in ihren
Arbeitsbereich einzuordnen sind.
„Ja äh - und dadurch, dass das einfach ganz klar als mein Arbeitsbereich äh äh als mein Arbeitsfeld definiert ist - äh - ist das sowas was ich selbstständig anwenden und äh äh entscheiden kann. Also natürlich - äh weiß das unsere Geschäftsführung, dass ich danach arbeite. Und ähm - im Sinne von Wissensmanagement ist auch klar so, dass wenn da jemand ne Frage hat oder ähnliches, dass ich da gefragt werde. Aber es ist halt einfach so mein fester Themenbereich (lacht).“ (ebd.:87-93)
Als Grund für die Verwendung der ICF nennt sie die Mitarbeit in einem
städtischen Modell und städtischen Arbeitsgruppen zum Thema Inklusion mit
folgendem Ansatz.
„Und da ist einfach so eine Prämisse das - ähm - ja - nicht dem Kind anpassen muss, sondern sich die Strukturen nach dem Kind richten. - So dieses vom Kind aus Denken so als Grundhaltung - und des probier ich so einzubringen und dafür ist auch der ICF ganz gut geeignet. Einfach weils ne ganzheitliche Sicht auf die Kinder gibt und einfachn
62
Hilfsmittel ist, um mit dem Team zusammen auch sowas zu diskutieren.“ (ebd.:56-61)
Auf die Frage seit wann sie mit der ICF arbeitet erklärt sie, dass sie die ICF vor
einem dreiviertel Jahr kennengelernt hat (vgl. ebd.:72). Die Anwendungsart der
ICF unterscheidet sich bei Person3 zudem. Im Vergleich zu Person1 und Person2
verwendet sie kein auf die ICF abgestimmtes Instrument. Stattdessen zieht sie die
vollständige ICF heran und wählt die für sie relevanten Abschnitte aus.
„Ähh - des hängt immer davon ab von der Zielsetzung und wo wos halt auch äh - wirklich hakt, also ich kenn alle Listen und ich kenn den vollständigen ICF, aber ich such mir des raus was ich äh jetzt in der Situation für hilfreich - entscheide.“ (ebd.:145-147)
Darauffolgend wird bei ihrer Arbeit die ICF in unterschiedlichen Arbeitsschritten
und auf verschiedene Weise herangezogen. Zum einen zieht sie die ICF zur
eigenen Dokumentation und zum anderen zur Diskussion bei Fallbesprechungen
im Team heran.
„Ähh des hängt immer davon ab - also ob ich selbst den Bericht schreibe - dann schreib ich des einfach runter und und orientier mich da dran - oder ähm - ich hab auch - ähm ich hab auch ne einfache Schablone wo ich des dann zum Beispiel anwende wenn ich Diagnostik zusammen mit dem Team oder wenn ich Fallbesprechungen etc. mit dem Team dann mache um einfach auf die Art und Weise auf alle Bereiche ein kleines bisschen zu schauen.“ (ebd.:117-122)
Ein weiterer Arbeitsschritt bei welchem die ICF bei ihr zur Anwendung kommt, ist
die Betreuung und Begleitung der Teams in Kindertagesstätten und
Ganztagesschulen. Hierbei versucht sie auch SozialpädagogInnen und
ErzieherInnen zur ICF Anwendung in der Arbeit mit den Eltern zu befähigen.
„Ja, deswegen mach ich wirklich auch so ausführliche Fallbesprechungen, wenn sowas da ist - und wir über überlegen auch so wie man eben solche Dinge dann auch mit den Eltern besprechen kann. - Und - äh - mein großes Ziel hinter meiner Arbeit ist, dass jeder wirklich Erzieher, jeder Sozialpädagoge, der bei uns arbeitet in der Lage ist - ähm den ICF so anzuwenden, dass es die betroffenen Eltern als au äh auf Augenhöhe und als konstruktiv für die weitere Zusammenarbeit erleben.“ (ebd.:217-220)
63
Person4 wendet in ihrer Bedarfsermittlung die ICF seit April 2018 an, wobei das
Arbeiten auf Basis der ICF bereits seit längerem in ihrer Organisation stattfindet
(vgl. Interview4:64-69). In ihrer Organisation wird dafür das
Bedarfsermittlungsinstrument BENi für die Hilfeplanung herangezogen.
„Das ist ein Instrument was wir wirklich in der Hilfeplanung und aber auch noch so ich sag mal ein Stück vorweg ähm - verwenden, um erst mal die Bedarfe des Kindes oder des Jugendlichen herauszufinden. Also das ist quasi so unsre Grundlage auf, die dann später eben noch eine Zielplanung erfolgt.“ (ebd.:148-151)
Aufgrund ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen spielt zudem die auf Kinder
und Jugendliche abgestimmte Form der ICF, die ICF-CY eine Rolle, die ebenfalls
versucht wird in der Praxis zu berücksichtigen.
„Und da kann ich dazusagen, es ist nich ganz so bekannt ich weiß nich ob es dir bekannt ist, es gibt ja das ICF-CY also CY am Ende
Interviewer: Ja ja
Person4: Das ist ja das ICF das wirklich nochmal ganz speziell auch für Kinder und Jugendliche und deren Entwicklungsschritte aufgebaut - oder entworfen wurde. Und das versuchen wir natürlich auch in unsrer Praxis und unsrer Arbeit zu berücksichtigen.“ (ebd.:137-147)
Der Bedarfsermittlungsbogen wird bei Person4 am Computer ausgefüllt. Er
enthält neun Lebensbereiche basierend auf der ICF.
„Ja das heißt wir gucken uns verschiedene Bereiche an das ist einmal Lernen und Wissensanwendung, dann der zweite Bereich sind allgemeine Aufgaben und Anforderungen, der dritte Bereich ist Kommunikation, der vierte Mobilität, der fünfte Selbstversorgung, der sechste ist dann ähm interpersonelle Beziehungen und Interaktionen, so heißt das glaub ich (lacht) ähm der siebte Bereich ist häusliches Leben, der achte bedeutende Lebensbereiche also das könnten zum Beispiel die Schulbildung sein und der neunte Bereich ist so Gemeinschaft und stark bürgerliches Leben also bei Kindern zum Beispiel Freizeitaktivitäten.“ (ebd.:170-178)
Zudem ist das Bedarfsermittlungsinstrument BENi in zwei Teile aufgeteilt. Im
ersten Teil werden die Diagnosen aufgeführt und im zweiten Teil werden Aktivität
und Teilhabe gemeinsam im Gespräch mit den Eltern erarbeitet.
„Der erste Teil ist im Grunde medizinischer Natur, nämlich da is äh - werden die Diagnosen des jeweiligen Menschen also die ICD-10
64
Diagnosen festgehalten. Und dort wird eben aufgeführt welche Diagnosen gibt es welche Erkrankungen - ähm - und wo speziell sind eben auch Störungen der Körperfunktion und Körperstrukturen - gegeben. So das bekommen wir, das machen nicht wir, sondern das bekommen wir von Ärzten und des Gesundheitamtes bei denen die Kinder vorständig werden müssen. Dann bekommen wir diese Diagnosen diesen ersten Teil zugeschickt - und laden die Familien zum Gespräch bei uns ein. Und wir ermitteln eben aufbauend auf diesen Diagnosen so wie es ja im Grunde auch im Gedanke des ICF oder des Biopsychosozialen Modells ist, dann eben - wo liegen Ressourcen aber auch Einschränkungen hinsichtlich der Aktivität und Teilhabe - und das erfassen wir anhand neun Lebensbereichen mit diesem Bedarfsermittlungsinstruments.“ (ebd.:158-170)
Im Unterschied zu Person1 wird bei Person4 das auf der ICF basierende
Instrument gemeinsam mit den Familien ausgearbeitet. Person5 ist bereits das
erste Mal im Jahr 2004/2005 in Kontakt mit der ICF gekommen (vgl.
Interview5:14). Er hat unteranderem im Akutbereich gearbeitet, wo er bereits
versuchte passende Kodierungen für Krankheitsfolgen zu erkennen.
„Ja ich hab die insofern angewendet, dass ich damals äh überlegt hab äh welche Leistungsbezüge welche Fragestellungen spielen eigentlich hier im Akutkrankenhaus ne Rolle und äh mit welchen Folgen ist möglicherweise bei bestimmten Erkrankungen auch zu rechnen. Und hab versucht damals schon über eine Zuordnung selbst gestrickt ähm - Kodierungen oder Kodierungen zu erkennen, die da vielleicht ne Rolle spielen.“ (ebd.:55-60)
Jedoch hat Person5 zu dieser Zeit noch unabhängig vom System, aufgrund
fehlender Andockstationen hinsichtlich psychosozialer Folgen, alleine mit der ICF
gearbeitet. Er versuchte Core Sets in seiner Dokumentation einzubinden.
„Ja ich hab dann tatsächlich äh mit Core Sets gearbeitet, also ich hab mir angeguckt zu bestimmten Krankheitsbildern gibt es da Core Sets und sind die schon entwickelt und hab versucht die in meinem täglichen Arbeitskontext äh - Konsi Konsi äh also ich hab Konsiliardienst betreut also - äh in unterschiedlichen Kliniken mit Menschen gearbeitet und hab dann äh sozusagen über ne Dokumentation das eingebunden.“ (ebd.:84-89)
Konkret wendete er die ICF für die eigene Dokumentation und die Dokumentation
innerhalb des Teams an. Außerdem versuchte er die Komplexität in der Sozialen
Arbeit abzubilden.
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„Hm ne ich hab sozusagen äh ähm das eine war die Dokumentation, das andere waren eben äh die spätere Entwicklung von von also von Fallgruppen in der Sozialen Arbeit - wo eben nochmal deutlich wurde, was sind die Komplexitäten in der Beratung Sozialer Arbeit und wie lassen sich diese Komplexität ableiten und darstellen über die ICF.“ (ebd.:95-98)
In der Organisation von Person6 wird das auf der ICF basierende Instrument seit
2015 angewendet. Das Instrument wird bspw. für die Hilfeplanung herangezogen
(vgl. Interview6:66-76). Nebenbei kommt die ICF bei der Umsetzung der
Maßnahmen zum Tragen.
„Ähm ja -- in dem Sinne - kommts weiter zur Anwendung - weil wir - was da dieses Hilfeplaninstrument sozusagen ergibt - danach müssen wir 18 Monate lang arbeiten, das heißt wir müssen uns 18 Monate lang daran orientieren was dabei eben rumgekommen ist, also man guckt sich eben genau an wo hat der, wo braucht der Mensch Unterstützung wo hat er denn Bedarfe.“ (ebd.:78-82)
Hierbei zeigt sich die Ähnlichkeit zur Person2 und Person4, die ein ICF basiertes
Instrument für die Hilfeplanung heranziehen.
Einschulung in die ICF
Die InterviewpartnerInnen unterschieden sich zudem hinsichtlich der Einschulung
in das Arbeiten mit der ICF oder einem auf der ICF basierenden Instrument.
Person1 hatte einen Monat einen Einschulungsmonat in ihrer Organisation (vgl.
Interview1:58-59). Eingeschult wurden sie von MitarbeiterInnen des
Unternehmens, welches das Dokumentationsprogramm zur Verfügung stellt.
„Ähm – wir ham drei Helfer in der Gruppe, die san von der Firma, die des Programm zur Verfügung stellen. Die san dort eingeschult worden und die ham uns dann eingeschult in der Einrichtung selber am PC.“ (ebd.:68-70)
Aufgrund des digitalisierten Instruments wurde durch den Anbieter Hilfe bei der
Einschulung zur Verfügung gestellt. Über zwei Monate hinweg gab es kurze
Einführungen. Zudem standen die MitarbeiterInnen bei Fragen zur Verfügung.
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„Also insgesamt woarns 8 Stunden aber des hot sich über 2 Monate gzogen, also es wor immer in unregelmäßigen Abständen, aber es is so, wenn man Fragen hat, die Helfer san immer da, damit wir uns die Fragen stellen können und wenn die net weiter wissen gibt’s dann die X., des ist a Firma und die klärn das dann mit denen.“ (ebd.:74-77)
Bei Person2 hingegen hat es keine ausführliche Schulung gegeben (vgl.
Interview2:129). Er erzählt, dass vor allem ältere MitarbeiterInnen bei der
Anwendung helfen, von SozialarbeiterInnen jedoch auch erwartet wird Sozial- und
Verlaufsberichte erstellen zu können.
„Ne das waren immer so interne Schulungen. Das heißt das waren dann immer die langjährigen Mitarbeiter, die die mit diesem neuen System konfrontiert wurden und die haben sich das dann angeeignet und in die Teams getragen. Aber wir haben keine ausführliche Schulung erhalten. Wie ich die Sozial- und Verlaufsberichte zu erstellen habe, das wird vorausgesetzt.“ (ebd.:126-130)
Da Person3 die ICF in eigener Initiative heranzieht und als einzige Mitarbeiterin
ihrer Organisation die ICF verwendet, hatte sie ebenso keine Einschulung. Aus
diesem Grund hat sie sich selbst Wissen zur ICF angeeignet.
„Also dadurch, dass ich ja viel so äh ähm äh so Entwicklungsbeobachtungen und Dokumentation war schon immer so eins meiner Fachthemen - und ähm - Meilenstein in der Entwicklung und was es da so gibt. Also ich kenn da ziemlich viele andere Diagnostiken äh und Systeme, deswegen war des jetzt nicht so, dass die Einarbeitung da jetzt besonders umfangreich ist. Ich glaub des hängt immer davon ab auf welches Vorwissen äh - man da zurückgreifen kann.“ (ebd.:106-112)
Bei Person4 kam es zu einer Einführung in das Bedarfsermittlungsinstrument
mittles eines im Bundesland eingeführten Handbuchs. Außerdem hatte sie zwei
Seminartage zum Bundesteilhabegesetz. Die Anwendung der ICF hat sie sich in
ihrer Praxis selbst beigebracht.
