aristoteles - rhetorik - anm.5

41
V. Die Konzeption einer dialektischen Rhetorik Die im vorigen Kapitel behandelten Zeugnisse belegen, dass sich Aristoteles wahrscheinlich schon früh mit einigen zeitgenössischen Ausprägungen der Rhetorik beschäftigt hat. Über die Entwicklung seiner individuellen Kon- zeption der Rhetorik geben diese Quellen jedoch keine substantielle Aus- kunft. Was die Besonderheit der Aristotelischen Rhetorikkonzeption im Vergleich mit den Vorgängern und Zeitgenossen angeht, so ist der bei wei- tem wichtigste Schritt die Verbindung der Rhetorik mit der Dialektik. Gleich der erste Satz der Rhetorik bezeichnet diese als „Gegenstück der Dia- lektik"1, in Kap. I 2 heißt es von der Rhetorik, sie sei „ein Seitenzweig der Dialektik und der Untersuchung über den Charakter"2, und sie sei „ein Teil der Dialektik und ihr ähnlich"3; Kap. I 4 bekräftigt: „... dass die Rhetorik aus der analytischen4 und der von den Charakteren handelnden Wissenschaft zusammengesetzt ist und dass sie der Dialektik und den sophistischen Argumentationen ähnlich ist."5 Und die Verbindung von beiden Disziplinen kommt nicht nur in solchen Pa- rolen, sondern auch durch die ausgiebige Nutzung des begrifflich-techni- schen Inventars der Dialektik in der Rhetorik zum Ausdruck. Unter man- chen Interpreten gibt es zwar die Tendenz, die Originalität dieser Verbin- dung von Rhetorik und Dialektik durch den Verweis auf Piatons Phaidros zu relativieren,6 wo ebenfalls gefordert wird, dass der wahre Rhetor ein Dia- lektiker sein müsse. Allerdings erweist sich diese Kontinuität zwischen Pia- ton und Aristoteles als trügerisch, weil in den beiden Schriften unterschied- liche Dialektikbegriffe im Spiel sind. Ein vertieftes Verständnis der Rhetorik 1 Rhet. I 1, 1354al; vgl. dazu im Kommentar die Anm. (1.) zu 1354al-6. 2 Rhet. 12, 1356a25f. 3 Rhet. 12, 1356a30f. 4 An dieser Stelle ist mit „analytisch" vermutlich ebenfalls die Dialektik oder zumindest ein Teilbereich derselben gemeint: Vgl. dazu im Kommentar die Anm. zu 1359b8f. 5 Rhet. 1359b9-12. 6 Vgl. in der Einleitung Kap. III, Abs. 2. Unangemeldet | 188.98.182.252 Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

Upload: michael-gebauer

Post on 27-Sep-2015

42 views

Category:

Documents


3 download

DESCRIPTION

Rhetorik Anmerkungen 5

TRANSCRIPT

  • V. Die Konzeption einer dialektischen Rhetorik

    Die im vorigen Kapitel behandelten Zeugnisse belegen, dass sich Aristoteleswahrscheinlich schon frh mit einigen zeitgenssischen Ausprgungen derRhetorik beschftigt hat. ber die Entwicklung seiner individuellen Kon-zeption der Rhetorik geben diese Quellen jedoch keine substantielle Aus-kunft. Was die Besonderheit der Aristotelischen Rhetorikkonzeption imVergleich mit den Vorgngern und Zeitgenossen angeht, so ist der bei wei-tem wichtigste Schritt die Verbindung der Rhetorik mit der Dialektik.Gleich der erste Satz der Rhetorik bezeichnet diese als Gegenstck der Dia-lektik"1, in Kap. I 2 heit es von der Rhetorik, sie sei ein Seitenzweig derDialektik und der Untersuchung ber den Charakter"2, und sie sei ein Teilder Dialektik und ihr hnlich"3; Kap. I 4 bekrftigt:... dass die Rhetorik aus der analytischen4 und der von den Charakterenhandelnden Wissenschaft zusammengesetzt ist und dass sie der Dialektikund den sophistischen Argumentationen hnlich ist."5

    Und die Verbindung von beiden Disziplinen kommt nicht nur in solchen Pa-rolen, sondern auch durch die ausgiebige Nutzung des begrifflich-techni-schen Inventars der Dialektik in der Rhetorik zum Ausdruck. Unter man-chen Interpreten gibt es zwar die Tendenz, die Originalitt dieser Verbin-dung von Rhetorik und Dialektik durch den Verweis auf Piatons Phaidroszu relativieren,6 wo ebenfalls gefordert wird, dass der wahre Rhetor ein Dia-lektiker sein msse. Allerdings erweist sich diese Kontinuitt zwischen Pia-ton und Aristoteles als trgerisch, weil in den beiden Schriften unterschied-liche Dialektikbegriffe im Spiel sind. Ein vertieftes Verstndnis der Rhetorik

    1 Rhet. I 1, 1354al; vgl. dazu im Kommentar die Anm. (1.) zu 1354al-6.2 Rhet. 12, 1356a25f.3 Rhet. 12, 1356a30f.4 An dieser Stelle ist mit analytisch" vermutlich ebenfalls die Dialektik oder zumindest ein

    Teilbereich derselben gemeint: Vgl. dazu im Kommentar die Anm. zu 1359b8f.5 Rhet. 1359b9-12.6 Vgl. in der Einleitung Kap. III, Abs. 2.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 1

    1. Dialektik 237

    muss daher in jedem Fall eine Auseinandersetzung mit dem AristotelischenDialektikbegriff einschlieen.

    1. Dialektik

    a) Grundzge der dialektischen Disputation bei AristotelesEine dialektische Disputation zeichnet sich fr Aristoteles dadurch aus, dassan ihr zwei Kontrahenten teilnehmen, die in der betreffenden Unterredungentgegengesetzte Standpunkte vertreten. Der eine der beteiligten Kontra-henten nimmt die Rolle des Fragenden, der andere die Rolle des Antworten-den ein.7 Die Aufgabe des Antwortenden ist es, eine Behauptung zu vertre-ten, auf die er sich zu Beginn der Unterredung festlegen msste; dabei be-deutet es fr die dialektische Prfung keinen Unterschied, ob die ausge-whlte Behauptung die berzeugung des Antwortenden reprsentiert oderob es sich um die Positionen anderer handelt, die vom Antwortenden nurbernommen werden, um sie im dialektischen Gesprch einer Prfung zuunterziehen oder um seine eigene dialektische Fhigkeit an der ausgewhltenThese zu erproben und zu verbessern. Aufgabe des Fragenden ist es, die vomAntwortenden aufgestellte Behauptung anzugreifen. Dazu versucht er, demAntwortenden solche Zugestndnisse abzunehmen, aus denen ein Wider-spruch zu der Ausgangsbehauptung des Antwortenden zwingend hergeleitetwerden kann. Um die in den allgemeinen Angriffsplan passenden Zuge-stndnisse des Antwortenden zu erhalten, bietet ihm der Angreifer entspre-chende Stze in Form von Fragen an, die der Antwortende bejahen oder ver-neinen kann. Dazu muss der Fragende am besten ein Repertoire an so ge-nannten anerkannten Meinungen (Evoc]a)" bereit haben, weil ihm derGegner nur solche Stze zugestehen wird. Hat der fragende Angreifer aufdiese Weise gengend Zugestndnisse gesammelt, prsentiert er dem Gegnerseine Schlussfolgerung, die mindestens eine der vom Antwortenden zuge-standenen Behauptungen zur Voraussetzung hat und im Ergebnis der Aus-gangsbehauptung des Antwortenden widerspricht.8Ist der Angreifer mit dieser Strategie erfolgreich, dann ist gezeigt, dass

    eine bestimmte Menge von Stzen (die vom Gegner zugestanden wurden)7 Die verschiedenen Aufgaben des fragenden Angreifers und des antwortenden Verteidigerswerden in Top. VIII 3-5 beschrieben.

    8 Vgl. dazu Kapp (1965, 20): Im Kopf des Fragenden verluft die Richtung des Denkens, daszum Syllogismus fhrt, umgekehrt zu der Anordnung von Prmissen und Schlussfolgerungim Syllogismus selbst; der Fragende muss gewissermaen einen rckwrtigen Denkprozessvornehmen, von der Schlussfolgerung zu den Prmissen, nicht, wie wir die Reihenfolge imSyllogismus sehen, von den Prmissen zur Schlussfolgerung."

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 238 V. Die Konzeption einer dialektischen Rhetoriknicht konsistent

    -

    also nicht ohne einen Widerspruch zu begehen-

    vertretenwerden kann. Das bedeutet fr die vom Antwortenden aufgestellte Behaup-tung, dass sie mit anderen Behauptungen, die dem Antwortenden akzeptabelscheinen oder zu deren Zugestndnis er argumentativ gezwungen werdenkann, nicht in Einklang zu bringen ist. Unter solchen Umstnden kann diezur Prfung gestellte Behauptung bis auf weiteres als widerlegt gelten; injedem Fall aber kann man von einer solchen Behauptung sagen, dass sie zueiner Schwierigkeit oder Aporie fhrt und dass man sie vernnftigerweisenur dann aufrechterhalten kann, wenn man imstande ist, die betreffendeAporie mit guten Grnden aufzulsen.

    Fr Aristoteles handelt es sich dabei um ein Verfahren, das auf jeden belie-bigen Gegenstand angewandt werden kann. Es setzt keinerlei Fachwissenvon dem behandelten Gegenstand voraus und beinhaltet daher auch keinewissenschaftlichen Prinzipien. Die Stze, aus denen der Aristotelische Dia-lektiker schliet, sind daher nicht notwendigerweise wahr, sondern lediglichanerkannt. Daher kann der Dialektiker schlielich auch fr beide Seiteneiner Sache argumentieren.

    b) Ursprung der dialektischen ArgumentationAuch wenn die Topik des Aristoteles tatschlich die erste niedergeschriebeneMethode der dialektischen Argumentation enthlt, so hat er das dialektischeArgumentieren selbst natrlich nicht erfunden. Sieht man die Eigenart derdialektischen Argumentation allein darin, dass eine Sache von entgegenge-setzten Standpunkten aus diskutiert wird, dann ist ein basaler Sinn des dia-lektischen Argumentierens offenbar schon in ganz alltglichen Gesprchs-situationen gegeben. Aristoteles hingegen scheint nur dann von .Dialektik'zu sprechen, wenn eine kontroverse Unterredung so gefhrt wird, dassdabei aus den Annahmen des einen Mitunterredners gezielt Konsequenzendeduziert werden, mit deren Hilfe andere Annahmen des Kontrahenten alswidersprchlich oder inkonsistent erwiesen werden knnen. Weil ein derartzielgerichtetes Verfahren Vorbegriffe darber voraussetzt, was als eine Vo-raussetzung, ein Schluss oder eine notwendige Konsequenz gelten kann,sind Vorbilder natrlich eher im Bereich der Philosophie als im alltglichenStreitgesprch zu erwarten. Es berrascht daher auch nicht, dass Aristotelesselbst einen Philosophen, nmlich Zenon von Elea, als Erfinder der dialekti-schen Argumentation ausmacht.9Zenon von Elea scheint tatschlich diejenige Argumentationsfigur ver-

    wendet zu haben, die in der Aristotelischen Terminologie fr die im engeren9 Vgl. dazu Diogenes Lartios IX 25.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 1. Dialektik 239

    Sinn .dialektische' Argumentation kennzeichnend ist: Soweit wir wissen, be-stand Zenons philosophisches Anliegen darin, die Thesen seines LehrersParmenides gegen solche Kritiker zu verteidigen, die meinen, sich leicht berdessen Thesen lcherlich machen zu knnen.10 Die von Zenon eingeschla-gene Verteidigungsstrategie verfhrt gewissermaen indirekt: Er zeigt, dassdie Voraussetzungen, die man macht, wenn man meint, die ParmenideischenThesen nicht weiter ernst nehmen zu mssen, abwegige oder widersprchli-che Konsequenzen nach sich ziehen. Nach den uns erhaltenen Fragmentendes Zenon sind dies vor allem die beiden Voraussetzungen, dass es eine Viel-heit von Dingen gibt und dass Bewegung mglich ist. Worin dabei genau dasVorbild fr die dialektische Argumentation bestanden haben knnte, wirdbesonders an den so genannten .Antinomien' deutlich: Zenon zeigt in diesenAntinomien, dass unter der Annahme der Vielheit von Dingen sich wider-sprchliche Konsequenzen ergeben, wie zum Beispiel, dass das Seiende zu-gleich unendlich klein als auch unendlich gro sein msste.11 Hierbei ist ers-tens klar, dass die Argumentation zumindest nicht direkt auf die Etablierungeiner bestimmten These zielt, sondern dass lediglich Konsequenzen aufge-zeigt werden, die folgen, wenn man bestimmte Annahmen oder Vorausset-zungen macht. Zweitens ist der Erfolg eines Zenonischen Arguments offen-bar dadurch definiert, dass aus ein und derselben Annahme zwei Konse-quenzen hergeleitet werden knnen, die sich kontrr oder kontradiktorischentgegengesetzt sind. Drittens sind es die Annahmen des Gegners, die aufdiese Weise einer Prfung unterzogen werden.

    c) Dialektik bei Piaton und in der AkademieDie terminologische Prgung des Dialektikbegriffs geht jedoch zweifellosauf Piaton zurck: Whrend in Piatons Frhwerk der Ausdruckia^YEafjaL unspezifisch fr die Praxis der philosophischen Unterredungoder Wissensprfung steht12, lsst sich beginnend mit Hippias Minor undGorgias eine BegriffsVerwendung ausmachen, die fr eine bestimmte Frage-Antwort-Technik im Unterschied zu bloer Rhetorik steht.13 Im Zusam-menhang mit einem dezidiert philosophischen Wissen erscheint dann zum

    10 Das jedenfalls entspricht der Darstellung in Piatons Parmenides 128c-d; Zweifel an dieser tra-ditionellen Einschtzung wurden etwa von F. Solmsen, The Tradition about Zeno of EleaRe-Examination", in: A. P. D. Mourelatos (Hg.), The Presocratics, 2. Aufl.: Princeton 1993,368-393, vorgebracht; vgl. aber auch Ch. Rapp, Vorsokratiker, Mnchen 1997, 152-157.

