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Sebastian Edinger Das Politische in der Ontologie der Person Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie im Verhältnis zu den Substanzontologien von Aristoteles und Edith Stein DE GRUYTER

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Page 1: Das Politische in der Ontologie der Person. Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie im Verh¤ltnis zu den Substanzontologien von Aristoteles und Edith Stein

Sebastian Edinger

Das Politische in der Ontologie der PersonHelmuth Plessners Philosophische Anthropologie im Verhältnis zu den Substanzontologien von Aristoteles und Edith Stein

DE GRUYTER

Page 2: Das Politische in der Ontologie der Person. Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie im Verh¤ltnis zu den Substanzontologien von Aristoteles und Edith Stein

ISBN 978-3-11-045832-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045915-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045837-4 ISSN 2191-9275

Library of Congress Cataloging-in-Publication DataA CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Θ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany

www.degruyter.com

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Inhalt

Danksagung-----XI

Einleitung-----1

1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung derFragestellung-----10

1.1 Der affirmative Begriff der Ontologie bis zur Mitte der 1920erJahre---- 10

1.2 Die ontisch-ontologische Zweideutigkeit des Psychischen in denGrenzen der Gemeinschaft (1924)---- 13

1.3 Deutung des mimischen Ausdrucks (1925)---- 161.4 Der Ontologie-Begriff in Die Stufen des Organischen

und der Mensch-----241.4.1 Plessners Kritik von Ontologisierungen---- 241.4.2 Plessners Kritik des cartesianischen Alternativprinzips als

grundsätzliche Ontologie-Kritik?---- 261.5 Die Vorlesung Elemente der Metaphysik (1931)---- 321.6 Macht und menschliche Natur (1931)---- 351.7 Oder etwa doch Ontologie?---- 411.8 Resümierende Zwischenbetrachtung und Ausblick---- 451.9 Plessners Begriff der Ontologie nach Macht und menschliche

Natur-----45

2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie-----532.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena---- 532.1.1 Die Trennung von Ontologie und Metaphysik nach Elisabeth

Rompe---- 532.1.2 Die Trennung von Ontologie und Metaphysik nach Kondylis---- 582.1.3 Die Kodifikation der Trennung von Metaphysik und Ontologie bei

Wolff---- 622.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des

Lebens---- 702.2.1 Prolegomena---- 702.2.2 Die Grundlagen der Metaphysik in der Physik---- 712.2.3 Übergang zur Metaphysik---- 762.2.4 Substanz und Akzidens---- 81

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VI Inhalt

2.2.5 Der Substanzbegriff zwischen Einzeldingontologie undWesensontologie. Die Bedeutung der Form-Materie-Relation---- 83

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet---- 87

2.3.1 Die metaphysische Akt-Potenz-Relation---- 872.3.2 Die physikalische Akt-Potenz-Relation---- 882.3.3 Die Grundzüge der Ontologie des Lebens in De anima---- 902.3.4 Erste und Zweite Entelechie---- 952.3.5 Die Rolle von δύναμις und ένέργεια in der Ontologie des

Lebens---- 1022.3.5.1 Zur Kosmologie---- 1042.3.5.2 Zur Ontologie des Lebens---- 1052.3.5.3 δύναμις und ένέργεια in der menschlichen Praxis---- 114

3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie in eine philosophisch-theologische Anthropologie-----117

3.1 Prolegomena---- 1173.2 Das philosophisch(-theologische) Erbe Steins I: Thomas von

Aquin---- 1173.3 Das philosophische Erbe Steins II: Die Phänomenologie Edmund

Husserls---- 1213.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff---- 1263.4.1 Steins Dissertation Zum Problem der Einfühlung und der Einfluss

Schelers: Das verdrängte Desiderat---- 1263.4.2 Exkurs: Naturphilosophie und philosophische Anthropologie---- 1303.4.3 Konvergenz von Philosophie und Theologie im Personbegriff---- 1353.5 Die Begriffe Akt und Potenz---- 1393.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau--- 1423.6.1 Die Pflanze---- 1423.6.2 Die zweite Stufe im Stufenreich: Das Tier oder Die Entstehung der

Subjektivität---- 1613.6.2.1 Der Aufbruch des Inneren---- 1613.6.2.2 Ontologische Bestimmung des Tieres: Substanz, Potenz und

Akt---- 1633.7 Der Mensch als Gipfelpunkt des onto-anthropologischen Stufenbaus

Der Durchbruch zur Personalität und zur geistigen Person---- 1703.7.1 Einleitung---- 1703.7.2 Der Begriff des Bewusstseins---- 1723.7.3 Bewusstsein und Vernunft---- 173

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Inhalt VII

3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen. Die Doppelnatur desMenschen und die Trias von Leib, Seele und Geist---- 177

3.8.1 Die Seele als Mitte---- 1773.8.2 Leib und Seele als ontische und ontologische

Ermöglichungsbedingungen---- 1823.8.3 Der phänomenologisch-ontologische Zugang zum geistigen Leben

der Person---- 1843.8.4 Potenz und Akt als personale Seinsmodi---- 1873.8.5 Die konstitutiven Wahrheiten des Geistes: transzendentale,

ontologische, logische und Wesenswahrheit---- 1913.8.6 Die künstlerische Wahrheit und der Kern der Personalität---- 1953.8.7 Anwendung der künstlerischen Wahrheit auf die

Lebensführung---- 1993.9 Sozialer Typus und Rolle: Eine sozialphilosophische

Andeutung---- 2023.10 Ergebnisse-----204

4 Plessners Transformation der Ontologie---- 2094.1 Prolegomena-----2094.2 Die generelle Erscheinungsweise von Dingen und die Transformation

der Phänomenologie---- 2134.3 Doppelaspekt und Grenze-----2194.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik des cartesianischen

Alternativprinzips, der mechanischen Reduktion der Natur und des methodischen Dualismus---- 223

4.4.1 Kritik der Naturwissenschaften---- 2234.4.2 Plessners Kritik des cartesianischen Alternativprinzips---- 2284.5 Die Grenze und das Verhältnis von Substanz und Wirklichkeit---- 2334.6 Substanz und Wirklichkeit----- 2394.6.1 Das lebendige Ding als Substanz und die Substanzialität der

Substanz---- 2394.6.2 Das erscheinende lebendige Ding als Substanz---- 2414.6.3 Der Begriff der Wirklichkeit---- 2444.7 Exkurs I: Zu den Begriffen des Ontischen und des

Ontologischen---- 2514.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen---- 2544.9 Abgrenzung von anderen Lesarten (Beaufort, Holz)---- 2664.10 Die Organisation des Lebendigen---- 2724.10.1 Mitte und Peripherie: Die Selbstvermittlung des Lebewesens zur

Einheit und die innere Teleologie---- 272

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VIII Inhalt

4.10.2 Plessners „immanente Teleologie“ und die metaphysischeTeleologie---- 276

4.10.3 Die harmonische Äquipotentialität als Kernstück der Ontologiedes Organischen---- 282

4.10.4 „Immanente Teleologie“ und „Entelechie als Seinsmodus“.Eine resümierende Betrachtung---- 288

4.10.5 Zeithaftigkeit und Vorwegsein---- 2914.10.6 Die Zeithaftigkeit von der Akt-Potenz-Relation her gelesen---- 2984.10.7 Das Sich-Vorwegsein und die Konstitution des Positionsfeldes---- 3034.11 Zwischenfazit---- 3084.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung

von Personalität---- 3114.12.1 Vermittelte Unmittelbarkeit als Grundcharakter des Lebens und als

Charakteristikum vormenschlicher Lebensformen---- 3114.12.2 Vermittelte Unmittelbarkeit und exzentrische Positionalität---- 3154.13 Seiende Möglichkeit als ontologischer Grundbegriff und die Ontologie

der menschlichen Person---- 321

5 Das Politische in der Ontologie der Person---- 3265.1 Überblick über die Forschungsliteratur---- 3265.2 Von Plessners Ontologie des Ausgleichs als der Grundlage einer

Theorie des Politischen---- 3355.2.1 Verschränkung und Ausgleich---- 3365.2.2 Plessners Ontologie des Ausgleichs. Verbindung des

Doppelgängertums mit der Ontologie des Organischen---- 3395.3 Körperleiblichkeit als Medium der Personalisierung und ontologische

Grundlage des privat-öffentlichen Doppelgängertums---- 3465.4 Ontologische Wurzeln des anthropologisch fundamentalen privat­

öffentlichen Doppelgängertums und Plessners Kritik der soziologischen Rollentheorie---- 350

5.4.1 Die Struktur der Körperleiblichkeit und das privat-öffentlicheDoppelgängertum---- 350

5.4.2 Die naturphilosophische Ontologie des Ausgleichs und das privat­öffentliche Doppelgängertum---- 355

5.5 Die genuin politische Dimension des privat-öffentlichenDoppelgängertums---- 358

5.6 Die rollentheoretische Adaptation des privat-öffentlichenDoppelgängertums als des Ermöglichungsgrundes des Politischen---- 364

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Inhalt IX

5.7 Die mediale Potenzierung von Potenzialität: Sprache, Mitwelt undGeist---- 366

5.8 Die ontologisch-politische Potenzialität der Person---- 3745.8.1 Potenzialität als Begrenzung. Liminale Potenzialität---- 3745.8.2 Potenzialität als ausgleichender Umgang mit Begrenztheit---- 3795.9 Abschließender Rückgang auf die Ontologie des Ausgleichs---- 385

Schlussbetrachtung-----391

Literaturverzeichnis-----410Siglen---- 410Zitierte Literatur in alphabetischer Reihenfolge---- 410

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Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertationsschrift an der Universität Potsdam im Fach Philosophie im Jahr 2015 eingereicht, angenommen und verteidigt. Mein Dank gilt meinem Doktorvater Hans-Peter Krüger, der den Entstehungsprozess dieser Arbeit mit großer Offenheit und Kompetenz begleitet und mir die nötige Freiheit in der Entwicklung der hier dargelegten Gedanken gelassen hat - keine Selbstverständlichkeit, wie einen der akademische Betrieb lehrt. Mein Dank gilt außerdem Matthias Wunsch, der die Arbeit ebenfalls begutachtet und umsichtig kommentiert hat. Ebenfalls danken möchte ich den Leitern des DFG-Graduier- tenkollegs Lebensformen & Lebenswissen, Logi Gunnarsson und Andrea Aller­kamp, sowie den Stipendiatlnnen, Koordinatorlnnen und Assoziierten des Kol­legs, dem anzugehören ich von 2011 bis 2014 die Freude haben durfte.

Bedanken möchte ich mich außerdem bei jenen, die in der Endphase der Fertigstellung der Arbeit einen besonders wichtigen okular-kognitiven Beistand geleistet haben, der es mir ermöglicht hat, mich rein auf inhaltliche Fragen zu beschränken. In alphabetischer Reihenfolge handelt es sich dabei um Inga Anderson (geb. Schaub), Helmut Edinger, Inga Ke tels, Simon Schüz und Guido Tamponi.

Grüßen möchte ich hier außerdem Menschen, die im Laufe der vergangenen Jahre in eine unangemessene Ferne gerückt sind: Susann Albrecht, Johannes Helmling und Christian Wilhelm. Ihr seid nicht vergessen.

Ein Geschenk der Potsdamer Jahre ist die intellektuell anregende und von einer bemerkenswerten Aufrichtigkeit geprägte Freundschaft mit Guido Tamponi, die eine exponierte Erwähnung allemal verdient hat.

Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern, die über meine gesamte bisherige Lebensdauer hinweg mit der Gewährleistung der optimalen Bedingungen des Zustandekommens dieses Buches mehr Arbeit hatten als ich mit dessen ver­gleichsweise rascher Abfassung.

Mehr als mein innigster Dank muss hier an Inga Anderson (geb. Schaub) und Simon Schüz ergehen. Da ihr euch gegenseitig hinreichend und vor allem mich gut genug kennt, ist jegliche Aufklärung darüber, dass das „und“ hier nicht als ein Individualität unterminierendes zu verstehen ist, unnötig. Eure Freundschaft in der jeweils individuierten Weise zu genießen, ist ein Geschenk, dessen Wert sich nicht bemessen lässt; eine Entelechie, deren immanente Verpflichtung das Ge­genteil einer Last ist - vielmehr ein schwereloses Versprechen und als solches eine Freude im anspruchsvollsten Sinne des Wortes.

Last but not least, I want to thank Nicole Srocka: no matter where we go from wherever we are, I am so grateful for the time we were able to share with each

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XII Danksagung

other. Vielen Dank für die Möglichkeit, unfixiert-unentschieden offen zu sein für ein silhouettenhaftes und neuartiges Ideal - ohne definites telos, ohne Garantie, ohne Anspruch, ohne Zwang.

Berlin, Januar 2017 Sebastian Edinger

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Einleitung

Eine der nicht zu unterschätzenden Wirkungen der Frankfurter Schule besteht darin, dass, seitdem sie die akademische Sphäre in Beschlag genommen hat, die Ontologie zwischen der Scylla der intellektuellen Anrüchigkeit und der Charybdis der weithin akzeptierten geistesgeschichtlichen Antiquiertheit gefangen ist. Vollends ihrer natürlichen Legitimität ist die Ontologie durch Jürgen Habermas beraubt worden, dem es zu „verdanken“ ist, dass Metaphysik und Ontologie als fundamentalistische Zwillingsbrüder gelten und man die letztere in weiten Kreisen mit der ersten für erledigt zu halten sich befugt fühlen darf. Diese Arbeit begehrt gegen die akademische Disqualifikation der Ontologie durch die Frankfurter Schule, die zudem keine gesetzgeberische Kraft mehr im Gesamtbereich der Philosophie beanspruchen kann, nicht auf, sondern sie legitimiert, von ver­meintlichen Überwindungen prinzipieller Art unbeeindruckt, ontologisches Denken sowohl geistesgeschichtlich - im Rekurs auf die historische Ausdiffe­renzierung von Metaphysik und Ontologie - als auch immanent in der Ausein­andersetzung mit der Philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners. Anders gesagt, diese Arbeit geht aus von der Anerkennung der Verbindlichkeit von On­tologie, und das heißt: von der Anerkennung der verbindlichen Illegitimität der Gleichsetzung von Ontologie und Metaphysik einerseits sowie der Gleichsetzung von Ontologie und philosophischem Fundamentalismus andererseits. Die Illegi­timität dieser Gleichsetzungen wird anerkannt, sie wird jedoch nicht vorausge­setzt, und sie wird deshalb nicht vorausgesetzt, weil eine Voraussetzung dieser Illegitimität bereits suggerieren würde, der Versuch, Ontologie überhaupt zu er­ledigen, mache Ontologie überhaupt, d.h. prinzipiell, rechtfertigungsbedürftig. Sich der Verbindlichkeit dieses Verdachts gegen die Ontologie zu verweigern, basiert nicht auf Borniertheit, sondern darauf, die Sache der Ontologie ihrem Geiste und philosophischen Anspruch gemäß, statt sie ihren Umdeutungen und Umwertungen in den Frontenkämpfen des 20. Jahrhunderts gemäß aufzufassen. Ontologie zielt dann auf die Konstitutionsbedingungen entweder des Seins oder - als Ontologie im Genitiv - eines spezifischen Gegenstandsbereichs. Dem Frage­modus von Ontologie entspricht dann schlicht die Frage: Was macht - z. B. im Fall der hier anvisierten Ontologien der Person Steins und Plessners - etwas zu dem, was es ist?

Auf die Frage kann in unterschiedlicher Weise geantwortet werden. Dem Was kann ein Das zugeordnet werden, die Antwort wäre dann substanzialistischer Art. Dabei wird dann gerne in ideengeschichtlich-postsubstanzialistischer Selbstge­fälligkeit supponiert, dass eine Substanzontologie nicht strukturell entwickelt werden müsste, um mehr als eine arbiträre und reduktive Pseudo-Bestimmung

D0I 10.1515/9783110459159-001

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2 Einleitung

einer Sache zu sein. Dem Was kann aber ebenso gut eine Ermöglichungsstruktur zugeordnet werden, die Antwort wäre dann nicht substanzialistischer, sondern im weitesten Sinne transzendentaler (quasi-transzendentale Begründungen sind hier inkludiert) Art. Die im weitesten Sinne transzendentale bzw. - dieser Begriff wird hier bevorzugt - konstitutionstheoretische Begründung kann nicht mehr entitärer Art sein, da keine Entität(en) mehr als Letztbegründungsinstanz fungieren kann bzw. können. Die beiden grundsätzlichen Arten und Weisen, Ontologie aufzu­fassen und philosophisch durchzubilden, werden in dieser Studie anhand der Philosophien des Aristoteles, Edith Steins und Helmuth Plessners konkretisiert. Während Aristoteles die systematische und terminologisch bis in Plessners Phi­losophische Anthropologie hinein verbindliche Urgestalt ontologischen Philoso- phierens geschaffen hat, haben Edith Stein und Helmuth Plessner in jeweils verschiedener Weise den Aristotelischen Problembestand und das Begriffsin­ventar aufgegriffen und modifiziert, um innerhalb der Moderne Ontologien der menschlichen Person in Gestalt philosophischer Anthropologien zu entwickeln - Stein in einer substanzialistischen, Plessner in einer strukturfunktionalen Vari­ante. Während die Auseinandersetzung mit Aristoteles und Edith Stein sich grundsätzlich an das explizit Gesagte und die explizit in deren Philosophien entwickelten Zusammenhänge halten kann, war es im Fall Plessners nötig, dessen Philosophische Anthropologie einer grundsätzlichen Neulektüre zu unterziehen, um Plessners Ontologie des Organischen systematisch als solche zu entwickeln. Die Entwicklung dieser Ontologie des Organischen bildet nicht die Basis einer Ontologie des Politischen, die nicht sinnvoll als ontologischer Überbau aufzu­fassen ist, sondern die Ontologie des Organischen wird in dieser Studie zugleich - da die Differenzierung von Ebenen keine Sprengung von Einheit bedeuten muss - als Ontologie des Politischen entwickelt, deren beider gemeinsame Integrati­onsinstanz die menschliche Person bildet.

Diese Arbeit geht in der Analyse von Plessners Philosophischer Anthropologie von dem Verdacht aus, dass bestimmte Formulierungen, die Helmuth Plessner in seinen Werken scheinbar en passant verwendet, auf ein unentdecktes Zentrum seiner Philosophischen Anthropologie hinweisen. Dieser Verdacht ist sachlicher Natur und von einer systematischen statt von einer philologischen Intention befeuert, wenngleich seine Erhärtung viel philologischen Aufwand erfordert. Die grundlegenden Begriffe, an welchen dieser Verdacht sich entzündet hat, sind (1) die „Entelechie als Seinsmodus“, (2) die „immanente Teleologie“, (3) der Begriff der seienden Möglichkeit bzw. der realen Potenz und (4) der Ausdruck der „On­tologie des Organischen“. Die ersten drei finden sich in den Stufen des Organischen und der Mensch - nachfolgend der Kürze halber Stufen genannt - , der letztere in Macht und menschliche Natur. Nimmt man die „Ontologie des Organischen“ als Leitbegriff, dann scheint bereits eine gewisse Systematik auf, in der sich Entel-

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Einleitung 3

echie und Teleologie um den Begriff der „seienden Möglichkeit“ gruppieren und in welcher der Anklang an die Aristotelischen Grundbegriffe von Akt und Potenz nicht zu überhören ist. Dieser Verdacht gewinnt dadurch an Legitimität, dass Plessner auch den in seinen späteren Schriften zum Grundbegriff avancierten Begriff des Körperleibs in den Stufen beiläufig verwendet, ohne ihn in den Stufen dort auszuarbeiten. Die Tatsache, dass Plessner die gemeinhin als sein Hauptwerk angesehenen Stufen, aber auch Macht und menschliche Natur, unter enormem Zeitdruck verfasst hat, lassen vermuten, dass seine Philosophische Anthropologie auf einem doppelten Boden steht: dem Boden des explizit Ausgearbeiteten und dem des aus zeitlichen Gründen zu kurz Gekommenen, das kein Marginales oder Peripheres ist, sondern eine noch nicht ausgearbeitete Tiefenschicht dessen, was gedanklich explizit und stringent durchgeführt worden ist.

Das systematische Zentrum dieser Tiefenschicht von Plessners Philosophi­scher Anthropologie bildet, so die Annahme, welche die Untersuchung leitet, der Begriff der seienden Möglichkeit und damit die Denkfigur der Potenzialität, mit welcher Plessner den klassischen Vorrang des Akts vor der Potenz innerhalb einer Ontologie des Lebendigen umkehrt. Diese Annahme verbindet sich mit einer zweiten, welche die Untersuchung trägt, nämlich mit der Annahme, dass die naturphilosophische Potenzialitätsontologie Plessners keine von seiner Theorie des Politischen abgespaltene oder abspaltbare Bereichstheorie bildet, sondern dass die Ermöglichungsbedingungen des Politischen, wie Plessner sie in Macht und menschliche Natur benennt und später in Lachen und Weinen und Die Frage nach der conditio humana rollentheoretisch ausbuchstabiert, naturphilosophisch fundiert und von dieser Fundierung her rollentheoretisch ausgearbeitet werden. Diesen Brückenschlag, der von der Körperleiblichkeit als dem Medium des privat- öffentlichen Doppelgängertums her in Angriff genommen wird, hat Plessner selbst nicht mit der wünschenswerten systematischen Strenge und Ausführlichkeit ausgearbeitet. Dies hat jedoch Hans-Peter Krüger unternommen, dem die Über­legungen, gerade was die medientheoretische Ausformulierung angeht, viel ver­danken. Was weder Plessner noch Krüger in Angriff genommen haben, ist eine Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen Naturphilosophie und Rollentheorie im Ausgang von einer systematisch entfalteten Ontologie des Organischen. Diese bildet insofern das Herzstück dieser Studie.

Der Verdacht, dem hier nachgegangen werden soll, ist sachlicher Natur. Was in der ontologischen Auslegung Plessners auf dem Spiel steht, ist zunächst die Tragweite von Plessners spezifisch naturphilosophisch verfasster Ontologie: Gibt es bei Plessner eine Ontologie des Organischen und spielt sie im Gesamtansatz seiner Philosophischen Anthropologie eine tragende Rolle? Damit verbindet sich die Frage nach der Möglichkeit und Legitimität von Ontologie überhaupt. Denn wenn die hier gestellte Frage positiv zu beantworten ist und Plessners Philoso­

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4 Einleitung

phischer Anthropologie eine nicht bloß historische, sondern auch eine syste­matische Relevanz konzediert werden muss,1 darf die spätestens seit Habermas’ Nachmetaphysisches Denken Konsens gewordene Skepsis gegenüber der von der Metaphysik kaum noch unterschiedenen Ontologie grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Die systematische Intention, die den Gang dieser Untersuchung befeuert, erfordert gleichwohl beträchtlichen philologischen Aufwand. Zunächst ist dabei im ersten Kapitel in einer tour de force durch Plessners Werk aufzuzeigen, dass Plessners Verständnis von Ontologie sich keineswegs, wie eine auf seine Hei­degger-Kritik verengte Betrachtung vermuten lassen könnte, in einer pauschalen Ablehnung von Ontologie erschöpft, weshalb Plessner zwar eine schneidende Kritik an Heidegger formuliert, ohne jedoch - wie Adorno - die Möglichkeit einer legitimen Ontologie überhaupt zu verwerfen.2 Dies wird nicht nur daran zu er­weisen sein, dass Plessner seinen naturphilosophischen Ansatz aus den Stufen in Macht und menschliche Natur, wo der Angriff auf Heidegger fulminant ausfällt, als „Ontologie des Organischen“ bezeichnet, sondern auch daran, dass Plessner in Texten aus den 1920er Jahren ontologischem Denken eine gewisse Dringlichkeit konzediert und in späteren, auf Macht und menschliche Natur folgenden Texten zwar die klassische und die Heidegger’sche Fundamentalontologie als Ontotogien verwirft, aber aufgrund seiner Vertrautheit mit Nicolai Hartmanns neuer Ontologie einer phänomenologisch begründeten Ontologie weiterhin offenbleibt. Bezug­nahmen auf Plessners Briefwechsel mit König werden zeigen, dass das Projekt einer Ontologie (Hartmann, Plessners Stufen) im Unterschied zu einer Ontotogie (Heidegger, klassische Tradition) Plessners nie verworfene, aber auch nie syste­matisch ausformulierte Grundlage bleibt, die in der weitläufigen Auseinander­setzung mit den Stufen in Kapitel 4 zu entfalten sein wird.