„Also es gibt für dieses Bedarfsermittlungsinstrument wurde jetzt ganz aktuell ein Handbuch - entworfen hier in Niedersachsen und veröffentlicht ähm. Das wurde uns allen zur Verfügung gestellt, das soll uns eine Arbeitshilfe sein. Wir haben mit unserem ganzen Fachdienst auch zwei Seminartage gehabt nochmal speziell zum Bundesteilhabegesetz. Ähm dort wurde ICF auch nochmal erwähnt und auch nochmal der Grundgedanke, der sich dahinter versteckt äh son bisschen benannt und auch vorgestellt. - Ja das würde ich sagen, das
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war son bisschen, als Vorbereitung kann man das vielleicht ansehen. Ähm auf die praktische Arbeit damit aber ansonsten muss man sich ganz viel in der Praxis auch - ähm ja ausprobieren damit. Ähm - ja und das einfach einüben nach diesem Kerngedanken arbeiten.“ (ebd.:106-117)
Person5 ist vor allem durch das Masterstudium der Klinischen Sozialarbeit in
Kontakt mit der ICF gekommen (vgl. Interview5:15). Ähnlich wie bei Person3 hat
sich Person5 die ICF teilweise selbst angeeignet. Er erzählt, dass er auch selbst
die ICF zu Beginn falsch verstanden hat.
„(räuspert sich) also bis ichs so einigermaßen gecheckt hab hat es sicherlich sechs Monate gedauert so ähm - und ähm ich hab das am Anfang immer auch ähm möglicherweise nicht erkannt als Klassifikation sondern eher als äh als Pool oder Zugang und hab erst später verstanden, dass das falsch ist, weil es geht ja irgendwie um ne Klassifikation und dass für viele Kontexte in der Sozialen Arbeit bestimmte Diagnoseinstrumente auch fehlen, die gibts noch gar nicht.“ (ebd.:63-68)
Auch bei Person6 hat es keine Einschulung durch die Organisation gegeben. Sie
wurde durch im Rahmen der Jobeinführung auch in die ICF Anwendung
eingeschult.
„Ähm nee - also die einzige Einschulung in dem Sinne - war als ich da angefangen hab in der Organisation äh - war ich halt auch dabei bei so Hilfeplangesprächen und auch - bei der Antragsstellung, weil da muss davor schon ein bisschen Vorarbeit sozuagen leisten - wir haben da auch so ein Raster - welches wir da auch verwenden und schon mal Eintragungen machen. Und dann gehn wir mit dem Klienten hin zu diesem - Hilfeplangespräch. Und machen das dann mit der Person von XY dann auch gemeinsam - und da wirst du dann auch in das Konzept schon mal eingeführt im Rahmen - wenn du bei uns anfängst zu arbeiten kann man sagen.“ (Interview6:56-63)
Demzufolge hat die Einschulung von Person6 eher in der Einarbeitungszeit
stattgefunden.
6.2 Die ICF in der Sozialen Arbeit
Die zweite Kategorie, die sich aus der Analyse und Auswertung des
Interviewmaterials herauskristallisiert hat, umfasst die ICF im gesamten Bereich
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der Sozialen Arbeit. Das meint zum einen die Soziale Arbeit als Studium und
Wissenschaft an der Hochschule, die ICF als eine Klassifikation der Sozialen
Arbeit und zum anderen die sozialarbeiterischen Bereiche und Organisationen,
die ICF in Verwendung haben sowie ihre Zusammenarbeit untereinander mittels
der ICF.
Die ICF im Studium Sozialer Arbeit
Es haben alle InterviewpartnerInnen ein Studium absolviert bis auf Person1, die
eine Ausbildung zur Diplomsozialbetreuerin für Behindertenarbeit in Österreich
gemacht hat. Erst durch die Einführung des Dokumentationsprogramms ist sie in
Kontakt mit der ICF gekommen (vgl. Interview1:56). Person2 hat ein Duales
Studium an der damals noch Berufsakademie Sozialwesen studiert mit dem
Abschluss des Sozialpädagogen. Des Weiteren trägt er den durch die Hochschule
Coburg und Alice Salomon Hochschule Berlin anerkannten Titel des „Klinischen
Sozialarbeiters“ (vgl. Interview2:18-32). Person2 studierte in den Jahren 1990 bis
1993 an der Dualen Hochschule. Während des Studiums ist ihm die ICF nicht
begegnet (vgl. ebd.:152). Zu dieser Zeit war die ICF noch in ihrer Entwicklung und
wurde erst 2001 von der WHO verabschiedet (vgl. Kapitel 4). Person3 studierte
im Bachelor Sozialpädagogik, Interkulturelle Handlungskompetenz und Spanisch
und absolviert zurzeit den Master in Beratung in der Arbeitswelt, Supervision,
Coaching und Organisationsberatung (vgl. Interview3:5-9). Sie lernte die ICF
ebenso nicht im Studium kennen. Im Rahmen eines Vortrags einer
Unterarbeitsgruppe erfuhr sie von der ICF als neue gängige Praxis und Sprache
der Stadt.
„Und zwar bin ich da drüber gekommen, weil ich ähm Mitglied von der Unterarbeitsgruppe Integration bin. Das ist ne Unterarbeitsgruppe vom äh Kinder- und Jugendausschuss. - Und äh - und da haben wir einen Vortrag dafür bekommen und wurden dafür sensibilisiert, dass das jetzt einfach zunehmend - in der Stadt X - ja - die gängige Praxis und Einschätzungsmöglichkeit is und dann war einfach klar, dann hat sich mir die Notwenigkeit erschlossen sich mich da drin einzuarbeiten.“ (ebd.:78-84)
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Person4 hat Soziale Arbeit im Bachelor und Master studiert. Im Vergleich zu
Person1, Person2 und Person3 hat sie bereits in ihrem Masterstudium von der
ICF gehört. Dort lernte sie die ICF vor allem theoretisch kennen.
„Ähm ja, also ICF das hat ich schon bereits im Masterstudium äh also dass ich da äh schon davon gehört hatte und wir sozusagen theoretisch das ganze durchgenommen haben, was ist das, äh - welche Bestandteile hat das auch, mit grade mit diesem Biopsychosozialen Modell und dann eben damit auch Fälle so mit bearbeitet haben. Ja genau. Wir haben es theoretisch halt angewendet. Nicht in der Praxis, aber im Studium halt, ja sehr theoretisch gehalten in äh - in Form von Vorlesungen und dann halt auch Seminaren und Übungen dazu, ähm genau.“ (Interview4:26-32)
Person5 ist ebenfalls im Masterstudium Klinische Sozialarbeit in Kontakt mit der
ICF gekommen.
„(räuspert sich) ähm 2004 oder 2005 glaub ich bin ich in dem Kontext auf die ICF gekommen im Rahmen meines Masterstudiums.“ (Interview5:14-15)
Person6 hat ebenfalls wie Person4 Soziale Arbeit im Bachelor und Master
studiert. Sie ist hat die ICF ebenfalls bereits im Studium behandelt.
„Ähm - ja. Pantucek hat uns das mal gelehrt glaub ich. In irgendeiner Lehrveranstaltung zur sozialen Diagnostik bin ich da in Kontakt gekommen, aber ich glaub wir haben nie wirklich - ähm jetzt damit gearbeitet. Das einzige mit dem wir gearbeitet haben was das Inklusionschart.“ (Interview6:94-98)
Hierbei ist herauszulesen, dass die ICF vor allem, wenn auch nicht im großen
Umfang, bereits im Studium der Sozialen Arbeit thematisiert wird. Jedoch ist
auffällig, dass es sich dabei um Masterstudien handelt. Daneben wurde die ICF
vor allem theoretisch erarbeitet und weniger praktisch in ihrer Anwendung geübt.
ICF als Klassifikation der Sozialen Arbeit?
Als weiterer Punkt der Kategorie „Die ICF in der Sozialen Arbeit“ hat sich die
Frage gestellt, inwiefern die ICF als eine Klassifikation der Sozialen Arbeit
gesehen wird. Person1 erläutert, dass es den Vorteil hätte, dass alle
Organisationen auf dem gleichen Stand wären.
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Okay, ja des wär wirklich super, wenn alle mit der ICF arbeiten würden, weil dann hat man einen Überblick über olle Einrichtungen und das bei allen sozialarbeiterischen Institutionen, das alle am gleichen Stand san. Weil dann weiß man okay, da san alle auf dem gleichen Stand und verstehen bei manchen Dingen auch das gleiche. (Interview1:152-156)
Person4, die die ICF bereits im Masterstudium theoretisch erarbeitet hat meint,
dass die ICF sich als Instrument zur Bedarfsermittlung eignet.
„Letztendlich in meiner praktischen Arbeit, benutz ich ja die ICF und auch die Items, um meine Bedarfsermittlung vorzunehmen. Also ich glaube die ICF ist schon geeignet, - weil es eben auch so viele verschiedene Möglichkeiten hat und man dann eben genau gucken kann, okay was ist jetzt grade für welche Person wichtig. Also ich glaube schon, dass es sich grundsätzlich - ähm eignet so hinsichtlich der Bedarfsermittlung.“ (Interview4:472-482)
Sie schließt überwiegend Schlüsse auf ihren Arbeitsbereich der
Bedarfsermittlung. Person5 geht auch darauf ein, dass es durch die ICF eine
gemeinsame Sprache in er Sozialen Arbeit gäbe und diese transparenter werden
würden. Die ICF gibt die Möglichkeit Netzwerkstrukturen und Alltagsaktivitäten
darzustellen.
„Ich glaube erstens ist sie uns äh äh ermöglicht sie eben auch Umweltfaktoren und ähm - soziale Netzwerkstrukturen abzubilden, sie ermöglicht äh Dinge also Tätig Tätigkeiten des alltäglichen des Alltags Alltagsaktivitäten und solche Dinge abzubilden. Und das sind genau die Fragestellungen die Menschen ja betreffen, wenn sie gesundheitlich eingeschränkt sind, die ja leiten, organisieren und gestalten können. Und ich glaube das ist eine zentrale Frage in der Sozialen Arbeit, ähm Menschen dabei zu unterstützen in ihrer Lebenswelt äh ihren Alltag so zu organisieren, dass sie das auch kompensieren trotz der schwierigen gesundheitlichen Lagen. Und es es gibt eben ne Möglichkeit, dass sie sich das zu koppeln mit den Einschätzungen von Angehörigen, von Netzwerkstrukturen und äh und diesen Dingen. Und es lassen sich auch Ressourcen beschreiben ne, es ist ja nicht so problemlastig is, sondern es lassen sich ja auch äh durchaus Ressourcen darstellen und ähm wie gesagt es wird damit auch möglich sein immer wiederkehrende Aspekte deutlicher zu beschreiben auszuwerten und darauf auch - äh die Entwicklung von diagnostischen Instrumenten auszurichten. Und ich glaub von daher, erst mal das und zweitens wird die Soziale Arbeit nochmal transparenter - äh in der multiprofessionellen Zusammenarbeit, also man hat dann eine gemeinsame Sprache und kann dann über ICF die eigenen Zugänge nochmal besser erläutern.“ (Interview5:139-157)
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Person5 beschreibt er vor allem die Relevanz der ICF für die Soziale Arbeit. Er
folgert, dass die ICF bereits fast überall in der Klinischen Sozialen Arbeit adaptiert
hat, obgleich es noch Unklarheiten gibt wann die ICF anzuwenden ist. Dennoch
sind die Chancen hoch, dass die ICF adaptiert wird und zugeschnittene
Instrumente entwickelt werden.
„Ja, die hat sich glaub ich in großen Teilen der Klinischen Sozialen Arbeit etabliert die sich ja schon. Also die ähm, ich glaube die in der Klinischen Sozialarbeit ist die ICF als Klassifikation relativ unumstritten. Ne, also die ist ja da, das ist ja ne Klassifikationsmöglichkeit äh gleichwohl gibts kritische und Diskussion äh inwieweit wann an welcher Stelle man was benutzt und ähm - das ist völlig klar, aber ich glaube in der in der Community Klinischer Sozialarbeit is äh die Chance sehr groß ICF zu adaptieren, die Chancen zu erkennen insbesondere - und eben auch äh Instrumente äh äh zu entwickeln, sozusagen (räuspert sich) die ähm das Alleinstellungsmerkmal der Sozialen Arbeit erkannt hat und und Behinderung eben darzustellen. Und da kann uns die ICF helfen.“ (Interview5.:293-302)
Ebenso Person6 bestätigt die ICF als eine Klassifikation der Sozialen Arbeit,
jedoch auch als eine Bereichs- und Berufsgruppen übergreifende Klassifikation.
„Ja eigentlich - ja denke schon. - Also nicht nur der Sozialen Arbeit aber auch anderen Bereichen und Berufsgruppen - aber ja definitiv. Aber ich find schon, dass man - wenn man ne klinisch sozialarbeiterischen Bereichen unterwegs ist sollte man da schon Bescheid wissen.“ (Interview6:299-302)
Bereiche in der Sozialen Arbeit und mögliche Zusammenarbeit
Als nächster Punkt folgen geeignete oder mögliche Bereiche in der Sozialen
Arbeit für eine Anwendung der ICF und die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit
der Organisationen und Bereiche.