    11 Vgl. Zenon, Fragment 29 B2 und Bl (Diels/Kranz).n Vgl z.B. Apologie 19d; 21c; 33a; 41c.13 Vgl. Hippias Minor 373a f. und Gorgias 448d9.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 240 V. Die Konzeption einer dialektischen Rhetorikeinen die Adverbialform ia^exxtxxEOOV14 (gemeint ist die philosophisch-sachgerechte Gesprchstechnik im Gegensatz zur eristischen Gesprchsfh-rung) und zum anderen das Adjektiv iaEXXixo,15 das eine Person be-zeichnet, die in den wichtigsten Sachfragen zu fragen und zu antworten ver-steht.

    Erstmals in der Politeia taucht die Wortprgung ta.EXXixq auf. In Poli-teia VII erfahren wir, dass Piaton die ia^EXXixq als abschlieende undhchste Wissensstufe betrachtet, dass er also durch sie (und nur durch sie)Ideen- und Prinzipienerkenntnis fr erreichbar hlt. Die Dialektik verschafftdanach ein kohrentes, invariantes und infallibles Wissen, das den, der es be-sitzt (den Philosophenherrscher"), wegen seiner Anwendbarkeit auf diepolitische Praxis zur Einrichtung eines optimalen Staatswesens befhigt.Nun legen zahlreiche Texte, die das Erlangen von Ideenerkenntnis schildern,die These nahe, es handle sich um eine spontan-intuitive Erkenntnisform.Doch trotz des Vorherrschens einer visuellen und haptischen Metaphorikund trotz der betonten Unmittelbarkeit" (^aicpvq) im Symposion und imVII. Brief muss es sich bei ihr

    -

    wie der Ausbildungsgang des Philosophenzeigt

    -

    um ein planmig-methodisch erwerbbares Wissen handeln. DieserAusbildungsweg kann unmglich kontingent mit der Erfassung der Ideenzusammenhngen; es heit ausdrcklich, gemeint sei keine schlagartige Um-wendung der Seele des angehenden Philosophen wie beim Scherben-spiel"16. Das von Piaton anvisierte Curriculum grndet sich vielmehr aufeine Schulung im Einheitsbegriff"17 und besteht aus einer Folge von mathe-matisch bestimmten Disziplinen, nmlich Arithmetik, Geometrie, Stereo-metrie, Astronomie und Harmonielehre; Lehrgegenstand scheint also dasmathematisch Invariante in der Dimensionenfolge von Einheit, reinen Zahl-beziehungen, Zweidimensionalitt, Dreidimensionalitt, sichtbarer Bewe-gung und hrbarer Bewegung zu sein. Die Dialektik bildet das Ende des phi-losophischen Ausbildungsgangs; wenn sie zur Ideen- und Prinzipiener-kenntnis fhren soll, muss der Grund dafr in dem Curriculum selbst lie-gen.18 Allerdings scheint Piaton die faktische Erreichbarkeit dialektischenWissens eher zurckhaltend bewertet zu haben. Denn er schildert in PoliteiaVII ein uerst aufwendiges und zeitraubendes Curriculum fr die Ausbil-dung jener Philosophen, die zur Dialektik qualifiziert werden sollen.

    Beachtenswert ist zudem: In Politeia VII erscheint die merkwrdige Fest-stellung, die knftigen Philosophenherrscher sollten im Alter von fnfzig14 Vgl. Menon 75c-d.15 Vgl. Kratylos 390c.i6 Vgl. Politeia VII 521c.17 Vgl. Politeia VII 525e.18 Vgl. dazu Ch. Horn, Platon und die antike Erkenntnistheorie", in: Antike und Abendland(im Erscheinen).

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 1. Dialektik 241

    Jahren, also nach hinreichender intellektueller und moralischer Bewhrung,zu einem Blick auf das Gute gezwungen"19 werden. Hinweise auf einenZwang enthlt bereits das Hhlengleichnis, und zwar keineswegs erst imHinblick auf ihre Rckkehr in die Hhle, sondern bereits bezogen auf denAufstieg und dessen Hhepunkt.20 Nun ergibt die Zwangsmetaphorik imBlick auf eine Intuition natrlich keinen Sinn; sie wirkt erst dann sinnvoll,wenn der Blick auf die Idee des Guten besonders anstrengend, mhevoll, un-gewohnt, bedrohlich oder unangenehm ist. In der Tat wird dieser Punktdurch andere Textstellen gedeckt. Bereits im Phaidon sagt ja Sokrates vonsich, er habe Zuflucht zu den logoi genommen aus Furcht, beim direkten Be-trachten der Gegenstnde ebenso Schaden an der Seele zu nehmen wie jeneLeute an den Augen erblindeten, die direkt in die Sonne blickten.21 DerselbePunkt erscheint im Hhlengleichnis: Auch dort muss die Sonne auerhalbder Hhle, also die Idee des Guten, zunchst einige Zeit auf der Wasserober-flche betrachtet werden, ehe sich jemand ihr selbst zuwenden kann.22Noch deutlicher wird das diskursive Element im Platonischen Begriff der

    Dialektik, wenn es heit, dass deren Methode im Durchschreiten smtli-cher E^EYX01"23 bestehen soll. Mit dem teyxoc, ist in den Frhdialogen eineMethode der Wissensprfung gemeint, bei der jemand (in der Regel Sokra-tes) eine Was-ist-X?-Frage stellt und der Dialogpartner (in der Regel der Ex-perte einer bestimmten xxvq) einen Definitionsversuch unternimmt; derFragende versucht die erteilte Antwort (meist in indirekter Form) zu wider-legen und den Gesprchspartner zu einer neuen Antwort zu ntigen, diedann wiederum kritisch geprft wird usw. Die implizite Voraussetzung die-ses Verfahrens ist natrlich die: Wer etwas wei, muss von seinem WissenRechenschaft ablegen knnen.24 Bereits die frhen Sophisten- und Definiti-onsdialoge haben den Charakter einer solchen Wissensprfung; auch dersptere Piaton lsst seinen Sokrates von einem philosophischen Hebam-mendienst" exakt im Sinn einer solchenWissensprfung sprechen.25 Es wredeshalb berraschend, wenn er ausgerechnet das wahre Wissen, das vonIdeen und Prinzipien als einer methodisch-diskursiven Prfung entzogenangesehen htte. Bei der Dialektik handelt es sich also zweifellos um ein me-thodisches Verfahren; der Dialektiker prft logoi auf ihre Haltbarkeit26 und

    19 Vgl. Politeia VII 540a.20 Vgl. Politeia VII 515c, d, e; 519c.21 Vgl. Phaidon 99dff.22 Vgl. Po/i'teM VII 516b.23 Vgl. Politeia VII 534c.24 Vgl. Protagoras 336d; 338e; 339a; Charmides 165b; Laches 187c; d; Phaidon 76b; Politeia VII

    531; 537e-539c.25 Vgl. Theaitet 148e-152d.26 Vgl. Politeia VII 538c, 539a, IX 582d sowie Politikos 285d-286a.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 242 V. Die Konzeption einer dialektischen Rhetorik

    versucht, Entitten aufgrund gemeinsamer begrifflicher Merkmale zu Klas-sen zusammenzufassen (synopsis). Auch im Phaidros wird der Dialektikerdurch seine Kompetenz in begrifflicher Zerlegung und Zusammenschau (di-hairesis und synopsis) gekennzeichnet.27 Das Proprium des dialektischenVerfahrens besteht darin, dass der Dialektiker

    -

    anders als der Mathematiker-

    seine Grundannahmen (hypothesis) nicht einfach setzen muss, sondern siezudem rechtfertigen und damit ihren Hypothesencharakter aufheben"kann.28

    Bereits im Phaidon heit es, als Hypothese zugrunde zu legen sei stets derstrkste logos", und dann zuzusehen, was mit diesem bereinstimmt undwas nicht.29 Der Politeia zufolge vermag der Dialektiker seinerseits einenlogos zu entwickeln, der sich elenktisch nicht zu Fall bringen lsst.30 DerDialektiker ist fhig, auch das grte Lehrstck"31, die Idee des Guten, zuuntersuchen und sogar bei ihr zu einer gltigen Definition zu gelangen.32Letzteres zeigt erneut, dass der Dialektiker nicht allein sein Erkenntniszielmithilfe einer diskursiven Methode erlangt, sondern dass er zudem nach Er-reichung des Erkenntnisziels fhig sein soll, diskursiv darber Rechenschaftabzulegen; im neunten Buch der Politeia heit es dann nochmals, das eigent-liche Instrument des Philosophen sei die argumentierende Rede.33Nach der Politeia tritt der Dialektikbegriff in Verbindung mit der Hypo-

    thesiskonzeption nochmals im Parmenides in Erscheinung: Dort heit es,ohne die Annahme von Ideen lasse sich das Denken auf nichts Bestimmtesmehr richten, und die Mglichkeit des iayEoffai werde hinfllig.34 Esliegt nahe anzunehmen, dass die Prsentation der Hypothesenmethode,35 dieim zweiten Dialogteil zu gymnastischen" Zwecken vorgefhrt wird, ebenauf die Methode der Dialektik abzielt. In den Platonischen Sptschriften da-gegen taucht der Dialektikbegriff nur noch im Sinn einer Kunst der sachge-rechten Dihairese auf.36 Daraus kann man aber nicht zwingend auf eine ver-nderte Position Piatons schlieen. Zum einen ist der dihairetische Aspektder Dialektik etwa schon im Phaidros prsent37. Zum anderen findet sich die

    27 Vgl. Phaidros 266b.28 Vgl. Politeia VI 510c und VII 533c.29 Vgl. Phaidon \0Qa.30 Vgl. Politeia VII 534c3.31 Vgl. Politeia VI 505a.32 Vgl. Politeia VII 534b.33 Vgl. Politeia IX 582d-e.34 Vgl. Parmenides 135b5-c2.35 Vgl. Parmenides 135dff.36 Vgl. Sophistes 253d, Politikos 285a-287a und Philebos 16c-17a.37 Vgl. Phaidros 265d-266b.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 1. Dialektik 243

    synopsis-Mthode mit klarer ideentheoretischer Ausrichtung noch in denA/oraoz'.38

    Whrend einzelne Verfahrensweisen der Platonischen Dialektik, wie dieDihairesis und die Synopsis oder das elenktische Verfahren, klarerweiseNachfolgemodelle bei Aristoteles haben, gibt es aber signifikante Unter-schiede zur Aristotelischen Dialektik. Der Gedanke, dass die Dialektik denZugang zu einer prinzipiell unberbietbaren Wissensform, wie dem Ideen-wissen, darstellt, der natrlich nicht in allen Zusammenhngen, in denen Pia-ton von Dialektik" spricht, gegeben ist, ist der Aristotelischen Konzeptioneiner durch die Beschftigung mit den nur anerkannten Meinungen definier-ten Dialektik vllig fremd. Dies gilt noch mehr dann, wenn man die Ideen-erkenntnis, wie oben argumentiert, nicht als einen eigenstndigen, intuitivenZugriff vom eigentlich dialektischen Verfahren absondern mchte. Sicher-lich wre es einseitig, Piatons Dialektikbegriff ausschlielich durch diesenstarken Wissensanspruch und Aristoteles' Dialektik ausschlielich durchden bungscharakter zu beschreiben:

    Nachdem bereits bei Piaton gelegentlich ((Parmenides) 135 C/D und 136A 4- C; (Politicus) 286A) an die Seite der ontologisch gerichteten Dialektikeine mehr oder weniger formale Gesprchstechnik und propdeutische Ein-bung des methodischen Diskutierens und Argumentierens in Frage undAntwort getreten war, vollzog sich bei den Schlern eine methodologischeReflexion auf diese Technik. So hatte die aristotelische, in der (Topik) nie-dergelegte Theorie der Dialektik weithin die akademische Praxis dieserTechnik im Blick und suchte sie zu kodifizieren; das gleiche traf zu fr dieder Gesprchsdialektik gewidmeten Schriften des Xenokrates."39

    Aber selbst wenn man ein Nebeneinander von-

    wie Krmer formuliert-ontologisch gerichteter Dialektik" und formaler Gesprchstechnik" bei

    Piaton und in der Akademie konzediert, bleibt der Dialektikbegriff bei Pia-ton und bei Aristoteles insgesamt klar distinkt. Gerade auch die Verwen-dung des Dialektikbegriffs mit Blick auf den Rhetor hat im Phaidros dieKonsequenz, dass dieser wahre Rhetor (und somit Dialektiker) die wahreBeschaffenheit eines jeden Dings, ber das er redet und schreibt"40 kennenmuss, whrend Aristoteles mit dem Hinweis auf den dialektischen Charak-ter der Rhetorik eine wissenschaftliche Erfassung der zu behandelnden Ge-genstnde pointiert als unzweckmig bezeichnet.41 Bei Piaton stellt dieDialektik trotz wechselnder Bestimmungen und Akzentuierungen stets die

    38 Vgl. Nomoi XII 965b-c.39 H. Krmer (1983, 10). Zum Verhltnis von platonisch-akademischer und aristotelischer Dia-lektik vgl. auch Solmsen (1968) und Ryle (1968).