Doch zuvor ist die Ontologie in ihrer historischen Gestalt aufzuarbeiten, weil sie die Begriffe und Denkstrukturen entwickelt, welche Plessner transformiert, und gerade in der Aristotelischen Fassung und dem Versuch, Wirklichkeit phi­losophisch zu denken, von der philosophischen Intention getragen wird, deren Einlösung mit den methodischen Mitteln Plessners auf eine neuartige und neue

1 Der rapide Zuwachs an systematischen Untersuchungen zum Werk Plessners seit den 1990er Jahren muss für ein Symptom einer solchen Relevanz gedeutet worden, wenn nicht unterstellt werden soll, dass Philosophie im Allgemeinen die Verfolgung von Privatneigungen unter wis­senschaftlichem Deckmantel ist. Zugleich sind solche Symptome nur von indikatorischem Wert, ihnen sind als solchen keine sachlichen Entscheidungsgründe zu entnehmen.2 Eine umfangreichere und systematisch orientierte Aufarbeitung des Verhältnisses zwischen den Ansätzen Plessners und Heideggers, als es hier möglich ist und idealiter stattfände, findet sich bei Wunsch 2014.

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Einleitung 5

Horizonte eröffnende Weise möglich ist. Zunächst ist dabei allerdings die Frage aufzuwerfen, ob Ontologie überhaupt historisch das war, wofür sie seit ihrer Kritik durch die Frankfurter Schule leichthin gehalten wird,3 nämlich eine das philo­sophische Fragen in allgemeinen Begriffen abschließende und zum Erliegen bringende Unternehmung, die sich böswillig als „philosophischer Fundamenta- lismus“ bezeichnen ließe. In einem historischen Exkurs zur Ontologie wird in Anknüpfung an Elisabeth Rompe und Panajotis Kondylis sowie in Auseinander­setzung mit Christian Wolff im ersten Schritt zu zeigen sein, worin die historische Intention der Ontologie überhaupt bestanden hat, die in der frühen Neuzeit nämlich gerade als Theologie- und Metaphysikkritik entstanden und von Wolff, also noch in der vermeintlich vorkritischen Phase neuzeitlichen Philosophierens, in solcher Weise kodifiziert worden war.

Von dieser historisierenden Problematisierung her ist überhaupt erst ein Zugang zum Aristotelischen Denken zu gewinnen, der nicht Metaphysik und Ontologie kurzerhand gleichsetzt, als müssten ontologische Gehalte notwendig in eine Metaphysik münden und als wären ontologische Begriffe und Motive nicht aus dem Zusammenhang einer Metaphysik herauslösbar, um sie ohne metaphy­sische Intentionen anzueignen. Dabei wird darauf zu sprechen zu kommen sein, dass der Aristotelische Realismus keine epistemologische These über eine un­abhängig von uns existierende Außenwelt darstellt, sondern die philosophische Intention bezeichnet, die Wirklichkeit als solche philosophisch zu erhellen statt epistemologisch einen Graben zwischen dem Denken und der Wirklichkeit auf­zureißen, dessen Vertiefung und Überbrückung zugleich die neuzeitliche Er­kenntnistheorie in ungewollter Simultaneität in Angriff genommen hat. Die spe­zifisch ontologischen Motive der Aristotelischen Philosophie, auf die es uns in der Auseinandersetzung mit Aristoteles ankommt, kristallisieren sich in zentralen Termini, die Plessner in nicht-metaphysischer Weise sich angeeignet hat, allen voran im Substanzbegriff und im Begriff der Entelechie. Beide, wie die Aristote­lische „Ontologie des Lebens“, deren Explikation durch Georg Picht uns als Leitfaden dienen wird, werden vom Verhältnis von Akt und Potenz her aufge- schlüsselt werden. Die Akt-Potenz-Relation führt in das Zentrum der Aristoteli­schen Metaphysik und deren Teleologie, wobei die Teleologie bei Aristoteles einen innermetaphysischen Sacherhalt darstellt statt, wie im Plessner-Kapitel, als Ex­plikationskategorie und Meta-Problem (in der Abgrenzung vom Teleologietypus à la Driesch) zu fungieren.4 Mit der Aufarbeitung dieser Kategorien und Zusam­

3 Vgl. Adorno 1970 und Haag 1960.4 Der Doppelstatus bei Plessner ergibt sich daraus, dass Plessners innere Teleologie eine Te­leologie in expliziter Abgrenzung von aller metaphysischen Teleologie ist. Man könnte auch sa-

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6 Einleitung

menhänge ist eine Vergegenwärtigung des Aristotelische Erbes, das Plessner sich aneignet, durchzuführen.

Edith Steins philosophischer Gesamtentwurf, der im dritten Kapitel zu be­handeln sein wird, zeichnet sich durch die Besonderheit aus, sowohl eine onto­logische Aneignung des Aristotelischen Kategorienarsenals in seiner Vermittlung durch Thomas von Aquin zu enthalten als auch eine theologische Aneignung des phänomenologischen Inventars zu beinhalten, das Stein als Schülerin Husserls und Schelers in direkter Auseinandersetzung mit den Gründungsvätern sich er­arbeiten konnte (vgl. Kap. 3.2 und 3.3). Auf Steins Aneignung des Problemhori­zonts der Moderne und ihrer Zeitgenossenschaft mit Plessner beruht ihre ge­genüber Aristoteles privilegierte Stellung in dieser Studie. Die Grundlage von Steins Denken bildet jedoch, was sie von Thomas von Aquin jenseits der spezifisch theologischen Denkfiguren an systematischen Gehalten sich einverleibt hat, nämlich die Akt-Potenz-Relation als ontologische Fundamentalunterscheidung, entlang welcher sie einen wiederum von Thomas von Aquin geprägten onto-an- thropologischen Stufenbau der Natur entfaltet. Dieser in Kap. 3.5- 3.8 ausführlich darzustellende Stufenbau bezieht seine über theorieantiquarische Reminiszenzen weit hinausreichende Relevanz in dieser Untersuchung aus dem Faktum, dass Stein sich über das klassische Erbe hinaus das Scheler’sche Projekt der Wissen­schaft von der menschlichen Person zu eigen macht. Mit dem Scheler’schen Projekt verpflichtet Stein sich auf eine Betrachtung der menschlichen Person, die den Menschen nicht aus der Natur herauslösen kann; per hiatum ist er daher bei Stein nicht nur aus epistemologischen Gründen, d. h. aufgrund der Fehlbarkeit seiner am göttlichen logos gleichwohl teilhabenden Vernunft, mit Gott verbunden, sondern auch deshalb, weil er elementar ein Naturwesen ist; diese Ambivalenz wird in Kap. 3.8 genauer zu verfolgen sein. Abschließend wird ein Streifblick auf Steins Sozialphilosophie geworfen, um anzudeuten, inwiefern Steins Auffassung der Seele als Kern der Person sowie ihre strikte Orientierung an Tönnies ihr die Möglichkeit verwehrt, Gesellschaft und Gemeinschaft als soziale Realitäten und Konstitutionsmomente einer rollentheoretisch elaborierbaren Personalität zu­gleich zu verstehen (Kap. 3.9).

Im Hauptteil der Arbeit (Kap. 4) ist zu zeigen, dass Plessners Anknüpfung an Schelers „Wissenschaft von der Person“ wegen seiner konsequenten naturphi­losophischen Ausgestaltung zu gänzlich anderen Ergebnissen führt. Plessner zielt auf eine „Neuschöpfung der Philosophie“,5 welche die Gestalt einer Philosophi-

gen, die Kategorie der „Teleologie“ trete bei Plessner sowohl in deskriptiver als auch in kritischer Funktion auf.5 SOM: 30.

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Einleitung 7

sehen Anthropologie annimmt und als solche zugleich als eine „Philosophie des lebendigen Daseins“6 durchgeführt werden muss. Die Hauptthese des vierten Kapitels wird lauten: Diese Philosophie des lebendigen Daseins wird von Plessner als eine Ontologie des Organischen als der systematischen Grundlage seiner Philosophischen Anthropologie durchgeführt. Diese These wird zu entwickeln sein im Ausgang von Plessners objektiver Transformation der Phänomenologie, welche als die methodische Grundlage seiner Ontologie auszuweisen sein wird. Diese Ontologie wird nicht als eine abstrakte Ontologie des Organischen zu ent­falten sein, sondern als eine phänomenologische Ontologie des Organischen, wie es als Wirkliches erscheint. Die in Kapitel 2 nachgezeichnete Aristotelische In­tention, philosophisch Wirklichkeit statt Realität zu erschließen, ohne Realität in die Wirklichkeit hineinprojizieren und als diese auszugeben, wird von Plessners objektiver Transformation der Phänomenologie her einzulösen sein. Die Wirk­lichkeit von Lebendigem wird vom Erscheinen der Wirklichkeit des Lebendigen her darzustellen sein anhand eines dreifachen Eigenschaftsbegriffs, der es erlauben wird, den phänomenologischen Doppelaspekt von Psychischem und Physischem innerhalb der Sphäre der Eigenschaftlichkeit von Erscheinung zu seiner ontisch- ontologischen Grundlage, der Grenze, in „einer Erfahrungsstellung“7 in Beziehung zu setzen.

Auf dieser Basis ist dann die Organisation des Lebendigen in der Verbindung der phänomenologischen Deskription mit einer funktionalen Analyse des Le­bendigen in Angriff zu nehmen, deren Hauptbegriff der ontisch-ontologisch doppeldeutige Begriff der Mitte - funktional benannt: der Grenzübergang - bilden wird. Als weitere Hauptbegriffe dieser Analyse werden sich allerdings genuin ontologische Begriffe erweisen: die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganz­heit wird als „immanente Teleologie“8 dargestellt werden, der Seinsmodus des Lebendigen wird von Plessners Begriff der „Entelechie als Seinsmodus“9 her be­stimmt werden (Kap. 4.10.2-4.10.4), und von der „immanenten Teleologie“ und der „Entelechie als Seinsmodus“ her wird die harmonische Äquipotentialität als ontologische Denkfigur neu zu belichten sein (Kap. 4.10.3). Damit geht die Not­wendigkeit der ebenfalls durchzuführenden Neubestimmung mehrerer zentraler Konzepte Plessners einher: Die Mitte, die Plessner zufolge „als Vermögen (Potenz) real“10 sei, ist keine substantiale Entität, sondern ein Moment der Selbstorgani­sation von Lebendigem, das dadurch gerade nicht mit sich selbst identisch ist,

6 Ebd.7 Ebd.: 14.8 Vgl. ebd.: 170, 177,190.9 Ebd.: 146.10 Ebd.: 162.

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8 Einleitung

sondern in sich zur Differenz zu sich selbst steht. Diese Paradoxie wird vom Begriff des „Vorwegseins“ her einzuholen sein, den wir allerdings in systematischem Einklang mit Plessner, um der teleologisch-entelechialen Struktur und der Po- tenzialität des lebendigen Seins vollauf gerecht werden zu können, als Sich-Vor- wegsein-zu spezifizieren werden müssen. (Kap. 4.13-4.15) Das Sich-Vorwegsein- zu verbindet Plessners Neufassung des Verhältnisses von Akt und Potenz als ontologischen Strukturmomenten, das in Kapitel 4.10.6 seine Darstellung erfahren wird, mit der Bezogenheit von Lebendigem auf sein Positionsfeld, kurz: Das Sich- Vorwegsein-zu entfaltet das Vorwegsein konsequent im Sinne der Überschüssig- keit der Mitte als Potenz gegenüber der blanken Positivität von Dinglichem.

In einem disziplinären Segmentierungstendenzen brechenden Schritt wird im fünften Kapitel diese Ontologie des Organischen als Grundlage einer Theorie des Politischen bei Plessner dargestellt werden. Mit anderen Worten: Wo von den Ermöglichungsbedingungen des Politischen gehandelt wird, ist die Terminologie der Ontologie des Organischen nicht zu suspendieren (vgl. Kap. 5.4), weil das Medium der Genesis des Politischen, der als mediale Grundlage des privat-öf­fentlichen Doppelgängertums fungierende Körperleib (Kap. 5.3), im Boden der lebendigen Natur unaufhebbar verwurzelt bleibt: Was beide systematisch ver­klammert, ist Plessners Ontologie des Ausgleichs (Kap. 5.2), welche die Selbst­vermittlung des Organismus zur Ganzheit ebenso zu beschreiben vermag wie die einen Teil ihrer Praxis bildende (vgl. 5.2.1) Verschränkung von Leibsein und Körperhaben in Personalisierung und Individualisierung. Die Struktur der Kör­perleiblichkeit und die Struktur des privat-öffentlichen Doppelgängertums wer­den als strikt komplementäre Strukturen darzustellen sein aufgrund der Kom­plementarität der „Aspektrichtungen“ (Krüger) von Leib und Körper mit den - dieser Begriff wird hier ebenfalls neu zu prägen sein - Sinnrichtungen des Öf­fentlichen und des Privaten (Kap. 5.4 und 5.4.1). Personalisierung und Indivi­dualisierung bleiben zwar unaufhebbar in der lebendigen Natur verwurzelt, sie erschöpfen sich medial aber nicht in der Körperleiblichkeit, sondern vollziehen sich - nicht ausschließlich, aber in herausragender Bedeutung - mittels der Sprache als der medialen Materialisierung der exzentrischen Positionalität. Dieser Begriff wird, wie der medientheoretisch orientierte Ansatz überhaupt, der hier verfolgt wird, seine Erläuterung in Kap. 5.6 finden. Maßgeblich wird hierbei an Hans-Peter Krügers Weiterführung des Plessner’schen Werks anzuknüpfen sein, in welcher sowohl die hier aufgenommene medientheoretische Orientierung ein­geführt wird als auch das Politische - über Plessners engere Fassung desselben in Macht und menschliche Natur - sowohl rollen- als auch verhaltenstheoretisch von Plessners späteren Werken her eingeholt wird. Auf dieser Grundlage lässt sich in Kap. 5.8 der Begriff der Potenzialität, der im Sinne der Begrenzung der Selbst­mächtigkeit durch die lebendige Natur als „liminale Potenzialität“ dargestellt

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Einleitung 9

werden wird (Kap. 5.8.1), sich in steter Beachtung der die Person ontologisch konstituierenden Lebendigkeitsstrukturen in positiver Weise fassen lassen als medial potenzierte Potenzialität, die einen ausgleichenden Umgang mit der Be­grenztheit durch Lebendigkeit ermöglicht (Kap. 5.8.2), wodurch wir mehr sind als „bloße Natur“. Der ontologische Charakter der Potenzialität der Person gründet, so wird zu zeigen sein, gleichermaßen in ihrer Begrenztheit durch Natur wie im sprachlich vermittelten und im privat-öffentlichen Doppelgängertum sich voll­ziehenden Umgang mit ihrer Natur, um in der Gebundenheit an die Natur von ihr loszukommen.

Der Schlussteil wird, abgesehen von einer obligatorischen Rekapitulation der zentralen Ergebnisse, eine Thematisierung des Stellenwerts der Ontologie im systematischen Philosophieren enthalten. Synoptisch werden die Hauptmotive und -ergebnisse dieser Untersuchung noch einmal zu versammeln sein, um einen resümierenden Überblick über den verschlungenen Argumentationsgang zu ge­ben. Insbesondere sollen dabei noch einmal die entscheidenden Unterschiede zwischen Plessner und Stein pointiert zur Sprache gebracht werden. Mit den Er­gebnissen zur Hand, soll auch der über die exegetische Aufarbeitung hinausrei­chende Anspruch dieser Studie klar gefasst werden.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

Bevor danach gefragt werden kann, inwiefern Plessners Philosophische Anthro­pologie eine Transformation der klassischen Ontologie darstellen kann, muss danach gefragt werden, was eigentlich unter der „klassischen Ontologie“ zu verstehen sei. Diese Klärung kann jedoch wiederum nicht unmotiviert vorge­nommen werden und muss folglich vor dem Hintergrund von Plessners Ver­ständnis von Ontologie und seinem damit zusammenhängenden philosophischen Selbstverständnis anvisiert werden. Daher soll in einem weitestgehend chrono­logischen und „essentialistischen“, d.h. Grundlinien und -Orientierungen ge­genüber der positivistischen Vollständigkeit privilegierenden Durchgang durch Plessners Gesamtwerk herausgestellt werden, was Plessner in den verschiedenen Phasen seines Denkens unter Ontologie verstanden und wie er sich gegenüber ontologischen Entwürfen im Einzelnen und gegenüber ontologischem Denken im Ganzen positioniert hat. Im nächsten Kapitel erfolgt eine Darstellung der grund­begrifflichen Konfiguration dessen, was man - wenn auch nicht unproblema­tisch - „klassische Ontologie“ nennen kann, am Leitfaden der Akt-Potenz-Rela- tion und in der Orientierung an den Begriffen und Motiven, mit denen Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch (nachfolgend der Kürze halber Stufen genannt) über weite Strecken implizit oder explizit kommuniziert.

1.1 Der affirmative Begriff der Ontologie bis zur Mitte der 1920er Jahre

In seinen frühen Aufsätzen Vitalismus und ärztliches Denken (1922), Über den Realismus in der Psychologie (1922) und Über die Erkenntnisquellen des Arztes (1923) steht Plessner unter einem starken doppelten Einfluss, nämlich dem Hans Drieschs und dem Max Schelers. Daraus ergibt sich die doppelte thematische Orientierung am Vitalismus (Driesch) und am Begriff der Person und der Rolle des Physischen in der Konstitution der Person (Scheler). Die Rolle, die Driesch für Plessners Denken spielt, wird im vierten Kapitel dieser Studie von der Transfor­mation der Ontologie in den Stufen her eingeholt werden; an dieser Stelle soll es vor allem um den Einfluss Schelers gehen, da bei Scheler die genannten thema­tischen Motive ontologisch entfaltet werden.

In Vitalismus und ärztliches Denken knüpft Plessner an die Probleme an, die der Vitalismus dem Mediziner stellt:

D0I 10.1515/9783110459159-002

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1.1 Der affirmative Begriff der Ontologie bis zur Mitte der 1920er Jahre 11

Für den Mediziner enthält also die Vitalismusfrage drei Probleme: 1. Das Wesen des Orga­nischen, seine Erklärbarkeit oder Unerklärbarkeit nach allgemeinen Naturgesetzen; 2. Das Wesen der Individualität im Verhältnis von Art und Typus; 3. Das Wesen der Person als psychophysischer und als verständlicher Einheit.1

Auf die erste Frage antwortet Driesch mit dem Aristoteles entlehnten Entelechie- Begriff, womit ein weder sinnlich aufweisbarer noch messbarer formbildender Faktor gemeint ist, der kausal und damit gestaltbildend auf Organisches einwirken kann. Der Entelechie steht konzeptionell die Auffassung einer mechanistischen Naturwissenschaft gegenüber, welche das Organische gemäß allgemeinen Na­turgesetzen erklären, d. h. mit mathematischer Genauigkeit bestimmen will, wobei „eindeutige Bestimmbarkeit und mathematische Definierbarkeit [...] für Natur­vorgänge ein und dasselbe“2 seien. Das Aufbrechen dieser eindeutigen Be­stimmbarkeit, auf welches Driesch mit dem Faktor der Entelechie zielt, welcher die Differenz zwischen dem naturwissenschaftlich nicht erschöpfend erkennbaren Lebendigen und dem verlustfrei naturwissenschaftlich Objektivierbaren begrün­den soll, markiert für Plessner den „von Martius völlig zu Recht hervorgehobene [n] Unterschied zwischen naturwissenschaftlicher und ontologischer, d.h. philoso­phischer Denkweise“.3 Ontologisches Denken wird hier nicht nur mit philoso­phischem gleichgesetzt, sondern gemäß seinem Anspruch, aufs Ganze des Seins zu gehen, dem methodisch am Ideal mathematisch exakter Bestimmung orien­tierten Denken entgegengehalten. So verstanden ist Ontologie nicht nur eine Bezeichnung für ein „proto-philosophisches“ Denken, sondern zugleich für ein emanzipatorisches Denken, da mit ihm überhaupt erst das von Plessner genannte dritte Problem, das „Wesen der Person als psychophysischer und als verständli­cher Einheit“ in den Blick genommen werden kann.

Dass es sich bei der Verwendung des Begriffs „ontologisch“ hier nicht um eine beiläufige und daher bar aller systematischen Tragweite seiende handelt, zeigt sich in dem ein Jahr später erschienenen Aufsatz Über die Erkenntnisquellen des Arztes, wo Plessner vom „erkenntnistheoretische [n] bzw. ontologische[n] Ort jener Klasse von Objekten, die wir Personen nennen“4, spricht. Die in dem Aufsatz als Ziel genannte „Wissenschaft von der menschlichen Person“,5 als deren maß­geblichen Urheber Plessner in den Stufen - ohne das Attribut „menschlich“ - Max

1 Plessner 1985a: 8.2 Ebd.: 18.3 Ebd.4 Plessner 1985b: 505 Ebd.

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12 1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

Scheler nennt,6 ist demnach nur als Ontologie durchführbar und wird zugleich als „Aufgabe der Naturphilosophie“7 bestimmt. Die Naturphilosophie, welche zu einer Wissenschaft der menschlichen Person führen kann, muss zugleich als Ontologie durchgeführt werden und umgekehrt. Die Notwendigkeit einer Onto­logie bzw. Naturphilosophie im Unterschied zur bloßen Naturwissenschaft ergibt sich daraus, dass eine Person weder „rein physische Natur, daher nicht restlos physikalisch-physiologisch, und nicht der rein psychische Seinskreis, daher nicht restlos psychologisch bestimmbar“8 ist. Vor dem Hintergrund der philosophischen Inauguration des Person-Begriffs durch Scheler stellt sich das Vitalismusproblem für Mediziner „anders als vor zehn Jahren“9 dar und zerfällt in zwei Probleme: die „1. zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie geteilte Jurisdiktion in Sachen des Wesens des Lebens; 2. [die] empirische Erforschbarkeit der psycho­physischen Personeinheiten nach teilweise eigenen begrifflichen Maßstäben“10. Aus dieser doppelten Problemlage resultiert nach Plessner die „Antinomie zwi­schen der verstehenden Aufgeschlossenheit, mit der eine ,Person* überhaupt erst sichtbar und beeinflußbar wird, und der erkennenden Objektivierung“11, um welche die Naturwissenschaften sich bemühen.12 In dieser Antinomie klingt die

6 SOM: 74. - In dieser Studie wird daher öfter von einer „Wissenschaft von der menschlichen Person“ die Rede sein, die der exegetischen Gerechtigkeit gegenüber der systematischen Selbst- verortung Plessners wegen explizit als ein Scheler’sches Projekt bezeichnet werden wird, obwohl Plessner in Die Einheit der Sinne eine solche Wissenschaft als eine geistesgeschichtliche Tendenz darstellt, an der eine Reihe von Protagonisten sich versucht haben: „Dieser Tendenz, welche Dilthey, William Stern, Spranger in seinen Lebensformen, Scheler in seiner Ethik, Psychiater wie Specht, Schilder, Jaspers in seiner Allgemeinen Psychopathologie und Psychologie der Weltan­schauungen, Kraus in seiner Pathologie der Person auf verschiedenste Weise spiegeln und die auf zahlreiche Wissensfächer einzuwirken beginnt, weiß sich die vorliegende Untersuchung als Versuch einer Strukturtheorie der menschlichen Person, und zwar zunächst ihrer Fundamen­talbeziehungen zur Umwelt, verbunden.“ (EdS: 19 f.) Die explizite Anbindung an Scheler wird hier durchgehend aufgegriffen, obwohl auch eine an Dilthey möglich wäre (vgl. SOM: 24), da Scheler den gemeinsamen Bezugspunkt von Plessner und Edith Stein bildet und die Wissenschaft von der menschlichen Person im Sinne einer philosophischen Anthropologie auszuführen suchte.7 Ebd.8 Ebd.9 Ebd.: 52.10 Ebd.11 Ebd.: 53.12 Als praktisches Desiderat der ärztlichen Praxis leitet Plessner aus dieser Antinomie eine doppelte Orientierung ab: „Und der praktische Effekt dieser ganzen erkenntnistheoretischen Betrachtung für den Arzt? Zunächst die strenge Bindung seines Handelns an das Laboratorium, Stärkung seines Vertrauens auf die experimentell-exakte Forschung, jedoch mit der Mahnung, darüber nicht die Seiten des Lebens, der Person zu vergessen, welche dem Laboratorium tran­szendent sind.“ (ebd.: 51)

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1.2 Die ontisch-ontologische Zweideutigkeit des Psychischen 13

dritte Kantische Antinomie zwischen Freiheit und durchgehender naturgesetzli­cher Bestimmung aus der Kritik der reinen Vernunft an, ohne dennoch ihre Wie­derkehr zu feiern. Vielmehr geht es Plessner darum, das Problem mit neuen me­thodischen Mitteln, nämlich denen der Phänomenologie, anzugehen, um Personalität in ihrer irreduziblen Eigenständigkeit verstehend zu erfassen. Das Problem ist formuliert, die Methode erfährt darauf ihre zu den Stufen hinführende Ausformulierung in der 1925 erschienenen Schrift Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs (1925), deren Behandlung aus nicht bloß chronologischen Gründen, wie sich zeigen wird, eine Betrachtung der Grenzen der Gemeinschaft vorangestellt werden soll.