Person1 befürwortet hierbei eine bereichsübergreifende Anwendung der ICF in
der Sozialen Arbeit, da es leichter werden würde Dokumentationen usw. über die
Organisationen hinweg zu besprechen.
„Genau. Würd i wirklich gut finden, wenn das so gemacht is, weil wenn ma da Vorabtreffen hat, weil dann trifft man ja Kollegen aus anderen Institutionen und dann red ma sich vül leichter über Dokumentationen und das ganze wenn olle des selbe hom.“ (Interview1:158-161)
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Person2 betont vor allem die Herausforderung zwischen den verschiedenen
Berufsgruppen innerhalb einer Organisation und der Arbeit mit der ICF. So glaubt
er, dass sich AkademikerInnen leichter tun beim Aneignen von Manualen.
Aufgrund dessen, dass in seiner Organisation auch Nicht-SozialarbeiterInnen
Sozial- und Verlaufsberichte erstellen müssen, sieht er die Herausforderung bei
den anderen Berufsgruppen.
„Ich hab auch das Gefühl, dass sich die Akademiker beim Aneignen des Manuals relativ leicht tun und dann gibt es ja noch andere Berufsgruppen - Krankenpflege, Heilerziehung - für die ist das dann auch wirklich eine Herausforderung. - Die kommen auch meist immer aus Arbeitsbereichen. Normalerweise sind es nur die Sozialarbeiter, die Sozial- und Verlaufsberichte erstellen. Hier ist es nicht so, hier ist dann jeder verantwortlich für seine Klienten und muss diese Berichte dann auch schreiben. Und - das ist dann für die anderen Berufsgruppen - echt nochmal eine Herausforderung.“ (Interview2:136-143)
Bei Person2 kommt es vor allem durch die Behörde zu einer Kommunikation
mittels der ICF, die die ICF basierende Arbeit zum einen vorschreibt und
gemeinsam mit der Eingliederungshilfe die Erstplanung in der
Gesamtplankonferenz durchführt (vgl. ebd.:187-190)
Ähnlich wie bei Person2 kommt es auch bei Person3 zur Kommunikation mittels
ICF mit der Stadt. Sie spricht vor allem davon, dass die Verwendung der ICF die
Kommunikation mit der Stadt erleichtert aufgrund der Verwendung der gleichen
Sprache. Das führt dazu, dass ihre Anträge leichter bewilligt werden.
„Also definitiv mit der Stadt äh - wenns um Antragsstellungen für Unterstützungen und ähnliches geht - da weiß ich einfach - wir sprechen die gleiche Sprache.
Interviewer: Mhm.
Person3: Und äh das führt dann einfach dazu, dass meine Anträge äh leichter dann auch genehmigt werden. Weil ich entsprechend - auf ne Art und Weise wie die Stadt das so richtig einordnen kann äh - nen Förderbedarf von nem Kind erhebe und auch entsprechend weiß was ich an ergänzenden Unterlagen noch be besorgen muss.“ (Interview3:96-103)
Person4 erwähnt weitere Organisationen, die in ihrer Gegend auf Basis der ICF
arbeiten. Dabei handelt es sich um die in ihrem Landkreis angesiedelten
Jugendhilfen.
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„Genau, ansonsten kann ich auch sagen, ich arbeite ja bei dem örtlichen Sozialhilfeträger hm genau hab ja schon viel erzählt. Ich weiß aber auch, das ist ja auch bei uns beim Landkreis angesiedelt Jugendhilfe auch, die örtliche Jugendhilfe. Und die arbeiten in ihrer Grundlage auch nach ICF.“ (Interview4:268-271)
Des Weiteren erläutert sie inwiefern Organisationen über die ICF miteinander
kommunizieren könnten. So wäre es zwischen den Organisationen leichter sich
über Fälle auszutauschen.
„Das is ja son bisschen - eine Art Sprache, die man da spricht und wenn das natürlich andere Organisationen ähm - oder Institutionen auch wissen und auch sozusagen damit arbeiten glaub ich hätte man sozusagen eine gemeinsame Sprache im Sozialbereich. Mit der man sich dann eben auch über verschiedene Fälle kommunizieren könnte und es nicht mehr so is, dass jeder in seinem Fachbereich zwar Experte is und dann auch so ne, ich sag mal so ne fachspezifische Sprache spricht, sondern man eben eine Sprache eben hat, mit der man kommunizieren kann.“ (Interview4:294-301)
Person5 erwähnt ebenfalls Bereiche in denen die ICF noch nicht so etabliert ist.
Vor allem in Akutkrankenhäuser ist die ICF noch nicht bekannt. Im Vergleich dazu
hat sie sich in der medizinischen Rehabilitation schon etabliert.
„Also das ist bis heute so, dass im Akutkrankenhausgeschehen, auch in Psychiatrien in ner Bundesrepublik Deutschland eben das Thema ICF gar nich so auf dem Zettel is. Äh und ja was ich damals erkannt hab is es eher ein Thema in der Rehabilitation. In der medizinischen Rehabilitation.“ (Interview5:30-35)
Person5 betont des Weiteren, dass die ICF auch nur herangezogen werden kann,
wenn tatsächlich auch gesundheitliche Folgen beschrieben werden. Damit ist die
ICF nicht im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung anzuwenden. Er fügt
hinzu, dass er besonders in den Akutkrankenhäusern großen Bedarf sehen
würde. Vor allem in der medizinischen und beruflichen Rehabilitation ist die ICF
bereits etabliert. Er sieht aber in den nächsten Jahren eine große Entwicklung.
„Also die ist ja erstmal nur dann geeignet, wenn gesundheitliche Folgen beschrieben werden ja, weil also es muss ein Schadensereignis vorliegen. Ähm also wir könnens wir könnens nicht verwenden im Kontext Prävention und Gesundheitsförderung. Ähm wir können nur sozusagen aus den Erfahrungswerten Schlüsse ziehen für ähm - für die Entwicklung von Präventionsgesundheits äh
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Gesundheitsförderungsmaßnahmen. (räuspert sich) Ich sehe ein großen Bedarf tatsächlich im Akutbereich, also Akutkrankenspi äh Spitäler und so weiter. Äh weil da is das, da spielt das noch überhaupt keine Rolle und des werden die die gesundheitlichen ähm Folgen insgesamt noch nicht abgebildet und mitgedacht, schon in der Akutbehandlung um sozusagen die Weichen zu stellen für die künftige Weiterbehandlung. Das ist ja medizinisch ähm dominiert und auch äh ignoriert häufig eben auch ander andere Aspekte. Ähm in der Rehabilitation im medizinischen beruflichen Rehabilitation spielt das tatsächlich schon ne deutlichere größere Rolle und äh ich geh davon aus, dass äh in wenigen Jahren das auch ähm - noch viel weiter entwickelt ist auch in ambulanten Settings Sozialer Arbeit also im Gesundheitskontext, gesundheitsbezogene Soziale Arbeit, weil - die ähm Ausrichtung der Vergütung, die Ausrichtung der Teilhabekonstruktion sich auch abbilden muss und da wird die ICF natürlich die Rolle spielen.“ (ebd.:118-135)
Von allen Personen wurde eine breite Verwendung der ICF in der Sozialen Arbeit
gutgeheißen. Ebenso wurde von mehreren die Sinnhaftigkeit einer
Kommunikation zwischen den Organisationen auf Basis der ICF betont. Vor allem
Person5 ist auf die Bereiche, die bisher vermehrt die ICF anwenden,
eingegangen, wie bspw. vorrangig den Bereich der medizinischen Rehabilitation.
6.3 Soziale Diagnostik
Eine weitere Kategorie, die sich herauskristallisiert hat, ist die „Soziale Diagnostik“
in der Sozialen Arbeit und die ICF als Teil dieser. Diese Kategorie umfasst zum
einen die Schwerpunkte, mit welchen die ICF in die Soziale Diagnostik der
Sozialen Arbeit miteinbezogen werden kann. Zum anderen beinhaltet sie wie die
ICF im Zuge der Zielorientierung innerhalb der Sozialen Diagnostik eingesetzt
werden kann.
Schwerpunkte der ICF
Person1 hat hierbei vor allem mögliche Themenbereiche genannt, die ihrer
Meinung noch mehr in der ICF betont werden sollten. Ihrer Meinung sollte die
Selbständigkeit verstärkt hervorgehoben werden, die Förderung sowie die
Wissensanwendung.
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„Äh- also für mich wärs wichtig, wenn man die Selbstständigkeit noch mehr hervorheben könnte, dass mit die Leit, weil wir ja auch mit jungen Leit zusammenarbeiten und die immer selbstständiger werden könnten wie se jetzt san und dass man auf des bissl besser eingehn und auch die Förderung, des is halt relativ wichtig. Was dann die Wissensanwendungen, rechnen schreiben lesen betrifft, des is für mi noch wichtig, grad des Thema.“ (Interview1:104-111)
Person2 betont vor allem die strukturierende Funktion der ICF von komplexen
Fällen in der Sozialen Arbeit. Er sieht darin die Möglichkeit effektiver arbeiten zu
können und dadurch Eingliederungsmaßnahmen überprüfbar und messbar zu
machen (vgl. Interview2:158-164). Person3 geht vor allem die auf die
Ressourcenorientierung in der ICF ein. Dadurch ist es möglich das
Entwicklungspotential der KlientInnen verstärkt zu betrachten.
„Ähm gerade bei Kindern ist auch das Entwicklungstempo oft auch sehr unterschiedlich. Da da äh äh ist vielleicht ein Kind da was in seiner Feinmotorik deutlichen Nachholbedarf hat. - Aber - ähm - und einfach was aufholen muss - ist aber ein körperlich völlig gesundes Kind, das einfach noch was lernen muss, dann muss ich mir den körperlichen Bereich net so anschauen.
Interviewer: Mhm. Ja - ja verstehe.
Person3: Des ist einfach - äh äh - also ich finds wichtig halt ressourcenorientiert Kinder zu betrachten.“ (Interview3:332-339)
Person4 rückt vor allem die ganzheitliche Sicht nach dem Biopsychosozialen
Modell als Schwerpunkt bei der ICF für die Soziale Diagnostik in den Fokus.
Dadurch ist es möglich die Teilhabe und Aktivitäten des Menschen zu betrachten
und zu fördern.
„Dieses Biopsychosoziale Modell der ICF. - Und ähm für mich ist eben der wichtigste Bereich, den wir eben auch für unsere Bedarfsermittlung in den Fokus setzen, der der Aktivitäten und Teilhabe. - Weil wir natürlich gucken, wo ist die Teilhabe des Menschen ähm - gegeben (lacht) am Leben der Gemeinschaft oder wo ist sie auch beeinträchtigt - oder wo ähm sieht der Mensch es selber vielleicht auch als beeinträchtigt, weil er vielleicht aufgrund einer Behinderung - oder auch Erkrankung nich mehr in der Lage is an seinem Hobby teilzunehmen oder etwas ihm sehr wichtig ist. - Also ich glaube wirklich dieser Teilhabebereich.“ (Interview4:327-335)
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Person6 betont ebenso die Möglichkeit durch die ICF komplexe Strukturen
erfassen und abbilden zu können. Sie empfindet es jedoch als sinnvoll die ICF in
ihrer Anwendung auf die verschiedenen Bereiche herunterzubrechen.
„Also für mich - ist das eher son - Assessmentinstrument würd ich mal behaupten, sich da mal nen Überblick zu verschaffen - was ist denn so los bei dem Klienten bei dem Patienten - also was wir damit machen - dafür find ich das sehr gut geeignet - wobei man da ja auch unterscheiden muss -- also der Bereich wo ich arbeite - das wurde ja konkret angepasst. So so son System sozusagen auf den Arbeitsbereich. Und ich glaub das muss man sich immer so runterbrechen für welchen Bereich man das eben braucht. Klar ist eben für mich, dass das im Gesundheitsbereich - Anwendung - ähm angewendet werden kann oder soll.“ (Interview6:106-113)
Bei den Personen ist vor allem der Fokus auf die Verschränkung des
Biopsychosozialen Modells zu erkennen sowie der Schwerpunkt auf die Teilhabe
des Menschen am gesellschaftlichen Leben. Ebenso stand, vor allem bei der
Arbeit mit Kindern der Wunsch nach Ressourcenorientierung im Vordergrund.
Des Weiteren sind viele Bereiche der Sozialen Arbeit mit sehr komplexen Fällen
konfrontiert. Die ICF gibt hier die Möglichkeit, diese Fälle zu strukturieren und zu
ordnen und dadurch in der Arbeit effektiver sein zu können. Dies erfordert jedoch
die ICF auf verschiedene Bereiche speziell herunterzubrechen.
ICF zur Zielorientierung
Zusätzlich wurde, wie auch in der leitenden Forschungsfrage zentral ist, das
Augenmerk auf die Zielorientierung gelegt und die hierbei mögliche Anwendung
der ICF. Diese Thematik ist innerhalb der Kategorie der Sozialen Diagnostik, die
sich herauskristallisiert hat, sehr zentral für die Arbeit.
Person2 nennt hierbei ein Beispiel einer Zielformulierung im Rahmen der ICF
Anwendung. Die ICF kommt innerhalb der Gesamtplankonferenz durch die
Behörde gemeinsam mit dem Betreuer zur Anwendung. Dabei wird sich ein Bild
von der Situation gemacht, woraus eine Hilfe und ein Ziel abgeleitet werden. Die
Zielformulierung basiert auf dem jeweiligen Item und bestimmte die weitere
Richtung der Hilfe.