    40 Phaidros 277b.41 Vgl. Rhet. 14, 1359b2-18.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 244 V. Die Konzeption einer dialektischen RhetorikMethode der Philosophie dar und schliet als solche die moxqfiq mit ein,whrend Aristoteles die Dialektik dieser gerade gegenberstellt.

    d) Die Definition der Dialektik bei AristotelesEin grundstzliches Problem bei der nheren Bestimmung des Aristoteli-schen Dialektikbegriffs besteht in Folgendem. Die einzige Schrift, die dieDialektik ausfhrlich und thematisch behandelt, ist die Topik; diese be-schreibt aber ohne Zweifel eine Disputationstechnik fr Gesprche mit rea-len (und nicht nur im Sinne eines .inneren' Gesprchs virtuellen) Teilneh-mern.42 Andererseits weist Aristoteles selbst auf den philosophischen Nut-zen der Dialektik hin und gebraucht in seinen Schriften Techniken, die mitgutem Grund als dialektisch angesehen werden, obwohl diese Schriften be-kanntlich keiner dialogischen Struktur folgen. Eine Mglichkeit, auf dieseProblemlage zu reagieren, ist die, dass man Dialektik allein durch ihre Be-schftigung mit den anerkannten Meinungen (voc]a) definiert sein lsst,whrend man alle Hinweise auf den Gesprchscharakter der Dialektik mitdem bungsgesprch43 verknpft und dieses zugleich gegenber den .erns-ten' philosophischen Verwendungsweisen marginalisiert.44

    Dialogische und nicht-dialogische Verwendungsweisen der Dialektik:Zwar scheint es grundstzlich

    -

    innerhalb und auerhalb der Schrift Topik-

    angemessen, die Dialektik primr dadurch zu bestimmen, dass sie frSchlussfolgerungen aus nur anerkannten Prmissen (Evo^a) zustndig ist;eine Marginalisierung des Gesprchscharakters derselben ist mit der SchriftTopik jedoch nicht zu vereinbaren. Wer nun an eine Erklrung derart denkt,dass der Gesprchscharakter der Dialektik nur fr die in der Schrift Topikbeschriebene Praktik Bedeutung hat (und vielleicht noch fr das ,einseitigeGesprch', als das man die in der Rhetorik beschriebene Rede verstehenkann), der stt auf die Schwierigkeit, dass auch auerhalb der Schrift Topikdialektische Prmissen ausdrcklich als Fragen45 bzw. als Aufforderung zueiner Antwort46 beschrieben werden. Weil es aber keinen Anlass gibt zu be-

    42 Vgl. oben die Darstellung in Abs. a).43 Vgl. unten die Darstellung in Abs. e).44 ZurMarginalisierung des bungsgesprchs vgl. etwaMaier (1900, II1,384, Fun. 1); implizit

    ist die Abwertung des bungsgesprchs auch eine Voraussetzung derjenigen Interpreten, diewie Nussbaum (1986, Kap. 8) und Irwin (1988) Dialektik ohne weiteres als Methode der Phi-losophie einstufen und dafr eher von EN VII als von Top. I ausgehen; gegen einen solchenTrend wenden sich mit unterschiedlichen Argumenten und Konsequenzen Smith (1993,335 ff.) und Primavesi (1996,17-19, 31-58).

    45 Vgl. An. pr. 24a24-25 und 24bl0-12.46 Vgl Int. 20b22-23.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 1. Dialektik 245

    zweifeln, dass Aristoteles von .Frage' und .Antwort' in einem literalen Sinnspricht, ist damit klarerweise ein Gesprchszusammenhang vorausgesetzt.Um daher zugleich dem prinzipiellen Gesprchscharakter der Dialektik undden dialektischen Passagen der (monologischen) philosophischen Schriftengerecht zu werden, scheint der folgende Interpretationsrahmen fr die un-terschiedlichen definitorischen Aussagen der Dialektik angemessen:

    (1.) Der primre Ort der Aristotelischen Dialektik ist das Gesprch mitrealen Opponenten und zwar nicht jedes Gesprch, sondern das akademi-sche Streit- bzw. bungsgesprch, das sich an die in der Topik aufgezeichne-ten Regeln47 hlt. (2.) Die in der Topik entfaltete Technik, zu jeder gegebenenThese Schlsse aus anerkannten Meinungen zu ziehen, kann auch in anderenBereichen als dem dialektischen bungsgesprch angewandt werden, wenn-gleich bei diesen Anwendungsweisen der ursprngliche Gesprchscharakterder Dialektik verloren geht;48 falls man die Rhetorik als Anwendungsbereichder Dialektik verstehen will, so verhlt sie sich einerseits dialogisch, insofernsie reale Adressaten hat, andererseits endet der in der Topik relevante Sinnvon Dialogizitt schon damit, dass der Redner die Prmissen nicht als Fra-gen stellt und keine Zustimmung oder Ablehnung dafr erhlt. (3.) Die dia-lektischen Passagen in den philosophischen Schriften stellen derartige nicht-dialogische, und in diesem Sinn abgeleitete Anwendungen der Dialektik dar.Das Fehlen eines realen Gesprchspartners in einem philosophischen Traktathat zweierlei Konsequenzen: (3.a) Zunchst kann der philosophische An-wender diejenigen Teile der Dialektik bergehen, die explizit nur mit Bezugauf einen realen Gegner eine Bedeutung haben. Dies ist eindeutig beimThema der strategisch gnstigen Anordnung der verschiedenen Fragen nachTopik VIII 1 der Fall:

    Bis zum Finden des Topos verluft nun die Untersuchung des Philosophenund des Dialektikers hnlich, diese Dinge aber dann anzuordnen und dieFragen zu formulieren, ist dem Dialektiker eigentmlich, denn alles derar-tige richtet sich gegen jemand anderen. Den Philosophen als jemanden, derfr sich selbst forscht, kmmert es nicht, wenn das, aufgrund dessen die De-duktion zustande kommt, zwar wahr und bekannt ist, aber vom Antwor-tenden nicht zugestanden wird, weil es nah an dem ist, wovon ausgegangenwurde, und der Antwortende voraussieht, was sich ergeben wird, sondernder Philosoph wird sich wahrscheinlich darum bemhen, dass die Axiomein hchstem Mae bekannt und nah sind, denn von diesen gehen die wis-senschaftlichen Deduktionen aus."49

    47 Vgl. dazu oben die Darstellung in Abs. a).48 Solche Anwendungsweisen nennt Aristoteles selbst, wenn er vom Nutzen" der Dialektik

    spricht: Vgl. unten die Darstellung in Abs. e).49 Top. VIII 1, 155b7-16.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 246 V. Die Konzeption einer dialektischen RhetorikDas ist eine klare Aussage darber, dass sich der allein arbeitende Philosophstreckenweise derselben Technik bedient (bzw. bedienen kann) wie der Dia-lektiker, obwohl die Dialektik einen wirklichen Gegner voraussetzt. DieseGemeinsamkeit wird etwa von Primavesi, der

    -

    vllig zu Recht-

    die Ge-sprchsbindung der Dialektik betont, unntig heruntergespielt, wenn er diesmit den Worten paraphrasiert: Die dem Dialektiker gestellte Aufgabe ...finde im Tun des Philosophen durchaus eine gewisse Entsprechung."50

    -Aber auch die Beschreibung, dass der Philosoph nur streckenweise dasselbeallein tut, was der Dialektiker in seinem eigentlichen Metier immer zu zweittut, ist noch nicht ausreichend; denn auch wenn der Philosoph die Anord-nung der Fragen ausklammern darf, steht sein quasi-dialektisches Tun unterdem Vorzeichen, dass es niemanden gibt, der die einzelnen Fragen beant-wortet und der die anzugreifende Position vorgibt. Daher muss (3.b) im ein-samen Gebrauch der Dialektik ein Ersatz fr die Rolle des Kontrahentengefunden werden. Ein solcher lsst sich dadurch finden, dass sich der Philo-soph gegnerische Positionen vorstellt, die er widerlegen muss, oder vonGegnern dargebotene Aporien, die er dadurch auflsen muss, dass er den zurAporie fhrenden Schluss analysiert und dabei die zugestandenen Prmissennochmals berprft und danach ggf. differenziert oder zurckweist. Ein sol-ches Vorgehen beschreibt Aristoteles selbst in Cael. II 13:

    Dies haben wir nmlich alle als Gewohnheit, dass man eine Untersuchungnicht mit Blick auf die Sache, sondern mit Blick auf denjenigen fhrt, derdas Gegenteil behauptet. Denn auch der fr sich selbst Forschende suchtsolange, bis er gegen sich selbst keinen Einwand mehr machen kann."51

    Hiergegen liee sich immer noch einwenden, dass bei der einsamen Untersu-chung zwar eine gegnerische Position zum Vorbild dient, es aber unklarbleibe, wodurch die einzelnen Prmissen als angenommen oder abgelehnt zugelten haben. Jedoch lsst sich auch dafr ein Ersatz bei der einsamen Ver-wendung der Dialektik finden. Erstens nmlich impliziert eine gegnerischePosition oft nicht nur eine einzige These, sondern schliet eine Anzahl vonPrmissen mit ein, die der imaginierte Gegner ebenfalls zugestehen msste.Zweitens darf auch in der dialogischen Verwendung der Dialektik der Ant-

    50 Primavesi (1996, 36). Das Nebeneinander von dialogischer und nicht-dialogischer Verwen-dung findet sich auch beim apodeiktischen syllogismos (dieser wird z. B. in Soph. el. 2 unmiss-verstndlich unter den dialogischen Verwendungen im Sinne eines Lehrgesprchs aufgefhrt),so dass man auch fr monologische Verwendungen des dialektischen syllogismos nicht mehrals ein solches Nebeneinander unterschiedlicher Anwendungen in Anspruch nehmen muss.Fr den apodeiktischen syllogismos rumt auch Primavesi (1996, 64 f.) dies ausdrcklich ein,jedoch nicht fr den dialektischen syllogismos.

    51 Cael. II 13, 294b7-10. Vgl. auch EE I 3, 1215a5-7: Diese Meinungen zu prfen ist also eineangebrachte Aufgabe; die Widerlegung der Opponenten stellt nmlich einen Beweis fr dieihnen entgegengesetzten Argumente dar."

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 1. Dialektik 247

    wortende nur anerkannte Meinungen als Prmissen einrumen. Daher kannder einsam verfahrende Philosoph jeweils diejenigen Prmissen als einge-rumt behandeln, die von der jeweils einschlgigen Adressatengruppe aner-kannt sind (wenn sich keine positionsspezifischen Antworten nahe legen).Schlielich legt sich auch der einsam verfahrende Forscher die Prmissen in-sofern als Frage vor, als er keine dieser Prmissen wie ein wissenschaftlichesPrinzip behandelt, sondern nur um des Argumentes willen angenommenwird; d.h. mit der Annahme der Prmissen ist keine Festlegung oder Be-hauptung des entsprechenden Satzes verbunden.Mit diesem Rahmen ist die Mglichkeit gegeben, eine (monologisch) phi-

    losophische Anwendung der Dialektik zu beschreiben, ohne zu leugnen,dass Aristotelische Dialektik primr fr das bungsgesprch und somit freinen dialogischen Kontext konzipiert ist. Die nicht-dialogische Verwen-dung der Dialektik nutzt nur die relevanten Teile der ursprnglich dialogi-schen Dialektik und gebraucht Ersatzmomente fr bestimmte andere Gege-benheiten der dialogischen Verwendung. Daher brauchen die nicht-dialogi-schen Verwendungsweisen der Dialektik nicht zum entfernten Verwandtendes in der Topik beschriebenen Verfahrens (durchaus ... eine gewisse Ent-sprechung") depotenziert zu werden. Eine ganz andere, davon unabhngigeFrage ist die, ob durch das Zugestndnis von nicht-dialogischen Verwen-dungsweisen der Dialektik innerhalb der Philosophie die Dialektik zur hin-reichenden oder einzigen Methode der Philosophie erhoben wird.52Definitorische Merkmale der Dialektik bei Aristoteles: Bedenkt man nun

    die gerade gemachten Einschrnkungen hinsichtlich der dialogischen Naturder Dialektik, dann ist es durchaus richtig, dass Dialektik bei Aristotelesdurch die Verwendung anerkannter Meinungen ('vo^a) definiert ist. Schonder erste Satz der Topik nennt das Deduzieren aus solchen Prmissen als Zielder Abhandlung:

    Die Zielsetzung der Abhandlung ist, ein Verfahren zu finden, durch daswir in der Lage sein werden, ber jedes vorgelegte Problem aus anerkanntenMeinungen zu deduzieren, und, wenn wir selbst ein Argument vertreten,nichts Widersprchliches zu sagen."53