1.2 Die ontisch-ontologische Zweideutigkeit des Psychischen in den Grenzen der Gemeinschaft (1924)

Bei den Grenzen der Gemeinschaft handelt es sich um eine Streitschrift, in der Plessner einen Gegner und dessen ideologische Position klar benennen kann und dementsprechend deutlich seine eigene Position ausformulieren muss. Dem Charakter der Schrift sowie dem enormen Tempo, in welchem Plessner sie verfasst hat, dürften terminologische Unstimmigkeiten geschuldet sein, die hier nicht vertieft werden sollen. Exemplarisch benannt, weil für diese Arbeit von beson­derem Belang, ist, dass Plessner sowohl von der „ontischen Zweideutigkeit des Psychischen“13 als auch von der „ontologischen Zweideutigkeit“14 derselben spricht. Der Ausdruck der „ontischen Zweideutigkeit“ mag zunächst befremden, erscheint aber durchaus sinnvoll, wenn man unter der ontischen Zweideutigkeit die faktische Ambivalenz in praktischen Lebenszusammenhängen versteht, wel­che wiederum in der „ontologischen Zweideutigkeit der Seele“ als solcher grün­det. Dass dem Begriff der „ontologischen Zweideutigkeit“ innerhalb der Argu­mentationslogik der Grenzen der Gemeinschaft der Vorrang zukommt, ergibt sich aus Plessners Argumentationsziel: „Der Radikalismus [...] wird in dem Augenblick als Lüge entlarvt sein, in welchem „zur Klarheit gediehen ist, daß auch das see­lische Leben und Sein für sich genommen nur unter besonderen Kautelen den Werten der Direktheit Raum gewährt, im übrigen die Methoden der Indirektheit, der Gewalt befolgen muß.“15

13 GdG: 92.14 Ebd.: 63.15 Ebd.: 27.

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Wo ein solcher Anspruch formuliert wird, müssen die Gründe den Status von Beweisgründen beanspruchen und auf einem doppelten Grund stehen. Nichts wird einem solchen Erfordernis besser gerecht als eine sowohl ontisch als auch ontologische Zweideutigkeit, die ontologisch, d.h. aus dem Wesen der Seele, begründet, was ontisch sich zeigen muss, denn aus der „ontologischen Zwei­deutigkeit resultieren mit eherner Notwendigkeit die beiden Grundkräfte des seelischen Lebens: der Drang nach Offenbarung, die Geltungsbedürftigkeit, und der Drang nach Verhaltung, die Schamhaftigkeit“.16 Was ontisch geschieht, nämlich dass die Seele stets zu einer Fixierung drängt, die sie immer wieder fliehen muss,17 erhält durch die ontologische Zweideutigkeit seinen - psycho- pathologisch neutralen - Zwangscharakter. Die ontologische Zweideutigkeit be­nennt Plessner auch mit einem der ontologischen Tradition entlehnten Terminus „wesenhafte Zweideutigkeit“;18 diese bilde die „Wurzel der Wesensgesetze der Seele“.19 Zu diesen Anleihen bei den begrifflichen Errungenschaften der Tradition gesellt sich allerdings eine Traditionsverhaftetheit, wenn er die „menschliche Person als Einheit von Körper, Seele und Geist“20 bestimmt. Der strategisch triftige Grund dafür, dass Plessner die klassische, entitär zu verstehende Trias von Körper, Seele und Geist hier allerdings aufnimmt, ist in seiner Polemik gegen den Dua­lismus zu finden, „dem die Einheit der menschlichen Person verloren geht“21 und der daher zur „Verdrängung des Zivilisationstriebes, der Werte der Künstlichkeit“22 führe. Liest man die Stelle zudem im Zusammenhang mit Plessners - wenn auch wesentlich späterer - Behauptung, die klassische Ontologie verfehle ihren Ge­genstand ironischerweise gerade ontologisch, also in der realistisch-entitären Begründung ihrer Ergebnisse, aber nicht phänomenologisch,23 so liegt es nahe, dass Plessner mit der Trias - ohne die Formulierung ontologisch neutralisieren zu können - einen phänomenologischen Sachverhalt im Sinn hat.

Von Plessners Bewusstsein des Mangels an systematischer Durchbildung, die sich in der vordergründig klassisch ontologischen Bestimmung der Person zeigt, zeugt auch seine Einforderung von Kulanz seitens des Rezipienten: „Für den

16 Ebd.: 63.17 „Der doppeldeutige Charakter des Psychischen drängt zur Fixierung hin und zugleich von der Fixierung fort.“ (ebd.)18 Ebd.: 64 - Vgl. dazu auch das Kapitel zu Edith Stein, in welchem der Begriff der Wesenhaf­tigkeit eine zentrale Rolle spielt.19 Ebd.20 Ebd.: 114. - Exakt diese Bestimmung wird sich wiederum bei Edith Stein nachweisen lassen, allerdings systematisch und großflächig durchgeführt.21 Ebd.: 130.22 Ebd.23 Vgl. Plessner 2003a: 280

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1.2 Die ontisch-ontologische Zweideutigkeit des Psychischen 15

Fachmann, der an der leichten Form der Beweisführung begreiflichen Anstoß nimmt, sei bemerkt, daß jene Partien einer Philosophie des Psychischen im vierten Kapitel allerdings neuartig sind, doch ihre ausführliche Begründung dort nicht finden konnten.“24 Was Plessner hier als das Neuartige benennt - neuartig in der Durchführung, die Prominenz des Begriffs geht wiederum auf Scheler zurück - , die „Philosophie des Psychischen“, wird in der ein Jahr nach den Grenzen er­schienenen Deutung des mimischen Ausdrucks vertieft und als „Ontologie des Psychischen“ bezeichnet. In den Grenzen der Gemeinschaft beschränkt die on­tologische Bestimmung der Psyche sich auf deren wesenhafte Zweideutigkeit, allerdings wird diese Bestimmung in komplexer und vielschichtiger Weise aus­buchstabiert. Bei aller gebotenen Kürze darf ein Aspekt des Psychischen in den Grenzen hier nicht übergangen werden: Aufgrund seiner ontischen und ontolo­gischen Zweideutigkeit ist dem Psychischen eine konstitutive Dynamik einge­schrieben, die es bei keiner erreichten Identität verweilen oder heimisch werden lässt. Sowohl im Ausdruck des Psychischen als auch im Urteil über das (zum Ausdruck gelangte) Psychische geschieht unweigerlich etwas, was Plessner Ver­einseitigung und Festlegung nennt25 und das Psychische aufgrund seiner We- sensverfasstheit in die Aufhebung derselben treibt. In dieser Bewegung flüchtet das Psychische nicht vor seinem Wesen, sondern es vollzieht sein Wesen, indem es, zu einer manifesten Ausdrucksgestalt gelangend, zum Anderen seiner selbst strebt. Das Andere ihrer selbst ist das, was die Vereinseitigung im Ander(e) swerden aufhebt, dabei aber eine neue schaffen muss. Plessner nennt diese Zweideutigkeit auch die „dialektische Dynamik des Psychischen“.26 Was Pless­ner - das sei hier weit vorausgreifend angemerkt - mit dieser dialektischen Dy­namik des Psychischen und der immer wieder neu sich entwindenden antithe­tischen bzw. antagonistischen Bewegung umreißt und was in keiner finalen Versöhnung zum Stillstand zu bringen ist, ist nichts weniger als eine gebiets­spezifische Vorwegnahme von Adornos negativer Dialektik, als deren Grundbe­

24 Ebd.: 12.25 Vgl. ebd. 64 und 71, insbesondere aber 63.26 „So ist der Mensch in den Antagonismus von Realitätstendenz und Illusionstendenz hin- eingezogen, ohne ihm entfliehen zu können noch je zu wollen, und diese Antithetik, weit entfernt, von unserer ästhetischen oder gar nur künstlerischen Einstellung zur Welt abhängig zu sein, gehört zur Natur des Psychischen, ja bringt sie vielleicht auf einer noch tieferen Stufe zum Ausdruck als die Antagonismen von Naivität und Reflexion, von Schamhaftigkeit und Eitelkeit. Vielleicht, wir wagen nur anzudeuten, wurzelt die dialektische Dynamik des Psychischen unter den Aspekten ihrer praktischen Bestimmung und ihrer Erkenntnis in der ästhetisch noch am reinsten faßbaren zum Antasten verlockenden Unantastbarkeit.“ (ebd.: 68) - Vgl. außerdem ebd.: 66, 84, 94.

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16 1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

griff bei Plessner der - gleichwohl nur an einer Stelle verwendete - Begriff des „Ungrundcharakter[s] der Psyche“27 angesehen werden könnte.

1.3 Deutung des mimischen Ausdrucks (1925)

In Die Deutung des mimischen Ausdrucks benennt Plessner als Problem, dass „im Ausdrucksund Deutungsproblem biologische, psychologische und erkenntnis­theoretische Fragen liegen“,28 die „bisher in erkenntnistheoretischen Einteilungen vielleicht nicht untergebracht werden konnten und durch methodologische Vor­erwägungen zerredet wurden“;29 Plessner hingegen geht es darum, am Phänomen anzusetzen, „wie es im vorproblematischen Leben da ist“.30 Das „vorproblema­tische“ Leben ist das der unmittelbaren, von keinen theoretischen Prämissen, Annahmen oder Erwartungen überformte Leben der unmittelbaren Anschauung: „Hat sie [die phänomenologische Anschauung - S.E.] also sorgsam darauf zu achten, die Nähe zur Sache sich nicht durch Theorien über die Sache, und mögen sie noch so viel wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt besitzen, verderben zu las­sen, so darf sie doch nicht in der Freude der Anschauung verlorengehen“,31 sondern muss „von den anschaulichen zu den erschaubaren Tatbeständen, den Wesenheiten“32 voranschreiten. Verödet wird diese Art der Anschauung in der Schicht des Verhaltens als einer Sphäre psychophysischer Indifferenz: „In solcher psychophysisch neutralen oder gegen eine derartige Antithese noch gleichgülti­gen Schicht leben wir selbst als Leibwesen wie auch die Tiere.“33 In dieser Schicht des Verhaltens nehmen wir zunächst wahr, dass andere Wesen als belebte auch wahrnehmen, ohne zu erfassen, was sie wahrnehmen; letzteres zu ermitteln, weist Plessner der empirischen Forschung als Aufgabe zu: „Was das Tier sieht, hört, riecht und ob es das überhaupt kann, ermittelt in allen Zweifelsfällen das Expe­riment. Aber daß es [...] in der Weise des Hörens, Sehens usw. die Umgebung dann gegenwärtig hat, ist mir in der anschaulichen Vergegenwärtigung der Leibum­weltrelation deutlich.“34 Plessner bezeichnet es als „merkwürdig, daß die ei­gentlich unsichtbaren Verhältnisweisen von Leib und Umgebung anschaubar

27 Ebd.: 62.28 DmA: 75.29 Ebd.30 Ebd.: 76.31 Ebd.32 Ebd.33 Ebd.: 80.34 Ebd.: 81.

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1.3 Deutung des mimischen Ausdrucks (1925) 17

sind“,35 muss aber bei diesem Faktum der Anschauung verweilen, will er nicht den Boden der Phänomenologie verlassen und den einer empirisch-kausalen Theorie der Wahrnehmung betreten.36 Als Beispiele für solche „ Verhältnisweisen von Leib und Umgebung“ nennt Plessner „Suchen und Finden, Drohen und Fliehen“37. Bei der Wahrnehmung solcher Phänomene handelt es sich für Plessner um Beispiele der „einfachste [n] Wahrnehmung des Lebendigen, dem wir darum noch kein Seelisches und noch kein Körperliches im Reduktionssinne der exakten Psycho­logie und Physiologie unterlegen müssen“.38 Obwohl das in solcher Weise an­schaulich Gegebene in psychophysischer Indifferenz als reines Ausdrucksbild gegeben ist, so ist es dennoch nicht semantisch indifferent; es ist nicht so, dass in der Anschauung nicht unterschieden wird, vielmehr wird gerade in ihr und nicht durch sie oder von ihr als hermeneutischer Grundlage aus unterschieden. Deshalb bestimmt Plessner die Bilder der Anschauung als Ausdrucksbilder:

Ausdruck als sinnerfülltes Bild hat Seinswert, Handlung als sinnerfüllende Bewegung hat Funktionswert. [...] Im Ausdruck erscheint der Sinn, und das Phänomen, die Gestalt wird selbst transparent, indem wir ihn verstehen. Das [...] liegt in der Auffassung des Bildes als eines Symbols für den Sinn begründet. Die in der Schicht des Verhaltens selbst mitgegebene Sinnhaftigkeit wird hier, so wie sie da ist, konkretisiert und festgehalten und in der Er­scheinung als ihrer plastischen Ausprägung objektiviert [...].39

Im Ausdruck erscheint der Sinn, weil es sich um kein zeitliches Verhältnis handelt, in welchem erst der Ausdruck und danach, d.h. im Durchgang durch eine nachträgliche Interpretation, der Sinn desselben erst sich einstellte. Im Ausdruck ist zu unterscheiden von: in der Erkenntnis40 des Ausdrucks, welche das unmit­

35 Ebd.36 Über die Unmöglichkeit, phänomenologisch über die Phänomenologie hinauszugelangen, sagt Plessner in Die Deutung des mimischen Ausdrucks: „Läßt phänomenologisch Gefundenes auch keine weitere Erklärung zu, so hat die Philosophie immer die Aufgabe, zu den Urphäno- menen weiterzustreben, was allerdings auf rein phänomenologische Weise nicht mehr gelingt.“ (ebd.: 76) Wenig problematisch ist diese Begrenztheit, wo es darum geht, eine Methode überhaupt erst einmal zur Durchführung zu bringen statt von vornherein auf ihre Grenzen zu verweisen mit dem großartigen Gewinn, ihren Nutzen gar nicht erst ermitteln zu können. Wenig erstaunlich ist deshalb, dass die Plessner in den Stufen eine mehrstufige Methodik entwickelt, deren erste Stufe die phänomenologische Deskription bildet.37 Ebd.: 81.38 Ebd.39 Ebd.: 91.40 Die Einführung eines epistemologischen Subjekts würde die natürliche bzw. unmittelbare Anschauung zerreißen und drohte „den ,Sinn‘ ganz ins psychologische oder erkenntnistheore­tische Subjekt zu verlegen“, (ebd.: 88) Es geht also nicht darum zu behaupten, es bestünde keine

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telbare Verständnis des Bildes nochmals interpretativ überformt und zudem das psychologische oder epistemologische Subjekt genau derjenigen Erkenntnis­theorie einführt, deren Voraussetzungen hier suspendiert werden. Daher spricht Plessner auch von einer „ursprüngliche [n] Identität von Anschaulichkeit und Verständlichkeit“.41 Plessner will damit nicht die Interpretation komplexen Aus­drucksgeschehens vereinfachen, als wäre jegliches Ausdrucksbild per se unpro­blematisch und nicht irrtumsanfällig; vielmehr geht es darum, phänomenologisch festzuhalten, dass in der Sphäre der Ausdrucksbilder elementare Unterschiede sich sinnhaft manifestieren, die nicht durch nachträgliche theoretische Unter­scheidungen analytisch erschlossen werden müssen. Exemplarisch führt Plessner den Unterschied zwischen Verhalten und bloßer Bewegung42 an: „Man wird sich diese anschauliche Einsicht auch so vergegenwärtigen können, wenn man sagt, daß wir primär Tiere und Menschen als ,sich verhaltende* und nicht als bloße Bewegungen ausführende Lebewesen wahrnehmen.“43 Plessner definiert diese Differenzierung am Beispiel des Hundes: „Daß der Hund an mir emporspringt, ist objektiv konstatierbar; daß er mich freudig begrüßt, ist mir in seinem Gebaren als Richtungsform deutlich.“44 In dieser Unterscheidung spiegelt sich die zwischen naturwissenschaftlicher und „naiver“ bzw. phänomenologischer Weltauffassung wider: „So würde ein unmenschlicher* Physiologe das Verhalten der Tiere und des Menschen bestenfalls als gestaltmäßige Abläufe erfassen [...]. Und doch hat der Mensch außerdem die Fähigkeit, in dem Verhalten der Lebewesen den Sinn, d. h. das Motiv in der Gestalt wahrzunehmen.“45 Wieder ist hier die Präposition „in“ von Bedeutung: In der Gestalt ist das wahrnehmbar, worauf nicht von der Gestalt her geschlossen zu werden braucht. Die Ausdrucksgestalt ist daher in sich gerichtet, sie ist in sich intentional im Unterschied zur Handlung, die auf ein vermitteltes Ziel bezogen ist:

Indem sich Handlung auf ein Ziel bezieht, einer Endphase als ihrer Erfüllung zustrebt,schreitet sie sukzessiv vorwärts, in jedem Moment sich verändernd. Macht man von einerHandlung eine Momentphotographie, so zeigt das Bild, das nur eine Durchgangs-phase

epistemische Relation, sondern darum die epistemische Relation in analytisch verdinglichte begriffliche Einheiten zu zerlegen, welche der naiven Anschauung äußerlich sind.41 Ebd.: 83.42 In einem zur Differenz zwischen Belebtem und Unbelebtem querstehenden Beispiel wendet Plessner den Sinnbegriff auf das seinerzeit beliebte Beispiel der Melodie an: „Eine Melodie ist eine Gestalt auch für den Unmusikalischen. Der Musikalische aber erfaßt außer der Gestalt noch etwas Wesentliches, was in der Melodie selbst drinsteclct, nämlich ihren ,Sinn‘.“ (ebd.: 85)43 Ebd.: 82.44 Ebd.45 Ebd.: 85.

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1.3 Deutung des mimischen Ausdrucks (1925) 19

repräsentiert, nicht einmal den Charakter der Verständlichkeit. Ganz anders der Ausdruck. Er hat sein Ziel in sich, erfüllt sich an sich selbst, ist seinem Wesen nach auf nichts zweckmäßig eingestellt.46

Zerlegt man den Ausdruck künstlich in einzelne Bewegungssegmente, so verliert er in der zeitlichen Entwicklung nach Plessner seinen Ausdruckswert nicht: „Im Unterschied zur Handlung ist an jedem zeitlichen Abschnitt einer reinen Aus­drucksbewegung (Lachen, Weinen usw.) der ganze Sinn am Bilde deutlich.“47 Der Ausdruck ist die Elementargestalt alles Lebendigen; im Ausdruck zeigt sich die Fundamentaldifferenz zwischen Lebendigem und Unbelebtem. Die Gestalt, die sich im Ausdruck manifestiert, ist eine Ganzheit, nicht ein bloßes Ding: „Im Ausdruck wird ein Ganzes manifest und in dieser Manifestation ruht der lebendige Träger des Ausdrucks.“48

Wendet man sich konkret dem Problem des mimischen Ausdrucks zu, so stellt sich das Problem des Fremdpsychischen, in der klassischen Phänomenologie zumal, unweigerlich. Plessner lässt sich auf bewusstseinsphilosophische Aporien und die verzweifelten argumentativen Winkelzüge, mittels deren man sie zu be­wältigen sucht, gar nicht erst ein. Die Realität des anderen Ichs ist demzufolge nicht der Gegenstand der Untersuchung, „sondern ihre Voraussetzung; und nicht bloß eine methodologische Hypothese, sondern eine in der Struktur der menschlichen Sphäre, der Schicht menschlichen Verhaltens gegründete an­schauliche Notwendigkeit und Gewißheit“49. Mit dieser Voraussetzung knüpft Plessner an Schelers Kritik von Theorien des Fremdpsychischen an, die sich gegen Theorien richtet, welche das Wahrgenommene substanzialistisch verdoppeln: „Er bestreitet ihre Voraussetzung einer maskenhaften Natur der Bilder, in denen der andere uns erscheint, und bejaht die Möglichkeit einer direkten Wahrnehmbarkeit des Psychischen in (und nicht,hinter“) den Bildern.“50 Darin, dass Plessner diesen Schachzug als Schelers „eigentliches Verdienst“51 bezeichnet, zeigt sich der

46 Ebd.: 90.47 Ebd.: 91.48 Ebd.: 94.49 Ebd.: 117.50 Ebd.: 118. - Plessner gibt an anderer Stelle ein konkretes Beispiel, welches die Differenz plastisch werden lässt: „Wenn man sagt: ich sehe ihm an, daß er sich schämt, daß er bereut, wütend ist, sich grämt, so heißt das nicht, daß mir das Sein und die Weise seines Scham-, Reue-, Zorn-, Gramerlebens gegeben ist, sondern nur, daß die spielenden Formen seines Verhaltens gegeben sind, die in bezug zur Umgebung eine bestimmte Haltung festlegen.“ (ebd.: 123) - „Hin­ter“ dem Verhalten liegt, was über dessen dessen sinnhaftes Gegebensein hinaus als real exis­tierend behauptet wird, „im“ Verhalten liegt, was im Verhalten als solchem sich zeigt.51 Ebd.