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„Das heißt wir begleiten unsre Kollegen zu dieser Gesamtplankonferenz in Beisetzung und kriegen dann auch nochmal mit, so äh ja - wie schaut die Situation aus. Und das wird dann nochmal verschriftlicht. Und bei dieser Geldproblematik gehts dann gehts dann darum ne Hilfe abzuleiten, also ein Ziel dass da heißen kann, dem Klient sein Ziel oder Wunsch ist, dass das Geld eingeteilt wird, dass man Haushaltspläne führt, dass man ein Gefühl für Geld bekommt. Also das ist dann immer ganz individuell. Das was für den Klient als als die geeignete Maßnahme erscheint äh das wird es dann. Das wäre jetzt für das Item Geld verwalten, Finanzen pauschal. Jemand ist damit überfordert und dann würde man daraus Ziele formulieren. - Ziel könnte sein Herr XY möchte einen Überblick über seine Finanzen äh herstellen und sich wöchentlich von unserem Träger sein Geld ausbezahlen oder einteilen lassen. Dann wär das die Zielformulierung beruhend auf dem Item Geldverwalten und joa - das wär dann die Marschrichtung für die Eingliederungshilfe.“ (Interview2:190-202)
Jedoch betont Person2 auch, dass die Zielformulierung zwar gemeinsam mit den
KlientInnen stattfindet, aber die Kontextfaktoren sich nur bedingt förderlich auf das
Mitbestimmungsverhalten der KlientInnen auswirken. So sind KlientInnen in
manchen Fällen nur passiv bei der Zielformulierung beteiligt, was der
herausfordernden Situation und den Beeinträchtigungen geschuldet sein könnte.
Außerdem erzählt er, dass seit zwei Jahren die Ziele nach den SMART-Kriterien
formuliert sein müssen, was dazu führen soll, dass die Ziele für die KlientInnen
leichter umsetzbar sind.
„Genau die Zielformulierung - die wird den Klienten - so bisschen in den Mund gelegt. Klar fragt man in der Gesamtplankonferenz wie können Sie sich eine Hilfe vorstellen, aber du kannst dir vorstellen manche sind mit dem Thema Behörde eh so überfordert - lass die dann noch tatsächlich akut depressiv erkrankt sein und sie haben Konzentrationsstörungen, sie sind tiefbeeinträchtigt und sitzen dann in einer Gesamtplankonferenz und sagen jaja jaja. Das heißt das ist dann eher so unsere Aufgabe. Diese Maßnahmen gelten dann immer ein halbes Jahr und dann ist es immer unsere oder genauer gesagt meine Herausforderung mit dem Klienten engmaschiger an diesen diesen Items und Zielen zu arbeiten. Und sie dann auch so formulieren, dass sie ihm entsprechen und ähm und dass er dahinterstehen kann. Und es ist ein relativ neues Ding bei uns, die sogenannten SMART Ziele. Spezifische, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert. Das ist seit 2 Jahren sehr wichtig (lacht). Das wird von uns als Träger von der Behörde gefordert. Auch jetzt müssen unsere Berichte diese SMART Ziele aufgreifen und umsetzen, damit es für den Klienten möglichst kleinschrittig und terminiert und dadurch natürlich messbarer für alle ist.“ (Interview2:208-222)
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Im Vergleich zu Person2 greift Person3 diesen partizipativen Charakter nochmal
näher auf. Dementsprechend hält sie es für wichtig, dass die Ziele zu den
KlientInnen passen. Dazu kann es kommen, wenn die ICF als Instrument im
Dialog mit den KlientInnen zur Anwendung kommt.
„Ja - hm - - ich finds wichtig ähh - das des parti partizipativ mit den Betroffnen gemacht wird -- ich finde ähh - insgesamt ähm - Diagnostik wichtig mit den Betroffnen selbst zu machen. Und dann und und es muss einfach zu den Zielen, die der Betroffne für sich selbst hat passen. Und dem gemäß sein. - Und - ich ich finde schon, dass man den ICF auch schon als Dialoginstrument ein kleines bisschen auch anwenden kann. Jetzt vielleicht nicht mit Krippenkindern - oder mit Dreijährigen äh - die verstehn des nicht. Aber mit den Eltern zum Beispiel in meinem Fall.“ (Interview3:198-204)
Person4 hebt ebenso hervor, die KlientInnen auf Bedürfnisse und Wünsche
hinsichtlich Veränderungen zu befragen. Diese werden dann in die
Zielformulierung miteinbezogen.
„Ich versuche ICF oder diesen Gedanken bei meiner Bedarfsermittlung anzuwenden, um dann nich nur zu gucken ist die beantragte Hilfe die richtige - oder halt erst mal die Leistung zu ermitteln. Welche Leistung welche Hilfe braucht das Kind oder der Jugendliche, sondern das ist ja dann auch ne Grundlage wenn ich weiß, okay wo bestehen Wünsche, was soll sich verändern, wo ist die Teilhabebeeinträchtigung, das sind so ganz wichtige Faktoren, die ich dann später auch in der Zielvereinbarung ähm - mitberücksichtige oder was auch ne Grundlage ist für die spätere Zielvereinbarung, die ich dann mit dem Leistungserbringer und der Familie treffe. - Nämlich die Ziele die die Eingliederungshilfe bewirken sollen.“ (Interview4:338-349)
Person5 betont bei der Zielformulierung in der Sozialen Arbeit mithilfe der
ICF vor allem die Wichtigkeit der Verschränkung des Biopsychosozialen.
Hierbei hat die Klinische Soziale Arbeit die Aufgabe körperliche und
psychische Einschränkungen in ihrer Bedeutung auf das Soziale zu
übertragen.
„Ähm in dem sie sozusagen ähm Zieloption ist ja zusagen die biopsychosoziale Verschränkung. Biopsychosoziale Verschränkung ist ja eine zentrale äh Aussage auch, dass man das nicht als isolierte Faktoren jeweils be äh betrachtet und die große Chance besteht auch hier äh die Verschränkung der Faktoren deutlich nochmal herauszuarbeiten und auch äh deutlich zu machen, dass die Klinische Sozialarbeit durchaus in der Lage ist eben auch körperliche psychische
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Einschränkung ähm sozusagen in ihre Bedeutung zu übertragen in den sozialen Kontext also zur, was bedeutet ne gewisse Einschränkung für das soziale Leben. Und dieser Zusammenhang äh der sozusagen nur lösbar über die Klinische Sozialarbeit.“ (Interview5:193-201)
Ähnlich wie Person2 betont auch Person6 die Art der Zielformulierung nach
den SMART Kriterien. Für die Zielformulierung wird ein Raster verwendet,
das in sechs Lebensbereiche untergliedert ist. Innerhalb der Lebensbereiche
wird geschaut welchen Hilfen vonnöten sind und hinsichtlich dessen Ziel
formuliert.
„Konkret haben wir da ein Raster. Dieses Raster ist in sechs Lebensbereiche aufgeteilt - die so diesen Alltag betreffen - und jeder Lebensbereich wird sich angeschaut - wo braucht denn der - Betroffene Unterstützung und auch welche Form der Unterstützung wird da angeschaut. Also gehts da jetzt nur um Motivierung, Beratung - oder muss da jetzt wirklich ne Assistenz - erfolgen - oder wirklich ne Übernahme dieses Bereiches. Muss man ja auch unterscheiden. Und dann werden in diesem Bereich, in den Lebensbereichen immer Ziele formuliert.“ (Interview6:118-131)
Bei mehreren Personen kam die Wichtigkeit der partizipativen Erarbeitung
von Zielformulierungen hervor. Hier ist es für mehrere Personen relevant,
dass die Wünsche der KlientInnen und auch ihre Veränderungswünsche
miteinbezogen werden. Des Weiteren wurde die Zielformulierung nach
SMART-Kriterien genannt. Außerdem wurde die biopsychosoziale
Verschränkung innerhalb der Zielformulierungen unterstrichen.
6.4 Kritik an der ICF
Als weitere und vierte Kategorie stand in den Interviews auch Kritik an der ICF im
Vordergrund. Diese gliederte sich in Schwächen der Klassifikation, die sich durch
Schwierigkeiten in der Anwendung äußerten sowie mögliche Gefahren, die die
Verwendung der ICF in sich bergen kann.
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Schwächen und Schwierigkeiten
Person1 nennt vor allem die Schwierigkeit sich am Anfang in die neue
Klassifikation einzuarbeiten.
„Also am Anfang wars sehr schwierig, bis mer uns mol einglesen hom. Wir hom vor oln Dingen net gewusst wos die ICF sei. Des wor für alle neich. (niest)“ (Interview1:56-57)
Des Weiteren nennt sie verstärkt Schwächen des Programms, welches auf der
ICF basiert und in der Organisation als Dokumentationsprogramm herangezogen
wird (vgl. ebd.:114-118). Zudem geht sie auf die Menge an Items ein, die ihrer
Meinung nach für Unübersichtlichkeit sorgen (vgl. ebd.:170-175). Person2 geht
vermehrt auf die Art der KlientInnen ein mit welcher sich die Arbeit anhand der
ICF für ihn schwierig gestaltet. Hierbei nennt er besonders KlientInnen mit
Persönlichkeitsstörungen. Aufgrund der zwischenmenschlichen Schwierigkeit
lässt sich die ICF mit ihren Items nur schwer anwenden.
„Schwierig wirds immer daa in der Zusammenarbeit - das betriff eher den Bereich - Gestaltung sozialer Beziehungen - also insbesondere Menschen mit Persönlichkeitsstörung, die sich oftmals so ein bisschen schwer tun - äh - da sie ja auch zum Teil das - Problem sind, wenn es immer zwischenmenschlich schwierig wird. Äh klassischerweise - äh äh kommunizieren die dann eher äh - eskalierend aber sehen immer so den Aggressor im Aus also - ja klassisch Borderline und diese Diagnosen. Wo die Menschen zwischen menschlich einfach - viele Probleme haben und sich da einfach isolieren, weil immer die anderen Schuld sind, da -- find ichs dann schwierig -- da wenn man den ICF -- ja zum Beispiel allgemeine Beziehungskompetenz ne - klaar reflektieren wir das dann hier mit unseren Klienten - aber wenn der immer sagt ne ne ne, mein mein Gegenüber war ja wieder ungeduldig mit mir und ist dann irgendwie laut geworden und der Klient gar nicht merkt, dass das seine Anspruchslage ist weshalb es da immer wieder zu Konflikten im Umfeld kommt - da ist es oftmals schwierig. Da merk ich - das sind ja alles schöne Items und so - auch Familienbeziehung - so dass da Klienten Unterstützung brauch. Aber grad beim Klientel Persönlichkeitsstörung, da ist es oftmals find ich schwer. -- son Weg finden, vor allem wenn sie austherapiert sind. Da gibt es Situationen, da helfen einem die Items dann auch nicht mehr wirklich. Da da ist es einfach schwierig - mit solchen Menschen einfach Ziele zu formulieren oder einen Weg zu finden der einfach mehr in Richtung Entspannung geht.“ (Interview2:293-312)
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Person3 spricht vor allem die Wichtigkeit an, die ICF zu reflektieren und verstärkt
als eine Grundlage und nicht als Instrument zu verstehen sowie die ICF in
Kombinationen mit weiteren Diagnostiken zu verwenden.
„Äh - also mit Sicherheit kann man das Ganze auch nochmal weitersetzen und man muss halt auch nochmal - also das ist eine Grundlage, das ist kein äh - Instrument glaub ich das umfassend und für jede Situation auch einfach passt. Und ich glaub schon, dass es einfach dann großes Wissen äh äh auch hat und jedes Diagnostikinstrument ist auch abhängig davon ääh wie es angewendet wird.“ (Interview3:294-298)
Person4 kritisiert vor allem die Komplexität und Länge der Klassifikation sowie die
Dauer einer Anwendung. Als Beispiel führt sie an wie sie nach einer
Bedarfsermittlung mit einem Jungen herausfanden, dass sie keine Hilfen für ihn
haben. Besonders aufgrund des großen Aufwands der ICF Anwendung führte
dieser Vorfall zu Enttäuschung auf beiden Seiten.
„Es gab aber auch schon mal einen Fall vor den Sommerferien. - Das war auch ein Junge mit Behinderung im jugendliche Alter - und - äh - wir haben natürlich BENi schön und gut nach ICF sind wir vorgegangen haben die ganzen Bedarfe, haben so seine Beeinträchtigungen, seine Ressourcen alles aufgenommen, verschriftlicht. Dann hat sich aber herausgestellt, dass wir im Grunde - gar keine Hilfe für den Jungen haben. -- Also er hat ne Beeinträchtigung, er hat ne geistige Behinderung, aber aus unsrem Leistungskatalog ist dann letztendlich rausgekommen, haben wir gar keine Leistungen - für den Jungen.
Interviewer: Mhm.