    Auch dieser Satz enthlt durch die Rollenverteilung von Angreifendem (demhiernach die Aufgabe des Deduzierens zufllt) und Verteidiger einen Hin-weis auf die Frage-Antwort-Situation. Auerdem wird hier durch die For-mulierung ber jedes vorgelegte Problem" die Universalitt oder themati-sche Uneingeschrnktheit der Dialektik angedeutet. Das Deduzieren aus

    52 Vgl. dazu unten, Abs. e).53 Top. I 1, 100al8-21.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 248 V. Die Konzeption einer dialektischen Rhetorikanerkannten Meinungen kehrt auch wenige Zeilen spter, jetzt offensichtlichals differentia specifica der Dialektik, wieder:

    Ein Beweis liegt dann vor, wenn die Deduktion54 aus wahren und ersten(Stzen) gebildet wird, oder aus solchen, deren Kenntnis ursprnglich aufbestimmte wahre und erste (Stze) zurckgeht. Dialektisch ist dagegen dieDeduktion, die aus anerkannten Meinungen55 deduziert."56

    In der Gegenberstellung zu den Deduktionen im Bereich der Wissenschaft(jtoEi^i)57 wird hier deutlich, dass es der Typ der Prmissen ist, der denUnterschied zwischen dialektischen und wissenschaftlichen Schlssen undsomit auch zwischen Dialektik und Wissenschaft im Allgemeinen bedingt.Dieser Unterschied lsst sich durch die Kennzeichnungen als ,wahr, erste,notwendig' usw.58 einerseits und als ,anerkannt bei' entweder allen oder denmeisten oder den Kompetentesten59 beschreiben. Wenn es in An.post. I 2 vonden wissenschaftlichen Prmissen auerdem heit, sie seien im Verhltniszur Konklusion vorrangig, bekannter und urschlich,60 dann schliet diesnicht aus, dass auch dialektische Prmissen diese Merkmale aufweisen kn-nen,61 jedoch stehen die wissenschaftlichen Prmissen als wahre und not-wendige Ursachen fr die zu erklrende Konklusion fest, whrend dialekti-sche Prmissen diese Eigenschaften hchstens der Meinung nach aufweisen.Obwohl es auch in der Dialektik induktive Schlsse gibt, nennt Aristote-

    les bei den beiden zitierten Definitionen nur die Deduktion; das drfte zweiGrnde haben: Bei anerkannten Stzen scheint Aristoteles eher an allge-meine, begrndende Stze zu denken, die, wenn sie als wahre, erste usw.Stze erwiesen werden knnten, von der Form her auch als wissenschaftlichePrinzipien geeignet wren, whrend die Induktionen Stze ber Einzelnesals Prmissen haben, die sich eher auf Beobachtungen sttzen knnen undweniger mit dem Merkmal des Anerkannt-Seins in Verbindung gebrachtwerden. Zweitens scheint den induktiven Stzen in der Topik an einigen Stel-len nur eine untersttzende Funktion zuzukommen, insofern sie Prmisseneinfhren sollen, die dann in jener Hauptdeduktion (im Unterschied zu Vor-deduktionen, die ebenfalls nur fr die Hauptdeduktion bentigte Prmissen

    54 Zum Begriff Deduktion (ovlXoyioyioc,)" vgl. im Kommentar die Anm. (2.) zu 1355a3-20.55 Zur bersetzung anerkannte Meinungen" fr vo^a" vgl. im Kommentar die Anm. zu

    1355al7. Zur philosophischen Bedeutung derselben bei Aristoteles vgl. im Kommentar die3. Vorbemerkung zu Kap I 4-14.

    56 Top. I 1, 100a25-30.57 Vgl. dazu die Anm. (1) zu 1355a3-20.58 Zu weiteren Merkmalen der wissenschaftlichen Prmissen vgl. im Kommentar die Anm. (1.)

    zu 1355a3-20.59 Vgl. Top. 100a21-23, 104a8-ll, 105a34-37.60 Vgl. An. post. I 2, 71b20-25.61 Vgl. die Anm. zu 1394a31 f.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 1. Dialektik 249

    einfhren sollen) genutzt werden, die unmittelbar die Widerlegung des geg-nerischen Standpunkts zum Ziel hat.

    Diese Gegenberstellung von wissenschaftlichen und dialektischen De-duktionen anhand des Kriteriums der wahren und der nur anerkannten Pr-missen wird an anderen Stellen wiederholt;62 manchmal wird diese Gegen-berstellung verkrzt auf die Beschreibung, dass die Dialektik etwas derMeinung nach behandle, was die Wissenschaft der Wahrheit nach behandelt,so etwa in Top. 1 14:

    Fr die Philosophie mssen sie mit Hinblick auf die Wahrheit (xx'Xf|f>eiav) behandelt werden, auf dialektische Weise aber mit Hinblick aufdie Meinung (jxqc, o^av)."63

    In der zitierten Version scheint die Gegenberstellung von Meinung undWahrheit zustzlich den Aspekt nahe zu legen, dass die Dialektik als solchegar nicht selbst den bergang zur wahrheitsbezogenen Behandlung dersel-ben Dinge vollziehen kann.64 Dies mag auch der Grund sein, warum Aristo-teles in Met. IV 2 schreibt:

    Die Dialektik ist hinsichtlich derselben Dinge erprobend (jteigaoxixrj),hinsichtlich der die Philosophie erkennend (Yvcootaxixfj) ist."65

    Der blichen Gegenberstellung von wahren und anerkannten Prmissengibt eine Stelle aus An. pr. eine etwas andere Wendung:

    Die in einem Beweis gebrauchte Prmisse unterscheidet sich von einer dia-lektischen Prmisse auf folgende Weise: Die in einem Beweis gebrauchtePrmisse ist die Festlegung auf ein Glied eines kontradiktorischen Gegen-satzes (denn wer einen Beweis fhrt, stellt nicht Fragen, sondern legt sichauf etwas fest). Die dialektische Prmisse ist eine Frage bezogen auf einenkontradiktorischen Gegensatz."66

    Wenn hier die dialektische Prmisse als Frage beschrieben wird, ist der Hin-tergrund erneut der oben diskutierte Gesprchscharakter der Dialektik, je-doch wird gerade auch hier deutlich, dass die dialektische Prmisse nicht nurinsofern eine Frage ist, als sie einem realen Gesprchspartner vorgelegt wer-den muss, sondern auch, insofern die Dialektik eine Festlegung auf denWahrheitsgehalt der betreffenden Prmisse vermeidet und sie benutzt, ohnesie zu behaupten. Davon (sowie von der oben genannten Universalitt)

    62 Vgl. z.B. Soph. el. 165bl-4.63 Top. 114, 105b30f.64 Selbst "wenn sie mit Blick auf diese auf unterschiedliche Weise ntzlich sein kann: vgl. unten,

    Abs. e).65 Met. IV 2, 1004b25f.66 An. pr. 24a22-25; bersetzung nach Ebert.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 250 V. Die Konzeption einer dialektischen Rhetorik

    hngt ein weiteres Merkmal der Dialektik ab, nmlich dass sie zugleich nachbeiden Seiten eines kontradiktorischen Gegensatzes hin argumentierenkann.67 Die beiden Merkmale werden ausdrcklich verknpft in An. post. I11:

    Die Dialektik aber ist nicht in dieser Weise auf bestimmte Dinge gerichtetund auch nicht auf irgendeine einzige Gattung. Denn dann wrde sie keineFragen stellen

    -

    wer nmlich demonstriert, kann nicht Fragen stellen, weil,wenn Gegenstzliches der Fall ist, nicht dasselbe bewiesen wird."68

    Weil der Dialektiker gattungsbergreifend ttig ist und nicht alle Dinge indieselbe Gattung fallen, kann der Dialektiker als solcher auch keine Beweisein irgendeiner Disziplin geben, weil diese gattungsspezifische Prinzipienvoraussetzen.69 Daher knnen, wie es in Rhet. I 2 heit,70 die allgemeinenTopen der Dialektik in keiner einzelnen Gattung jemanden kundig machenbzw. belehren.

    -

    An einer Stelle scheint es nun, dass Aristoteles doch nochAbstriche an der Universalitt der Dialektik machen und dieser bestimmteGegenstnde zuweisen mchte. In Met. III 1 bemerkt er nmlich:

    Auerdem muss man noch hinsichtlich des Identischen und des Verschie-denen, des hnlichen und Unhnlichen, und des Entgegengesetzten sowiehinsichtlich des Frher und Spter und allen anderen derartigen Dingen,ber die die Dialektiker Prfungen allein aufgrund von anerkannten Mei-nungen anzustellen versuchen, untersuchen, zu welcher Wissenschaft dieBetrachtung von alledem gehrt."71

    Betrachtet man aber die vielfltigen, aus dem Bereich der Ethik, der Physik,der Kosmologie usw. stammenden Fragen, die in der Topik als Beispiele dia-lektischer Untersuchungen genannt werden,72 dann hat diese vermeintlicheEinschrnkung auf Begriffe wie .identisch/verschieden', .hnlich/unhnlich',.entgegengesetzt', .frher/spter' keinerlei Echo in der Topik. Man msstehier also von einer gegenber der Topik vernderten Konzeption der Dialek-tik ausgehen

    -

    wenn sich nicht auch zwei andere plausible Erklrungen an-bieten wrden: Erstens nmlich knnte gemeint sein, dass es sich hierbei umBegriffe handelt, mit denen man sich vorzglich in der Dialektik befasst,weil sie keiner Fachwissenschaft zuzuordnen sind. Zweitens sind Identitt,hnlichkeit, Gegensatz usw. genau diejenigen Gesichtspunkte, mit denendie Topen der Topik arbeiten. Identitt, hnlichkeit, Gegensatz usw. wren

    67 Vgl. dazu unten, Abs. 2, darin: zu Alexander (iv.)".68 An. post. Ill, 77a31-35; bersetzung: Detel.69 Vgl. Soph. el. 172al3-15.70 Vgl. Rhet. 12, 1358a21f.71 Met. mi,995b20-25,72 Vgl. dazu During (1968).

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 1. Dialektik 251

    demnach nicht das Thema der Dialektik, sondern gehrten zu ihrem Instru-mentarium. Dagegen scheint prima facie der Wortlaut der vorliegendenStelle zu sprechen, denn es heit, das Identische, hnliche usw. werde ge-prft, so als sei es nicht Instrument, sondern Gegenstand der Prfung. DieseArt von Bedenken lsst sich aber ausrumen: Gemeint sein kann auch, dassdas Identische, hnliche, Entgegengesetzte geprft wird, insofern man dieunterschiedlichen Gegenstnde aus den verschiedenen Gattungen daraufhinprft, ob sie identisch, hnlich, entgegengesetzt usw. sind (im Unterschiedzur Betrachtung (frEOJoqaai)" dieser Gegenstnde, die nach der vorliegen-den Stelle Sache einer Wissenschaft sein soll). Diese Beschreibung aberwrde exakt zu einem Verfahren passen, bei dem die unterschiedlichstenStze aufgrund von Topen diskutiert werden, die jeweils Verhltnisse wie dieIdentitt, den Gegensatz oder das Frher/Spter nutzbar machen.

    e) Der Nutzen der Dialektik nach Topik I 2Auch wenn das wesentliche Ziel der Dialektik dadurch hinreichend be-stimmt ist, dass sie fr Deduktionen aus anerkannten Meinungen zu beliebi-gen Problemen anleitet, ist damit noch offen, welchen Nutzen eine solcheAnleitung hat. Der Nutzen einer Disziplin ist von der ihr wesentlichen Leis-tung (dem eqyov) unterschieden und ist im Vergleich dazu eher uerlich;73so wre das Pressen von Bltenblttern durchaus als Nutzen der DeutschenAristoteles-Ausgabe anzuerkennen, obwohl man darin nicht ihre wesentli-che Aufgabe sehen wird. Fr die Dialektik bzw. die Abhandlung derselbenin der Topik nennt Aristoteles drei Nutzen,74 die zugleich unterschiedlicheAnwendungsbereiche der Dialektik beschreiben:... sie ist ntzlich fr drei Dinge: (i.) fr die bung, (ii.) fr die Begegnun-gen mit der Menge, (iii.) fr die philosophischen Wissenschaften."75Der erste Nutzen ist die bung (YULivaoia). Worin dieser Nutzen der

    dialektischen Methode besteht, sei selbstverstndlich: Denn wenn wir berein Verfahren verfgen, werden wir leichter angreifen knnen, was man unsvorlegt."76 Das Angreifen (mxEiQEv) beliebiger Thesen (aufgrund vonanerkannten Meinungen) ist aber gerade die wesentliche Aktivitt des Dia-lektikers. Somit scheint gemeint zu sein, dass die Unterweisung in der dia-73 Vgl. dazu im Kommentar die Anm. (2.) zu 1355a20-b7.74 Genau genommen ist, wie Primavesi (1996, 49, Fun. 77) betont, vom Nutzen der Schrift To-pik die Rede, was aber dann nichts austrgt, wenn die Topik als die magebliche theoretischeEntfaltung der Dialektik angesehen wird.