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20 1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

massive Einfluss Schelers auf die gesamte methodische Anlage von Plessners Schrift. Scheler habe, so Plessner, „einen Weg gewiesen, wie die verständnis­theoretische Lösung zu erarbeiten ist, indem er das eigene und das fremde See­lische in prinzipiell gleicher Weise für zugänglich erklärt“.52 Plessner kritisiert Scheler dennoch wegen der Einführung des Begriffs der „inneren Wahrneh­mung“,53 mit welchem das „in den Bahnen äußerer Wahrnehmung laufende In­newerden des Anderen selbst als ein Wahrnehmen angesprochen“54 werde. Der Begriff der „inneren Wahrnehmung“ ist nach Plessner mit zwei Fehlern behaftet:

Den ersten hat die Untersuchung schon diskutiert: das Psychische darf keine Lokalisation erfahren. Die Annahme, daß die Reflexion auf Erlebnisse, die sogenannte Selbstbeobach­tung, nach innen führt, begeht den Irrtum, die Binnenordnung des eigenen Körpers zu dem Ort zu machen, in welchem das Ineinander der Erlebnisse ihr Entstehen und Vergehen hat.55

Die Verräumlichung der Erkenntnisrelation und die Lokalisierung der epistemi- schen Glieder dieser Relation bildet den klassischen Geburtsfehler der Gegen­überstellung von Subjekt und Objekt, in welcher beide einerseits verdinglicht, andererseits voneinander durch eine Kluft getrennt und damit gegeneinander isoliert werden. Das Objekt ist für das Subjekt immer das Andere, immer draußen, und selbst unter idealistischen Voraussetzungen niemals wirklich drinnen. Mit der Verräumlichung der am Modell der Wahrnehmung orientierten Erkenntnisrelation beginnt die Sisyphus-Aufgabe zu versuchen, dem Ortlosen einen Ort zu geben, eine komplexe Gesamtrealität in verdinglichten Realitätselementen unterzubrin­gen. Unter solchen Voraussetzungen kann man Plessner zufolge auch der Realität der für die Schicht des Verhaltens und das in ihr gewonnene Ausdrucksverstehen Leib-Umwelt-Relation nicht gerecht werden: „Der Leib ist nicht darum Leib, weil er von innen her durchfühlbar und impulsiv beherrschbar ist, sondern weil er eine Umwelt hat, auf welche er, die auf ihn einspielt.“56 Plessner nennt dieses ge­gensinnige Aufeinander-gerichtet-Sein die „Umweltintentionalität des Leibes“,57 die als „Ausdruck der Sphäre des Verhaltens [...] die Seins- und Anschauungsform der tierischen und menschlichen Körperleiber“58 sei und sich „wie eine An­schauungsform [...] weder dem Objekt noch dem Subjekt zuteilen [lasse], sondern

52 Ebd.53 Ebd.: 119.54 Ebd.55 Ebd.: 121.56 Ebd.: 121 f.57 Ebd.: 122.58 Ebd.

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1.3 Deutung des mimischen Ausdrucks (1925) 21

[...] durch ihre Subjekt-objektive Indifferenz die Einheit der Erfahrung mit den Gegenständen der Erfahrung“59 garantiere. Resümierend formuliert Plessner drei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Erklärung des Ausdrucksver­stehen möglich sei:

Die Erscheinung des Ausdrucksverstehens läßt sich einwandfrei nicht erklären, wenn nicht die Realitätsfrage fremder Subjekte scharf von der Frage nach der Sinndeutung des Gebarens dieser fremden Subjekte geschieden wird; wenn zweitens nicht das Wesen der Leiblichkeit im deutlichen Abstand zur objektiven und physischen Körperlichkeit tritt; wenn drittens nicht der Leib von jeder Vermengung mit Psychischem freigehalten und die Binnenlokalisierung des Psychischen im Leibe als unsinnig durchschaut wird.69

Gegen Scheler besteht Plessner in stringent phänomenologischer Manier auf der sinnlichen Gegebenheit des Anderen, ohne diese sinnliche Gegebenheit zum Anlass zu nehmen, einen Begriff der „inneren Wahrnehmung“ einzuführen, der in die dritte Aporie, die der „Binnenlokalisierung des Psychischen“, hineinführen muss, auch wenn die erste Aporie (der substanzialisierenden Verdoppelung) vermieden wird. Was Plessner mit der Erfüllung der drei genannten Kriterien glaubt errichten zu können, sind die „Fundamente einer Ontologie des Psychi­schen ohne die Annahme eines inneren Sinnes, einer inneren Wahrnehmung, in welcher Psychisches erfaßt werden soll“.60 Die Fundamente sind, vergegenwärtigt man noch einmal die Formulierungen am Anfang der Schrift, genau genommen eher die Voraussetzungen einer solchen Ontologie, da vom in der Sphäre des Verhaltens phänomenologisch Gefundenen aus der Weg zur Erkenntnis der We­senheiten zu nehmen sei und nicht bereits mit dem phänomenologisch Gefun­denen zugleich die Erkenntnis der Wesenheiten gegeben ist sondern nur ein Verständnis (und ggf. Nicht-Verständnis als dessen defizienter Modus) des jeweils gegebenen Ausdrucksgeschehens. Die Schicht bzw. Sphäre des Verhaltens ist dabei nicht als selbstgenügsam gedacht, sondern als ihren Fluchtpunkt nennt Plessner „den großen Fragenkomplex der Mitwelt“,61 in welche die „Ontologie des Psychischen“ einmünden müsse aufgrund der Tatsache, dass im Bereich des Psychischen das Faktum der „Überindividualität und Intersubjektivität“62 des­selben sich unweigerlich aufdrängt. Der Fluchtpunkt der Ontologie des Psychi­schen liegt also nicht innerhalb des Psychischen, sondern in der Mitwelt, die

59 Ebd.: 124 f.60 Ebd.: 127.61 Ebd.: 128.62 Ebd.

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22 1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

Plessner daher als „Konstitutionsform“63 bezeichnet. Als „Konstitutionsform“ kann die Mitwelt nur fungieren, weil

Elemente dessen, was sinnlich-bildhaft gegeben ist, der Modalität nach zugleich Elemente desPsychischen sind und diese Elemente einer gemeinsamen Form- und Funktionsgesetzlichkeit(die sich freilich im Physischen anders ausprägt als im Psychischen) unterstehen: der Ge­setzlichkeit der Sphäre des Verhaltens,64

Die Ontologie des Psychischen kann demnach nur eine Regionalontologie sein, weil das Psychische keinen Bereich reiner Immanenz bilden kann, sondern einen aufgrund der ihm als formgesetzliches Bestimmungsmoment inhärierenden ,in sich sinnhaft gegebenen* Intersubjektivität einen irreduziblen Doppelcharakter annimmt. Damit ist ein Übergang zu den Stufen vorbereitet, der mehrere Fragen offenlässt: (1) Wird in den Stufen die Philosophische Anthropologie als eine On­tologie entwickelt, die verschiedene Regionalontologien, u. a. die genannte On­tologie des Psychischen, in sich integriert? (2) Wird am affirmativen Ontologie- Begriff überhaupt festgehalten? (3) Bestätigt sich in Bezug auf die Stufen, was Heidegger aller philosophischen Anthropologie vorhält, nämlich im Ganzen bloß eine Regionalontologie der Natur zu entwickeln? - Unabhängig von der Beant­wortung dieser Fragen, die im vierten Kapitel der Arbeit aufgegriffen werden, bleibt festzuhalten, dass Plessners großangelegte methodische Vorarbeit, die in den Stufen systematisch weiterentwickelt wird, jedenfalls den Begriff und, ohne im globalen Rahmen sich programmatisch zu geben, das Projekt einer Ontologie nicht aufgibt, sondern sich ihm immer noch verpflichtet sieht und es als Vorarbeit zu ihrer Ausarbeitung begreift.

Dass es sich bei dieser von Plessner anvisierten „Ontologie des Psychischen“ nicht um eine Ontologie im klassischen Sinne handeln kann, zeigt seine Kritik an Ludwig Klages, in welcher ein zweiter, negativ besetzter Begriff von Ontologie Verwendung findet. Plessner hält Klages vor, „zuerst in der Betrachtung des Psychischen zu verweilen und daraus dann die physische Ausdruckserscheinung herzuleiten“,65 indem er behaupte, dass in jeder Ausdrucksbewegung eine seeli­sche Regung Gestalt erlange.66 Die Differenz zwischen „in“ und „hinter“ kehrt hier wieder, das Seelische, das im Ausdruck Gestalt annimmt, liegt hinter dem Aus­druck, ihm kommt ein eigenes Sein zu. Die Differenz zwischen Ausdruck und Handlung wird aufgehoben, der Ausdruck nimmt den Charakter einer Handlung

63 Ebd.64 Ebd.: 129.65 Ebd.: 103.66 Vgl. ebd.

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1.3 Deutung des mimischen Ausdrucks (1925) 23

an, weil das Seelische im Ausdruck sich intentional und zielgerichtet realisiert67 und Intentionalität somit die „ursprüngliche Einheitsschicht des Lebens“68 durchschneidet, die sich nach Plessner durch eine „untrennbare Verschmolzen- heit von Erscheinung und Sinn“69 auszeichnet. Plessner bezeichnet diese Position als „realsymbolistisch“70. Im Realsymbolismus müsste Plessner zufolge „das Spiel von Kundgabe und Kundnahme im mimischen Ausdruck mit Hilfe vorverständ- licher Urbilder oder Ideen sich entfalten“;71 in Bezug auf das Problem der Inter­subjektivität bedeutet dies, dass „die Fremdwahrnehmung in der Überbrückung zweier einander gegenüberstehender Sphären bestünde“.72 Wo das Seelische real ist, ist jeglicher Ausdruck Symbolisierung dieses Realen und jede Differenz zwi­schen Personen an die zwar füreinander, aber realiter unabhängig voneinander und durch die Sphäre der Wahrnehmung getrennten und somit letztlich gegen­einander isolierten Seelen gebunden und in dieser Differenz fundiert. Im Aus­druck exponiert sich dann Seelisches; es kann sich real, d. h. in seiner Substan- zialität, zum Ausdruck bringen, und es kann in dieser Substanzialität erkannt werden. Über diesen Realsymbolismus Klages’ sagt Plessner: „Bei ihm allerdings kommt der Realsymbolismus nicht aus Schwäche der Methode, sondern ist ganz zutiefst das Fundament seiner Ausdruckslehre, ist seine Erkenntnistheorie und Ontologie.“73

Plessner operiert hier mit einem anderen, negativ konnotierten Begriff von Ontologie, der als neoklassisch, weil substanzialistisch bezeichnet werden kann. In dieser Auffassung von Ontologie wird das phänomenologisch Gefundene on­tologisch unterbaut, das in der Anschauung sinnhaft Gegebene auf eine hinter der Anschauung hegende und in ihr bloß zum Ausdruck kommende Entität zurück­geführt. Die beiden Ontologie-Begriffe unterscheiden sich vor allem in ihrem Verhältnis zur Phänomenologie: Die Fundamente der „Ontologie des Psychi­schen“ werden strikt phänomenologisch entwickelt, ohne die anschaulich gege­bene Sphäre des Verhaltens zu verlassen, in deren Betrachtung Plessner selbst­genügsam verweilt, wohingegen die Klages’sche Ontologie die Kluft zwischen Erscheinung und Sein wieder aufreißt, indem sie die Erscheinung zum Sprung­brett zum ontologisch Entscheidenden und Substanziellen, der Realität der Seele, macht.

67 Vgl. ebd.: 108.68 Ebd.: 10569 Ebd.70 Vgl. ebd.: 102 und 105.71 Ebd.: 109.72 Ebd.: 110.73 Ebd.: 102.

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24 1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

1Λ Der Ontologie-Begriff in Die Stufen des Organischen

und der M ensch

1.4.1 Plessners Kritik von Ontologisierungen

Die Ambivalenz in der Stellung zur Ontologie, die in Die Deutung des mimischen Ausdrucks zum Vorschein kam, bleibt in den Stufen 1928 präsent. Dabei zeigen sich hier zwei Hauptmotive von Ontologie-Kritik, die sich zum einen am Begriff der „Ontologisierung“, zum anderen an der Kritik des cartesianischen Alternativ­prinzips von Ausdehnung und Innerlichkeit samt seinen Abwandlungen und Folgen festmachen lassen.

Mit dem Begriff der Ontologisierung schließt Plessner motivisch an seine in Die Deutung des mimischen Ausdrucks entfaltete Kritik an Ludwig Klages an; seinen Ort findet der Begriff in der Kurzdarstellung des methodischen Ansatz­punktes der Stufen, wo Plessner die phänomenologische Deskription als metho­dischen Baustein seiner Hermeneutik der Natur einführt und sie der Direktive unterstellt, sich „von jeder Ontologisierung des Erschauten freizuhalten“.74 Er­schautes und Erschaubares unterscheidet Plessner vom Gegebenen anhand der Unterscheidung zwischen Ganzheit (ausschließlich Erschaubares) und Gestalt (ausschließlich Gegebenes).75 Die Komplementärdifferenz zu der zwischen Gestalt und Ganzem ist die zwischen der räumlichen Begrenztheit des Körpers und der von ihm realisierten Grenze.76 Die räumliche Grenze, die dem Körper als physischer Übergang zwischen ihm selbst und dem an ihn angrenzen Medium angehört, meint die Grenze der Gestalt. Über den derart begrenzten Körper sagt Plessner, dass „das Zu-Ende-Sein des Einen der Anfang des Andern ist“.77

Davon unterscheidet Plessner die dem Körper reell angehörende Grenze, welche der Körper „in seiner Begrenzung vollzieht“.78 Diese Grenze markiert keinen Übergang, der räumlich im Sinne des Ziehens von Linien feststellbar wäre, wie bei einer geometrischen Gestalt, sondern sie ist nach Plessner „dieser Über­gang selbst“,79 als dieser jedoch wiederum notwendig an Gestalt gebunden.80 Es gibt also Gestalten, die eine nur geometrische Grenze haben, „die eigentlichen

74 SOM: 23.75 Vgl. ebd.:118ff.76 Vgl. ebd.: 103 ff.77 Ebd.: 103.78 Ebd.79 Ebd.80 Vgl. ebd.: 120.

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1.4 Der Ontologie-Begriff in Die Stufen des Organischen und der Mensch 25

Gegenstände der Wahrnehmung“,81 und Gestalten, die eine sowohl geometrische als auch eine ihnen selbst angehörende Grenze haben, wobei letztere nur er­schaubar ist und nicht erscheint.82 Bei Erscheinendem vom Ordnungstypus der Ganzheit finden sich konstitutive Wesensmerkmale des Lebendigen, die im Un­terschied zu bloß indikatorischen83 Wesensmerkmalen das „wirkliche Vorhan­densein eines Lebendigen („wirklich“ nicht im Sinne der Kriterien der empirischen Naturwissenschaft, sondern im Sinne der Anschauung) phänomenal verbürg [en]“.84 Die konstitutiven Wesensmerkmale machen die Differenz zwischen un­belebten Körpern (bloßen Dingen) und belebten Körpern (im Raum sich bewe­genden Organismen) aus, die Plessner schon in Die Deutung des mimischen Ausdrucks auf phänomenologischer Ebene getroffen hat. Die Differenz ist jedoch eine von Ordnungstypen, nicht von Seinstypen: „Der Ordnungstypus der Ganzheit gehört zur Klasse der nur erschaubaren Gehalte.“85 Weil es sich beim Ordnungs­typus der Ganzheit um einen bloß erschaubaren, an die Wahrnehmung gebun­denen, nicht aber selbst in der Wahrnehmung gegebenen und daher nicht dar­stellbaren Gehalt handelt, darf dieser „den Fortgang der die Biologie bildenden Erfahrung nicht bestimmen, da er sich jeder Feststellung entzieht“.86 Eine Onto- logisierung solcher in der phänomenologischen Deskription sich gebenden Un­terschiede würde z. B. dann bestehen, wenn der Ordnungstypus der Ganzheit strikt vom Ordnungstypus der Gestalt geschieden würde, wenn also beispielsweise Ganzheiten als beseelte Wesen den Gestalten als bloßen Dingen als jeweils an sich wesensverschiedene statt als anschaulich sich unterscheidende Entitäten ge­genübergestellt würden. Die phänomenologische Differenz zwischen Ordnungs­typen würde dann kurzerhand zu einer ontologischen Differenz zwischen We­senstypen gemacht werden mit dem Folgeproblem, dass innerhalb des Bereichs belebter Wesen alle Lebewesen als beseelt, weil dem Ordnungstypus der Ganzheit angehörend, aufgefasst werden müssten. Die Differenz zwischen verschiedenen Arten von Lebenswesen müsste dann von verschiedenen Stufen bzw. Arten von Beseeltheit her erklärt oder durch zusätzliche Vermögen wie das der Geistigkeit erklärt werden; alle diese Differenzierungen wären jedoch von der Phänomeno­logie insofern losgelöst, als sie erst nachträglich über äußerliche Zuordnungen

81 Ebd.82 Vgl. ebd.83 Bei indikatorischen Wesensmerkmalen handelt es sich um solche, die „Leben verraten und auch dort vortäuschen, wo der Bewegungsträger unbelebt ist (Papierschlange z.B.)“ (ebd.: 115). Charakteristisch für sie ist also ihre Täuschungsanfälligkeit und daher ihr Als-ob-Charalcter.84 Ebd.85 Ebd.: 12086 Ebd.

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26 1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

von Vermögenstypen vorgenommen werden müssten, die wiederum in die Phä­nomentypen als deren Wesenskern hineinprojiziert werden müssten. Zudem würde eine solche Vorgehensweise eine Parallelität von Seinsbereichen voraus­setzen wie etwa diejenige der Klages’schen Zuordnung des Seelischen zum Aus­druck. Es müsste also, um die phänomenologische Unterscheidung als ontolo­gische behaupten zu können, ein Wissen bereits vorhanden sein, welches die phänomenologische Unterscheidung überhaupt erst ermöglichen soll. Daher gibt Plessner die Maxime aus: „Man sollte nie direkt aus phänomenologischen Sachverhalten in ontologische Aussagen übergehen. Das Sein, das erscheint, ist zwar auch Sein, aber nicht das ganze Sein, wie es an ihm selbst und ihm selbst weset und ist.“87

Was Plessner mit Ontologisierung des Erschauten meint, ist somit der kurz­schlüssige (dualistische) und übereilte Übergang von in der Anschauung sich gebenden Unterschieden zu den Wesensunterschieden nach getroffenen Eintei­lungen der Realität. Übergang und Projektion sind die beiden gegenstrebigen Kategorien, mit denen sich der Vorgang der Ontologisierung angemessen erfassen lässt: Im Übergang wird der Weg von der Sphäre des Verhaltens in der direkt er­fahrenen Lebenswelt in den Bereich des Ontologischen vorschnell vollzogen, in der Projektion wird die ontologische Einteilung in den Phänomenbereich nach­träglich hineingetragen unter der wichtigen Maßgabe, im Phänomenbereich überhaupt erst vorgefunden zu werden.

1.4.2 Plessners Kritik des cartesianischen Alternativprinzips als grundsätzliche Ontologie-Kritik?

Die Vermutung liegt auf der Hand, dass eine Kritik des cartesianischen Alterna­tivprinzips von res cogitans und res extensa eine Kritik zumindest eines be­stimmten ontologischen Modells darstelle. Beim ontologischen Status dieser Unterscheidung hält Plessner sich jedoch nicht lange auf, sondern richtet seinen Blick auf die epistemologische Transformation dieser Unterscheidung: „Ur­sprünglich zwar ist die Scheidung alles Seins in res extensa und res cogitans ontologisch gemeint. Sie erhält jedoch von selbst eine methodologisch fortwir­kende Bedeutung, die sie in gewissem Sinne der ontologischen Kritik entzieht.“88 Die Fundamentalisierung der Unterscheidung zwischen res cogitans (Psyche,

87 Ebd.: 126.88 Ebd.: 39.

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1.4 Der Ontologie-Begriff in Die Stufen des Organischen und der Mensch 27

Innerlichkeit) und res externa (Physis, Ausdehnung)89 vollzieht sich also Plessner zufolge wesentlich im Bereich der Epistemologie; insofern ist prinzipiell denkbar, dass sie in einem ontologischen Modell zurückgenommen und einer Entfunda- mentalisierung unterzogen werden kann, sofern eine solche Ontologie keine klassischen Zuschnitts ist.

In ihrer epistemologischen Abwandlung bezeichnet die Differenz zwischen res cogitans und res externa nicht vorwiegend zwei Seinsbereiche, sondern zwei „ineinander nicht überführbare Erfahrungsrichtungen“.90 Diesen gegensätzlichen Erfahrungsrichtungen entspricht eine gegensätzliche Fehlidentifikation: die Identifikation von Körperlichkeit mit Ausdehnung91 und die Identifikation von Ausdehnungslosigkeit mit Innerlichkeit.92 Um eine Fundamentalisierung handelt es sich bei dieser doppelten Fehlidentifikation, weil Physis und Psyche als le­diglich in miteinander nicht vermittelbaren, spezifischen Perspektiven zugängli­che Erfahrungsrichtungen definiert werden:

Mit der Identifikation 1. von Körperlichkeit und Ausdehnung, 2. der ausschließlichen Al­ternative von Ausdehnung und Innerlichkeit (Denken, Bewußtsein), 3. der Identifikation von res cogitans und dem ,Ich selbst“ zeigt sich wesensverknüpft die Subjektivierung der qua­litativen Seite des Physischen und die Vorgelagertheit des Selbst.

Mit der Fundamentalität dieser Alternative verbindet sich eine Fundamentalisie- rung der ihnen zugeordneten Wissenschaften. Der res extensa ordnet Plessner „die Fundamentalisierung der mathematischen Naturwissenschaft“93 zu, der res co ­gitans die vom Primat der Subjektivität ausgehende philosophische Traditionsli- nie der Neuzeit, die sich auf den Begriff der Subjektphilosophie bringen lässt und als deren aufschlussreichste Gestalt Plessner Kants transzendentalen Idealismus94 nennt: „Gleichgültig gegen ihre Wesensbestimmung, die bisher absichtlich offen gelassen wurde, übernimmt die res cogitans von selbst die Funktion des Sub­jekts.“95 In der weiteren Ausbuchstabierung des Alternativprinzips nimmt die subjektive Sphäre den Charakter der Innenwelt an, die ausgedehnte Welt den der

89 Plessner schließt sich dem allgemeinen Urteil an, wonach „es Descartes gewesen ist, der die Unter Scheidung von physisch und psychisch (in einer allerdings etwas anderen Fassung) fun- damentalisiert hat. Er erklärte den Unterschied von res extensa und res cogitans für prinzipiell und gab hm zugleich den Charakter einer vollständigen Disjunktion.“ (ebd.)90 Ebd.: 41.91 Vgl. ebd:39f.92 Vgl. ebd.: 43.93 Ebd.: 39.94 Vgl. ebd.: 50.95 Ebd.: 50.

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Außenwelt; die Wahrnehmung zerfällt in innere und äußere Wahrnehmung,96 wodurch die Innen- und Außenwelt „zu bloßen Unterschieden innerhalb des Bewußtseins“97 werden. Die Frage nach der Verbindung von Innen- und Außen­welt gerät dann zum unlösbaren Rätsel: „Der Modus des Übergangs bleibt über­haupt notwendig unerkennbar.“98 In der so zugespitzten begrifflichen Konstel­lation gewinnt der Begriff der Empfindung eine besondere Stellung, da die Empfindung weder auf Physisches noch auf Psychisches reduzierbar ist; sie gehört keiner der beiden Welten vollständig an: „Aus diesen Empfindungen baut sich die sinnlich anschauliche Welt auf, mein eigener Körper mit seiner Innerlichkeit ist darin einbegriffen“,99 weshalb Plessner sie auch als „dem Unterschied von Akt und Gegenstand gegenüber neutral und subjektiv-objektiv indifferent“100 be­zeichnet.

Ihres epistemologischen Status ungeachtet ist Empfindung aber immer eigene Empfindung; die Empfindung des anderen kann nicht empfunden werden, son­dern nur in der Wahrnehmung gegeben sein, d.h. Teil der Außenwelt sein: „Fremdwahrnehmung von Psychischem bleibt ausgeschaltet, weil sie äußere Wahrnehmung ist, die nach dem Alternativprinzip nur auf Physisches geht.“101 Die im Alternativprinzip vollzogene Fundamentalisierung führt somit unweigerlich zur fundamentalen Abschließung der Menschen gegeneinander, was die Mög­lichkeiten gegenseitigen Verstehens betrifft. Der Weg zum Anderen führt nur noch über Analogieschlüsse oder die spekulative Projektion meiner selbst in den an­deren.