Person4: Und das ist dann natürlich manchmal auch dafür is es auch da, dass man auch guckt, welche Leistung is die richtige. Aber das is dann auch so niederschmetternd und auch für die Familie glaub ich, weil die Gespräche zur Bedarfsermittlung auch nich eben in ner halben Stunde so gemacht sind. Sondern die dauern - ja ich sag mal so, die dauern zwischen - ein und zwei - zweieinhalb Stunden. Ähm - das heißt nich nur wir, sondern auch die Familie steckt da Arbeit rein und wenn man dann aber am Ende feststellt man ist gar nicht der Richtige, der helfen kann - dann - ist das - nicht so schön.“ (Interview4:410-430)
Dies stellt nicht nur eine Schwäche dar, welche die AnwenderInnen der ICF
betrifft, sondern ebenso die KlientInnen. Person5 nennt ebenso die hohe
Komplexität der ICF als eine weitere Schwäche. Er betont den Bedarf an Core
Sets und Instrumenten für eine besser Anwendbarkeit. Das wäre besonders
aufgrund der kleinen Zeitfenster vieler SozialarbeiterInnen in der Praxis sinnvoll.
82
„Ja. Die Schwäche is dass es sehr komplex is also die die eine das eine eine Schwäche is auch, dass die (räuspert sich) die ICF sich ähm - also es muss mehr investiert werden, um das weiter zu entwickeln also auch die Instrumente dazu entwickeln, aber äh auch noch um neue Core Sets zu entwickeln, um äh - um das etwas schlanker zu halten. Also man kann - das Problem is äh sie bietet viel an, aber wenn man sie ungefiltert benutzt und ähm und ohne große, also sie ist nicht ohne Bedingung, man muss sich redlich vorbereiten. Und äh sie ist dann natürlich dann auch zeitintensiv, wenn man das in komplexen Fällen einsetzt. (hustet) Das ist möglicherweise etwas das was was in einer getakteten Praxis problematisch ist, wenn das äh zu wenig Zeitfenster gibt, die dann verwendet werden müssen.“ (Interview5:206-215)
Als eine weitere Schwäche, die sich auch als Schwierigkeit in der Anwendung der
ICF niederschlägt ist seiner Meinung nach der Zeitaufwand. Aus diesem Grund
müssten AnwenderInnen den Mut zur Begrenzung haben.
„Das ist das eine, dass man ähm (räuspert sich) die den Zeitaufwand reduzieren muss über möglichweise auch äh den Mut zu zur Begrenzung also dass man nicht in jedem Fall und in jeder Fallkonstruktion komplett alles abfahren muss, sondern das sind zentrale Themen, die auch sozusagen aus Sicht der äh Patientinnen und Patienten genannt werden.“ (Interview5:228-232)
Person6 geht ähnlich wie Person1 auf die Schwierigkeiten ein die ICF zu
verstehen. Sie glaubt ähnlich wie Person2, dass sich das Erarbeiten der ICF für
Nicht-SozialarbeiterInnen oder SozialpädagogInnen schwieriger gestalten könnte,
aufgrund fehlenden Wissens bspw. zum Gesundheitsbegriff oder dem
Biopsychosozialen Modell
„Also das ist glaub ich so ne Schwierigkeit. Oder dass die - Mitarbeiter Mitarbeiterinnen da vielleicht nicht das notwendige Knowhow haben - wobei es vielleicht nicht in der Ausbildung oder im Studium gelehrt wird beziehungsweise - arbeiten in meinem in meiner Organisation, wir haben zwar hauptsächlich Sozialarbeiter Sozialpädagogen aber wir haben auch Heilerziehungspflege paar wir haben auch paar Familienpfleger, wir haben Ergotherapeuten, aber die arbeiten die kenn sich vielleicht nicht damit aus - aber ich kann mir vorstellen, dass nicht alle Berufsgruppen das in ihrer Ausbildung irgendwie hatten oder generell auch dieses Verständnis dass man eben - und ich finde eben Gesundheit, dieser Begriff was ist Gesundheit und Biopsychosoziales Modell.“ (Interview6:231-240)
83
Person6 thematisiert außerdem ähnlich wie Person5 die hohe Komplexität der
ICF, sowie die Herausforderung der NutzerInnen die ICF speziell für sich
herunterzubrechen wie es benötigt wird.
„Und ich glaub das ist einfach so ein Nachteil - das das ist nicht so einfach erfassbar. - Ich glaub des ist alles, also wenn man du das so komplett so anwendest wies eigentlich soll, ist das total umfangreich und auch nicht - ähm - ja - nicht für jeden Fall irgendwie geeignet. Wie ich schon erwähnt hab ist, dass man das eben runterbrechen muss genau auf seine Arbeit - oder das eben so verpacken muss - wies für den Arbeitsalltag passt. Und ich kann mir auch vorstellen, dass - wenn man das im Rahmen des Assessments oder so verwendet, - dass das dann - ja - sehr überfordernd und kompliziert sein kann. Und gerade des mit ähm - Körperfunktionen, Körperstrukturen - was da auch noch alles mit dabei ist, das fällt dann ja auch oft in das medizinische rein. Und des passt ja auch nicht immer in die Soziale Arbeit oder da denkt man sich wahrscheinlich als Sozialarbeiter hm was mach ich denn jetzt damit.“ (ebd.:171-181)
Alles in allem wurde von mehreren Personen die hohe Komplexität der
Klassifikation als Schwäche genannt und damit der hohe Zeitaufwand, den die
Anwendung der Klassifikation im Arbeitsalltag mit sich bringt. Damit ging einher,
dass das auch zu Enttäuschungen bei AnwenderInnen und KlientInnen führen
kann, wenn die Organisation von vorn herein keine Hilfe anbieten kann. Des
Weiteren wurde angesprochen, dass ein gewisses Vorwissen vonnöten sein
könnte und das Verständnis gegeben, die Klassifikation auf den eigenen Bereich
und den jeweiligen Bedarf anzuwenden.
Gefahren
Neben den Schwächen und Anwendungsschwierigkeiten wurden durch die
InterviewpartnerInnen immer wieder potentielle Gefahren der ICF genannt.
Person2 geht hierbei vor allem auf die administrativen und behördlichen Gefahren
ein, die die ICF Anwendung mit sich bringen könnte. So warnt er davor, dass der
Erfolg seiner Arbeit abhängig von den bearbeiteten Items und Lebensfelder der
KlientInnen werden könnte und es damit auch zu einer Rangfolge der
Einrichtungen kommen würde.
„Also Schwächen, da fällt mir grad - also eine Gefahr die - also das ist jetzt etwas globaler gedacht - also inwieweit der Kostenträger die
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Behörde den Erfolg einer Eingliederungshilfe davon abhängig macht - äh - wie viel von den ICF Items äh - dann auch wirklich - äh - zum guten betreut werden können, also wirklich effektiv und zielführend ne? Also zum Beispiel der Haushalt läuft. Und wenn das dann alles ein Qualitätsmerkmal für meine meine Arbeit ist, dass man dann da sagt aha - in in dieser Einrichtung erreichen viele äh äh viele Klienten ne ne ne hohe Score, weil alle diese Lebensfelder zur höchsten Zufriedenheit der Klienten beackert werden können. Und dass das auch den Erfolg darstellt und äh äh möglichst Ziele der Items im im Alltag erfüllt werden. Da da wärs dann bedenklich. Aber wie gesagt, das wär ja dann eher so ein Politikum. Wenn daran der Erfolg der Arbeit abhängig ist, weil ein Erfolg kanns schon sein, dass der Klient überhaupt einmal in der Woche seine Wohnung verlässt, ne Gruppe besucht oder dadurch Gesellschaft oder Teilhabe einmal in der Woche erlebt hat, dann ist das gut. Das sollte nicht davon abhängig sein. Wenn es weiterhin Defizite gibt, weil wir die nicht mit ihm bearbeiten können, ja dann ist das so.“ (Interview2:318-332)
Das ergänzend kommt Person3 auf die mögliche Gefahr einer Etikettierung von
KlientInnen zu sprechen. Aus diesem Grund ist es wichtig für sie, dass mit
Diagnostiken und Etikettierungen vorsichtig umgegangen und ihre Anwendung
reflektiert wird.
„Und grade bei Diagnostik und Etikettierungen - gerade im Heilbereich sehr sensibel und vorsichtig auch umzugehen. - Da äh äh ist es halt auch wichtig, dass richtige Maß dann auch zu finden und abzuwägen - brauchts des jetzt. - Und welche - welche anderen Fragen darüber hinaus - sind vielleicht auch noch wichtig, um die Situation von dem Kind zu verstehen.“ (Interview3:298-303)
Um einer Etikettierung entgegenzutreten spricht sie davon, sich nicht nur auf ein
Instrument zu stützen, sondern mehrere Instrumente und Klassifikationen
heranzuziehen und ihre Anwendung zu diskutieren und zu reflektieren.
Ähnlich wie Person2 sieht auch Person5 die Gefahr einer nicht adäquaten
Heranziehung der ICF. Er sieht die Gefahr, dass die ICF als ein
Diagnostikinstrument missverstanden wird und es damit zu einer falschen
Anwendung kommt. Aus dem Grund wäre es wichtig für ihn valide Instrumente zu
entwickeln.
„Man darf das nur nicht missbrauchen also als ein wirkmächtiges Instrument, ne wirkmächtige Klassifikation. Des Problem was ich seh in der Praxis, dass das häufig eben falsch verstanden wird als ein Diagnoseinstrument. Also als wenn man einfach mit dem Finger
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Diskurs oder die die Punkte abgeht und dann überlegt ähh - fehlt da jetzt was oder ist da ein Problem. So kann man damit nich arbeiten, man muss schon irgendwie auch valide Instrumente entwickeln und damit auch ar äh auch darstellen wo dann, wie man auf die Erkenntnisse dann kommt, dass jemand zum Beispiel in nem bestimmten Alltagsbereich eingeschränkt ist.“ (Interview5:165-172)
Eine missbräuchliche Verwendung der ICF sieht ebenso Person6 als eine
potentielle Gefahr. Sie sieht die Gefährlichkeit darin, dass die ICF als eine Art
Qualitätsmerkmal verwendet werden könnte und damit alles was ICF basiert ist
als richtig betitelt wird.
„Ja also ich sehe da, dass man da son Stempel aufdrückt und sagt - okay das ist jetzt vernünftig, weil das ist ICF basiert. Und das ist so ne Rechtfertigung. So wir machen das jetzt alles neu und des läuft jetzt unter dem Namen - ähm ICF basiert und deswegen ist das jetzt gut oder so.“ (Interview6:219-222)
Des Weiteren bringt sie ähnlich wie Person2 die Kritik an Menschen nach einer
Klassifikation Hilfe zu genehmigen und zu entscheiden in welche Form und
welchem Ausmaß Hilfe genehmigt wird.
„Oder was auch - ähm - was ich generell kritisch sehe ist, bei uns auf der Arbeit ist das ja ein Instrument - um Hilfe zu genehmigen oder um Hilfe zu bezahlen. - Also das wird ganz klar, dafür angewendet - um die Bedarfe zu ermitteln - und auch zu gucken, wird ihm jetzt die Hilfe gewährt, bekommt er überhaupt Unterstützung und in welcher Höhe in welcher Form bekommt er Unterstützung, das heißt das ist eigentlich ein gate keeping System.“ (ebd.:253-263)
Um dem zu begegnen bringt sie wie Person3 an, dass Instrumenten kritisch
und reflektierend begegnet werden sollte. Hinzukommt, dass standardisierte
Abläufe ebenso regelmäßig hinterfragt und evaluiert werden sollten.
„(seufzt) -- Ja, also ich find generell, dass man da bei Instrumenten immer recht kritisch sein - muss. Und auch ein bisschen aufpassen muss. Auch bei standardisierten Abläufen, dass man die immer wieder evaluiert und praktisch hinterfragt. Und dass die Mitarbeiter oder alle die das anwenden geschult sind, was ich so als Problem bei uns auf der Arbeit seh - weil - wenn man da keinen Hintergrund zu hat fällts einem vielleicht auch schwer das korrekt anzuwenden. Ja das sind so die Verbesserungsvorschläge und einfach ja - dieses Instrument nicht zu zweckentfremden.“ (ebd.:266-273)
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Einige der Personen bringen bei ihrer Kritik die potentiellen Gefahren eines
Missbrauchs der Klassifikation oder ihre Zweckentfremdung an. Ein weiterer
Punkt ist die Gefahr Menschen zu etikettieren und ihnen einen Stempel
aufzudrücken. Dem wird vor allem durch Person6 aber auch Person5 und
Person3 entgegengetreten, indem eine Klassifikation, aber auch andere
Diagnostiken und standardisierte Abläufe immer hinterfragt und reflektiert und
mehrere Instrumente miteinander in Relation gesetzt werden sollten.
6.5 Die Entwicklung der ICF
Als nächste und letzte Kategorie, die sich bei der Datenanalyse herauskristallisiert
hat, folgt „die Entwicklung der ICF“. Diese Kategorie schließt zum einen die
Entwicklung und Unterscheidung zwischen Deutschland und Österreich mit ein,
aber auch die ICF als europäische Thematik. Eingeschlossen in die Kategorie ist
ebenfalls das Potential der ICF.
Die Entwicklung der ICF international
Person1 aus dem Burgenland erzählt, dass sie in ihrer Organisation, das auf der
ICF basierende Dokumentationsprogramm im März 2018 eingeführt wurde und
verwendet wird (vgl. Interview:35). Sie spricht außerdem von den Vorteilen, wenn
mehr Organisationen die ICF heranziehen würden, um in der Kommunikation
untereinander auf dem gleichen Stand sein zu können (vgl. ebd.:158) Person2
aus Norddeutschland berichtet hingegen von einer fließenden Entwicklung bei der
Einführung des ICF basierten Instruments. Die Gesamtplankonferenzen und die
Hilfethemen gibt es ihm zufolge seit dem Jahr 2000. In den Gesamtplänen haben
sich die ICF Items langsam seit dem Jahr 2010 entwickelt und werden seit 2018
so verwendet. Er arbeitet seit dem Jahr 2012 ICF basiert.