    75 Top. 12, 101a26-28.76 Top. 12, 101a29f.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 252 V. Die Konzeption einer dialektischen Rhetoriklektischen Methode die Fhigkeiten im dialektischen Streitgesprch verbes-sert. Besteht nun der Nutzen in der bung fr dieses Streitgesprch oder istdas Streitgesprch eine bung fr etwas anderes? Einen eindeutigen Bezugvermeidet Aristoteles, indem er mit der Formulierung werden leichter an-greifen knnen" nicht ausschlielich auf das Streitgesprch, das selbst gym-nastischen Charakter hat, Bezug nimmt, sondern auf eine Fhigkeit, die berdas gymnastische Gesprch hinaus verweist: Indem man seine Befhigungzum gymnastischen Streitgesprch durch die Aneignung einer Methode unddurch die Ausbung derselben verbessert, verbessert man seine Fhigkeit,beliebige Thesen anzugreifen, und dass dies von vielfltigem Nutzen ist,wird als evident angesehen.

    Gymnastische Streitgesprche sind das Training des Philosophen, sie ver-halten sich zur Philosophie selbst wie das Schlagen auf einen Ball zum rich-tigen Boxkampf. Ein direkter Bezug zur Philosophie ist daher mit dem ers-ten Nutzen nicht gegeben. Auch der zweite Nutzen, den Aristoteles als Be-gegnung mit der Menge (evxeu^l)"77 beschreibt, hat mit der Philosophiehchstens insofern etwas zu tun, als er der Implementierung philosophischerErkenntnisse zutrglich ist:

    (ii.) Fr die Begegnung (ist sie ntzlich), denn, nachdem wir die Meinun-gen der Menge gesichtet haben, werden wir uns mit ihnen nicht aufgrund(fr sie) fremder, sondern aufgrund ihrer eigenen Meinungen auseinander-setzen, und dabei das zurechtrcken, was sie uns nicht richtig zu sagenscheint".78

    Bei dieser so genannten Begegnung mit der Menge ist kein eigentlich dialek-tisches Streitgesprch aufgrund der in der Topik explizierten Spielregelnmglich, daher handelt es sich hierbei um eine abgeleitete Verwendung derdialektischen Methode. Dem Dialektiker kommt vor allem seine Fhigkeitzugute, aufgrund fremder Meinungen Unterredungen zu fhren.79 Mit Blickauf die Philosophie ist daher allenfalls der dritte Nutzen relevant:

    (iii.) Fr die philosophischen Wissenschaften aber (ist die Dialektik ntz-lich), denn, wenn wir zu beiden Seiten hin Schwierigkeiten durchgehenknnen, werden wir leichter an jedem sowohl das Wahre als auch das Fal-sche erblicken."80

    77 Vgl. zu diesem Begriff im Kommentar die Anm. zu 1355a28f.78 Top. I 2, 101a30-34.79 Richtig ist daher, wenn Primavesi (1996, 50) sagt, dieser Nutzen beruhe nur auf einem Teil-

    aspekt der Dialektik, daraus folgt jedoch nicht, dass nur die Sammlung der weithin akzep-tierten Stze (Endoxa)" (a.a.O., 51) zu diesem Nutzen beitrage, denn aus diesen Meinungenmssen natrlich auch richtige Schlsse gezogen werden knnen.

    80 Top. I 2, 101a34-36.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 1. Dialektik 253

    Nur der Dialektiker kann beide Seiten einer zu behandelnden Frage glei-chermaen einer kritischen Diskussion unterziehen; das ist fr den Philoso-phen zweifellos von grtem Nutzen. Aber auch hier sagt Aristoteles kei-neswegs, dass Philosophie in der Anwendung der Dialektik bestnde; dieBeherrschung der Dialektik erleichtert lediglich die spezifische Ttigkeit desPhilosophen. Wer auf eine unmittelbar philosophische Bedeutung der Dia-lektik hofft,81 dem bleibt daher nur die Berufung auf den vierten Nutzen.82Dieser verdient jedoch schon deswegen ein gewisses Ma an Misstrauen,weil es sich um den vierten von nur drei angekndigten Nutzen handelt.Aber auch wenn man von solchen grundlegenden Bedenken Abstandnimmt, liefert der vierte Nutzen nicht das, was sich die oben erwhntenFreunde der Dialektik von ihm erhoffen:

    (iv.) Ferner ist (die Dialektik) aber im Zusammenhang mit den ersten St-zen einer jeden Wissenschaft ntzlich: Denn es ist unmglich, ausgehendvon den eigenen Prinzipien einer vorliegenden Wissenschaft irgendetwasber diese Prinzipien zu sagen, da die Prinzipien gegenber allen anderenStzen erste Stze sind; es ist dagegen notwendig, sie mit Hilfe der ber siebestehenden anerkannten Meinungen zu untersuchen (ieWtev). Dies aberist das Eigentmliche oder in hchstem Mae Eigene der Dialektik: Da sieein Prfungsverfahren mit Blick auf die Prinzipien aller Disziplinen ist, er-ffnet sie einen Weg."83

    Hier wird der auch sonst bekannte Umstand betont, dass apodeiktischeWis-senschaften nicht ihre eigenen Prinzipien apodeiktisch beweisen knnen.84Deswegen hat die Dialektik mit Blick auf solche Prinzipien einen gewissenNutzen. Soweit so gut. Ntzlich ist die Dialektik aber auch schon dann,wenn sie zur Sichtung, Selektion oder Vorauswahl geeigneter Prinzipienkan-didaten beitrgt. Mehr ist genau genommen nicht gesagt. Insbesondere ist

    81 Wie etwa Nussbaum (1986, Kap. 8) und Irwin (1988). Zur philosophischen Auseinanderset-zung mit diesen Positionen vgl. im Kommentar die 3. Vorbemerkung zu Kap. I 414. FrRossitto (1987, 113) erscheint die Gleichsetzung der Dialektik mit der Methode der Philoso-phie bei Aristoteles als eine ausgemachte Sache: ehe la dialettica

    ...

    costituisca il .mtodo'vero e proprio dlia filosofa aristotlica."

    82 Natrlich wre es berechtigt, hier gar nicht von einem .vierten' Nutzen, sondern von einemweiteren Aspekt innerhalb des dritten Nutzens zu sprechen. Gegenber Interpreten die dasNachfolgende allzu sehr als den Mittel- und Zielpunkt des Kapitels behandeln, verdient aberimmerhin der Umstand Beachtung, dass dieser vierte Nutzen am Anfang des Kapitels nichteigens angekndigt wurde.

    83 Top. 12, 101a36-b4.84 Dieses Problem traktiert Aristoteles eingehend in An. post. I 3, eine Lsung des Problemsstellt er zu Beginn von An. post. II19 in Aussicht: Dass es nicht mglich ist, durch Beweis zuwissen, ohne Kenntnis zu besitzen von den ursprnglichen, unvermittelten Prinzipien, istfrher gesagt worden ..." Es scheint an dieser Stelle daher eher an die Prinzipien der Einzel-wissenschaften als an jene hchsten Prinzipien, die nach Met. I 2 Gegenstand der Ersten Phi-losophie sind, gedacht zu sein.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 254 V. Die Konzeption einer dialektischen Rhetoriknicht die Rede davon, dass die Dialektik zur Etablierung von Prinzipiendient. Erst recht dann nicht, wenn man die traditionelle bersetzung desSchlusssatzes, die Dialektik enthalte einen Weg zu den Prinzipien, ersetztdurch die bersetzung, die Dialektik sei nur prfend mit Blick auf die Prin-zipien.85 Dies wiederum entsprche der schon zitierten Bemerkung aus Met.IV 2, wo es heit, die Dialektik sei hinsichtlich derselben Dinge erprobend(jtELQaoxixq), hinsichtlich der die Philosophie erkennend (Yvoogiaxixq)sei.86 Es heit nmlich auch hier in der Topik, weder, dass die Dialektik daseinzige Verfahren zur Etablierung von Prinzipien sei,87 noch, dass die Dia-lektik selbst diese Prinzipien als Prinzipien etablieren wrde. Gegen die ersteMglichkeit

    -

    Dialektik als einziges Verfahren der Prinzipienfindung-

    spr-che schon der Umstand, dass Aristoteles an der einzigen Stelle, die sich ex-plizit dieser Frage zuwendet,88 die Dialektik gar nicht erwhnt, sondern viel-mehr ein empirisch-induktives Verfahren beschreibt. Gegen die zweite Mg-lichkeit

    -

    die dialektische Etablierung von Prinzipien-

    spricht, dass dasunter dem Titel der Dialektik beschriebene Verfahren nur fr die Konsistenzoder Inkonsistenz von Satzmengen zustndig ist, was fr diese Aufgabe imAristotelischen Wissenschaftsverstndnis sicher nicht gengt. Auerdemmuss ein wissenschaftliches Prinzip nach kausalen und explanatorischen85 Dieser Schlusssatz lautet im Griechischen: e|exaaxixri y> ovaa jiq x jiaarv xjv

    u.v>owv Qx v xeu" Die bliche bersetzung bezieht nun jiq x...

    Qx"auf v" : gemeint wre also ein Weg zu den Prinzipien; das ist zwar auch noch mehrdeutig,denn es bliebe offen, ob der Weg .bis hin zu den Prinzipien' reicht oder nur in .Richtung zuden Prinzipien' fhrt, aber immerhin wre die erste, strkere Lesart dann nicht ausgeschlos-sen (obwohl man dafr wohl eher die Prposition EJii, erwarten wrde). Man kann nun jedochauch, wie Smith (1993, 353) und (1997, 54 f.) vorschlgt JlQ x

    ...

    Qx" auf ^exaox-Lxr| yQ otioa" beziehen, was durch die Stellung nher liegt, was vor allem aber die ausste-hende Ergnzung liefert, mit Blick worauf die Dialektik prfend ist. Dann aber geben diePrinzipien nur noch das Ziel oder die allgemeine Richtung der dialektischen Prfung an, da-von dass die Dialektik diese finden oder gar etablieren wrde, ist sicher nicht die Rede.

    w Vgl. Met. IV 2, 1004b25f.87 Eine solche Auffassung wiederum, die der Dialektik die Fhigkeit zuschreibt, selbst Prinzi-pien zu etablieren, wrde nur schwer mit uerungen wie denen zurechtkommen, dass einebestimmte Untersuchung nur dialektisch und daher leer sei (vgl. De An. I 1, 403a2). Einenmethodischen Pluralismus fr den Umgang mit wissenschaftlichen Prinzipien beschreibt Ari-stoteles in EN I, 1098b3f.: Von den Prinzipien betrachtet man die einen durch Induktion(xay(t>yr\), die anderen durch Wahrnehmung, wieder andere durch eine Art von Gewh-nung, und wieder andere auf nochmals andere Weise."

    88 Nmlich in An.post. II19,100al5-b5: Wenn nmlich eines der undifferenzierten Dinge zumStehen kommt, so gibt es ein ursprngliches Allgemeines in der Seele

    -

    in der Tat nmlichwird zwar das Einzelne wahrgenommen, aber die Wahrnehmung richtet sich auf das Allge-meine, wie etwa auf Mensch, jedoch nicht auf Kallias den Menschen -, und wiederum in die-sen Dingen kommt es zum Stehen, bis die Dinge ohne Teile zum Stehen kommen und die all-gemeinen Dinge

    -

    wie etwa ein solches Tier, bis Tier, und in diesen ebenso. Es ist also klar,dass uns die ursprnglichen Dinge notwendig durch Induktion bekannt werden; in der Tatnmlich bringt die Wahrnehmung auf diese Weise darin das Allgemeine zustande." (berset-zung: Detel)

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 2. Das begriffliche Inventar der Dialektik 255Kriterien, also danach, ob es den betreffenden Sachverhalt auch wirklich er-klrt, beurteilt werden, und dies kann nicht innerhalb der dialektischenKonsistenzprfung geklrt werden. Schlielich fragt man sich, wie ber-haupt ein Verfahren prinzipienetablierend sein knnte, das ausdrcklichimmer von anerkannten Meinungen abhngig ist, whrend das Anerkannt-Sein als solches immer adressatenrelativ ist89 und sich die Meinungen ver-schiedener Adressaten nicht nur manchmal, sondern sogar in der Regel wi-dersprechen.90

    Dass Dialektik mit Blick auf die Philosophie und Wissenschaft von einemgewissen Nutzen ist, drfte daraus klar geworden sein; ebenso klar jedochist, dass dieser Nutzen nicht von so unmittelbarer Art ist, dass die Dialektikselbst die hchsten Prinzipien der Philosophie oder die spezifischen Prinzi-pien der einzelnen Wissenschaften etablieren wrde.91 Eine einfache Gleich-setzung von Dialektik und philosophischer Methode, wie sie sich bei Piatonals einheitlicher Hintergrund fr die verschiedenen dialektischen Teilmetho-den gezeigt hatte, kommt somit fr den vernderten Dialektikbegriff beiAristoteles nicht so ohne weiteres in Frage.