Genau diesen Weg zu gehen, hat Plessner in Die Deutung des mimischen Ausdrucks versucht, und genau mit diesem Problem setzt er sich hier wieder auseinander, allerdings unter anderen Vorzeichen. Hat Plessner in Deutung des mimischen Ausdrucks noch versucht, das Verhältnis zwischen Ausdruck und Psyche in der Klages’schen ontologischen Variante durch eine philosophisch fruchtbarere Konzeption dieses Verhältnisses zu ersetzen, so geht es hier nicht um das Problem der ontologischen Verdoppelung, sondern um das Problem der disjunktiven epistemologischen Gegenüberstellung von Erfahrungsrichtungen, das einer ontologischen Disjunktion von Seinsbereichen entsprungen ist.102 In der

96 Vgl. ebd.: 55 f.97 Ebd.: 57.98 Ebd.: 5899 Ebd.: 59.100 Ebd.101 Ebd.: 61.102 Plessner spricht, die strenge Unterscheidung zwischen Epistemologie und Ontologie die Gestalt einer Komplizenschaft annehmen lassend, vom „ontologisch-gnoseologischen Dualismus

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1.4 Der Ontologie-Begriff in Die Stufen des Organischen und der Mensch 29

Deutung des mimischen Ausdrucks versuchte Plessner dem Problem mit einer Neuausrichtung der phänomenologischen Methode mittels ihrer Loslösung von den bewusstseinsphilosophischen bzw. idealistischen Prämissen zu begegnen, die Husserls Spätphilosophie kennzeichnen. In den Stufen geht es nun darum, einen gegenüber der bloßen Fundamentalisierung wirklich fundamentalen An­satz in Anschlag zu bringen. Im Begriff der Fundamentalisierung liegt, dass etwas nicht Fundamentales für fundamental erklärt wird; die Fundamentalisierung ist Sache der undisziplinierten Erfahrung: „Es liegt im Wesen undisziplinierter Er­fahrung, etwas so lange für fundamental zu nehmen, als es ihrem Fortgang die größten Sicherheiten und ihren Zusammenhängen den besten Anschauungshin­tergrund verschafft.“103 Plessner stellt der Fundamentalisierung einen knapp, aber konzise gefassten positiven Begriff eines möglichen Fundaments entgegen: „Echtes Fundament trägt, ohne selbst getragen zu sein.“104 Dieser Anforderung Genüge leisten könnten nach Plessner „Gesetze des Zusammenhangs zwischen Lebewesen und Welt, Gesetze der Eintracht, der Konkordanz und gleichur­sprünglichen Gestaltung [...], die in der Wasform, der Wesensstruktur des Lebens begründet sind, material apriorische Gesetze also“,105 die den „Wert von Kate- gorialgesetzen“106 haben müssten, kurz: die Elementarkategorien von Leben überhaupt sowie der verschiedenen Lebensformen (Pflanze, Tier, Mensch). Die Fundamentalität eines solchen Kategorienarsenals liegt im Begriff der Kategorie selbst begründet: „Kategorie heißt im philosophischen Sprachgebrauch eine Form, die sich der Erfahrung fügt, die aber nicht aus der Erfahrung stammt“,107 wobei Erfahrung die empirische (undisziplinierte), von partikularen Interessen geleitete Erfahrung meint, innerhalb welcher alle fundamentalen Fragen bereits entschieden sind; nach der „Wasform“ wird in ihr nicht gefragt, jedenfalls nicht im fundamentalen Sinne, sondern die „Wieform“ wird empirisch erforscht. Plessner nennt die Kategorien des Lebens, nach denen er fragt, auch „Vitalkategorien“ und bestimmt sie als das grundlegende Ziel seiner Untersuchung: „In der systemati­schen Begründung solcher Vitalkategorien liegt die Aufgabe einer philosophi­schen Biologie als Wissenschaft von den Wesensgesetzen des Lebens [...].“10S

[...], der, falls er im Recht wäre, die Phänomene des Lebens negieren müßte und sie nur als Konglomerate physischen und psychischen Seins gelten lassen könnte“, (ebd.: 243)103 Ebd.: 38.104 Ebd.105 Ebd.: 65.106 Ebd.107 Ebd.108 Ebd.: 66.

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Das Problem, das Plessner sich mit dem Desiderat der Vitalkategorien stellt, ist ein anderes als das, welches seine akademische Lehrer-Generation, d.h. die Schule des Neukantianismus, in Atem gehalten hat. Vitalkategorien sind keine Erkenntniskategorien, keine Kategorien des Subjekts, sondern Kategorien des Lebens, wie es sich im Ausgang von der phänomenologischen Deskription zeigt. Wie genau der Weg von der phänomenologischen Deskription zur Kategorienlehre des Lebens im Einzelnen zu nehmen sei, wird Gegenstand des vierten Kapitels sein. Zunächst ist vorrangig von Bedeutung, dass Plessner diese Umstellung der Orientierung von der Erkenntnistheorie zu „den Sachen selbst“, wie es in der gängigen phänomenologischen Losung heißt, als Wiederaufnahme einer prinzi­piell ontologischen Problemstellung begreift:

Sobald man natürlich die erkenntmstheoretische Orientierung der Kategorienlehre als ein­seitig und die wirkliche Weite der kategorialen Funktionen einengend erkannt hat, tritt das - am umfassendsten bisher in Hegels Logik aufgerollte - Problem des Zusammenhangs der Kategorien als ontologisches Problem [Hervorhebung, S. E.[ auf.109

An anderer Stelle spricht Plessner von der „Rückkehr zum Objekt“,110 mit welcher die „Wiederentdeckung des großen Problems der Ontologie“111 einhergehe, das sich mit der „Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie, Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und der mit ihm in Wesenskorrelation stehenden Schichten der Natur“112 stelle. In dieser Wiederentdeckung des ontologischen Problems, auf das Plessners Lehre von den Vitalkategorien zu antworten versucht, spiegelt sich Plessner zu­folge „die seit dem endgültigen Durchbruch des wissenschaftlichen Erkennens reif gewordene Einstellung des Menschen zur Welt entgegen allen subjektivistisch- idealistischen Entwürfen“113 wider. Dass diese Wiederentdeckung des Problems der Ontologie „ihren zukunftsträchtigen Sinn, zugleich ihren Ort in dem hier entwickelten Programm“114 erhalte, ist beachtlich, wenn man bedenkt, dass die als Hermeneutik konstituierte Philosophische Anthropologie Plessner zufolge „jene Tradition fort[setzt], die von der Ontologie über Kants transzendentale Logik zu Hegels Logik und der modernen Kategorienforschung geführt hat - freilich indem sie gegen ihre letzten Prinzipien angeht“.115

109 Ebd.: 113.110 Ebd.: 31.111 Ebd.112 Ebd.113 Ebd.114 Ebd.115 Ebd.: 23.

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1.4 Der Ontologie-Begriff in Die Stufen des Organischen und der Mensch 31

Obgleich die Philosophische Anthropologie nicht direkt die ontologische Tradition fortsetzt, sondern die Traditionen, welche innerhalb der Moderne aus ihr erwachsen sind, steht sie der klassischen Ontologie jedoch insofern näher als der „modernen Kategorienforschung“, als die klassische Ontologie die Subjektivie- rung der Probleme des Seins in der paradigmatischen (kopernikanischen) Wen­dung zur Epistemologie nicht vollzogen hat. Der phänomenologische Ansatz will nicht den naiven Rückweg zur klassischen Ontologie samt deren realistischer Methodik nehmen, sondern gleichsam auf unpositivistische Weise positivistisch verfahren, indem sie dem Ontischen dem Primat vorm Ontologischen einräumt. Aufschlussreich ist hier eine Stelle aus einem Brief Plessners an König aus dem Jahr 1928:

Und ich glaube, daß Sie - sicher nicht ganz mit Unrecht - mich zunächst so als Gegenspieler Heideggers sehen: kein Primat des Ontologischen vor dem Ontischen, sondern des Ontischen vor dem Ontologischen; darum quasi unbekümmerte Direktheit in der Wendung zur äußeren ,Natur‘anschauung, bewußtes Überspringen des angeblich (und ja trotzdem auch wirklich) sich vorgelagerten Existenzsubjekts!116

Positivistisch ist an dieser Verfahrensweise, sich des Gegebenen umstandslos anzunehmen statt aus einem reflexiv vermittelten und operational in sich ge­schlossenen Bewusstsein heraus zu versuchen, zu ihm zu gelangen; unpositi­vistisch ist diese Verfahrensweise aufgrund der phänomenologischen Methodik, deren der logische Positivismus sich nicht befleißigt, für den, etwa in der na­turphilosophischen Variante Hans Reichenbachs, das Verhältnis der empiristisch verstandenen Erfahrung117 zum Begriff maßgebend ist und Erkenntnis ein „von der Vernunft konstruiertes System darstellt“.118

Der von Plessner proklamierte Vorrang des Ontischen vorm Ontologischen meint keinen Wertvorrang, sondern ist als Maxime der phänomenologischen Gründlichkeit zu verstehen. Das Phänomen bildet den Ausgangspunkt, das Ziel bildet die Lehre von den Vitalkategorien,119 deren Problemzusammenhang

116 Plessner/König 1994:176 f.117 „Ebensosehr muß aber diese Naturphilosophie als ein Triumph des Empirismus angesehen werden, denn die Erfahrung wird als entscheidende Instanz für alle Wirklichkeitsaussagen fest­gehalten. Wird doch die Erfahrung sogar herangezogen, um die Geltung jener letzten Kategorien zu beurteilen, welche die ältere Philosophie a priori genannt hat.“ (Reichenbach 2011: 87)118 Ebd.119 Plessner marginalisiert zwar an einer Stelle die Bedeutung des Terminus „Vitalkategorien“: „An dem Ausdruck Vitalkategorie darf man sich nicht weiter aufhalten, an ihm ist nichts Be­sonderes gelegen“ (ebd.: 65), sagt aber im darauffolgenden Satz, dass, falls es „Gesetze des Zu­sammenhangs zwischen Lebewesen und Welt [...] gibt, die in der Wasform, der Wesensstruktur des Lebens begründet sind, material apriorische Gesetze also“, sich auch nachweisen lasse, „daß sie

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Plessner, wie gezeigt, als einen ontologischen auffasst. Es ist unter diesen Vor­aussetzungen nur konsequent, wenn Plessner in der „systematischen Begründung solcher Vitalkategorien [...] die Aufgabe einer philosophischen Biologie als Wis­senschaft von den Wesensgesetzen des Lebens“120 erblickt - umso fragwürdiger erscheinen Aussagen Plessners in seiner Vorlesung Elemente zur Metaphysik aus dem Jahre 1931, in welcher das Projekt der Stufen noch einmal eine am stark am Problem des Bewusstseins orientierte Darstellung findet.

1.5 Die Vorlesung Elemente der M etaphysik (1931)

In den einleitenden historischen Bemerkungen handelt Plessner das Verhältnis zwischen Metaphysik und Ontologie in unzureichender Kürze ab. Wichtig in un­serem Zusammenhang sind die folgenden Ausführungen:

Die Antike hat eine Metaphysik in unserem heutigen Sinne noch nicht gehabt. Erst nachdem durch ganz bestimmte geistige Veränderungen jüdische und christliche Ideen in die grie­chische Welt eingebrochen sind, beobachten wir eine Metaphysik in unserem heutigen Sinne. Wir würden heute eine Metaphysik nicht mehr nur schreiben können im Sinne einer Lehre von den Lebensgesetzen des Seins, d. h. im Sinne einer Ontologie.121

Was Plessner in den Stufen als ontologisches Problem skizziert hat, die Ent­wicklung und Darstellung der Wesensgesetze des Lebens, findet hier im Begriff der Ontologie keinen Platz mehr. Stattdessen wird die Ontologie - vermutlich unter dem Einfluss des grandiosen Erfolgs Heideggers, wie, abgesehen von biographi­schen Quellen, der Begriff des Seins indiziert - als „Lehre von den Lebensgesetzen des Seins“ aufgefasst. Der Begriff des Seins tritt somit an die Stelle des Begriffs des Lebens (aber Sein wird vom Leben her angegangen). Der Begriff des Seins wird hier nicht weiter spezifiziert und demzufolge auch nicht „regionalisiert“, d. h. Plessner unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Bereichen des Seins wie Natur, Be­wusstsein etc. Wenige Seiten später ordnet Plessner jedoch den Begriff des Seins neben zwei verschiedenen Begriffen des Seienden der Metaphysik zu:

Wir gewinnen ein bestimmtes Arbeitsfeld, nämlich das Arbeitsfeld der weltlichen Dinge. Wir setzen von vomeherein aber als eine Grundvoraussetzung für alle Metaphysik nicht nur den

den Wert von Kategorialgesetzen haben müssen“ (ebd.) - Es ist anzunehmen, dass die Margi- nalisierung des Terminus „Vitalkategorien“ eher rhetorischer Natur ist; es ist aber schwer zu er­raten, welcher Sinn ihr zukommen soll.120 Ebd.: 66.121 Plessner 2002: 33.

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1.5 Die Vorlesung Elemente der Metaphysik (1931) 33

Begriff des Seienden und des Seins voraus, sondern auch den Begriff sowohl des diesseitigSeienden als auch den Begriff des jenseitig Seienden. Wir beginnen also mit einem Problemdes diesseitig, weltlich Seienden und eines jenseitig Seienden.122

Von der Welt und den weltlichen Dinge, die Plessner als Arbeitsfeld vorgibt, wissen wir nur insofern, „als unser Bewußtsein sich dieser Welt bemächtigt hat“.123 Daraus ergibt sich für Plessner als Desiderat eine „Erkenntnistheorie des wissen­schaftlichen Bewußtseins“.124 Die Auseinandersetzung mit dem Problem des Be­wusstseins stellt eine Rekapitulation der Kritik der cartesianischen Alternativ- stellung in den Stufen dar; was dort anhand des Begriffs der Innerlichkeit verhandelt wird, wird hier am Begriff des Bewusstseins entwickelt, nach dessen Sein Plessner fragt. Seine Betrachtungen zum Bewusstsein schließt Plessner mit der Losung: „Wir müssen versuchen, den Standort der Betrachtung auf einen anderen überzuführen. Der Standort, den wir jetzt einnehmen wollen, ist der Standort des Lebens.“125

Der Standort des Lebens bedarf allerdings einer genaueren Bezeichnung; den Standort des Lebens kann man von verschiedenen Perspektiven her einzunehmen versuchen, z. B. indem man versucht, vom individuell-persönlichen Leben, also vom im weitesten Sinne psychologischen Standpunkt, zum Leben an sich zu gelangen (Leben, das sich selbst begreift und indem es sich selbst begreift, nicht nur sich selbst begreift) oder indem man sich auf den Standpunkt einer das Leben zu erklären beanspruchenden Wissenschaft stellt. Plessner wählt letztere Option: „Vom Standpunkt der Biologie, für die der Mensch nichts besonderes darstellt, nicht mehr als ein Tier, als eine Pflanze, für die Mensch, Tier und Pflanze be­stimmte Organisationsformen des Lebens darstellen, wollen wir unsere meta­physischen Betrachtungen anstellen.“126 Von hier aus gesehen hat es den An­schein, als würde Plessner entgegen den methodischen Maximen der Stufen schlicht an der empirischen Biologie sich entlanghangeln, um letztlich allem dort auffindbarem Nützlichen philosophische Begriffe aufzupfropfen;-am Ende des Durchgangs durch zahlreiche biologische Theorien, anhand welcher Plessner vom Begriff des Lebenskreises her die Grundstruktur des Organismus-Umwelt-Ver- hältnisses entwickelt, zeigt sich jedoch, dass diese Auseinandersetzung mit der Biologie eher propädeutischen Charakter besitzt: „Was ist Leben? Diese Frage kann nur dann einen beantwortbaren Sinn haben, wenn wir auf etwas ganz an­

122 Ebd.: 34.123 Ebd.: 35.124 Ebd.125 Ebd.: 84.126 Ebd.: 90.

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deres hinblicken, als auf dasjenige, was den Biologen oder Physiologen interes­siert.“127

Dieses Andere, worauf Plessner seinen Blick richtet, ist die bereits ange­sprochene Differenz zwischen der bloß räumlich-geometrischen und der dem Körper eigenen und von ihm vollzogenen Grenze, die Plessner als das schwer verstehbare Prinzip seiner Betrachtung vorgibt:

Wir wollen nachweisen, daß die großen Erscheinungen des Lebens, die wesentlichsten Merkmale und Manifestationen der organisierten Welt die Bedingungen sind, unter welchen ein Körper realisierte Grenzen besitzt· Das eben ist die große Schwierigkeit: Was heißt rea­lisierte Grenze, was soll man sich darunter vorstellen? Für sich selbst kann man eigentlich nicht verstehen, was es heißen soll, daß ein Körper seine Grenzen realisiert hat, aber das ist kein Mangel, sondern gerade das Prinzip unserer Betrachtung.128

Das Prinzip der Betrachtung als erschaubares, nicht aber in der Anschauung als sichtbar ausweisbares Wesensmerkmal von Lebendigkeit, steht de facto quer zur empirischen Biologie; es kann weder in ihr Blickfeld geraten, noch in ihren Er­klärungsversuchen als explanans oder explanandum fungieren. Phänomenolo­gisch fungiert der Grenzbegriff jedoch als Quelle weiterer Bestimmungen des organischen Körpers, die aus ihm gewonnen werden: „Ein Körper ist in sich be­grenzt, das hat eine merkwürdige Doppelbedeutung. Ein Körper ist in ihm selbst, und der Körper ist über ihm selbst hinaus.“129 Diese Bestimmung des Körpers entwickelt Plessner sowohl räumlich als auch zeitlich: Der lebendige Körper ist „in ihm“, insofern er den Raum, den er einnimmt, behauptet statt bloß geometrisch eine Stelle im Raum einzunehmen; er ist „über ihm selbst“ hinaus, indem er als raumbehauptender und sich selbst behauptender Körper sich entwickelt, „aus den gesetzten Anfangsbedingungen selbsttätig sich zu einem zukünftigen Zwi­schen- und Endzustand hin bewegen“130 kann; die Grenze kann daher „nur rea­lisiert werden im Übergehen vom... zum ...“.131 Dieser Doppelsinn ist nur belebten Körpern eigen und unterscheidet sie fundamental, ihrer „ontologischen Verfas­sung“ nach, von unbelebten Körpern:

Unbelebte Körper und damit auch belebte Körper sind als solche räumlich und zeitlich charakterisiert; belebte Körper sind nicht nur räumlich und zeitlich, sondern auch raumhaft und zeithaft, d. h. sie haben dieses erfüllende Verhältnis zu Raum und Zeit; sie bestimmen

127 Ebd.:156.128 Ebd.: 156 f.129 Ebd.: 158.130 Ebd:: 159.131 Ebd.

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1.6 Macht und menschliche Natur (1931) 35

von sich aus nach ihrer ontologischen Verfassung die eigentümliche Disposition, das Räumliche am Raum und das Zeithafte an der Zeit zu erfüllen.132

Die wesentliche Verfasstheit der belebten Körper im naturphilosophisch-phäno- menologischen Sinne ist somit nicht biologischer, sondern ontologischer Natur. Der Begriff der Ontologie kommt genau dort ins Spiel, wo es Plessner versucht, „das Wesen des Lebens in einem bestimmten Sachverhalt, in einem bestimmten Verhältnis zu finden, in einem Verhältnis des Körpers zu seiner Grenze“,133 anders gesagt: wo es ihm um das Wesentliche geht und die eigentümlichen Bestim­mungen der Philosophischen Anthropologie entwickelt werden sollen. Die „me­taphysischen Betrachtungen“,134 von denen Plessner spricht, kulminieren also in der Analyse der ontologischen Verfasstheit belebter Körper, wenngleich nicht in einem Sinne von Ontologie, wie er sie in der Einleitung („Lehre von den Le­bensgesetzen des Seins“) bestimmt. In der Einleitung bestimmt Plessner als zur Metaphysik zugehörig die „Frage nach dem Sinn dieses Seins“,135 welche in der Philosophischen Anthropologie im Unterschied zu Heideggers Fundamentalon­tologie keine Rohe spielt. Die Begriffe laufen durcheinander: Plessner perhor- resziert die Ontologie in ihrer Verbrüderung mit der Metaphysik (Einleitung), führt seine „metaphysischen Betrachtungen“ in der Bestimmung des „Wesens des Le­bens“ aber ontologisch im nichtmetaphysischen Sinne, d. h. unter Absehung der für die Metaphysik konstitutiven Sinnfragen, durch.

1.6 M acht und m enschliche Natur (1931)

Die im Jahre 1931 erschienene Schrift Macht und menschliche Natur erklärt die terminologische Unklarheit, die in Plessners Vorlesung auftritt, da sie eine fun­damentale Abrechnung mit Heideggers Fundamentalontologie darstellt und ein genuin geschichtliches Denken vor allem philosophischen Fundamentalismus zu retten und gegen einen jeglichen solchen stark zu machen versucht. Der in Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Welt­ansicht (1931) entwickelte Ansatz gewinnt eine zugleich systematisierte und kondensierte Gestalt in dem famosen und äußerst wenig beachteten Essay Die Frage nach dem Wesen der Philosophie (1934), der eine grundsätzliche Philoso­phie-Kritik außergewöhnlichen Ranges darstellt. Beide Texte werden aufgrund der

132 Ebd.: 163 f.133 Ebd.: 156.134 Ebd.: 90.135 Ebd.: 33.

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vorläufigen strikten Orientierung am Begriff der Ontologie nicht in der ihnen angemessenen Komplexität abgehandelt werden können.