„Dieses sogenannte Gesamtplanverfahren wie wirs jetzt haben - das gibt es noch nicht sooo lang. Das kann ich jetzt wirklich gar nicht in ne Zeit packen. Ich hab hier angefangen - äh - 94 in der Einrichtung und da war das alles noch anders organisiert. Und ich versuch jetzt, dass
87
die Gesamtplankonferenzen mit den Hilfethemen, das existiert seit den frühen 2000ern. Und da in diesen Gesamtplänen sind die ICF Items in den Vordergrund gerückt.“ (Interview2:102-107)
„Ja dann auch (seufzt), auch -- so seit - also ich muss sagen diese Gesamtpläne wurden auch zunehmend differenzierter so dass dann irgendwann auch diese ICF Items mit dieser Klassifizierung, diesem Kürzel aufgetaucht sind, - das ist tatsächlich eine Entwicklung, die noch gar nicht so - lang zurückliegt. Dann würd ich jetzt sagen mit 2018, die Entwicklung geht jetzt seit den 2010ern. Du musst dir das so vorstellen, das wurde hier nicht so als Manual eingeführt, sondern es wurde an uns über die Gesamtpläne eingeführt - und da ist man dann der ICF nähergekommen. Ich arbeite damit - strukturiert - seit 2012.“ (Interview2:114-121)
Person3 ist im Vergleich zu Person1 und Person2 die einzige Mitarbeiterin in ihrer
Organisation, die die ICF heranzieht. Sie spricht davon, dass die ICF sich in ihrer
Stadt in Mitteldeutschland zu einer allgemeinen Sprache entwickelt hat.
Außerdem erzählt sie, dass in ihrer Stadt das Thema der Inklusion sehr aktuell ist
mit der Prämisse einer ganzheitlichen Sicht auf die KlientInnen.
„Genau. -- Und des is so hier ist es im Bereich Inklusion ziemlich weit. Wir hatten so äh - so so auf struktureller Ebene. Ich hab - ich nehm viel an städtischen Arbeitsgruppen teil und - äh hab unter anderem ein Modell zur städtischen Inklusion begleitet. - Und da ist einfach so eine Prämisse das - ähm - ja - nicht dem Kind anpassen muss, sondern sich die Strukturen nach dem Kind richten. - So dieses vom Kind aus Denken so als Grundhaltung - und des probier ich so einzubringen und dafür ist auch der ICF ganz gut geeignet. Einfach weils ne ganzheitliche Sicht auf die Kinder gibt und einfachn Hilfsmittel ist, um mit dem Team zusammen auch sowas zu diskutieren.
Interviewer: Mhm.
Person3: Und dadurch, dass die Stadt X auch immer weiter auf die äh die ICF äh so einstellt, ist es da total wichtig ne einheitliche Sprache zu sprechen. Und wenn klar is, dass sie äh auf Förderbedarfe mit der ICF draufschauen ist es auch einfach hilfreiche um schnelle Hilfen und Unterstützung zu beantragen, wenn man die gleiche Sprache spricht.“ (Interview3:53-67)
Ebenso wie Person2 stellt Person4 das Bundesteilhabegesetz in den Vordergrund
und erzählt von den Auswirkungen dieser Entwicklung auf ihre Organisation in
Mittel-Norddeutschland. Sie erzählt, dass es erst durch das Gesetz zur Schaffung
ihrer Stelle kam und es ab dem Jahr 2020 zur vollen Umsetzung des Gesetzes
kommen soll.
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„Genau und was ich vielleicht noch dazu sagen kann. Bei uns ist im Moment grade das Bundesteilhabegesetz. Ich weiß nicht, ob du davon schon mal gehört hast.
Interviewer: Ja ja.
Person4: Genau und ähm das is wirklich so im Moment in aller Munde und speziell im Bereich Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung. Da gibt es ja öh spezielle Vorgaben, die dieses Gesetz macht, die bis zu einem gewissen Zeitpunkt umgesetzt werden sollen. Und das is äh zwar Anfang 2020, Anfang 2020 soll alles was im Bundesteilhabegesetz steht und ja auch speziell den Menschen mit Behinderung zugutekommen soll, umgesetzt werden. Und deswegen wurde zum Beispiel bei uns beim Landkreis ähm ja auch eingeführt auch Hilfeplanung bei Kindern und Jugendlichen vorzunehmen und so wurde eben auch meine Stelle geschaffen.“
Folgend erwähnt sie andere Organisationen, die mit ähnlichen Entwicklungen
konfrontiert sind. So stellt das neue Gesetz momentan auch viele andere
Sozialhilfeträger vor neue Herausforderungen.
„Aber ansonsten ist das, das merkt man auch bei ganz vielen anderen Sozialhilfeträgern im Moment, da haben ganz viele noch Fragezeichen, wie soll man das alles bis 2020 umsetzen, was das Bundesteilhabegesetz auch fordert.“ (Interview4:125-127)
Bei Person6 wurde das neue Hilfeplaninstrument im Jahr 2015 eingeführt. Dieses
Instrument wird kontinuierlich weiter entwickelt und an die ICF angelehnt. Sie
selbst verwendet es seit zweieinhalb Jahren. Bereits diesen Oktober soll es zu
einer weiteren Anpassung kommen sowie zu einer darauf bezogenen Schulung.
„Ähm da haben wir extra auch ein Hilfeplanverfahren - das hab ich dir auch geschickt dieses Hilfeplaninstrument - und das wurde das wurde 2015 - eingeführt. Das ist aktuell mit dem wir aktuell arbeiten. Da gabs vorher was anderes - kann sein dass das auch ICF -- gestützt war - das weiß ich leider nicht, aber aktuell ist es eben auch ähm - darauf angelegt - des wird sich jetzt aber auch wieder verändern - dieses Instrument, das wir ab Oktober wieder weiterentwickelt und soll anscheinend - noch mehr angelehnt werden - an den ICF. - Und da hatten wir auch schon - die ersten Schulungen diesbezüglich. -- Ja genau - es wird seit 2015 bei uns angewendet und ich verwends jetzt auch seit äh seit genau seit zweieinhalb Jahren wend ich das an.“ (Interview6:45-53)
Person5 geht zusätzlich auf vergangene politische Entwicklungen ein. So wurde
im Jahr 2000 ein neues soziales Gesetzbuch zu Behinderten- und
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Schwerbehindertenrecht, das SGB9 eingeführt. Hier war bereits eine Verbindung
mit dem Biopsychosozialen Modell und der ICF zu sehen.
„Und das zweite wo ich drübergefallen - also die ICF is - es gab damals son ähm also ähm - im Jahr 2000, aber ich hab erst später sozusagen den Zusammenhang erkannt. Es gab eine Einführung eines neuen Gesetzbuches, sozialen Gesetzbuches in Deutschland. Ähm das SGB9 da gehts um Behindertenrecht und Schwerbehindertenrecht und solche Fragestellungen. Und die haben sich damals schon ähm mit dem Thema, also die Koppelung an ICF war da ne zentrale Fragestellung.
Interviewer: Mhm.
Person5: Also die Gesetzgebung orientierte sich schon an diesem Biopsychosozialen Zugang und dann und hat damals schon diese gesundheitliche äh funktionale Gesundheit thematisiert. - Und das war neu, also das war neu in der deutschen Gesetzgebung, das is eben nich nur medizinisch dominiert äh und definiert wird was Gesundheit und Krankheit und Folgen sind sondern dass eben auch dieser biopsychosoziale Ansatz erstmalig, ernsthaft in der Gesetzgebung ne Rolle gespielt hat.“ (Interview5:37-51)
Darüber hinaus spricht er über eine für ihn nötige Entwicklung der ICF, um ihren
Schwächen, wie die hohe Komplexität und die zeitliche Dauer, entgegenzuwirken.
Dafür muss das Verfahren zukünftig digitalisiert werden, um das Teilhabethema
einfach in das System einführen zu können.
„Deswegen muss das in Zukunft (räuspert sich) über äh bestimmte ähm - Verfahren digitalisiert werden, dass man eben hier die Chance kriegt ähm - die - Teilhabeeinschränkungen kurz und knackig sozusagen erst mal in das System einzuführen.“ (ebd.:217-220)
Er führt bei der weiteren Entwicklung bezüglich des neuen
Bundesteilhabegesetzes in Deutschland jedoch auch potentielle Probleme auf. So
ist der Zeithorizont seiner Meinung nach sehr kurz. Hinzukommt, dass im
Gesetzestext keine Definition der Fachübergänge und Aufgabenbereiche der
verschiedenen Professionen erfolgt ist.
„Ich sehe da (räuspert sich) ein Problem ist, dass das sehr sportlich ist von der Zeit - ähm vom Zeithorizont - ein zweiteres Problem ist, dass die die äh Definition der Fachübergänge nicht erfolgt ist im Gesetz. Also es gibt keine ausführliche Idee wer an welcher Stelle was tut um Teilhabe zu ermöglichen - ähm die Relation Ehrenamt und professionelles Arbeiten ist nicht geklärt.“ (ebd.:251-255)
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Als weiteres Problem nennt er, dass die Soziale Arbeit außerdem nicht die
Ressourcen besitzt, um flächendeckend mit Klassifikationen zu arbeiten.
Hinzukommt, dass die Evidenzbasierung in der Sozialen Arbeit noch einen
Diskussionspunkt darstellt.
„das zweitere Problem ist, dass die Soziale Arbeit selber noch gar nich so ähm - ja äh noch gar nich so aufgestellt is fachlich um flächendeckend äh mit solchen Klassifikationen arbeiten zu können. -- Und die Teil das Bundesteilhabegesetz mit den ganzen Eingliederungshilfe und Frage wie die zu verändern sind, das wird ja in Zukunft ja eben auch die Evidenzbasierung wird damit ne größere Rolle stellen spielen als bisher und Evidenz ist ja im Moment noch ein Zugang der nicht flächendeckend in der Sozialen Arbeit akzeptiert wird.“ (ebd.:258-264)
Hinsichtlich der Bereiche, die sich zukünftig verstärkt mit der ICF
auseinandersetzen müssen, nennt er die Eingliederungshilfe als Bereich, der sich
zuerst damit beschäftigen muss. Danach folgt die Rehabilitation und zuletzt die
Akutversorgung in der er das Thema jedoch erst in zehn Jahren erwartet.
„Also die ICF Weiterentwicklung sehe ich schneller als die Umsetzung in der Praxis. Und äh äh es werden ambulante Eingliederungsdienste sich zuerst dort damit äh beschäftigen müssen und dann äh weiter die Rehabilitationsbereiche und ich glaube ganz am Schluss irgendwann in zehn Jahren wird vielleicht das Thema auch nochmal an ankommen bei der Akutversorgung in Spitälern.“ (ebd.:284-288)
Des Weiteren geht er auf die Entwicklung der ICF im europäischen Raum ein. So
ist die Teilhabe im deutschsprachigen Raum, wie bspw. die Schweiz durchaus ein
Thema. Jedoch nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern in ganz Europa
wird sich mit Inklusion beschäftigt. Er sieht dabei die Chance, dass über Grenzen
hinweg gemeinsam Konzepte ausgearbeitet werden.
„Also es gibt da schon sozusagen auch im deutschsprachigen Raum, in der Schweiz sehen wir das auch durchaus das Thema Teilhabe, istn großes Thema. - (hustet) Das bildet sich aber über unterschiedliche Gesetzgebungen und Verfahren ab, aber Inklusion Teilhabe äh sind gesellschaftlich große Themen im ähm auch im auch europäischen Kontext. Also ich ich würde das das ist ein europäisches Thema. Ähm und ähm und äh zeigt sich durch äh Gespräch mit Kollegen und Kolleginnen in anderen Ländern, in Schweden übrigens auch. Auch die beschäftigen sich grade mit diesen mit diesen Fragestellungen, dass ähm dass durchaus es ne gute Chance besteht auch mal ähm über die
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Grenzen hinweg gemeinsame Konzepte zu entwickeln, um Teilhabe auch mal abzubilden.“ (ebd.:306-316)
Über eine mögliche zukünftige Entwicklung in Österreich erläutert er, dass es
über Länder hinweg zu Wechselwirkungen kommen kann, dass Hochschulen
über Grenzen hinweg neue Erkenntnisse und Themen aufnehmen oder, dass
politische Entscheidungen in anderen Ländern übernommen werden.
„Ich glaube es gibt da, ne es gibt ja immer so gewisse Suchwirkungen, wenn in einem Land sowas entwickelt wird was sozusagen ne große Bedeutung hat, dann hat das auch Einfluss auf andere Länder, aber manchmal kommt das eben verzögert. - Ja. Also ich glaube das wird ein Thema werden in Österreich, aber das ist noch nich so ganz erkannt. (…) Ja, weil wenn das, wenn dann sozusagen, also wenn das irgendwann damit gebunden, also Forschungsergebnisse gibt oder auch Förderung äh Förderlinien und sozusagen nur zum Beispiel in Deutschland ist ICF bezogene Forschung gibtsn Teilhabekonstruktion Sozialer Arbeit (räuspert sich) und da auch ähm Mittel freigegeben werden im größeren Stil, dann wird auch irgendwann äh in andern Ländern möglicherweise und äh andere Länder sind Schweden, aber Skandinavien ist auch ein Stück weiter als wir. Dann werden solche, über die Grenze hinweg wird ja wahrgenommen, dass es da Erkenntnisse gibt und äh das werden auch die Hochschulen aufgreifen in anderen Ländern und gucken, dass sie das au auch für sich etablieren. Und in ner Praxis äh des kommt ja, weil sich die Gesetzgebung verändert hat, das kann in Österreich ja auch passieren.“ (ebd.:338-354)
Alle InterviewpartnerInnen in Deutschland gingen auf das neue
Bundesteilhabegesetz und die Folgen innerhalb ihrer Organisationen ein, wie
etwa die allmähliche Einführung der ICF. Das brachte einige Veränderungen mit
sich, wie die Einführung neuer auf der ICF basierenden Instrumente und deren
kontinuierliche Weiterentwicklung, die Kommunikation mit Behörden oder der
Stadt oder sogar die Einführung neuer Stellen. Im gleichen Zug wird jedoch die
schnelle Entwicklung kritisiert, die dazu führt, dass Sozialhilfeträger überfordert
sind und nicht wissen wie sie sich den neuen Herausforderungen stellen können.