    2. Das begriffliche Inventar der DialektikTypisch fr die Aristotelische Dialektik ist die Verwendung eines bestimm-ten technisch-begrifflichen Inventars. An der Wiederkehr dieses begriffli-chen Instrumentariums in der Rhetorik ist auch abzulesen, wie weit die Dia-lektik die Aristotelische Konzeption der Rhetorik bestimmt. Die wichtigs-ten Grundbegriffe der Aristotelischen Dialektik sind die a) des syllogismos,b) der Prmisse (protasis), c) der anerkannten Meinungen (endoxa), d) desTopos, e) der Prdikabilien, und f) der so genannten Werkzeuge (organa).

    a) syllogismosUnter einem syllogismos versteht Aristoteles allgemein ein deduktives Pr-missen-Konklusions-Argument.92 Mit einem dialektischen syllogismos kann

    89 Vgl. unten, Abs. 2f) sowie in der Rhet. I 2, 1356b32-34 und II 22, 1395b31-1396al.90 Vgl. II 25,1402a33f.: Sie sind nmlich Deduktionen aus dem Anerkannten; viele Meinungen

    aber verhalten sich entgegengesetzt zueinander."91 Fr eine detailliertere Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Beitrag die Dialektik fr

    die Philosophie bei Aristoteles leistet, vgl. die 3. Vorbemerkung zu Kap. I 4-14.92 Vgl. Top. I 1, 100a25-27: Eine Deduktion ist also ein Argument, in dem sich, wenn etwas ge-

    setzt wurde, etwas anderes als das Gesetzte mit Notwendigkeit aufgrund des Gesetzten er-

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 256 V. Die Konzeption einer dialektischen Rhetorikder Gegner eines Streitgesprchs dann, wenn er bestimmte Prmissen aner-kannt hat, dazu .gezwungen' werden, auch die Konklusion anzuerkennen. DieRestriktionen desjenigen syllogismos, der nach der Theorie der Syllogistik ineine der drei Figuren gebrachtwerden kann (also die Verwendung bestimmterStze, die Anzahl der Prmissen usw.), spielen in der Topik und somit in dereinzigen ausgearbeiteten Theorie der Aristotelischen Dialektik (noch) keineRolle.93 Dem syllogismos als dem deduktiven Schlusstyp wird fters die In-duktion zur Seite gestellt,94 die der Bedeutung des deduktiven Argumenttypsschon deshalb untergeordnet bleibt, weil sie meistens dann zum Einsatzkommt, wenn sie Prmissen fr deduktive Argumente einfhren soll.

    b) protasisDer Begriff der Prmisse im logischen Sinn wird schon mit der Definitiondes syllogismos eingefhrt: Sie ist das, was vorausgesetzt werden muss95,damit etwas anderes folgt. Den fr die Prmisse in diesem Kontext geprgtenAusdruck ,JXQxaoic' darf man durchaus im anschaulichen Sinn verstehenals das, was man dem Gegner zur Bejahung oder Verneinung hinstreckt (vonjxqoxevc). Weil die Dialektik ihren ursprnglichen Platz im Streitgesprchhat,96 wird die dialektische protasis als eine Frage bestimmt, auf die man mit,ja' oder ,nein' antworten kann.97 Zur eigentlichen Prmisse eines Schlusseskann daher genau genommen nur die beantwortete protasis, also die vorge-legte Frage zusammen mit der positiven oder negativen Antwort dienen.98Die als Fragen vorgebrachten Prmissen haben daher immer die Form einer

    gibt." Zur Erluterung dieser Definition vgl. im Kommentar die Anm. (2.) zu 1355a3-20 unddie Anm. (2.) zu 1356bl0-26.

    93 Vgl. zum Begriff des syllogismos und zum Verhltnis des dialektischen syllogismos zur Theo-rie der Syllogistik im Kommentar die Anm. (2.) zu 1355a3-20 sowie die 3. Nachbemerkungzu Kap. I 2.

    94 Vgl. Top. I 12. Zum Aristotelischen Begriff der Induktion vgl. im Kommentar die Anm. (2.)zu 1356a35-bl0.

    95 Vgl. Top. I 1, 100a25: xefrvTcov xivurv".96 Vgl. dazu oben, Abs. Id).97 Vgl. Top. VIII 2, 158al5-17. Vgl. auch De Int. 11, 20b22f.: Wenn eine dialektische Frage

    dazu auffordert, sie entweder mit dem Satz zu beantworten, in dessen Gestalt sie vorgelegtwird, oder mit dem anderen Glied der Kontradiktion ..." (bersetzung: Weidemann)

    98 Wenn Aristoteles in Top. I 10, 104a8f. die dialektische protasis beschreibt als eine Frage, dieanerkannt ist (oxi Jtpoxaai taXexxtJcf] eorxriaic, voo^o ...), dann kann damit klarer-weise weder gemeint sein, dass die Frage als solche anerkannt wre, noch, dass beide mgli-chen Antworten anerkannt sind. Um eine dialektische Frage daher als anerkannt ansehen zuknnen, muss die Auffassung zugrunde liegen, dass die Frage dem Antwortenden mit der Er-wartung einer bestimmten Antwort vorgelegt wird. Der Fragecharakter der dialektischenprotasis beinhaltet daher keineswegs, dass der Ausgang offen wre, sondern nur, dass eine be-stimmte Position vom Gegner besttigt werden muss.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 2. Das begriffliche Inventar der Dialektik 257

    Satzfrage des Typs: Ist Lebewesen die Gattung des Menschen?"99 Eine dia-lektische protasis kann man zum dialektischen Problem umformen, indemman eine Entscheidungsfrage daraus formuliert, wie Ist Lebewesen dieGattung des Menschen oder nicht?".100 In manchen Kontexten meint derAusdruck ,protasis' aber einfach einen Satz oder eine Behauptung, ohne dassdiese selbst als Prmisse in Gebrauch sein mussten.101

    c) endoxaWie oben gezeigt, wird die Besonderheit der dialektischen Schlsse an einemMerkmal ihrer Prmissen festgemacht, nmlich dass diese (nur) anerkannteMeinungen ('vo^a)102 und keine wissenschaftlichen Prinzipien darstellen.Das Anerkannt-Sein definiert Aristoteles wie folgt:

    Anerkannte Meinungen dagegen sind diejenigen, die entweder von allenoder den meisten oder den Weisen und von diesen entweder von allen oderden meisten oder den bekanntesten und anerkanntesten fr richtig gehaltenwerden."103Ein dialektischer Satz ist dagegen eine Frage, die (als Satz)anerkannt ist, entweder bei allen oder den meisten oder den Weisen, undvon diesen entweder bei allen oder den meisten oder den bekanntesten, so-fern sie nicht im Widerspruch zur herrschenden Meinung steht."104

    Eine oft unterstellte Interpretation dieser Textstellen betrachtet einen Satzdann als anerkannt, wenn er bei allen anerkannt ist oder bei den meistenanerkannt ist oder bei den Weisen anerkannt ist usw., so dass die Menge deranerkannten Stze fast unberschaubar gro wird. Nur Stze, die von nie-mandem, nur von einer Minderheit oder nur von nicht-weisen Einzelnenanerkannt sind, wren demnach von der Menge der voc]a ausgeschlossen.Eine solche Auffassung schleicht sich leicht ein, wenn man die 'vo^a auf-grund der genannten Bestimmungen als common beliefs"105 wiedergibt.Tatschlich will die Bestimmung der EVoa darauf aufmerksam machen,dass es verschiedene Klassen anerkannter Stze gibt,106 nmlich (i.) Stze, diebei allen anerkannt sind, (ii.) Stze, die von den meisten anerkannt sind, (iii.)

    99 Top. 14, 101b31.i Vgl. Hagdopoulos (1976b).101 Vgl. den Artikel protasis in Horn/Rapp (2002).102 Zur bersetzung dieses Begriffs vgl. im Kommentar die Anm. zu 1355al7.103 Top. I 1,100b 21-23.104 Top. I 10, 104a8-ll.105 Vgl. etwa Irwin (1988, 36).106 Vgl. zu dieser Interpretation der vo^a Smith (1993, 343-347) und (1997, xxiii).

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 258 V. Die Konzeption einer dialektischen RhetorikStze, die von den Weisen anerkannt sind, usw. Dies wird aus der folgendenModifikation der genannten Bestimmungen deutlich:

    Die Stze sind auf so viele Weisen auszuwhlen, wie (im Abschnitt) berden Satz unterschieden wurden: indem man sich entweder die Meinungenaller vornimmt oder die der meisten oder die der Weisen und von diesenwiederum entweder die Meinungen aller oder der meisten oder der bekann-testen ..."107

    Hier ist von verschiedenen Sammlungen oder Listen von anerkannten Mei-nungen die Rede; diese Listen unterscheiden zwischen den Stzen, die beiallen anerkannt sind und solchen, die nur von den Weisen anerkannt sind,usw. Der Grund, warum man beim Umgang mit anerkannten Meinungenauf die angegebene Weise unterscheiden muss, liegt darin, dass .anerkannt'ein relativer Ausdruck ist und immer spezifiziert werden muss zu .anerkanntbei allen F:

    was (als wahr) erscheint, aber nicht fr jeden, sondern fr jemand von der-und-der Beschaffenheit.. ."108

    Auch die Rhetorik wird nicht die im Einzelfall anerkannten Meinungenbetrachten, wie etwa (das) fr Sokrates oder Hippias (Akzeptable), sonderndas fr so und so Beschaffene (Akzeptable), wie es auch die Dialektiktut."109

    Dass man in dieser Weise vorgehen muss, nmlich indem man unterscheidet,was bei wem anerkannt ist, wird aus dem ursprnglichen Gesprchscharak-ter der Dialektik110 plausibel: Der Gegner im Streitgesprch wird nicht Pr-missen akzeptieren, die bei irgendwem anerkannt sind

    -

    schlielich gibt esgerade im Bereich der anerkannten Meinungen sehr viele Widersprche111 -,sondern nur solche, die im allgemeinen von derjenigen Gruppe von Perso-nen anerkannt ist, zu der er selbst gehrt; also die Meinungen der Experten(nmlich der sog. Weisen", wie es bei Aristoteles heit112), wenn er ein Ex-perte ist, die Meinung der Menge, wenn er zu dieser gehrt, usw.Trotz dieser gruppenrelativen Bedeutung der Evo^a ist zu beachten, dass

    nicht jedes ,Anerkannt-Sein-bei' ein evo^ov definiert. Sobald man den Be-reich der allgemeinen oder der klar mehrheitlichen Meinungen verlsst, zhlteine Ansicht nur noch dann zu den anerkannten, wenn sie von allen oder den

    107 Top. I 14, 105a34-37.108 Soph. el. 9,170b6f.109 Rhet. I 2, 1356b32-34." Vgl. oben, Abs. Id).111 Vgl. Rhet. II 25, 1403a33f.112 Vgl. Bolton (1990, 209): So .the wise' here are those who have the recognized standing of

    experts or savants but not necessarily those who are such."

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 2. Das begriffliche Inventar der Dialektik 259meisten Experten oder wenigstens von den anerkanntesten angenommenwird. Aber auch das ist nicht genug: Ansichten einzelner exponierter Gestal-ten gelten auch nur dann als anerkannte, wenn sie der Meinung der Mengenicht widersprechen113

    -

    sonst wre die entsprechende Auffassung paradox,-

    oder wenn es zu dem betreffenden Thema keine etablierte Meinung derMenge gibt.114 Das Anerkannt-Sein ist bei Aristoteles also durch zweierleiKriterien bestimmt: erstens durch die Gruppe, bei der ein betreffender Satzanerkannt ist, zweitens dadurch, dass kein Widerspruch zur vorherrschen-den Meinung

    -

    die hierbei vielleicht am ehesten im Sinn des so genannten.gesunden Menschenverstandes' verstanden werden kann

    -

    vorliegt. Daszweite Kriterium wirkt erstaunlich streng vor dem Hintergrund, dass Aris-toteles bisweilen gar nicht so sehr viel Respekt vor der Meinung der Mengeaufzubringen scheint.115 Tatschlich wird damit aber nur eine relativ unbe-deutende Klasse von Ansichten ausgeschlossen,116 nmlich so genannte,kontraintuitive' Ansichten herausragender Persnlichkeiten, wie die Leug-nung der Bewegung und der Vielheit durch die Eleaten oder die Leugnungdes Phnomens der Willensschwche bei Sokrates.117 Nicht gemeint seinkann, dass Expertenmeinungen nur dann als anerkannt gelten knnen, wennsie sich in tatschlicher bereinstimmung mit der Meinung der Menge be-finden, denn erstens gibt es zu vielen solcher Ansichten keine dezidiertenGegenpositionen bei der Menge und zweitens rhrt die Differenz zwischen

    113 Vgl. Top. I 14, 105a34-37 (oben zitiert). Dies impliziert noch nicht, dass die entsprechendeMeinung auch bei der Menge anerkannt sein muss.

    114 Vgl. dazu Brunschwig (1990, 249): Dans cette seconde interprtation de la hirarchie destypes de endoxa, l'adjonction me paradoxos de 104al011 ne modifie pas le contenu de ladfinition initiale; une opinion d'expert ne comptera comme un endoxon que s'il n'existe pas,sur le sujet considr, d'opinion dtermine admise par tous les hommes, ou par presquetous. L'endoxon en question ne sera donc en conflit, par dfinition (en vertu de la dfinitionainsi comprise), avec aucun autre endoxon. Et de mme dans les autres cas de figure."

    " Vgl. EN13,1095M9.116 Bolton (1987,122, Fun. 6) dagegen meint, dass diese Einzelthesen nicht von der Gruppe der

    'vo^a ausgeschlossen werden mssen: But these [views of Parmenides and Zeno; d. Verf.]are still endoxa (though not dialectical protaseis). The class is thus wider than .reputable opi-nions'. It includes other opinions generally regarded as noteworthy; thus .noted opinions',which also retains the connection with endoxos, seems preferable."