Plessner geht in Macht und menschliche Natur von der Zielsetzung einer po­litischen Anthropologie aus, welche darin bestehe, das „politische Apriori aufzu­decken, das sich für die Vorstellungen vom menschlichen Wesen in seiner ganzen Weltverflochtenheit wirksam erweist“.136 Den Inhalt einer politischen Anthropo­logie bilde „die Genealogie politischen Lebens aus der Grundverfassung des Menschen als einer ursprünglichen Einheit von Geist, Seele und Leib nach Maßgabe einer Theorie der Triebe und Leidenschaften, eine politische Affekten- lehre und Charakterologie zugleich, von der die politische Praxis Nutzen hätte“.137 Der Inhalt der politischen Anthropologie kann nach Plessner nicht zum Ziel derselben führen, weil sie eines hinreichenden Fundaments ermangele und nicht in der Lage sei, ein Fundament zu entwickeln, „ohne naturalistische Vorent­scheidungen über Wesen und Wurzel des Politischen“138 zu treffen. Wenn die politische Anthropologie sich nicht selbst ein Fundament geben kann, liegt es nahe, sich an die Philosophie zu wenden, doch auch dieser spricht Plessner die Fähigkeit dazu ab „in ihrem gegenwärtigen Zustand“.139 Dennoch sei es an der Philosophie, sich dieser Aufgabe zu stellen, allerdings in einer die Einsicht in die geschichtliche Konstituiertheit des Menschen als philosophischen Prozessor und philosophisches Ethos zugleich arbeiten lassenden Form. Eine solche

geschichtliche Auffassung, die bis zum Äußersten geht, [gibt] eine Anleitung zur universalen Anthropologie, wenn sie den Menschen auch in den außerempirischen Dimensionen des rein Geistigen als Zurechnungssubjekt seiner Welt, als die ,Stelle“ des Hervorgangs aller über­zeitlichen Systeme begreift, aus denen seine Existenz Sinn empfängt.140

Um eine universale Anthropologie handelt es sich, weil sie, indem sie „bis zum Äußersten geht“, vor sich selbst nicht Halt macht. Notwendige Implikation dieser Universalität ist nicht Absolutheit, sondern die auch theoretische und als solche zugleich historisch praktische Relativierung, auch die Relativierung ,,unsere[r] Kultur und Welt gegen die anderen Kulturen und Welten“.141 Eine solche universale Anthropologie steht vor der klassischen Begründungsalternative empirisch - apriorisch. Plessner verwirft beide Wege der Begründung. Die empirische Be­

136 MmN: 141.137 Ebd.: 140.138 Ebd.: 141.139 Ebd.140 Ebd.: 148.141 Ebd.

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1.6 Macht und menschliche Natur (1931) 37

gründung verfalle dem Zirkel, „aus der Erfahrung etwas von der Vorstellung zu erkennen, die selber der Erfahrung vom Menschen und ihrer Auswertung zu­grunde gelegt werden soll“;142 die apriorische Begründung hingegen sei nicht imstande, „den Hervorgang der zeitlosen, apriorischen Wahrheiten und Ver­bindlichkeiten aus dem Leben im Horizont der Geschichte und ihrer Erfahrung begreiflich zu machen“.143 Statt sie aus dem Leben begreiflich zu machen, findet sie die apriorischen Wahrheiten im Leben bloß wieder. Der Mensch muss, streng geschichtlich aufgefasst, durch den Vollzug seines Menschentums zum Teil der Menschheit werden, d. h. er muss sich selbst zu einem Menschen machen, um als Mensch angesprochen werden und antworten zu können; wo dies nicht der Fall ist, wird das Wesen des Menschen durch apriorische Vorentscheidungen be­stimmt, die Plessner zufolge die Ontologisierung dieses Wesens darstellen:

Da der Mensch als Zurechnungssubjekt seiner Kultur, als Schöpfer im Horizont seiner Ge­schichte begriffen werden soll, der schöpferische Hervorgang aber aus dem Fundament, der Wurzel seines Menschentums vollzogen werden muß, wenn anders seine Produktivität etwas mit ihm ,selbst“ zu tun hat - sonst ist er eben für sein Tun nicht restlos verantwortlich ge­macht - , so schiebt sich von vornherein die Menschheitlichkeit, ,die Menschheit in ihm“, wie der deutsche Idealismus sagte, als zeugender Grund unter. Ein wenn auch nur methodisch gemeinter Apriorismus führt zwangsläufig zur universalistisch-rationalistischen Ontologi­sierung menschlichen Wesens.144

Damit ist das Fundament von Plessners Heidegger-Kritik gelegt, dessen Werk Plessner „als Beispiel der apriorischen Anthropologie“145 ansieht. Dass Heidegger in Sein und Zeit beim Sich-selbst-Verstehen des Daseins ansetzt, bildet für Plessner bereits ein verhängnisvolles Problem, da der so ansetzenden Existentialanalyse „die typischen Lebenszüge auftauchen, die ,unser“ Dasein, das Dasein von Eu­ropäern, die von klassisch-christlicher Tradition geformt sind, nun einmal be­herrschen“.146 In streng geschichtlicher Auffassung durchgeführt, ergäben sich für die Daseinsanalyse Möglichkeiten, „in andere Auslegungsformen der Existenz als die eigene Form, welche für die gewählte Methode maßgebend war, zu geraten“,147 kurz: geschichtlich gedacht müsste sie ihre eigene „Destruktion“ bzw. Selbstde- konstruktion betreiben. Die oben genannte Ontologisierung ist auch als gegenüber der Vielfalt und Unterschiede von Kulturen blinde Verabsolutierung zu fassen. „Im

142 Ebd.: 151.143 Ebd.144 Ebd.: 154.145 Ebd.: 155.146 Ebd.: 157.147 Ebd.

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Enderfolg kommt mit der apriorischen Anthropologie so oder so eine Verabso­lutierung bestimmter menschlicher Möglichkeiten heraus. [...] Die vom Abendland errungene Weite des Blicks erfordert die Relativierung der eigenen Position gegen die anderen Positionen.“148 Was hier als Ontologisierung angesprochen wird, wird von Plessner auch anvisiert, wenn er im bereits zitierten Brief an Josef König vom „Primat des Ontologischen vorm Ontischen“149 bei Heidegger spricht. Wo ein solcher Primat besteht, stellt sich die Frage, inwiefern eine als phänomenologisch sich ausgebende Philosophie wie die Heidegger’sche überhaupt genuin phäno­menologisch sein kann, und in der Tat behauptet Plessner, dass bei Heidegger die Hermeneutik den Vorrang vor der Phänomenologie eingenommen habe, wie eine Stelle aus seinem späteren Aufsatz Deutsches Philosophieren in der Epoche der Weltkriege (1953) zeigt, an welcher Plessner mit Heidegger im Blick von der „Entwicklung von der deskriptiven zur hermeneutischen Phänomenologie“150 spricht. Der Vorrang des Ontologischen vorm Ontischen und des Hermeneuti- schem vorm Phänomenologischen spiegelt für Plessner den Vorrang der Sprache vor der Erfahrung, ihre ihr undurchschaut zugestandene präskriptive Legitimität wider:

Unter der Direktive des fundamentalontologischen Problems bleibt man der Interpretation phänomenologischer Strukturen als Sinnstrukturen verhaftet, die ihre Schwere aus der Nachdrücklichkeit des Begriffs Dasein beziehen. Diese in Heideggers Rahmen legitime In­terpretation und Seinsverhaftung muß rückgängig gemacht werden. Phänomenologische Einsichten treffen auf ein Was im Horizont eines verbalen Ausdrucks.151

Diese im späten Aufsatz Der Aussagewert einer Philosophischen Anthropologie (1973), der eine kondensierte und systematisierte Abrechnung mit Heidegger darstellt, formulierte Kritik variiert die in Macht und menschliche Natur formulierte Kritik in der Orientierung auf die Sprache.

Heidegger setzt, dem Vorrang des Ontologischen vorm Ontischen verhaftet, Plessner zufolge „eine alte Tradition“152 fort, die „das Wesen des Daseins diesseits und vor aller Individuation“153 bestimme. Die von Plessner inaugurierte ge­schichtliche Auffassung stellt das Fundament einer ,,neue[n] Philosophie“154 dar, die in der strengen Durchführung der geschichtlichen Weltauffassung den „Ver­

148 Ebd.: 159.149 König/Plessnerl994:176.150 Plessner 1985c: 288.151 Plessner 2003b: 389.152 MmN: 187.153 Ebd.154 Ebd.: 165.

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zieht auf die Vormachtstellung der eigenen Erkenntnisbedingungen, der über­haupt eigenmöglichen Zugangsbedingungen zur Welt als dem Inbegriff aller Zo­nen und Gestalten des Seienden vollzieht“.155 Mit diesem Verzicht beginnt sowohl die „neue Anthropologie“,156 von der Plessner wenige Zeilen später spricht, als auch der Prozess, der „die gegenwärtige Philosophie zur anthropologischen Fundamentierung ontologischer Erkenntnis“157 trage. Ontologie wird also nicht strikt abgelehnt, sondern sie wird in der Heidegger’schen Gestalt strikt abgelehnt; indem sie im Sinne der universalen Anthropologie als anthropologisch funda- mentiert gedacht wird, wird sie nicht als historische Ontologie gedacht, weil eine solche wiederum die Ontologisierung von Empirischem darstellen würde, sondern sie muss im geschichtlichen Sinne verstanden werden als Unterwerfung der his­torisch-faktisch entstandenen ontologischen Erkenntnis unter die geschichtliche Weltauffassung. Fundamentierung heißt dann im Unterschied zu Fundierung nicht, ein Fundament ewiger, überzeitlich gültiger Erkenntnis zu legen, sondern Exponierung des in sich selbst geschichtlichen Fundaments, auf dem ontologi­sche Erkenntnis aufruht: „Man darf weiterhin dieser Einsicht nicht die Form einer Fundierung geben [...]; dann wäre ja das Prinzip der Unentscheidbarkeit preis­gegeben und ein Primat der (ontologischen) Philosophie anerkannt.“158 Funda­mentierung ontologischer Erkenntnis heißt gegenüber der Fundierung demgemäß auch: die nicht reduktionistische Rückbeziehung der ontologischen Erkenntnis auf ihr sie dekonstruierendes geschichtliches Fundament. Eine Fundamentalon­tologie ist unter diesen Vorzeichen nur möglich als eine Ontologie, die historisch Gewordenes bzw. dessen vermeintlich überzeitlichen Erkenntnis- oder Seinsvor­aussetzungen fundamentalisiert, indem sie es theoretisch und in einem gegenüber der Lebensführung intentional präskriptiven (genetisch jedoch parasitären) Sinne fundiert, wohingegen die Fundamentierung auf eine praktische Verödung der Fundamentalontologie in der Geschichtlichkeit des Lebensvollzugs zielt - eine Verödung, die geschichtsphilosophisch den Primat des Ontischen vorm Ontolo­gischen widerspiegelt und die Fundamentalontologie in praktischer Absicht theoretisch mit dem Faktum ihres Gewordenseins konfrontiert. Die Fundamen­talontologie Heideggers, die Plessner als „apriorische Anthropologie“ abhandelt,

155 Ebd.: 164f.156 Ebd.: 165.157 Ebd.: 164.158 Ebd.: 225. - Mit der im Zitat angesprochenen Unentscheidbarkeit ist gemeint die der ge­schichtlichen Weltansicht entsprechende „Unentscheidbarkeit der Frage, ob Philosophie oder Anthropologie oder Politik den Primat hat“ (ebd) ; die Entscheidbarlceit wäre nur auf apriorischem Wege zu gewährleisten, die praktische, aber nicht endgültige Entscheidung hingegen ist nur in der Gestalt einer geschichtlichen Handlung möglich.

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dient als Modell eines pejorativen Ontologie-Begriffs, so z. B., wenn Plessner sagt, dass man, wolle man „das Politische aus der schicksalsmäßigen Notwendigkeit des Menschen“159 begreifen, „von ihm jede falsche Fixierung ontologischer Art abhalten“160 müsse.

Das konzeptuelle Kontrazeptivum gegen die Ontologisierung und das positive Herzstück der Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht bilden bei Plessner zwei Prinzipien: (1) das der „Relativierung aller außerzeitlichen Sinnsphären einer Kultur auf den Menschen als ihre Quelle im Horizont der Geschichte“161 und (2) das daraus sich ergebende Prinzip der Unergründlichkeit:

Auch die Wirklichkeit der Geschichte darf für diese Selbstauffassung nicht mehr bedeuten als erfahrbare Wirklichkeit, deren Aufschlüsse von der am Prinzip der Unergründlichkeit ge­bildeten Zuwendung des Menschen zu ihr abhängen; des Menschen, der um die ge­schichtliche Gewordenheit dieses geschichtsaufschließenden Prinzips, um sich als gewor­denen Ursprung weiß.162

Das Prinzip der Unergründlichkeit ergibt sich aus dem Prinzip der Relativierung und benennt in der geschichtlichen Wehansicht ein die Zuwendung zur Welt als auch zu sich selbst bestimmendes Ethos. Dieses Ethos macht ernst mit dem strukturell gegebenen Faktum der „Offenheit des Lebens“, welche darin besteht, dass wir einer Vergangenheit fortdauernd entwachsen, die uns in der Gegenwart zugleich konstituiert, in der wir wiederum über unsere bloße Gegenwärtigkeit hinaus auf eine Zukunft hin existieren.163 Dieses dem Prinzip der Relativierung verpflichtete Ethos birgt jedoch auch eine Gefahr in sich, nämlich die Gefahr der restlosen Relativierung: „Die Gefahr der restlosen Relativierung, die mit dieser Freigabe des Blickes heraufbeschworen wird, wird in der gleichen Blickstellung dadurch wieder gebannt.“164 Wieder gebannt wird sie, weil in der radikal ge­schichtlichen Blickstellung nicht eine zur historistischen Selbstparalysierung führende nihilistische Endlosrelativierung und -nivellierung vollzogen wird, an deren Ende die uferlose Kontingenz und letztlich Gleichgültigkeit von allem und jedem steht, sondern Geschichtlichkeit ernstnehmen heißt gerade, die eigene

159 Ebd.: 196.160 Ebd.161 Ebd.: 149.162 Ebd.: 163.163 „Lebensmäßiges, natürliches Denken in den Blickstellungen eines Lebens, das der Ver­gangenheit fortdauernd entwächst und vor einer unbekannten, Weissagung und Voraussicht heischenden Zukunft steht, in der Offenheit des Lebens denkend über dieser Offenheit sinnend verweilen und sie als die elementare Situation anzusetzen - dies wäre die dem Menschen gemäße und ursprüngliche Betrachtung seiner selbst auf sein Wesen hin.“ (Ebd.: 196)164 Ebd.: 190.

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1.7 Oder etwa doch Ontologie? 41

Rolle, die eigene Stellung in der Welt und zur Welt als Handelnder und für das Handeln Verantwortlicher, d. h. als „Zurechnungssubjekt“165 ernstzunehmen. Das Pendant des konsequent gedachten geschichtlichen Denkens ist keine Katatonie der Lebensführung, sondern das entschlossene Handeln in der Situation, das weder auf der Basis absoluter Wertmaßstäbe erfolgt noch solche nach sich zieht. So verstanden ist das Prinzip der Unergründlichkeit ein zugleich theoretisches und praktisches: „Das Prinzip der Verbindlichkeit des Unergründlichen ist die zugleich theoretische und praktische Fassung des Menschen als eines histori­schen und darum politischen Wesens.“166

1.7 Oder etwa doch Ontologie?

Es hat nun den Anschein, als wäre eine jegliche Ontologie nur zuwege zu bringen durch unzulässige Ontologisierungen, dogmatische Vorentscheidungen offener Fragen und die Weigerung, sich der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz und des eigenen Denkens zu stellen. Heidegger, der den Begriff der Ontologie wirk­mächtig besetzt hat, wird als sowohl ethnozentrisch restringierter als auch un­zulässig apriorisch verfahrender Prototyp des falschen Denkens und zentraler Repräsentant ontologischen Denkens eingeführt. In einer längeren Fußnote führt Plessner jedoch in Macht und menschliche Natur mit Nicolai Hartmann eine Ge­genfigur zu Heidegger ein. Plessners Hartmann-Porträt ist ein indirektes Porträt eines philosophischen Idealbildes, zugleich aber auch das Porträt eines Ontolo- gen:

Von dieser neuen Offenheit eines auf die Bodenlosigkeit endlos erschließbarer Zonen des .Seienden“ und .Lebenden“ gewagten Wissens, das Objektivität, aber nicht Absolutheit will, ist gerade die der Diltheyschen Richtung scheinbar entgegengesetzte neue Ontologie Nicolai Hartmanns getragen, die aus der Gegenstandstheorie Meinongs und der phänomenologi­schen Forschung mindestens ebenso stark herausgewachsen ist wie aus dem transzenden­talen Logismus der Marburger Schule. Ein neues Weltgefühl offener, richtungsloser, wirk­lichkeitsverbundener Sachnähe dokumentiert sich in diesen beiden, in Deutschland sicher wohl am weitesten voneinander Abstand nehmenden Möglichkeiten zu philosophieren, das Weltgefühl der positiven Erfahrung, von dem Naturwissenschaft und Geisteswissenschaften gleichermaßen beflügelt sind.167

165 Vgl. ebd.: 148,152,154, und insbesondere 196: „Das Können, das Mächtige sind nur Ausdrücke für die Unbestimmtheit, in der das Zurechnungssubjekt seine Geschichte im Sinne eines le­bensmäßigen, in der offenen Immanenz der verschränkten Perspektiven von Vergangenheit und Zukunft sich haltenden Denkens seine Bestimmtheit jeweils anders und immer neu erringt.“166 Ebd.: 184.167 Ebd.: 229.

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Unschwer lässt sich in dieser Darstellung von Hartmanns Ontologie die Reali­sierung eines Typus des Philosophierens erkennen, dem Plessner sich selbst verbunden sieht. Macht und menschliche Natur und Hartmanns neue Ontologie sind von Plessners Hartmann-Charakteristik her als komplementäre Manifesta­tionen desselben philosophischen Ethos zu lesen; eine dem Vorrang des Onti- schen vorm Ontologischen verpflichtete Ontologie168 muss als Ontologie nicht notwendig einem fatalen Apriorismus anheimfallen und kann als Ontologie ihre eigene geschichtliche Verfasstheit wieder einholen, wobei „wieder einholen“ nicht heißt, sie bloß zu konstatieren, sondern sie zu einem immanenten modus operandi zu machen.

Das indirekte Indiz dessen, dass Ontologie kein per se dogmatisches, unge­schichtliches und aporetisches Unterfangen sein muss, lässt sich noch um einige direkte Indizien bereichern. Geschichtlichkeit heißt nicht ausschließliche Ge­schichtlichkeit, d. h. Geschichtlichkeit als Prinzip darf nicht selbst wieder zu ei­nem Absolutum werden. Das Korrektiv einer dogmatisch werdenden Geschicht­lichkeit bildet Plessners naturphilosophischer Ansatz aus den Stufen; die Lehre von den Vitalkategorien mündet nach Plessner in eine „Ontologie des Organi­schen“, in der nicht eine dem Menschen äußerliche Sphäre zur Darstellung ge­bracht wird, sondern das Andere seiner selbst:

Auf das Andere seiner Macht und seines Selbst durchscheinend ist der Mensch in eine Ebene mit physischen Dingen durchgegeben und erscheint von ihm aus dem Reich eines beson­deren Seins belebter Körper, der Pflanzen und Tiere, eingegliedert. Philosophisch bedeutet das die notwendige Möglichkeit, das Wesen des Menschen am Leitfaden einer regionalen Ontologie des Organischen als einer Kategorienlehre der Biologie und ihrer Phänomene zu entwickeln.169

Damit wird nicht die Unergründlichkeit auf eine Sphäre hin betrachtet, von der her letztlich doch eine Ergründlichkeit behauptet oder unter der Hand ermöglicht wird, sondern die Unergründlichkeit wird vielmehr potenziert dadurch, dass sie auf zwei unterscheidbaren, aber nicht voneinander trennbaren Ebenen situiert wird, die beide gleichermaßen die Menschlichkeit des Menschen ausmachen:

168 Diese Akzentsetzung zielt auf die phänomenologische Strenge einer solchen Ontologie, die Plessner in bezug auf Hartmann nicht wieder und wieder zu rühmen sich scheut: „Seine Art zu sehen und Deskription zu treiben unterscheidet sich durch die Selbstbeschränkung auf den Gesichtskreis möglicher Erfahrung und durch die Entschränlcung wiederum dieses Gesichts­kreises auf ein ihn bergendes Sein von der phänomenologischen Untersuchungsweise eines Husserl, Scheler oder Heidegger. Es gibt für Hartmann keine absolute Sphäre mehr.“ (Plessner 1985d: 94, dazu vgl. auch ebd.: 77 und 82)169 Ebd.: 227.

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1.7 Oder etwa doch Ontologie? 43

„Mensch-Sein ist das Andere seiner selbst Sein. Erst seine Durchsichtigkeit in ein anderes Reich bezeugt ihn als offene Unergründlichkeit. [...] Macht ist erst Macht auf dem Hintergründe von Ohnmacht, selbst Sein ist erst Selbst-Sein auf dem Grunde des Nichtselbstseins.“170 Die total gewordene Geschichtlichkeit verliert sich demgegenüber in der naiven Affirmation der Sphäre des Geschichtlichen als der Sphäre von sei es ungebrochener, sei es nur durch die Macht des Anderen gebrochener Macht und Mächtigkeit und wird nicht von der sie (mit-) konstitu­ierenden Differenz durchquert, die Plessner als die Natur bestimmt: „So als das Andere seiner selbst auch er selbst ist der Mensch ein Ding, ein Körper, [...] eine Größe der Natur“.171 Natur als das, was den Menschen zugleich konstituiert und ermöglicht, aber auch in seiner Verfallenheit an sie begrenzt, höhlt die narziss­tischen Ressourcen einer Haltung aus, welche die Natur in letztlicher kulturalis- tischer Selbstgenügsamkeit zum auch zu Bedenkenden verharmlost und als bloßen, die Vollständigkeit der Erkenntnis gewährenden Faktor in eine Lehre aufnimmt. Diese Blindheit gegenüber der Natur kann bereits in der Methode angelegt sein oder sich aus dem Fortgang der Gedankenentwicklung im Resultat ergeben:

Jede Lehre, die das erforschen will, was den Menschen zum Menschen macht, sei sie on­tologisch oder hermeneutisch-ontologisch, und die methodisch oder im Ergebnis an der Naturseite menschlicher Existenz vorbeisieht und sie unter Zubilligung ihrer Auch-Wich- tigkeit als das Nicht-Eigentliche bagatellisiert für die Philosophie oder für das Leben als mindestens Sekundäre behandelt, ist falsch, weil im Fundament zu schwach, in der Anlage zu einseitig, in der Konzeption von religiösen oder metaphysischen Vorurteilen beherrscht.172

Der nicht genannte Adressat dieser Ausführungen ist Heidegger, das umrissene Problem der bereits genannte Vorrang des Ontologischen vorm Ontischen. Die „Naturseite menschlicher Existenz“ ernstzunehmen heißt, das Ontologische nicht übers Ontische hinweg hermeneutisch zu entwickeln und diesem letztlich über­zustülpen, sondern vom Ontischen her, d. h. von der Sphäre des Lebendigen her, „durch die er [der Mensch, S.E.] leibhaft als das Andere seines in Führung und Kündigung ihm erschlossenen Selbst ontisch konstituiert ist“.173 In dieser Sphäre des Lebendigen sind Erschlossenheit und leibliche bzw. natürliche Konstitution unaufhebbar miteinander verschränkt; sie existieren nicht in einer bruchlosen Einheit, sondern sind in den Hiatus zwischen den Grenzen der Verständlichkeit (Hermeneutik) und den Grenzen der Erklärbarkeit (Phänomenologie der Natur)

170 Ebd.: 225.171 Ebd.172 Ebd.: 229.173 Ebd.: 230.

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1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der FragestellungHH ---

gestellt, der wiederum die Eigenständigkeit von Hermeneutik und Phänomeno­logie garantiert, sie aber auch unumgänglich aufeinander verweist:

Diese Sphäre bildet die Verschränkung des belebten Körpers in sein Feld zur Einheit der Lebenssituation nach Maßgabe der Gesetze der Positionalität. Exzentrische Position als Durchgegebenheit in das Andere seiner Selbst im Kern des Selbst ist die offene Einheit der Verschränkung des hermeneutischen in den ontisch-ontologischen Aspekt: der Möglichkeit, den Menschen zu verstehen, und der Möglichkeit, ihn zu erklären, ohne die Grenzen der Verständlichkeit mit den Grenzen der Erklärbarkeit zur Deckung bringen zu können.174

Das methodologische Stufenschema der Stufen wird hier äußerst komprimiert aufgegriffen: Die „Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthro­pologie“175 in den Stufen exponiert, insbesondere mit den drei anthropologischen Strukturformeln der vermittelten Unmittelbarkeit, der natürlichen Künstlichkeit und des utopischen Standorts, die Ermöglichungsbedingungen der Erschlossen- heit der Lebensführung, auf denen aufruhend Plessner in Macht und menschliche Natur die universale Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht durchführt; die „Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte“, als ein „wesentliches Mittel“ dersel­ben Plessner die „phänomenologische Deskription“ nennt, bildet die Bedingung der Möglichkeit, den hermeneutischen in den ontisch-ontologischen Aspekt zu verschränken. Auf das ontische Moment im Ausdruck „ontisch-ontologischer Doppelaspekt“ zielt die phänomenologische Deskription, die negativ gefasst das Verbot markiert, einfachhin hermeneutisch anzusetzen; das ontologische Moment wird in der „Philosophie des lebendigen Daseins“ angesprochen. Ohne die „On­tologie des Organischen“ wäre somit die „Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht“ auf einem Auge blind. Plessners Kritik ist insofern nicht eine Kritik von Ontologie überhaupt, sondern eine Kritik naturphilosophisch blinder, d. h. Natur als Problem sich nicht stellender Ontologie. Eine Ontologie, die Natur buchhalterisch verrechnend als Faktor, als neben anderen auch zu beachtende Entität anerkennt, ist demnach auch falsch, weil sie sich mit der „Auch-Wich- tigkeit“ herauszureden versucht und mit Natur rechnet, wo sie Natur selbst wie­derum ontologisch zu denken hätte, wie es in der Ontologie des Organischen geschieht.