Auf der politischen Ebene wird ebenso der sehr kurze Zeithorizont für die
weitreichenden Veränderungen kritisiert. So gab es schon im Jahr 2000 die
Einführung des SGB9 und auch der biopsychosoziale Ansatz rückte im politischen
Geschehen zunehmend in den Vordergrund. Gleichzeitig wird die nötige
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Digitalisierung des Verfahrens angesprochen, damit in Zukunft die Klassifikation
weniger zeitaufwendig und komplex ist. Neben einem sehr sportlichen
Zeithorizont des neuen Bundesteilhabegesetz, kommt auch die fehlende
Definition der Fachübergänge zu sprechen und damit eine fehlende Festlegung
der Aufgabenbereiche. Zudem würden der Sozialen Arbeit die Ressourcen fehlen,
um flächendeckend mit Klassifikationen zu arbeiten. Bei der Entwicklung der ICF
Einführung in die Bereiche werden die Eingliederungshilfen an erster Stelle
gesehen, danach kommen die Rehabilitationseinrichtungen und in zehn Jahren
folgend die Akutversorgung. Vor allem wird die Situation, dass die ICF und das
Thema Teilhabe zu einem europäischen Thema werden, wird angesprochen.
Hierbei könnte es zu Wechselwirkungen unter den Ländern kommen,
Hochschulen können die neuen Erkenntnisse aufgreifen und es kann auch in
Österreich, ähnlich wie in Deutschland zu politischen Veränderungen kommen.
Potentiale
Person1 erzählt vor allem von der Möglichkeit durch die ICF mehr Zeit für die
KlientInnen selbst zur Verfügung zu haben, wenn durch die Instrumente Zeit bei
der Dokumentation eingespart werden kann.
„Aber wir san alle im Moment relativ zufrieden mit der Dokumentation, -- weils viel einfacher geht, viel schneller geht – und mehr Zeit für die Betreuung vom Klienten is.“ (Interview1:64-66)
Person2 betont vor allem die Sinnhaftigkeit der ICF hinsichtlich der Erhöhung der
Lebensqualität der KlientInnen und die Möglichkeit Informationen zu strukturieren.
Durch die Strukturierung der Lebensfelder fällt es ihm leichter Mauern der
KlientInnen zu durchbrechen.
„Absolut gut, weil es strukturiert in einem hohen Maße den Prozess - nämlich indem man sich an dem Gesamtplan und den Items entlanghangelt - äh - des bildet einfach so das ab - ich sag mal die Vielfältigkeit der Problemfelder die find ich kriegt man dadurch immer sehr äh äh vor Augen geführt. Gerade in unserem Klientel ist es oftmals auch so, dass die mauern und gar nicht irgendwie sofort preisgeben was alles so im argen liegt und dadurch, dass man sich immer wieder durch den Gesamtplan hangelt und die Lebensfelder Problemfelder, ich find das strukturiert im hohen Maße die Arbeit und darum geht es ja um
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Lebensqualität, die zu erhöhen und dafür ist die ICF echt ein gutes Instrument.“ (Interview2:334-342)
Person3 geht hinsichtlich des Potentials vor allem auf die Möglichkeit einer
einheitlichen Sprache ein. Dadurch könnte die Hilfebeantragung vereinfacht
werden.
„Also - also ich finde - also des Potential, das ich sehe ist das man hoffentlich mit dem ICF die Chance ne einheitliche Sprache zu sprechen, weils vielleicht - dann Hilfebeantragung und ähnliches leichter macht.“ (Interview3:350-354)
Person5 beleuchtet überwiegend die Möglichkeiten für die Soziale Arbeit
hinsichtlich der ICF und ihrer Entwicklung. Er glaubt, dass es für die Klinische
Soziale Arbeit noch einiges zu tun gibt, diese den Anforderung aber gerecht
werden kann.
„Ich glaub da haben wir noch ein paar Baustellen in der Sozialen in der Klinischen Sozialarbeit und äh aber die Klinische ist dahingehend so gut vorbereitet, dass sie das auch tatsächlich entwickeln kann.
Interviewer: Mhm.
Person5: (hustet) So das ist glaub - ähm da seh ich große Chance.“ (Interview5:176-180)
Es wird von den InterviewpartnerInnen angeführt, dass ein auf der ICF
basierendes Dokumentationsinstrument den Arbeitsprozess vereinfachen kann
und damit mehr Zeit für die KlientInnen bleiben könnte. Des Weiteren kann der
Arbeitsprozess strukturiert und ein besserer Überblick über die Lebensfelder der
KlientInnen gegeben werden. Hinzukommt die Möglichkeit, dass übergreifend
eine einheitliche Sprache gesprochen werden könnte, die die Kommunikation
bereichsübergreifend simplifiziert. Das könnte dazu führen, dass nicht nur in der
Praxis, sondern auch in der Forschung und politisch die Klinische Soziale Arbeit
eine federführende Rolle bei der ICF Entwicklung sowie der Behandlung von
Fragestellungen und Themen zur Teilhabe spielen könnte.
94
7. RESÜMEE
Nach einer Darstellung der Ergebnisse der empirischen Forschung werden im
Folgenden der Forschungsarbeit die wesentlichen Aussagen der Forschung
zusammengefasst und in den theoretischen Kontext dieser Arbeit eingebettet. Im
weiteren Verlauf kommt es zu einer konkreten Beantwortung der beiden zentralen
Forschungsfragen. Darüber hinaus werden Schlüsse gezogen und die
Konsequenzen auf der Metaebene erörtert und diskutiert. Zuletzt wird ein Ausblick
gegeben.
Aus den Interviewdaten konnten fünf Kategorien herausgearbeitet werden:
„Organisationen“, „Die ICF in der Sozialen Arbeit“, „Soziale Diagnostik“, „Kritik an
der ICF“ und „Die Entwicklung der ICF“. Hierbei konnten folgende wesentliche
Aussagen herausgezogen werden:
Von den InterviewpartnerInnen waren zwei Personen in einer Eingliederungshilfe
und drei Personen im psychosozialen bzw. psychiatrischen Bereich tätig. Daraus
könnte sich gegebenenfalls ableiten lassen, dass sich vor allen in diesen
Bereichen viel mit der ICF und ihrer Implementierung in der Organisation
beschäftigt wird. Darüber hinaus unterschieden sich die Anwendungsarten
zwischen den Organisationen. Vor allen in den Organisationen, in denen mehrere
Personen mit der ICF arbeiteten, gab es eigens angepasst Instrumente, die auf
der ICF basieren. In diesen Organisationen waren die MitarbeiterInnen
verpflichtet, die ICF basierten Instrumente in ihrer Arbeit zu verwenden. Die
Personen, die als Einzelperson in ihrer Organisation die ICF heranzogen, taten
dies freiwillig aus eigenem Interesse und verwendeten die vollständige
Klassifikation. Ebenso unterschied sich der Anwendungszweck. So wurde die ICF
oder die ICF basierten Instrumente bspw. für die Dokumentation, die Hilfeplanung
oder zur Diskussion bei Fallbesprechungen herangezogen. In wenigen
Organisationen gab es Schulungen. Informationen wurden sich überwiegend
durch Tagungen usw. geholt. Es zeigte sich jedoch, dass die Fähigkeit mit
Klassifikationen und Manualen zu arbeiten bei SozialarbeiterInnen und
SozialpädagogInnen vorausgesetzt wird.
95
Die SozialarbeiterInnen unter den InterviewpartnerInnen hatten im
Bachelorstudium keine Berührung mit der ICF. Diese wurde lediglich in
Masterstudien der Sozialen Arbeit theoretisch vorgestellt und bei einer Person
auch theoretisch in der Anwendung erlernt. Vor allem in der Bedarfsermittlung
wurde die ICF als geeignet empfunden. Zudem kam es zum Schluss, dass die
ICF sich bereits in großen Teilen der Klinischen Sozialen Arbeit etabliert hat und
auch in der Community eine große Bereitschaft vorhanden ist, die ICF zu
adaptieren und Instrumente zu entwickeln. Zur Sprache kam ebenfalls, dass es
für MitarbeiterInne im klinischen sozialarbeiterischen Bereich als voraussetzend
empfunden wird, sich mit der ICF auszukennen. Für eine Kommunikation
zwischen den Organisationen wurde angemerkt, dass eine übergreifende
Anwendung der ICF zu einer einheitlichen Sprache und besseren Kommunikation
untereinander führen könnte. Es wurde jedoch auch diskutiert, dass Nicht-
SozialarbeiterInnen sich schwerer mit der Aneignung der ICF tun könnten. Wie
auch bereits in der Theorie erörtert, kommt die ICF überwiegend in der
medizinischen und beruflichen Rehabilitation zur Anwendung (vgl. Kapitel 2.2.4).
Vor allem Akutkrankenhäuser und Psychiatrien hätten jedoch einen großen
Bedarf. Allerdings macht eine Anwendung der ICF nur dann Sinn, wenn es sich
um eine Beschreibung von gesundheitlichen Folgen handelt. Damit ist sie für den
Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung nicht geeignet. Neben dem
Bedarf in der Gesundheitsversorgung, der durch die InterviewpartnerInnen
nochmal bestätigt werden konnte, kann die ICF, wie bereits im theoretischen Teil
der Arbeit erörtert auch in anderen Bereichen, wie der Forschung, der
Sozialpolitik, der Curriculumsentwicklung und der Berichterstattung, Anwendung
finden. Wie auch durch die Interviews ersichtlich, kann die ICF bspw. als
Instrument für die Erhebung, Dokumentation, Fallkonzeption,
Behandlungsplanung, als eine Art Fachsprache oder als Messinstrument
fungieren (vgl. Kapitel 2.2.4).
Als Kritikpunkte wurden vor allem die Unübersichtlichkeit, Komplexität und Länge
der Klassifikation genannt. Außerdem wurde immer wieder betont, dass sich die
96
ICF zu Beginn sehr unübersichtlich darstellte und es Zeit brauchte sich in die
Klassifikation einzuarbeiten. Hinzu kommt, dass die ICF aufgrund ihrer hohen
Komplexität als sehr zeitaufwändig empfunden wird und diese Zeit in der Praxis
oftmals nicht gegeben ist. Hier ergeben sich neue Aufgabenbereiche für die
Klinische Soziale Arbeit neue ICF basierte Instrumente zu entwickeln, die sich
leichter in die Praxis der Sozialen Arbeit integrieren lassen. In weiterer Folge
wurde es als eine potentielle Gefahr bezeichnet, die Bearbeitung der
identifizierten Items an den Erfolg einer Eingliederungshilfe zu knüpfen und damit
Einrichtungen in eine Rangfolge zu setzen. Eine weitere potentielle Gefahr wurde
in einer Etikettierung von KlientInnen und dem Stellen von „Diagnosen“ und damit
einem Missbrauch der ICF gesehen. Hinzu kam die Sorge in einer Einrichtung
erst dann Hilfen gewährleisten zu dürfen, wenn es der ICF entsprechend ist.
Zuletzt wurde die Angst geäußert, dass alles, was ICF basiert ist, als „vernünftig“
bezeichnet werden könnte und demnach alles ICF basierte als „gut“ betitelt wird.
Die Ergebnisse der Interviews bestätigen und erweitern die Ergebnisse des
theoretischen Teils. So wurde überwiegend im Rehabilitationsbereich die Kritik
geäußert, dass die neutrale Terminologie der ICF dazu führt, dass sich restriktive
Symptome und Anzeichen der Funktionsfähigkeit nicht beschreiben lassen
können. Aus diesem Grund bevorzugen manche AnwenderInnen die ICIDH, die
auf einem medizinischen Modell basiert (vgl. Kapitel 4.5). Das durch die
Interviews nicht bestätigt werden, obgleich hinzuzufügen ist, dass keine
InterviewpartnerInnen aus dem Rehabilitationsbereich vertreten waren.
7.1 Beantwortung der Forschungsfragen
Die vorliegende Masterarbeit hatte vor allem mit ihrer leitenden Forschungsfrage
das Ziel, in den Blick zu nehmen mit welchen Schwerpunkten die ICF in die
Soziale Diagnostik miteinbezogen werden und wie sie zur Zielorientierung in der
Fallarbeit beitragen kann. Außerdem stand die Entwicklung der ICF im
Vordergrund.