    117 Vgl. Aristoteles' Beschreibung des Paradoxons in Top. Ill, 104bl9-28: Eine These aber isteine der herrschenden Meinung widersprechende Auffassung eines der bekannten Philoso-phen, zum Beispiel, dass es keinen Widerspruch gebe, wie Antisthenes sagte, oder dass sichalles bewege, nach Heraklit, oder dass das Sein eines sei, wie Melissos sagte. Sich den Kopf zuzerbrechen, wenn irgendein Beliebiger etwas behauptet, das unseren Ansichten entgegenge-setzt ist, wre nmlich dumm. Oder (Thesen sind die Auffassungen), ber die wir Argu-mente besitzen, die den Meinungen (der meisten) entgegengesetzt sind, zum Beispiel: .Nichtalles, was ist, ist entweder entstanden oder ewig', wie die Sophisten (mit dem folgenden Ar-gument) behaupten: .Wer nmlich gebildet ist, der ist auch sprachkundig, obwohl er es wedergeworden ist noch ewig ist.' Denn auch wenn jemand dieses (eigentlich) nicht fr richtig hlt,knnte er es (doch) fr richtig halten, weil es dafr ein Argument gibt."

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 260 V. Die Konzeption einer dialektischen RhetorikCommonsense und Expertenmeinung oftmals daher, dass die Menge zwaretwas vomWahren trifft, daraus aber die falschen Schlsse zieht.118

    Schlielich finden sich vor allem in Buch VIII der Topik und in den So-phistischen Widerlegungen komparativische und superlativische Steigerungs-formen zu vo^ov; vgl. etwa Soph. el. 34:

    Wir beabsichtigten, eine bestimmte Fhigkeit der Deduktion ber das ge-stellte Problem aus den anerkanntesten Meinungen, die verfgbar sind, zufinden, dieses ist die Aufgabe der Dialektik als solcher und der Prfungs-kunst (jiEiQCiaxixq)."119

    Das Deduzieren aus den jeweils anerkanntesten Meinungen kennzeichnetden bergang zu Verwendungsweisen der Dialektik, die nicht nur auf zufl-lige, wechselnde Opponenten zugeschnitten sind, gegenber denen es gen-gen wrde, die von ihnen jeweils anerkannten Meinungen anzufhren. Beider Verwendung von mglichst anerkannten Meinungen scheint ber dieSelbstbehauptung in einem beliebigen Streitgesprch hinaus zumindest eineAnnherung an Stze beabsichtigt, die auch als wissenschaftliche Prinzipienin Frage kmen.120 Dass die verbesserte Auswahl anerkannter Stze den Dia-lektiker nher an die wissenschaftlichen Prinzipien heranfhrt, ist eine Vor-stellung, die gerade auch in der Rhetorik sehr deutlich ausgesprochen wird:

    Was aber diese (eigentmlichen Topen) angeht, so wird einer, je besser erdie Stze auswhlt, ohne es zu wissen, eine andere von der Dialektik undRhetorik verschiedene Wissenschaft bilden."121

    Ob eine Meinung, die ,am anerkanntesten' ist, dazu von allen in Frage kom-menden Gruppen anerkannt sein soll oder ob der Superlativ daher rhrt,dass sie bei den jeweils fhrenden Meinungstrgern, also besonders bei denExperten anerkannt ist, wird nicht so klar

    -

    wenngleich die zweite Mglich-keit unter dem Vorbehalt, dass kein paradoxer Satz vorliegt, am ehesten derNhe solcher Diskussionen zu den Wissenschaften entsprche. In jedem Fallscheint klar, dass ein solcher Superlativ nicht fr die Klasse derjenigen Stzevergeben werden kann, die lediglich bei der Menge anerkannt sind, insofernAristoteles diesen .gemeinen' oder .gemeinsamen' Meinungen (bei Aristote-

    118 Vgl. Anm. (4.) zu 1355a3-20 sowie die 3. Vorbemerkung zu Kap. I 4-14.Soph. el. 34, 183a37-bl.120 Auf die Bedeutung des reasoning from what is most endoxon" und des rank ordering

    among endoxa" hat zu Recht und berzeugend Bolton (1990, 205-212) hingewiesen; un-berzeugend bleibt in Boitons Darstellung allerdings, dass er diese Gebrauchsweise der Dia-lektik mit der jmoaoxi7tr| gleichsetzen mchte.

    m Rhet. 12, 1358a23-25.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 2. Das begriffliche Inventar der Dialektik 261les auch xoiv" genannt122) deutlich den Prinzipien einer Wissenschaft ge-genberstellt.123

    d) toposDer Topos in der Dialektik ist eine Anleitung in Form eines Argumentati-onsschemas, mit dessen Hilfe zu einem gegebenen Satz/? ein zweiter Satz/?'derart aufgefunden werden kann, dass/' die Prmisse eines deduktiven Ar-guments bilden kann, das p zur Konklusion hat.124 In der Regel wird derFragende auf diese Weise einen Satz als Konklusion zu deduzieren versu-chen, der der Ausgangsthese des Antwortenden kontradiktorisch entgegen-gesetzt ist. Das in einem Topos enthaltene Argumentationsschema folgt alsodem Muster ,Wenn der Gegner so-und-so zugesteht, dann kann daraus so-und-so deduktiv hergeleitet werden.' Durch Einsetzung der angestrebtenKonklusion in das Argumentationsschema kann nun eine Prmisse oderknnen verschiedene Prmissen konstruiert werden. Ob die von dem Toposermittelte Prmisse ein anerkannter Satz ist, muss vom Anwender des Toposin einem gesonderten Schritt berprft werden; nur wenn es sich um einensolchen handelt, wird er ihn dem Antwortenden als zu akzeptierende Pr-misse vorlegen. Genau genommen finden sich in der Topik sowohl Topen,die zur Etablierung, wie auch solche, die zum Umstrzen eines Satzes geeig-net sind; man kann daher formulieren:

    Fr einen bejahenden Zielsatz p, aristotelisch gesprochen zum Etablieren(xaxaax8UCtlr,Eiv) von/?, bentigt der Argumentierende einen Satz/', dereine hinreichende Bedingung fr/? darstellt; fr einen verneinenden Zielsatz/?, d.h. zum Aufheben (avaoxetiaCeiv) von/?, bentigt der Argumentie-rende einen Satz/)', der eine notwendige Bedingung fr/? darstellt, so dassdie Negation von/?' als Prmisse verwendbar ist. Dem Topos ist nun zu ent-nehmen, wie aus dem zur Diskussion stehenden Satz/? durch Umformungein Satz/?' zu bilden ist, der zu/? in dem je nach Argumentationsziel steht,d.h. eine notwendige oder hinreichende Bedingung fr/?."125

    Um zu sehen, welcher Topos auf einen gegebenen Satz anwendbar ist, mussdieser Satz nach bestimmten formalen Gesichtspunkten kategorisiert wer-den. Das wichtigste System zur Kategorisierung der verschiedenen Satz-typen ist in der Topik das System der vier Prdikabilien:126

    122 Yg] dazu m Kommentar die Anm. zu 1355a27.123 Vgl. dazu Rhet. I 1, 1355a24-29.124 Vgl. dazu Rapp (2000).125 Primavesi (1999, 1264 ff.).126 Zur Logik des dialektischen Topos vgl. im Kommentar die 3. Nachbemerkung zu Kap. I 2,

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 262 V. Die Konzeption einer dialektischen Rhetorik

    e) PrdikabilienDie vier Prdikabilien bei Aristoteles sind das Akzidens, die Gattung, dasEigentmliche und die Definition.127 Damit sind vier unterschiedliche Ver-hltnisse benannt, die einfache Subjekt-Prdikat-Stze nach der Lehre derAristotelischen Topik einnehmen knnen. Diese vier Verhltnisse bestimmennicht nur den Aufbau der Schrift Topik, insofern jeweils die fr Akzidentien,die fr die Gattungen usw. geeigneten Topen zusammenhngend dargestelltund entwickelt werden,128 sie stellen auch dasjenige Kriterium dar, nach demdie zu prfenden Stze zunchst vom Angreifer kategorisiert werden ms-sen, um fr sie einen geeigneten Topos aufzufinden. Aristoteles definiert dievier Verhltnisse wie folgt:

    Eine Definition ist eine Bestimmung, die bezeichnet, was es hie, dies zusein."129

    Eine Eigentmlichkeit ist etwas, was zwar nicht bezeichnet, was es hie,dies zu sein, aber nur dieser (Sache) zukommt und an ihrer Stelle ausgesagtwerden kann."130

    Gattung ist das, was in der Kategorie des Was-es-ist von mehreren, der Artnach verschiedenen Dingen ausgesagt wird."131Ein Akzidens ist erstens das, was zwar keines von diesen ist, weder Defini-tion noch Eigentmlichkeit noch Gattung, der Sache aber zukommt, undzweitens das, was einer und derselben Sache zukommen und auch nicht zu-kommen kann."132

    Die Vierteilung kommt durch die Anwendung zweier Kriterien zustande:(i.) Kommt ein Prdikat einem Subjekt notwendigerweise (im Sinne der We-sensdefinition) zu? (ii.) Kommt ein Prdikat ausschlielich diesem Subjektzu? Die Verneinung beider Kriterien definiert das Akzidens, die Bejahungbeider die Definition, die Bejahung von (i.) und Verneinung von (ii.) die Gat-tung, die Verneinung von (i.) und Bejahung von (ii.) die Eigentmlichkeit.Diese verschiedenen Verhltnisse implizieren signifikante logische Unter-

    zum Begriff des Topos berhaupt sowie zum Vergleich von dialektischem und rhetorischemTopos vgl. vor allem die 2. Vorbemerkung zu Kap. I 4-14.

    127 Vgl. dazu Hagdopoulos (1976a).128 Die Topen fr das Akzidens in Buch II (eine Unterklasse der akzidentellen Prdikate in Buch

    III), fr die Gattung in Buch IV, fr das Eigentmliche in Buch V, fr die Definition in BuchVI und VII.

    129 Top. 15, 101b38-102al.130 Top. 15, 102al8f.131 Top. 15, 102a31f.132 Top. I 5, 102b4-7.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 2. Das begriffliche Inventar der Dialektik 263schiede133: Stze etwa, die ein definitorisches Verhltnis ausdrcken, impli-zieren, dass der (definierende) Prdikatsterm anstelle des (definierten) Sub-jektsterm verwendet werden kann, ohne dass sich an der Wahrheit eines ent-sprechenden Satzes etwas ndert. Aus diesem Grundsatz lassen sich danneine ganze Reihe von Topen entwickeln. Wenn in einem Satz ein Gattungs-verhltnis ausgedrckt wird, dann darf das entsprechende Prdikat nicht ein-mal zukommen und einmal nicht zukommen und muss berhaupt einen Teildes Wesens der betreffenden Sache ausmachen; dies wiederum ist derGrundzug fr die Topen, die fr das Gattungsverhltnis typisch sind, usw.Die Prdikabilien allein leiten noch nicht die Bildung aller Topen an: Auer-dem werden Verhltnisse wie die der verschiedenen Gegensatzarten, dersprachlichen Abwandlungen usw. herangezogen,134 aber sie bilden dasGrundgerst fr die Untersuchung, welcher Topos auf welchen Satz an-wendbar ist.

    f) organaIn der Rezeption weit weniger beachtet als die Topen oder die anerkanntenStze in der Funktion der Prmisse sind die vier von Aristoteles in Buch Ider Topik entwickelten Werkzeuge (ooyava)". Ihnen komme die in ihrerBedeutung fr das Streitgesprch nicht nher bestimmte Aufgabe zu, dasAuftreten von Schwierigkeiten im Zuge des Deduzierens zu vermeiden.135Weil diese Werkzeuge vor allem damit zu tun haben, die anerkannten Pr-missen zu sammeln und aufzubereiten, scheinen die unter diesem Titel be-schriebenen Praktiken vor allem im Vorfeld der eigentlichen dialektischenUnterredung zum Einsatz zu kommen. Im Einzelnen handelt es sich um diefolgenden vier Werkzeuge:

    erstens, die Stze zu erfassen, zweitens, einteilen zu knnen, auf wie vieleWeisen ein Ausdruck verwendet wird, drittens, die Unterschiede herauszu-finden, und viertens die Betrachtung des Ahnlichen."136

    Das erste Werkzeug, die Erfassung von Stzen oder von mglichen Prmis-sen (jtQOxaEic), macht deutlich, dass Aristoteles die anerkannten Stzenicht einfach als eine fertig abrufbare Sammlung ansieht; vielmehr gehrt dasAnlegen von geeigneten, sortierten Sammlungen selbst zum Geschft desDialektikers. Dieser hat erst herauszufinden, welche Stze anerkannt sind

    133 .Logisch', weil fr diese Stze bestimmte Merkmale ungeachtet ihres Inhalts allein aufgrundihrer Form als definitorisch, akzidentell usw. angegeben werden knnen.