174 Ebd.: 230 f.175 SOM: 30.

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1.9 Plessners Begriff der Ontologie nach Macht und menschliche Natur US

1.8 Resümierende Zwischenbetrachtung und Ausblick

Hat Plessner in den Schriften der frühen 20er Jahre den Begriff der Ontologie affirmativ verwendet, so gewinnt der Begriff in der Auseinandersetzung mit Heidegger und im Hinblick auf die spätere Entwicklung Schelers eine zunehmend negative Konnotation. Was Plessner gegen Heidegger bestreitet, ist der Funda­mentalcharakter einer Fundamentalontologie, die sich dem Problem der leben­digen Natur nicht stellt bzw. aufgrund methodischer Restriktionen nicht zu stellen vermag. Die Sphäre, an der eine wahrhaft fundamentale Betrachtung anzusetzen hat, nämlich die der Natur, wird von Heidegger durch ein hermeneutisches und als solches methodisch restringiertes, weil naturblindes, Apriori verdeckt.

Die ontologische Systematik selbst bleibt davon unangefochten, was sich daran zeigt, dass selbst in Macht und menschliche Natur die Ontologie des Or­ganischen in ein wechselseitiges Fundamentierungsverhältnis mit der „ge­schichtlichen Weltansicht“ tritt. Keine kann die Reduktionsbasis der jeweils an­deren bilden; keine kann ohne die andere in einer nicht-reduktiven Weise durchgeführt werden. Die Ontologie wird somit als Ontologie des Organischen regionalisiert, die Regionalisierung bedeutet jedoch keine Marginalisierung, welche in der Zubilligung einer bloßen „Auch-Wichtigkeit“ bestünde. Die Re­gionalisierung ergibt sich aus der methodischen Gebundenheit an die phäno­menologische Deskription und die aus ihr gewonnenen Unterscheidungen.

Der Zusammenhang zwischen der Ontologie des Organischen und dem Prinzip der Unergründlichkeit wird im folgenden Abschnitt angedeutet; seine Explikation bleibt aber dem vierten Kapitel der Arbeit Vorbehalten, in dem es darum gehen wird, die Transformation der Ontologie und die „universale An­thropologie“ von einer naturphilosophisch gewonnenen, aber nicht naturphilo­sophisch restringierten einheitlichen Begrifflichkeit her anzugehen.

1.9 Plessners Begriff der Ontologie nach M acht und

menschliche Natur

Wenige Jahre nach Macht und menschliche Natur hat Plessner in dem Aufsatz Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie (1937) den Zusammenhang zwischen Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie wiederauf genommen. Eine ent­scheidende terminologische Abwandlung nimmt Plessner, mit dem Begriff der „regressiven Methode“176 ernstmachend, vor, indem er statt von „anthropologi-

176 „Apriorisch ist die Theorie also nicht kraft ihres Ausgangspunktes, als wolle sie aus reinen

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sehen Grundgesetzen“, welche den kompositorischen und insofern auch sym­bolischen Schlussstein der Stufen bilden, von „Strukturformeln“ spricht, deren Bestimmung im Horizont des Prinzips der Unergründlichkeit sie zwar mit keiner gänzlich neuen Rolle versehen, ihnen jedoch eine andere Akzentsetzung inner­halb der Philosophischen Anthropologie zukommen lassen:

Strukturformeln dürfen keinen abschließend-theoretischen, sondern nur einen aufschlie- ßend-exponierenden Wert beanspruchen. ,Der‘ Mensch (seiner Species nach) bildet zwar ihre Leitkategorie, aber nicht zum Zweck einer bloßen Klassifikation, sondern der Sicherung einer Unergründlichkeit, welche den Emst der Verantwortung vor,allen“ Möglichkeiten ausmacht, in denen er sich verstehen und also sein kann.177

„Aufschließend-exponierend“ sind solche Strukturformeln, wenn sie eine Zu­rückführung des Empirischen auf seine strukturelle Ermöglichung erlauben; sie geben dem Verständnis etwas in einer bestimmten Orientierung (auf die Ermög­lichungsbedingungen hin), lassen darüber hinaus aber auch andere Orientie­rungen in der Verhaltenserklärung, z. B. an der Psychoanalyse, zu. Die Reduktion hingegen lässt andere Orientierungen nur gelten als schlechtere Orientierungen; sie gibt an, worauf es im Erklären und Verstehen ankommt, anders gesagt: sie bringt die Grenzen von Erklärung und Verstehen zumindest via proclamationis zur Deckung und setzt an die Stelle der Unergründlichkeit eine wie auch immer ge­artete ultima ratio.

Mit dieser modifizierten Bestimmung der Grundbegriffe aus den Stufen ver­bindet sich ein in drei Grundsätzen ausformulierter Leitfaden der Philosophischen Anthropologie:

Grundsatz 1 bestimmt die methodische Gleichwertigkeit aller Aspekte, in denen menschli­ches Sein und Tun sich offenbart, für die sogenannte Wesenserkenntnis vom Menschen. Grundsatz 2 bestimmt den Charakter von Einheit, die den Aspekten im Hinblick auf ihre Gleichwertigkeit zugrunde liegt. Grundsatz 3 bestimmt die Funktion einer Philosophischen Anthropologie, die sich ihrer theoretischen Grenzen im Hinblick auf ihre praktische Vor­aussetzung gegen die Unergründlichkeit des Menschenmöglichen bewußt ist. Die bereits in der Methode ausgeprägten Unterschiede zur sog. Existenzphilosophie von Heidegger und Jaspers und zu der Ontologie Max Schelers sind damit bezeichnet.178

Begriffen unter Beziehung von Axiomen ein deduktives System entwickeln, sondern nur kraft ihrer regressiven Methode, zu einem Faktum seine inneren ermöglichenden Bedingungen zu finden.“ (SOM: XX)177 Plessner 2003c: 39.178 Ebd.

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1.9 Plessners Begriff der Ontologie nach Macht und menschliche Natur 47

Die Abgrenzung von der Fundamentalontologie und der Scheler’sehen Ontologie bilden nicht die einzigen abgrenzenden Bezugnahmen auf ontologische Entwürfe; auch die klassische Ontologie wird als systematischer Orientierungsrahmen und Gesprächspartner der Philosophischen Anthropologie verworfen, weil „die Querverbindungen zwischen physischem, psychischem, geistigem Bereich, wie sie uns aus der alten Ontologie und Erkenntnistheorie zur Verfügung stehen, durch den Fortgang der Dinge unanwendbar geworden sind“.179

Plessners philosophische Positionierung hat hier ihren später immer wieder aufgegriffenen und durch Erweiterung und Ausdehnung auf andere Fragen le­bendig gehaltenen systematischen Abschluss erfahren; die systematische Grundkonfiguration ist in den späten 1930er Jahren zum Abschluss gebracht worden. Schlagender Beleg dieser Lesart ist, dass Plessner in seinem 1963 er­schienen Aufsatz Immer noch Philosophische Anthropologie? nahtlos an die in den Stufen entwickelte und in Macht und menschliche Natur weiterentwickelte Pro­blemstellung anknüpfen kann, was Plessner darauf zurückführt, dass die Grundkonstellation seiner Zeit - Hegemonie der empirischen Wissenschaften, gleichzeitige „Entdeckung der Pluralität und Geschichtlichkeit menschlicher Normensysteme“180 181, daraus folgende Notwendigkeit der Kritik des europäischen Normensystems - im Wesentlichen die gleiche geblieben sei: „In solcher Lage sehen sich die Bemühungen um eine Philosophische Anthropologie seit 1928.“1S1 In solcher Lage befindet die Philosophische Anthropologie sich zwischen Gren­zen - Grenzen zwischen Wissenschaften, philosophischen Positionen oder auch Grenzen zu Weltanschauungen - und versteht sich konsequenterweise als Grenzforschung, als deren klassischen Gegenstand Plessner die „Wirklichkeit des Menschen“ ansieht:

Gleichwohl stellt die Wirklichkeit des Menschen den klassischen Fall für Grenzforschung, und zwar im doppelten Sinne des Wortes, dar. Er ist das an Dimensionen reichste Objekt, das wir kennen, und er ist in allen diesen Dimensionen und zu ihnen Subjekt. Er bietet also nicht nur rein seinsmäßig die meisten Übergänge von Schicht zu Schicht, von Stoff zu Leben, zu Seele, zu Geist, sondern er ist ihnen zugleich als Person, als Kern und Träger dieser Schichtenfülle überlegen und gewissermaßen entzogen. Dergestalt sie begrenzend, begeg­nen sich in ihm Natur und Geschichte, Gesetz und Freiheit, Schicksal und Gnade. Seinen Körper studieren die Mediziner, aber auch die Zoologen, die Chemiker und Physiker; seine Seele oder was er und die anderen dafür halten, seine Erlebnisse und sein Unbewußtes, die

179 Ebd.: 50.180 Plessner 2003d: 235.181 Ebd.

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48 1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

Psychologen, die Psychoanalytiker und die Psychiater, seinen Geist die Sprachwissen­schaften, die Kulturwissenschaften, die Historiker.182

Die Wirklichkeit des Menschen, wie die Philosophische Anthropologie sie in den Blick nimmt, ist an der Analyse menschlichen Verhaltens orientiert; Grenzfor­schung wird von Plessner seit Lachen und Weinen (1936), und darin exemplarisch, vorwiegend als Verhaltensforschung betrieben. Konstitutiv für das Verhalten ist „die Bedingtheit des Verhaltens durch den Sinn, der es zu Leben und Form er­weckt“.183 Aufgrund dieser Sinnbedingtheit des Verhaltens gerät der Mensch in seinem Verhalten als Ganzer in den Blick: „Als Ganzer ist uns der Mensch, d. h. der Mitmensch, und sind wir uns selber zugänglich im Konnex des Verhaltens, des Umgangs mit unseresgleichen und der Umwelt.“184

Den Menschen als Ganzen in den Blick zu nehmen heißt, ihn in einer dop­pelten Frontstellung gegen Existentialontologie und Behaviorismus bzw. reduk- tionistische naturwissenschaftliche Ansätze zu perspektivieren, die Plessner zu­folge „in einem Punkte einig sind: daß es nämlich ein psychophysisches Problem nicht gibt“.185 Gegen den szientifischen Reduktionismus wendet Plessner bez. des psychophysischen Problems ein: „Von der Neurochemie wird es nicht gelöst werden, es sei denn die Positionalitätsanalyse verbindet sich mit ihr [Hervorhebung, S.E.], d.h. die Dimensionierung des Daseins für ein zerebralisiertes Lebewesen wird ernst genommen.“186 Die Positionalitätsanalyse stellt das Korrektiv eines kruden, monistischen Materialismus dar, der Lebendiges Unlebendigem zunächst gleichmacht, um nachher die unaufhebbare phänomenologische Differenz zwi­schen beiden aus der ontologischen Identität derselben hervorgehen zu lassen. In Ein Newton des Grashalms? führt Plessner allerdings überdies einen neuen Begriff als Grenzbegriff in die Philosophische Anthropologie ein, nämlich den der Di- mensionalität:

Der alte Materialismus mit seiner Formel, Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefühle seien in Wirklichkeit nichts als physiologische Vorgänge, hat das Kind mit dem Bade aus­geschüttet. Was sich daran (wie an den bewußtlosen Eigenschaften der Lebendigkeit) re­duzieren läßt, ist nicht der Dimensionalitätscharakter des Psychischen oder des Vitalen, sondern die Mittel seines Zustandekommens in (oder für) einem biochemisch zu definie­

182 Plessner 2003e: 121.183 Lu W: 210.184 Ebd.: 223.185 Plessner 2003 f: 262.186 Ebd.

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1.9 Plessners Begriff der Ontologie nach Macht und menschliche Natur 49

renden System. Da liegen die Grenzen für einen Newton des Grashalms und nicht im Phä­nomen der Zweckmäßigkeit, wie Kant wollte.187

Dimensionierung und Positionalität sind korrelative Begriffe mit unterschiedli­cher Erschließungsfunktion: Dimensionierung bezeichnet auf ontischer Ebene den phänomenologisch erfassbaren Überschusscharakter der Grenzrealisierung; Positionalität bezeichnet auf ontologischer Ebene die strukturelle begrifflich-ty- pologische Differenzierung der Lebensformen voneinander. Anders gesagt: An­hand der Positionalitätsanalyse lassen sich Lebensformen in der Spezifik ihrer Dimensionalitätscharaktere in Bezug auf ihre Lebensumgebung und in der Struktur der Bezogenheit auf ihre Lebensumgebung unterscheiden. Die Grenzen eines Newton des Grashalms liegen nicht primär im Bereich der Analyse der or­ganischen Konstitution,188 sondern im Bereich dessen, was sich eigenschaftlich im Lebensvollzug an einer Lebensform beobachten lässt; sowohl die strukturelle Bedingtheit dessen, was eigenschaftlich beobachtbar ist, als auch die differentiae speciflcae der Lebensformen untereinander können nur durch die Positionali­tätsanalyse auf gehellt werden.

Ohne die Argumentation gegen Heidegger zu rekapitulieren, lässt sich im spezifischen Hinblick auf das Problem der Ganzheitlichkeit noch einmal sum­marisch der Einwand anführen, dass man unter „der Direktive des fundamen­talontologischen Problems [...] der Interpretation phänomenologischer Strukturen als Sinnstrukturen verhaftet“189 bleibe und die solchermaßen wirkende „ontolo­gische Vorprägung“190 eine methodische Vorentscheidung vollziehe, welche die naturphilosophische Perspektivierung des Daseins lediglich in einer - mit Hei­degger selbst gesprochen - „uneigentlichen“,191 die Naturalität des Daseins

187 Ebd.188 Sie stoßen aber auch in der organischen Analyse an Grenzen, die in den Stufen weitläufig entfaltet werden und Gegenstand des vierten Kapitels dieser Studie sein werden.189 Plessner 2003b: 389.190 Ebd.: 388.191 Insofern ist Heidegger Opfer einer Dialektik der Eigentlichkeit, die sich daraus ergibt, dass das Eigentlichkeitsdenken eine Geschlossenheit bzw. Abschließbarlceit der thematischen Zu­sammenhänge innerhalb seiner Entfaltung präsupponiert, die auf es zurückfällt, sobald das Ei­gentliche der Existentialontologie sich nicht als das schlechthin Eigentliche erweist, sondern sich als ein selbst wiederum auf einen konstitutiven dunklen Untergrund, konzeptuell gesprochen, einen relevanten blinden Fleck hin befragen lässt, als welcher von der Plessnerschen Konzeption her Natur fungiert. Adornitisch gesprochen, instituiert Heideggers Denken sich als Verblen­dungszusammenhang dadurch, dass es in seiner essentialisierenden Fokussierung sich zugleich als Ausblendungszusammenhang erweist, in dem strukturell unsichtbar gemacht wird, was nicht als für das Sein des Daseins Wesentliches aufgefasst wird.

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nurmehr als Faktor aufrechnenden Weise vollziehen kann. In den späteren Schriften erfährt die Heidegger-Kritik eine kontextuelle Verschiebung; die in der Nachkriegszeit zunehmend ins systematische Zentrum tretende Grenz- und Ver­haltensforschung, die nicht mehr im Epizentrum des politischen Erdbebens steht, innerhalb dessen Macht und menschliche Natur verfasst worden ist, rückt ge­genüber der Forschungsorientierung, die Hans-Peter Krüger als „Präsupposi- tionsanalyse“ bezeichnet, in den Hintergrund. Die Abgrenzung von der Ontologie, welche wesentlich Ablehnung der Heidegger’schen Ontologie bleibt und im Rahmen der Heidegger-Kritik formuliert wird, wird unmittelbar durch die positive Bestimmung der eigenen philosophischen Orientierung ergänzt: „Anthropologi­sche Analyse steht nämlich in keinem natürlichen Bündnis weder mit der onto­logischen noch mit der ethischen Frage. Sie hat es nur mit der Konfiguration der Bedingungen zu tun, welche für menschliches Verhalten spezifisch sind.“192 Der Orientierung an den Ermöglichungsbedingungen spezifisch menschlichen Ver­haltens entspricht die positive Bestimmung der Philosophischen Anthropologie in der Nachkriegszeit. Positiv, d. h. nicht in Abgrenzung von anderen Ansätzen, gerät der Mensch als Ganzer in den Blick, sofern er in der Spezifik seiner Bedingtheit, d. h. auch in der Differenz seiner Verhaltensform zur tierischen, betrachtet wird:

Spezifisch menschliches Verhalten aber hat darüber hinaus noch eine Dimension, in der er spielt und in der es an Grenzen geraten kann. Sie drückt ihm den Stempel der Indirektheit und Vermitteltheit auf. In allem, was der Mensch nach seiner Meinung vor den Tieren voraus hat, steht er zwischen sich, dem Subjekt des Verhaltens, und seinen Objekten.193

Hier konvergiert die Verhaltensanalyse mit den Strukturformeln, die Plessner im letzten Kapitel der Stufen entfaltet: Die Indirektheit des menschlichen Verhaltens entspricht der natürlichen Künstlichkeit menschlichen Verhaltens; beide reali­sieren das zweite Strukturgesetz der vermittelten Unmittelbarkeit. Die Übergänge zwischen der hier angestrebten Grenzforschung und der Grundlegung der Phi­losophischen Anthropologie in den Stufen sind fließend,194 wie sich in der Be­stimmung des Begriffs der Grenzforschung selber zeigt:

Der Grenzforschung gelingen die Überbrückungen zwischen Gebieten, die für so disparat gehalten werden, daß man keine gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen ihnen vermutet und Übergänge von einem zum anderen für unmöglich hält. Solche Grenzgebiete werden uns

192 Plessner 2003 g: 418.193 LuW: 378 f.200 Vgl. hierzu die Erläuterung der vermittelten Unmittelbarkeit anhand des Begriffs der indirekten Beziehung in: SOM: 328-332.

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1.9 Plessners Begriff der Ontologie nach Macht und menschliche Natur 51

nach dem ehrwürdigen Modell der aristotelischen Philosophie in dem stufenförmigen Auf­stieg vom Stoff bis zur höchsten Form über Pflanze, Tier und Mensch vor Augen geführt.195

Das aristotelische Modell, das hier als „ehrwürdig“ bezeichnet wird und dessen grundsätzliche Unterscheidungen zwischen Lebensformen sowohl von den Stufen als auch von der Grenzforschung her unter gänzlich neuen theoretischen Vor­zeichen eingeholt werden können, diskutiert Plessner erstaunlicherweise in keiner seiner Schriften ausführlich. Erstaunlich ist dies auch vor dem Hintergrund, dass Plessner in seinem späten Aufsatz Der Mensch als Naturereignis von 1965 der klassischen Ontologie - auch wenn nominell deren moderner Aufguss genannt wird - konzediert, dass ihre grundbegriffliche Konfiguration phänomenologisch ins Schwarze treffe:

„Unsere biologische Betrachtung der menschlichen Daseinsweise richtet sich einmal gegen jene Spielart des Trialismus, dem wir in der Neuscholastik begegnen, die das menschliche Wesen aus drei verschiedenen Essenzen zusammensetzt: Körper, Seele und Geist. Nicht, daß diese Dreischichtung dem Phänomen nicht gerecht würde. Phänomenologisch ist sie korrekt, Geist und Seele sind zweierlei.“196

Die von Plessner konstatierte phänomenologische „Korrektheit“ betrifft, abge­sehen von der Körper-Seele-Geist-Differenz, mit Sicherheit auch die Stufen­ordnung der Lebensformen Pflanze - Tier - Mensch, die Aristoteles in seinem „ehrwürdigen“ Modell vornimmt. Darüber hinaus wirft die immerhin konzedierte phänomenologische Korrektheit die grundsätzliche Frage auf, wie weit die Dif­ferenzen zwischen der Philosophischen Anthropologie und dem Aristotelischen Denken bzw. Entwürfen reichen, die innerhalb der aristotelischen Tradition zu verorten sind, und worin diese sowohl konzeptionell als auch hinsichtlich der denkerischen, z.B. gegenwartsdiagnostischen, Konsequenzen bestehen? In gro­ber Vereinfachung ließe sich fragen: entwickelt Plessner eine phänomenologisch identische, aber über den Umweg der Phänomenologie ontologisch entfunda- mentalisierte Variante des aristotelischen Denkens?197 Jenseits jeglicher Verein­fachungen lässt sich feststellen, dass Plessner in den Stufen terminologisch ausgiebig mit Aristoteles kommuniziert. Diese Kommunikation lässt sich an Ter­mini der Stufen festmachen, die gängigerweise gar nicht als Termini wahrge­

195 Plessner 2003e: 120.196 Plessner 2003a: 280.197 In noch gröberer Vereinfachung hält Matthias Jung Plessner vor, die aristotelische scala naturae in naturwissenschaftlich aufgeputzter Variante schlicht zu restituieren: ,,[B]ei Plessner wiederum dominiert eine naturwissenschaftlich Variante der Aristotelischen scala naturae. “ (Jung 2009: 97)

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52 1 Der Begriff der Ontologie in Plessners Werk. Interne Motivierung der Fragestellung

nommen werden, hier aber als Grundbegriffe von Plessners Ontologie des Orga­nischen elaboriert werden, so am Begriff der „immanenten Teleologie“ und der „Entelechie als Seinsmodus“.

Diese untergründige und in den Stufen nicht offen ausgetragene Kommuni­kation wird im vierten Kapitel dieser Studie genauer verfolgt werden. Ihre Vor­bereitung bedarf eines genaueren Blicks auf das Aristotelische Werk, um Plessners Terminologie nicht im luftleeren Raum schweben zu lassen, bevor in einem zweiten Schritt der Modifikation des ontologischen Erbes im Rahmen der neo­klassischen und zugleich zentrale, Stein mit Plessner über alle Unterschiede hinweg verbindende, Motive der philosophischen Moderne adaptierenden Phi­losophie Edith Steins nachgegangen wird.

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2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena

2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

Die heutigen Ontotogien treten oft nicht mehr als Metaphysiken auf und/oder wollen meist nicht als solche verstanden werden.1 Was uns solchermaßen als Selbstverständlichkeit erscheint, ist jedoch das Resultat eines über Jahrhunderte sich hinziehenden Ablösungsprozesses, der im Folgenden als Emanzipation der Ontologie von der Metaphysik rekonstruiert werden soll. Der Untertitel dieser Studie, in dem von Plessners Transformation der klassischen Ontologie die Rede ist, zielt nicht auf Plessners Verhältnis zur klassischen Ontologie als Metaphysik, sondern, wenn man an der Unauflöslichkeit beider festhalten will, auf die klas­sische Metaphysik als Ontologie und damit auf die zentralen ontologischen Motive der metaphysischen Tradition. Georg Picht warnt in seiner unter dem Titel Die Fundamente der griechischen Ontologie veröffentlichten Vorlesung in einer an­ekdotischen Erzählung davor, allzu leichtfertig retrospektiv eine antike Ontologie im klassischen Textkorpus auszumachen: „Ein sachverständiger Freund, dem ich erzählte, daß ich über griechische Ontologie lesen wollte, erklärte kurz und bündig: ,Es gibt keine griechische Ontologie.“ In der Tat haben die Griechen das Wort Ontologie nicht gekannt.“2 Eine kurze begriffsgeschichtliche Klärung des Verhältnisses zwischen Ontologie und Metaphysik ist der Auseinandersetzung mit Aristoteles, Thomas von Aquin und Edith Stein daher voranzustellen.