97
In Bezug auf die erste Forschungsfrage lässt sich sagen, dass die befragten
Personen die ICF als besonders sinnvoll empfanden, um komplexe Fälle zu
strukturieren und abzubilden. Daneben ermöglicht sie einen ganzheitlichen Blick
auf den Klienten oder die Klientin. Der biopsychosoziale Ansatz richtet außerdem
den Blick auf die Aktivitäten und die Teilhabe des Menschen. Dadurch werden
auch die Bedürfnisse und Wünsche der KlientInnen bzgl. einer Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben in den Vordergrund gerückt. Des Weiteren können die
KlientInnen ressourcenorientiert betrachtet werden. Das stellten Schwerpunkte für
die InterviewpartnerInnen dar, nach welchen sie die ICF in ihre soziale Diagnostik
einbeziehen.
Hinsichtlich eines Beitrags zur Zielorientierung in klinisch-psychosozialer
Fallarbeit, ist die ICF für die InterviewpartnerInnen insofern hilfreich, dass aus der
Hilfeplanung mithilfe der ICF, Hilfen und damit auch Ziele für die KlientInnen
abgeleitet wurden. Betont wurde hierbei das Formulieren der Ziele nach den
SMART-Kriterien, das vor allem von den Behörden gefordert wurde. Durch die
Ressourcenorientierung der ICF ist es zudem möglich, die Wünsche und
Bedürfnisse sowie wie die jeweiligen Veränderungswünsche der KlientInnen in die
Zielformulierungen miteinzubeziehen. Außerdem wurde die Wichtigkeit einer
biopsychosozialen Verschränkung innerhalb der Zielformulierung betont und
damit einhergehend das Verständnis dafür, wie sich bspw. körperliche Zustände
auf psychische und soziale auswirken.
Wie bereits in Kapitel zwei erörtert wurde, kommt es nach einer Situationsanalyse
der KlientInnen zur einer Hypothesenbildung hinsichtlich dessen, was geändert
werden muss. Diese Situationsanalyse kann mithilfe der ICF erfolgen. Bei den
Zielvorstellungen spielen vor allem die Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen
der KlientInnen eine wichtige Rolle, die durch die Ressourcenorientierung sowie
den Einbezug der personenbezogenen und Kontextfaktoren der ICF in den
Vordergrund rücken. Aus den ICF Items können damit zum einen Ziele und zum
anderen daraus folgernd Interventionen abgeleitet werden. Durch die ICF können
98
diese Interventionen und Ziele immer wieder überprüft, reflektiert und adaptiert
werden (vgl. Kapitel 1).
Die zweite Forschungsfrage dieser Arbeit befragt die Entwicklung der ICF. Diese
Frage lässt sich vor allen Dingen anhand des theoretischen Teils der Arbeit
beantworten, zu Teilen aber auch durch die Ergebnisse der Interviews. Wie in
Kapitel zwei beschrieben, wurde die ICF im Mai 2001 nach einer 20-jährigen
Vorgeschichte von der WHO verabschiedet. Bereits vor der ICF gab es einen
Versuch eine internationale Klassifikation einzuführen, die ICIDH. Im Vergleich
zur ICIDH basiert die ICF jedoch auf dem Biopsychosozialen Modell und zieht
personenbezogene und Umweltfaktoren ebenso in Betracht. Alle weiteren
Planungen und Aktionen hinsichtlich der ICF, werden durch das WHO-FIC-
Netzwerk durchgeführt. Bei jährlichen Treffen wird über Updates entschieden, die
veröffentlicht und durch das DIMDI ins Deutsche übersetzt werden. Vorschläge
für diese Updates kann jedermann auf der Online ICF Update Plattform in Form
von Minor und Major Updates machen, die bei diesen Treffen diskutiert werden.
Aufgrund der hohen Komplexität und Länge der ICF, hat die WHO zusammen mit
dem ICF Research Branch und dem WHO-Kooperationszentrum für das System
Internationaler Klassifikationen in Deutschland angefangen ICF Core Sets zu
entwickeln, die die Anwendung spezifizieren und vereinfachen sollen (vgl. Kapitel
2.2.2). In den Interviews kam hinsichtlich der ICF Entwicklung besonders das
Bundesteilhabegesetz in Deutschland auf. Bereits die Suche der
InterviewpartnerInnen zeigte, dass die ICF in Deutschland ein aktuelleres und
verbreiteteres Thema als in Österreich darstellt. Die Umsetzung des
Bundesteilhabegesetzes führte zur Einführung und stetigen Weiterentwicklung
von ICF basierten Instrumenten. Damit kam es in manchen Organisationen zur
Schaffung neuer Stellen. Außerdem führten manche Behörden und Städte eine
Sprache nach der ICF ein. Obgleich das auch zu Vorteilen führt, stellt es die
Sozialhilfeträger auch vor neue Herausforderungen. So wurde eine nötige
Digitalisierung der ICF angesprochen sowie fehlende Ressourcen der Sozialen
Arbeit bzgl. einer flächendeckenden Anwendung der Klassifikation. Überdies hat
99
sich die ICF nicht nur als ein österreichisches oder deutsches Thema entwickelt,
sondern Teilhabe und damit die ICF sind ein europäisches Thema.
7.2 Ausblick
Bei der Suche nach InterviewpartnerInnen konnte festgestellt werden, dass noch
keine flächendeckende Anwendung der ICF in Österreich vorhanden ist und die
ICF in vielen sozialarbeiterischen Organisationen noch nicht bekannt zu sein
scheint. Es ist jedoch zu erwarten, dass durch die internationalen Entwicklungen,
vor allem in Deutschland durch das Bundesteilhabegesetz, sich auf Österreich
auswirken werden. So kann gegebenenfalls erwartet werden, dass größere
Forschungsprojekte hochschul- und länderübergreifend stattfinden oder sich die
politischen Veränderungen auch auf die österreichische Politik auswirken
könnten. Für die konkrete Anwendung der ICF wird es jedoch erforderlich sein,
auf der ICF basierende, digitalisierte Instrumente zu entwickeln, die in der Praxis
leichter angewendet werden können. Hierbei könnte der Klinischen Sozialen
Arbeit eine besondere Funktion zukommen. Indes ergibt sich die Aufgabe für die
Klinische Soziale Arbeit, ICF basierte Instrumente zu entwickeln, die sich für eine
einfache Anwendbarkeit in der sozialarbeiterischen Praxis eignen und diese an
verschiedene Bereiche der Sozialen Arbeit zu adaptieren.
100
101
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106
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Diagnostische Dimensionen (Quelle: Pantucek 2012:126) ......................... 16
Abbildung 2: Beispiel für polyaxiale Diagnostik nach DSM-IV (Quelle: Baumann/ Perrez
1998:13) .................................................................................................................. 28
Abbildung 3: Struktur der ICF (Quelle: Rentsch/ Bucher 2005:19) .................................. 34
Abbildung 4: Beispiel für das „Ast-Zweig-Batt“-Schema (AZB-Schema) (Quelle:
Schuntermann 2007:68) .......................................................................................... 36
Abbildung 5: Das biopsychosoziale Modell der Komponenten von Gesundheit der WHO
(Quelle: WHO 2018) ................................................................................................ 38
Abbildung 6: ICF Update Plaform (Quelle: WHO 2018) ................................................... 40
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Anhang
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Person5: Hallo Frau Graf. Ich bin äh - doch noch unterwegs gewesen und bin jetzt
gut erreichbar. Wir können jetzt gerne starten, wenn das für Sie geht.
Interviewer: Ja geht bei mir, passt super.
Person5: Sehr schön.
Interviewer: Perfekt. Dann erst mal vielen Dank, dass es geklappt hat, dass Sie sich
die Zeit nehmen.
Person5: Ja das ist doch schön. Ja meinetwegen können wir loslegen.
Interviewer: Perfekt, also nur noch im Vorhinein ich werd das Interview aufnehmen,
damit ich es eben transkribieren kann und ich werd eben alle persönlichen Daten
wie Namen, etc. ähm anonymisieren.
Person5: Ja passt.
Interviewer: Perfekt, ja genau - ja dann hät mich interessiert wann Sie das erste mal
überhaupt in Kontakt mit der ICF gekommen sind?
Person5: (räuspert sich) ähm 2004 oder 2005 glaub ich bin ich in dem Kontext auf
die ICF gekommen im Rahmen meines Masterstudiums.
Interviewer: Ah okay, also - auch Klinische Sozialarbeit an der
Person5: (räuspert sich) genau. Ich bin über die Klinische Sozialarbeit und über
meine Tätigkeit damals hab ich in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet bin ich an
das Thema ran gekommen.
Interviewer: Ah okay - und sind Sie da auch praktisch rangekommen oder nur über
die Uni also FH?
Person5: Über die FH aber tatsächlich gabs damals parallel ne (räuspert sich)
Fortbildung äh in ner Uniklinikum wo äh eben das auch tatsächtlich thematisiert
wurde, dass das möglicherweise auch irgendwann ein Thema wird. - Und dann bin
äh hab ich mich am Anfang meines Masterstudiums auch damit vermehrt
beschäftigt.
Interviewer: Mhm. - Okay.
Person5: Und dann festgestellt. Ich hab ja im Akutbereich gearbeitet und (räsupert
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sich) da hat das bis dato gar keine Rolle gespielt.
Interviewer: Mhm.
Person5: Also das ist bis heute so, dass im Akutkrankenhausgeschehen, auch in
Psychiatrien in ner Bundesrepublik Deutschland eben das Thema ICF gar nich so auf
dem Zettel is.
Interviewer: Mhm ja -
Person5: Äh und ja was ich damals erkannt hab is es eher ein Thema in der
Rehabilitation. In der medizinischen Rehabilitation.
Interviewer: Mhm.
Person5: Und das zweite wo ich drübergefallen - also die ICF is - es gab damals son
ähm also ähm - im Jahr 2000, aber ich hab erst später sozusagen den
Zusammenhang erkannt. Es gab eine Einführung eines neuen Gesetzbuches, sozialen
Gesetzbuches in Deutschland. Ähm das SGB9 da gehts um Behindertenrecht und
Schwerbehindertenrecht und solche Fragestellungen. Und die haben sich damals
schon ähm mit dem Thema, also die Koppelung an ICF war da ne zentrale
Fragestellung.
Interviewer: Mhm.
Person5: Also die Gesetzgebung orientierte sich schon an diesem Biopsychosozialen
Zugang und dann und hat damals schon diese gesundheitliche äh funktionale
Gesundheit thematisiert. - Und das war neu, also das war neu in der deutschen
Gesetzgebung, das is eben nich nur medizinisch dominiert äh und definiert wird was
Gesundheit und Krankheit und Folgen sind sondern dass eben auch dieser
biopsychosoziale Ansatz erstmalig, ernsthaft in der Gesetzgebung ne Rolle gespielt
hat. - Und dadurch, dass ich in meinem Job viel mit sozialrechtlichen Dingen noch
arbeiten musste in der Beratung bin ich auch darüber gefallen.
Interviewer: Mhm - das heißt Sie haben damals in Ihrem Job die ICF auch schon
angewendet?
Person5: Ja ich hab die insofern angewendet, dass ich damals äh überlegt hab äh
welche Leistungsbezüge welche Fragestellungen spielen eigentlich hier im
Akutkrankenhaus ne Rolle und äh mit welchen Folgen ist möglicherweise bei
bestimmten Erkrankungen auch zu rechnen. Und hab versucht damals schon über
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eine Zuordnung selbst gestrickt ähm - Kodierungen oder Kodierungen zu erkennen,
die da vielleicht ne Rolle spielen.
Interviewer: Mhm. Wie lang hat das bei Ihnen gebraucht bis Sie sich da in die ICF
eingearbeitet haben?
Person5: (räuspert sich) also bis ichs so einigermaßen gecheckt hab hat es sicherlich
sechs Monate gedauert so ähm - und ähm ich hab das am Anfang immer auch ähm
möglicherweise nicht erkannt als Klassifikation sondern eher als äh als Pool oder
Zugang und hab erst später verstanden, dass das falsch ist, weil es geht ja irgendwie
um ne Klassifikation und dass für viele Kontexte in der Sozialen Arbeit bestimmte
Diagnoseinstrumente auch fehlen, die gibts noch gar nicht.
Interviewer: Mhm. - Hm. Wenn Sie das im Studium hatten, haben Sie das auch
wirklich gelernt. Also was das ein fester Bestandteil Ihres Studiums?
Person5: Das war ein Bestandteil in nem Seminar und da war ein ein
Lehrbeauftragter von der WHO - in WHO Europa - aus Schweden. Der war
eingebunden und der hat das vermittelt. Die WHO hat sich ja damals extrem mit
beschäftigt.
Interviewer: Mhm.
Person5: Und das hat mich sehr beeindruckt, weil ich fand das war ne Möglichkeit
für die Soziale Arbeit ähm ihre eigenen Zugänge ähm aufzubereiten und auch zu
koppeln mit den konkreten Fragestellungen, die ähm mit den Folgen der Erkrankung
auch gebunden sind.
Interviewer: Mhm.
Person5: Also von da da da war das für mich an der theoretischen Aufarbeitung
nachvollziehbar.
Interviewer: Mhm. - Hm. - Und Sie haben dann ähm während des Studiums
beziehungsweise nach des Studiums nach auch praktisch mit der ICF gearbeitet?
Person5: Ja ich hab dann tatsächlich äh mit Core Sets gearbeitet, also ich hab mir
angeguckt zu bestimmten Krankheitsbildern gibt es da Core Sets und sind die schon
entwickelt und hab versucht die in meinem täglichen Arbeitskontext äh - Konsi Konsi
äh also ich hab Konsiliardienst betreut also - äh in unterschiedlichen Kliniken mit
Menschen gearbeitet und hab dann äh sozusagen über ne Dokumentation das (…)
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