    134 Yg[ dazu m Kommentar die 3. Nachbemerkung zu Kap. I 2.135 Vgl. Top. I 13, 105a21f.136 Top. I 13, 105a22-25.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 264 V. Die Konzeption einer dialektischen Rhetorikund fr seine Deduktionen tauglich sind. So wird der Dialektiker nicht nurvon den explizit von jemandem zu einem bestimmten Zeitpunkt anerkann-ten Stzen Gebrauch machen, sondern auch von der Verneinung der Gegen-teile137 oder von hnlichen Stzen,138 indem er dadurch die Menge der ver-wendbaren Stze vergrert. Auerdem soll der Dialektiker anerkannteStze aus Abhandlungen zusammenstellen,139 zum Teil sind die anerkanntenStze aber auch nur implizit140

    -

    entweder in bestimmten Handlungswei-sen141 oder in bestimmten sprachlichen Formulierungen142

    -

    gegeben. Da-durch wird die Erfassung der als dialektische Prmissen geeigneten Stze zueinem Verfahren, das alles andere als einfach oder trivial wre. Die erfasstenStze sollen am besten nach Gattung gegliedert143 und, wenn mglich, zu-sammen mit einem Hinweis auf den Urheber der jeweiligen Ansicht144, auf-gezeichnet werden.Die weiteren Werkzeuge betreffen weniger die Sammlung von anerkann-

    ten Aussagen als die Aufbereitung der verwendeten Stze. Das zweite Werk-zeug besteht in einem hchst differenzierten Anleitungssystem zur Aufde-ckung von Homonymien.145 Mehrdeutige Aussagen will der Dialektikernmlich weder selbst verwenden noch darf er sie beim Gegner durchgehenlassen. Da es der Dialektiker berwiegend mit Stzen zu tun hat, die selbstnoch nicht wissenschaftlich qualifiziert sind, ist klar, dass er hufig mit Aus-sagen konfrontiert ist, die Mehrdeutigkeiten und andere Unklarheiten auf-weisen und daher erst durch die systematische Aufdeckung solcher Mngelzu klaren Thesen aufbereitet werden mssen. Auch das dritte und das vierteWerkzeug, die Auffindung von Unterschieden und hnlichkeiten,146 kannzwar im Zuge des Streitgesprchs von unterschiedlichem Nutzen sein, trgtaber vor allem auch in der Phase der Vorbereitung des eigentlichen Streitge-sprchs dazu bei, den Gegenstand der Unterredung sowie alle dabei zu ver-

    is7 Vgl. Top. 114,105bl-3.138 Vgl. Top. 114, 105b4f.9 Vgl. Top. 114, 105bl2f.140 Vgl. dazu auch Barnes (1980a, 501 f.).141 An den Entscheidungen der Menschen kann man zum Beispiel ablesen, welche Dinge sie fr

    gut halten; vgl. etwa die Anm. zu Rhet. 1367b26 zusammen mit der Anm. zu 1369a22. Daran,dass jemand nicht frh morgens geradewegs sich in einen Brunnen oder eine Schlucht strzt,kann man ablesen, dass er es fr besser hlt, dies nicht zu tun: Vgl. Met. IV 4, 1008bl4-19.

    142 Vgl. dazu die Interpretation von Physik I 7 in Wieland (1970,11 Off.); besonders (a.a.O., 112):Aristoteles untersucht nun in Phys. A 7 in dem angezeigten Sinne, welche Strukturen wirschon immer vorausgesetzt haben, wenn wir vom Werden sprechen. Er nimmt einige Satz-formulierungen der konkreten Umgangssprache und reibt sie gleichsam so lange aneinander,bis sich gewisse Prinzipien ergeben. "

    143 Vgl. Top. I 14, 105bl9-21.144 Vgl. Top. I 14, 105bl7f.1 Vgl. Top. I 15.'Vgl. Top. 116 und 17.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 3. Die Gemeinsamkeiten von Dialektik und Rhetorik 265

    wendenden Stze in die der jeweiligen Sache angemessene Allgemeinheitoder Besonderheit zu bringen: Wer Eigenschaften der Tugend allein an derTugend der praktischen Vernnftigkeit (cpQvT)GLc) diskutiert, der bersieht,dass sich diese Fragen auf einer hheren Ebene, beim Begriff der Tugendwiederfinden, was zu entdecken durch die hnlichkeit etwa mit den Tugen-den der Besonnenheit und der Gerechtigkeit, also durch das vierte Werk-zeug, mglich wird. Wer Eigenschaften der dianoetischen Tugenden am Be-griff der Tugend berhaupt diskutiert, der hat versumt die erforderlichenbegrifflichen Unterscheidungen (Dihairesen) vorzunehmen, wozu ihn dasdritte Werkzeug anleitet.

    3. Die Gemeinsamkeiten von Dialektik und Rhetorik

    Das Entsprechungsverhltnis, das nach dem Eingangssatz der Rhetorik zwi-schen Dialektik und Rhetorik bestehen soll,147 schliet die Annahme mitein, dass sich mindestens eine oder mehrere Gemeinsamkeiten zwischen denbeiden Disziplinen benennen lassen. Eine derartige Gemeinsamkeit, nmlichdass es beide Disziplinen mit solchen Dingen zu tun haben, die nicht Gegen-stand einer begrenzten Wissenschaft sind, nennt Aristoteles gleich im An-schluss an den Eingangssatz selbst.148 Die Kommentatoren gingen allerdingsschon immer davon aus, dass sich die unterstellte Gemeinsamkeit darin nichterschpft. Alexander von Aphrodisias149 hat die Gemeinsamkeiten in einViererschema gebracht:

    (i.) Sie behandeln nicht eine begrenzte Gattung von Gegenstnden (pf|JtEQ EV XL yVO qXlJQLOLlEVOv).

    (ii.) Sie beruhen auf dem Anerkannten und berzeugenden (i' evo;)vxai Jtiffavcov).

    (iii.) Sie beruhen nicht auf den eigentmlichen Prinzipien einzelner Gat-tungen (lit) V OXEtOV QX

  • 266 V. Die Konzeption einer dialektischen RhetorikDass also die Rhetorik nicht zu einem einzigen begrenzten Gegenstands-bereich gehrt, sondern so ist wie die Dialektik".151Keine von beiden nmlich ist die Wissenschaft davon, wie sich etwas Be-grenztes verhlt".152

    Warum ist dieses Merkmal fr Aristoteles so wichtig, dass er es an den An-fang der Schrift stellt? Offenbar deshalb, weil es sich um eine Voraussetzungfr den Status der Rhetorik als einer Kunstlehre (xxvq) handelt153, und derxxvq-Status der Rhetorik denjenigen Gesichtspunkt darstellt, der der Aris-totelischen Abgrenzung von der Platonischen Rhetorikkritik einerseits undden konventionellen Rhetorikhandbchern andererseits die allgemeineStorichtung verleiht. Hierbei sind vermutlich folgende zwei Kontexte vonBelang:

    (1.) In Piatons Gorgias hatte Sokrates den xxvq-Status der Rhetorik mitunterschiedlichen (z.T. nur angedeuteten) Argumenten in Zweifel gezogen.Das fr die vorliegende Frage entscheidende Argument kommt in der Dis-kussion mit Gorgias um die Definition der Rhetorik zum Tragen: Auf dieFrage nach dem spezifischen Gegenstand der Rhetorik (jxeq xi xcbvvxcov"154) nennt Gorgias die Reden (jieq ^oyouc"155), was Sokrates nichtals korrekte Antwort gelten lsst, weil auch jede andere xxvq sich aufReden bezieht, nmlich auf Reden ber den Gegenstand, wovon sie dieKunst ist.156 Offenbar werden hier die Voraussetzungen gemacht, erstensdass eine xxvq durch einen spezifischen Gegenstand (jtoccyfta) bestimmtwerden kann und zweitens dass Reden kyoi) kein adquates JtQypio: dar-stellen, letzteres offenbar deshalb, weil mit Bezug auf Reden erneut die Wo-rber-(jxEQi xi)-Frage gestellt werden kann. Der Entwurf einer theoriefhi-gen Rhetorik durch Aristoteles setzt daher die Entkrftung des Einwandsvoraus, dass Reden (oder eben allgemein: ^oyoi) keinen angemessenen Ge-genstand einer xxvq darstellen knnen bzw. dass jede xxvq eines fest be-grenzten Gegenstandsbereichs im Sinne des von Sokrates gegenber Gorgiasgeforderten Jtoayita bedarf.

    (2.) In Aristoteles' eigener Wissenschaftskonzeption spielt der Gedankeeine zentrale Rolle, dass wissenschaftliche Erkenntnis nur innerhalb der festbegrenzten Einzelwissenschaften, die jeweils ber ihre eigentmlichen Prin-

    151 Rhet. 1355b7-9.m Rhet. 1356a32f.153 Vgl. dazu im Kommentar die Anm. zu 1354a6-ll.154 Piaton, Gorgias 449d.155 Piaton, Gorgias 449e.156 Piaton, Gorgias 450a-b: Kai u.r|v xai ai lXai x/vai, & Togya, ouxca xouoiv exaoxT]

    axcbv itEQL XoyoD axiv xouxou, ot Tuyxvouoiv vxe jteqL t JiQy\ia, ov xaaxr|axiv rj xxvr]."

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 3. Die Gemeinsamkeiten von Dialektik und Rhetorik 267

    zipien verfgen, mglich ist.157 Allgemein ist es fr Aristoteles ... nichtmglich, aus einer anderen Gattung berzuwechseln und dadurch Beweisezu bilden, wie beispielsweise das Geometrische durch Arithmetik"158. Andieses Modell der einzelwissenschaftlichen Beweise hlt sich Aristotelesselbst so konsequent, dass er zumindest zeitweise ernsthafte Schwierigkeitenfr die Behandlung von spter so genannten .transzendentalen', d.h. die Ein-zelwissenschaften berschreitenden, Begriffe wie .seiend' und .gut' in jeweilseiner einzigen Wissenschaft gesehen zu haben scheint.159 Vor diesem Hinter-grund ist es mehr als nahe liegend, wenn Aristoteles bei der Einfhrung einerDisziplin, die epistemologisch hher steht als bloe Routine (ELiJteiQa), dasFehlen einer fest bestimmten Gattung reflektiert. Das dialektische Argu-mentieren umgeht dieses in der Wissenschaftstheorie gestellte Problem, weiles durch die Anknpfung an nur anerkannte Stze die in den Einzelwissen-schaften geltende Wahrheits- und Prinzipienbindung auer Kraft setzt.Daher behandelt die Dialektik im Sinne einer Methodologie dieser Argu-mentationsweise Argumente ber alle Gattungen von Gegenstnden glei-chermaen. Von daher hat Aristoteles mit seiner eigenen Konzeption derDialektik schon das geeignete Instrument fr die Etablierung der Rhetorikals einer gattungsbergreifenden Disziplin in den Hnden.

    Ergnztes Merkmal (La): Das von Aristoteles am Anfang der Schrift ge-nannte und auch von Alexander hervorgehobene Merkmal taucht mehrmalsin der bekannten negativen Formulierung, beide htten Dinge zum Gegen-stand, die zu erkennen nicht Gegenstand einer begrenzten Wissenschaft sei,auf. Man fragt sich, was das positive Korrelat zu dieser Formel ist. Washaben sie beide anstelle eines fest begrenzten Bereichs zum Gegenstand? InRhet. I 2 scheint Aristoteles genau dies zu beantworten:

    Keine von beiden nmlich ist die Wissenschaft davon, wie sich etwas Be-grenztes verhlt, sondern sie sind gewisse Fhigkeiten, Argumente zu be-schaffen (jTOQaai /Voyou)."160

    Die Formulierung wirft neue Probleme auf, schon weil von einer Fhigkeit(vaLLLc)" die Rede ist;161 eine Fhigkeit" kann auch nicht genau das sein,

    157 Vgl. auch Rhet. 12,1358a21 f.: Jene (die gemeinsamen Topen oder Stze) werden einen nichtber eine bestimmte Gattung verstndig machen, denn es besteht kein zugrunde liegenderGegenstandsbereich."

    158 An. post. 17, 75a38f.159 Vgl. EE 1217b34f.: Und es gibt auch nicht nur eine einzige Wissenschaft weder vom Seien-

    den noch vom Guten." Vgl. zum Thema: G. E. L. Owen, Logic and Metaphysics in SomeEarlier Works of Aristotle, in: I. Dring/G. E. L. Owen (Hg.), Aristotle and Plato in theMid-Fourth Century, Gteburg 1960, 163-190, sowie Ch. Rapp, Substanz als vorrangig Sei-endes (Z 1), in: Rapp (1996b, 27-40, hier: 31-34).

    160 Rhet. I 2, 1356a32-34.161 Vgl. dazu im Kommentar die Anm. (3.) zu 1355b26-35.

    Unangemeldet | 188.98.182.252Heruntergeladen am | 09.08.13 11:10

  • 268 V. Die Konzeption einer dialektischen Rhetorikwas an die Stelle der Wissenschaft von einem begrenzten Gegenstand tritt.Um die positiv formulierte Entsprechung zu einem nicht begrenzten Gegen-stand herauszustellen, msste man daher vielleicht besser sagen, Gegenstandvon Dialektik und Rhetorik seien die Mittel oder die Methode, die einenfhig machen, Argumente (zu jedem vorgelegten) Gegenstand zu beschaf-fen.162 Jedenfalls ist klar, dass Aristoteles an dieser Stelle eine weitere Ge-meinsamkeit zwischen Dialektik und Rhetorik anzugeben meint, die ineinem mehr oder weniger prgnanten Sinn dem Merkmal (i.) bei Alexanderkorrespondiert.

    Universalitt-

    ein Problem um Merkmal (i.): Die Dialektik bezieht sichnicht auf ei