2.1.1 Die Trennung von Ontologie und Metaphysik nach Elisabeth Rompe

Elisabeth Rompe verfolgt in ihrer Studie Die Trennung von Ontologie und Meta­physik. Der Ablösungsprozeß und seine Motivierung bei Benedictus Pererius und anderen Denkern des 16. und 17. Jahrhunderts die Trennung von Ontologie und Metaphysik philologisch entlang den Entwicklungen der Schulphilosophie im Ausgang von Pererius im 16. Jahrhundert bis ins 18. Jahrhundert, wo die Trennung ihre systematische Kodifikation und insofern ihren Abschluss bei Christian Wolff findet. Den systematischen, wenngleich nicht terminologisch festgeschriebenen

1 Ein über das philosophische Schrifttum hinausreichendes Symptom der Loslösung der Onto­logie von der Metaphysik besteht der Verwendung des Begriffs „Ontologie“ innerhalb der Infor­matik, wo Ontologien Interferenzregeln zwischen den Begrifflichkeiten verschiedener Informa­tionssysteme hersteilen.2 Picht 1996: 21.

D0I 10.1515/9783110459159-003

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su 2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

und den gängigen philosophischen Sprachgebrauch grundsätzlich umgestalten­den Bruch macht Rompe früher als bei Wolff, nämlich bereits in der von Pererius im 16. Jahrhundert getroffenen Unterscheidung zwischen Seinslehre und natür­licher Theologie, aus. Rompe bezeichnet Pererius daher als den „Inaugurator der Loslösung der Ontologie von der Metaphysik“.3

Systematisch bedeutet die Loslösung der Ontologie von der Metaphysik bei Pererius zunächst, dass „Seinslehre und natürliche Theologie [...] bei ihm keine innere Einheit mehr bilden“4 können. Diese Dissoziation zwischen Seinslehre und natürlicher Theologie gründet nach Rompe in der Logifizierung der Seinslehre, welche darin besteht, das Seiende als Seiendes, „das ens ut ens nach Art einer logischen Abstraktion, etwa als Gattungsbegriff zu verstehen“.5 Auch eine höchste Gattung steht dann in einem inferenziellen Differenzverhältnis zu anderen Gat­tungen, sie ist damit inhärent relationaler Natur und teilt mit allen anderen Gattungen die Eigenschaft, auf etwas Höheres, nicht selbst Gattungsmäßiges, als welches traditionell metaphysisch ein Absolutum fungiert, bezogen zu sein. Rompe verdeutlicht dies am Begriff der analogen Seinsteilhabe: „Von einem ens ut ens, das begriffen wäre als Grundform analoger Seinsteilhabe, würde man wohl kaum sagen, daß es alle entia in sich enthalte.“6 Das Seiende als Seiendes (ens ut ens) bilde bei Pererius einen von drei Teilen der Metaphysik; ihm entsprächen als dem wichtigsten Teil die „von der Materie freien Substanzen, nämlich Gott und die Intelligenzen“.7 Den zweiten und dritten Teil bildeten die Transzendentalien und die zehn Kategorien, welche aus dem aristotelischen Lehrbestand übernommen werden. Rolle und Bestimmung der Transzendentalien, unter welchen z. B. „ens, unum, verum, bonum, actus et potentia“8 gefasst werden, fasst Rompe folgen­dermaßen zusammen: „Die Transzendentalien finden sich nämlich in materiellen und immateriellen Dingen, sind also indifferent gegen die Materie und insofern als von ihr frei anzusehen.“9 Fällt das ens jedoch, wie die Aufzählung behauptet, unter die Transzendentalien, so bestätigt sich darin Rompe zufolge die Einebnung des Fundamentalcharakters der Differenz zwischen dem ens ut ens und den genera.

3 Rompe 1968:11. - Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass Pererius Rompe zufolge einen Vorläufer bereits im 14. Jahrhundert gehabt habe, den sogenannten Pariser Anonymus, der sys­tematisch zwischen metaphysica generalis (Ontologie) und metaphysica specialis (Metaphysik) unterschieden habe, ohne dass allerdings seine Unterscheidung geistesgeschichtliche Wirlc- mächtiglceit erlangt hätte. Dazu vgl. ebd.: 76 f.4 Ebd.: 85.5 Ebd.: 63.6 Ebd.7 Ebd.: 65.8 Ebd.9 Ebd.: 64.

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2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena 55

Rompe spricht demgemäß von einer „Gleichsetzung des ens ut ens mit einem Genus“10 und bringt diese auf den Begriff der Formalisierung: „Das Sein erscheint in dieser Formalisierung ganz analog zu den genera, die in anderen Wissen­schaften behandelt und im Hinblick auf ihre Ursachen, species und passions erforscht werden.“11 Damit zerfällt jedoch auch die Einheit der Metaphysik, die von der in sich einheitlichen dreiteiligen Gestalt zu einer dreigeteilten sich entwickelt und deren Teile jeweils ihnen spezifisch zukommenden Gesetzen unterstehen. Entscheidend ist dabei, dass der Übergang von der Unterordnung der beiden anderen Teile der Metaphysik unter die Erforschung des ens ut ens zur Neben­ordnung dreier, eine Einheit bildenden, Wissenschaften führt, welche noch bei Thomas von Aquin, der einen zentralen Bezugspunkt Pererius’ bildet, bestimmend ist:

Die Metaphysik besteht - das ist das Ergebnis, zu dem Pererius kommt, ohne es offen aus­zusprechen - aus drei Teilwissenschaften. Die Tatsache, daß der Gegenstand einer jeder dieser Teilwissenschaften verstanden werden kann als causa oder passio oder species entis, ändert nach seiner Meinung nichts daran, daß die Wissenschaften als solche wesensver­schieden sind. Will man trotzdem an der einen Metaphysik festhalten, so muß man deren Einheit begründen aus der Hinordnung aller Teilgebiete auf die doctrina intelligentiarum. Die Metaphysik ist für Pererius demnach in erster Linie nicht Wissenschaft vom ens ut ens, sondern von den immateriellen Substanzen. Diese sollen nicht nur als causae entis, sondern an sich von der Metaphysik behandelt werden. Die Einheit der Metaphysik läßt sich dann aber nur als analoge festhalten. Sie kann - wie es bei Pererius geschieht - nur begründet werden aus der Hinordnung aller metaphysischen Teilwissenschaften auf die scientia de intelli- gentiis als die oberste metaphysische Wissenschaft. Die Bedeutung der Metaphysik als scientia de ente ut ens est geht dabei fast ganz verloren.12

Dieser Bedeutungsverlust der Metaphysik gehe mit der „Verdrängung des ens ut ens als Gesamtsubjekt der Metaphysik“13 einher, dessen Stelle von der essentia eingenommen werde. Diese Ablösung basiert darauf, dass Pererius eine jede Existenz - auch die eines Seienden als Seienden (ens ut ens) - als einen „modus essentiae“14 verstehe. Auf dieser Grundlage wird Rompe zufolge das Verhältnis zwischen Existenz und Essenz einer Neubestimmung unterzogen; die Essenz, welche der Begriff zu fassen versucht, erhält theoretische Priorität, da die Exis­tenz, als das Sein selbst verstanden, vom Erkenntnisakt durch die Sphäre des Begriffs getrennt und nur innerhalb derselben und daher nicht ungebrochen

10 Ebd.11 Ebd.: 65.12 Ebd.: 67.13 Ebd.: 68.14 Ebd.: 90.

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einholbar ist. Insofern das höchste Seiende der Logik des Begriffs unterworfen wird, findet eine Nivellierung seiner Dignität statt:

Je mehr die essentia in den Vordergrund rückt, desto leichter wird es, das ens ut ens ganz formal als Genus zu verstehen. Ens besagt dann nur noch das Essenzhaben eines Dinges, als Merkmal, in dem es sich mit vielen anderen trifft. Das Seiende als Seiendes betrachten heißt nichts anderes als die allgemeinen Bedingungen des Essenzhabens, das jedem Seienden zukommt, begrifflich zu erfassen.15

Das Seiende als solches wird zwar nivelliert, nicht aber eliminiert; mit ihm befasse sich die Metaphysik als Spezialwissenschaft, die bei Pererius als natürliche Theologie konzipiert wird und der als prima philosophia bezeichneten Begriffs­wissenschaft, der späteren Ontologie, zur Seite gestellt wird. Die natürliche Theologie operiere jedoch im Medium des Begriffs und ist somit per definitionem die sich als wissenschaftlich verstehende Sisyphos-Aufgabe, das schlechthin Nichtbegriffliche auf begrifflichem Wege - der traditionellen Intention nach: er­schöpfend - zu erschließen:

Das ens ut ens wird nicht als unmittelbare Wirklichkeit beschrieben, sondern erscheint vielmehr wie ein Gattungsmerkmal, das von dem konkreten Ding leicht abgehoben werden kann. Die Wissenschaft vom ens ut ens führt deshalb bei Pererius nicht über das Sein des Seienden auf ein absolutes Sein als dessen Grund. Seinslehre und natürliche Theologie können daher bei ihm keine innere Einheit mehr bilden. Die Seinslehre oder prima philo­sophia stellt nur etwas wie eine Vorwissenschaft dar, die auch für die natürliche Theologie oder Metaphysik Gültigkeit hat.16

Die hier angesprochene Differenz zwischen prima philosophiabzw. Seinslehre und natürlicher Theologie bzw. Metaphysik entspricht der zwischen Ontologie und Metaphysik, wobei letztere „sich mit dem konkreten Seinsbereich des immateri­ellen Seienden“17 befasst, während die erstere „etwas wie eine Vorwissenschaft dar [stellt], die auch für die natürliche Theologie oder Metaphysik Gültigkeit hat“.18 Sachlich war damit bei Pererius die Unterscheidung zwischen Ontologie und Metaphysik in Gestalt der Unterscheidung zwischen prima philosophia und na­türlicher Theologie/Metaphysik vollzogen,19 wobei der Ontologie als allgemeiner

15 Ebd.: 90.16 Ebd.: 85.17 Ebd.18 Ebd.19 Pererius selbst verwendet die Begriffe scientia generalis (Ontologie) und divina scientia (Me- tapyhsik), die Rompe zwar zitiert, nicht aber als grundbegriffliche Unterscheidung aufnimmt: „Necesse est esse duas scientias distinctas inter se: unam quae agat de transcendentibus et

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2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena 57

Grundlagenwissenschaft die Dignität einer Disziplin kommt, die Grundlegungen zu leisten imstande ist, die für alle übrigen Wissenschaften, die Metaphysik ein­geschlossen, verbindliche Gültigkeit besitzen. Die sachlich äquivalente Unter­scheidung zwischen metaphysica generalis (Ontologie) und metaphysica specialis (Metaphysik/natürliche Theologie) hat Rompe zufolge erst später unter den und durch die deutschen Schulmetaphysiker Eingang in die wissenschaftliche No­menklatur gefunden.20

Statt bei der Tradierung dieses Begriffspaars zu verweilen, soll ein Streifblick auf die Terminologisierung des Wortes „Ontologie“ geworfen werden, als dessen „vielleicht früheste Fundstelle“21 Rompe das 1613 erschienene Lexicon philoso- phicum des Goclenius (Rudolf Göckel) anführt. Dem Zweifel, den das „vielleicht“ indiziert, verleiht Rompe an anderer Stelle Ausdruck: „Ob Göckel der Urheber der Bezeichnung, Ontologie* für die scientia de ente ist, läßt sich mit Sicherheit nicht ausmachen.“22 Einen klaren und von Rompe ebenfalls angeführten Hinweis darauf, dass Goclenius den Begriff der Ontologie als erster verwendet hat, findet sich nur sieben Jahre später bei Alsted: „Zu dieser Konzeption der Metaphysik als reiner Seinslehre paßt es, daß Alsted in seiner Cursus philosophie Encyclopaedia von 1620 auch schon den Terminus Ontologie kennt und benutzt. Wie er selbst angibt, hat er ihn aus Gockels Lexicon philosophicum übernommen.“23 Dem Ver­weis Aisteds darf aufgrund des äußerst geringen zeitlichen Abstandes zu Gocle­nius sowie der Überschaubarkeit der gelehrten Welt zu jener Zeit großes Gewicht beigemessen werden. Nicht umsonst hat die Datierung der erstmaligen Verwen­dung des Begriffs auf Goclenius sich allgemein durchgesetzt, wovon auch die späteren, äußerst kenntnisreichen Schriften Pichts24 und Kondylis’25 zur Ge­schichte der Metaphysik bzw. Ontologie zeugen. Kondylis’ Die neuzeitliche Meta­physikkritik gilt der nächste Abschnitt, da Kondylis die Loslösung der Ontologie

universalissimis rebus; alteram quae de intelligentiis. lila dicetur prima philosophia et scien- tia’universalis; haec proprie vocabitur Metaphysica, Theologia, Sapientia, Divina scientia.“ - Pererius, zitiert nach ebd.: 69.20 „Die deutschen Schulmetaphysiker, die fast alle Pererius kennen und zitieren, sprechen entweder von Metaphysica generalis als allgemeiner Seinslehre und Metaphysica specialis als Wissenschaft von den species entis ganz generell sowie von Gott und den Engeln im besonderen [...].“ (Ebd.: 14)21 Ebd.: 203.22 Ebd.: 217.23 Ebd.: 264.24 „In der Tat haben die Griechen das Wort Ontologie nicht gekannt. Es ist eine Neubildung, die zum ersten Mal in dem 1613 erschienenen Lexicon Philosophicum des Marburger Philosophen Rudolph Goclenius (1547-1628) erscheint.“ (Picht 1996: 21)25 Vgl. Kondylis 1990: 254.

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von der Metaphysik mit anderen Akzentuierungen in einem größeren geistesge­schichtlichen Rahmen entfaltet.

2.1.2 Die Trennung von Ontologie und Metaphysik nach Kondylis

Panajotis Kondylis holt in seiner Studie Die neuzeitliche Metaphysikkritik we­sentlich weiter aus als Rompe und setzt zu einem umfassenden ideengeschicht­lichen Durchgang durch die Transformation der Metaphysik vom Mittelalter bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Kondylis weist gründlich nach, dass die Kritik der Metaphysik lange vor der Loslösung der Ontologie von der Metaphysik - und das heißt auch: unabhängig von einer solchen Loslösung - mit dem Hu­manismus des 14. Jahrhunderts und seiner Privilegierung der Rhetorik gegenüber der Logik und der vita activa gegenüber der vita contemplativa eingesetzt hat. Gleichwohl tritt die selbst wiederum metaphysikkritische Unterscheidung von Metaphysik und Ontologie erst viel später auf, nämlich, wie auch Rompe über­einstimmend ausführt, im 16. Jahrhundert bei Pererius:

Die programmatische Unterscheidung zwischen Metaphysik im Sinne der Wissenschaft vom Seienden als Seiendem und Metaphysik im Sinne der Theologie wird zum ersten Mal 1562 vom Jesuiten Pererius getroffen. Pererius behält den Namen „Metaphysik“ ausschließlich der Theologie, der divina scientia, vor, während er die Wissenschaft des Seienden als Seienden die erste Philosophie bzw. scientia generalis nennt.26

Die häufig Pererius zugeschriebene Unterscheidung zwischen metaphysica ge­neralis (Ontologie, scientia generalis) und metaphysica specialis (Theologie, divina scientia) gehe, so Kondylis, auf Micraelius zurück; ebenso finde der Terminus der Ontologie, wie Kondylis in Übereinstimmung mit Rompe ausführt, bei Pererius keine Verwendung, sondern trete erstmals bei dem systematisch an Pererius’ Unterscheidung anschließenden Goclenius auf. Sachlich gingen jedoch die ter­minologischen Neuerungen bei Micraelius und Goclenius auf Pererius’ maßge­bende und folgenreiche Unterscheidung zurück. Dessen Unterscheidung zwi­schen „divina scientia“ und „scientia generalis“ stelle die Reaktion auf das Dilemma dar, dass sowohl die Erste Philosophie als auch die Theologie ihrem Selbstverständnis nach die Suprematie auf dem Gebiet der Metaphysik bean­spruchten; Kondylis spricht vom ,,doppelte[n] Bedürfnis, sowohl die Metaphysik als erste Philosophie als auch die Theologie als Metaphysik einzustufen“.27 Ist die

26 Ebd.: 252.27 Ebd.: 253.

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Metaphysik nicht nur Theologie, sondern zugleich Erste Philosophie, also scientia generalis, so vermag sie ihre eigene begriffliche Grundlegung zu leisten; ihr An­spruch gegenüber der ersten Philosophie ist nicht nur hegemonialer, sondern auch vereinnahmender Art und gegen die Emanzipation der Ontologie von der Metaphysik gerichtet.

Diese Vereinnahmung konnte die Metaphysik jedoch nicht historisch durch­halten, weshalb die Loslösung der Ontologie innerhalb einer konkreten geistes­geschichtlichen Gefährdungslage stattfinden konnte, die zur Emanzipation der prima philosophia von der theologischen Metaphysik führte. Die Ambivalenz aus Gefährdungslage (für die Metaphysik) und Emanzipationsermöglichung (der Ontologie) ergab sich Kondylis zufolge aus der „sich gerade vollziehenden ontologischen Aufwertung der Natur und der sinnlichen Welt“,28 welche „auf der Basis der Annahme, diese sei gesetzmäßig strukturiert und rationaler Erfassung fähig“,29 erfolgt sei. Dieser Aufwertung entspreche die Umorientierung von der traditionellen certitudo objecti auf die certitudo modi procedendi, welche die Entwicklung der mathematischen Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts kenn­zeichne.30 Dieser Entwicklung habe die der certitudo obiecti die Treue haltende Theologie „die Reinheit und Autonomie des Geistes als des einzigen wahren Gegenstandes der Metaphysik“31 entgegengehalten. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen buchstabiere Pererius die Unterscheidung zwischen scientia ge­neralis und divina scientia entlang der Differenz von Sinnlichem und Unsinnli­chem aus; daher sei die Metaphysik „die Wissenschaft der immateriellen Sub­stanzen“,32 die von Gott und Geistern handele. Die scientia generalis hingegen befasse sich „nicht ausschließlich mit den materiellen Wesen“33, vielmehr seien

die ontologischen Bestimmungen auf alle Wesen gleichermaßen anwendbar und können außerdem, wenn von der realen Beschaffenheit der Wesen nicht mehr gesprochen wird, nur rein logische Bestimmungen sein. Mit anderen Worten: in ihrer neuen Definition identifiziert sich schließlich die Ontologie mit der Logik, da sie nicht mehr von der Realität der einzelnen Wesen, sondern nur vom allgemeingültigen Begriff des Seienden handelt.34

Da die Ontologie dieser Bestimmung zufolge universal sei und ihre Bestimmungen für die sinnlichen wie übersinnlichen Gegenstände gleichermaßen gelte, handele

28 Ebd.29 Ebd.: 153.30 Vgl. ebd.: 40.31 Ebd.32 Ebd.33 Ebd.: 256.34 Ebd.: 256.

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es sich bei ihr um eine Wissenschaft, „die zwar vom Wert her unter der Metaphysik (als Theologie) steht, gleichzeitig aber die erforderliche Einleitung in alle Wis­senschaft einschließlich der Metaphysik (als Theologie) darstellen muß“.35 Der konservative Sinn der Unterscheidung zwischen Ontologie und Metaphysik, der darin bestehe, der Metaphysik ihren autonomen Bereich zu sichern und sie gegen die ontologische Aufwertung der sinnlichen Welt abzusichern, verkehrt sich in Kondylis’ Darstellung infolge der oben angesprochenen Emanzipation der Onto­logie letztlich zu einer Subversion der Metaphysik als Theologie durch die Onto­logie als einer allgemeinen, begrifflich orientierten Grundlagenwissenschaft des Seins; Kondylis spricht daher von einer ,,abortive[n] Modernisierung scholasti­scher Metaphysik“,36 deren Pointe darin bestehe, dass „aus der Ontologie faktisch eine Logik oder Erkenntnistheorie“37 geworden sei. Die geistesgeschichtliche Ironie dieser konservativen Sicherung der Autonomie der Metaphysik besteht dann darin, dass sie die Emanzipation der Ontologie auf dem Wege einer Ge­bietszuweisung ermöglicht, die als einhegende Umzäunung gedacht war, in der Folge jedoch ein Hegemonie erheischendes geistesgeschichtliches Potenzial ent­faltet hat, das vonseiten der Metaphysiker nicht absehbar war. Die Suprematie der Ontologie war nämlich Kondylis zufolge keineswegs von metaphysikkritischen Denkern intendiert und mit seherischer List vorbereitet worden: „Die Vermutung wäre falsch, die abortive Modernisierung scholastischer Metaphysik würde von progressiven Theologen unternommen, die einen Anschluß an die neue Ent­wicklung finden wollten.“38

Im Unterschied zu Rompe, welche die Entwicklung des Verhältnisses zwi­schen Metaphysik und Ontologie von Pererius bis Wolff als eine innerhalb der Schulmetaphysik situierte begreift oder dieses Verhältnis zumindest lediglich innerhalb des schulmetaphysischen Rahmens beobachtet, hat Kondylis diesen

35 Ebd.36 Ebd.: 252.37 Ebd.: 254. Kondylis bestreitet mit guten, hier allerdings nicht zu rekapitulierenden Gründen, was gängige Philosophiegeschichtsschreibung lehrt, nämlich dass mit Descartes als dem Vater der neuzeitlichen Philosophie der Siegeszug der Epistemologie gegenüber der Metaphysik einzuset­zen beginne: „Der Primat der Erkenntnistheorie gegenüber der Metaphysik und der Ontologie bildet keine Entdeckung von Descartes oder Kant, wie wir des öfteren in den Handbüchern der Philosophiegeschichte lesen, sondern wird in mehr oder weniger kohärenter Weise schon wäh­rend der ersten Phase des neuzeitlichen Kampfes gegen die Metaphysik behauptet - in jener Phase also, die durch die starke Wirkung des fideistischen und profanen Agnostizismus gekennzeichnet wird.“ (ebd.: 140)38 Ebd.

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2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena 61

engeren Zusammenhang übergreifende geistesgeschichtliche Zusammenhänge39 im Blick. Es wäre Kondylis zufolge „eine optische Täuschung zu meinen, ,die‘ Metaphysik würde einfach ihren königlichen Weg weitergehen und wäre von den neueren Entwicklungen in ihrem Wesen unberührt geblieben“.40 Den gesamten Weg, der hier referiert worden ist, fasst Kondylis in einer längeren Passage zu­sammen, die hier aufgrund ihrer synoptischen Prägnanz und Pointiertheit un­gekürzt wiedergegeben wird:

Die Unterscheidung zwischen Ontologie und Metaphysik ging nicht nur mit der Wendung der ersteren zu logischen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen einher, sondern auch mit einer Erweiterung der letzteren, die ihren ursprünglich rein theologischen Charakter, wie ihn die Urheber der genannten Unterscheidung wollten, verwässerte und die Aufnahme von profanem, den gerade aufsteigenden Wissenschaften von der Natur und dem Menschen entstammendem Gedankengut ermöglichte; das war der Grund, warum diese Erweiterung die Zerstückelung der Metaphysik herbeiführte und die ursprüngliche Absicht ihrer Trennung von der Ontologie vergessen ließ. Wenn wir an die Geschlossenheit mittelalterlicher Meta­physik denken, die keine Vorstellung von einer speziellen, und zwar von Psychologie oder Kosmologie handelnden Metaphysik aufkommen ließ, dann verstehen wir unschwer, daß die Umstrukturierung der Metaphysik im 16. und vor allem im 17. Jh. kein Zeichen von Vitalität und innerer Erneuerung, sondern vielmehr von Kräfteverfall und Auflösung unter dem Druck der profanen Strömungen gewesen ist.41

In dieser Passage wird über die Synopsis hinaus angedeutet, dass die Erkennt­nistheorie zum späteren historisch-systematischen Gegenspieler der Ontologie geworden ist. Mit der Weiterverfolgung dieser Entwicklung, so interessant sie auch ist, würden wir den Boden der Betrachtung des Verhältnisses von Metaphysik und Ontologie verlassen. Stattdessen soll die Gestalt beleuchtet werden, welche die historisch folgenreiche Kodifikation der Trennung von Metaphysik und Ontologie im Denken Christian Wolffs angenommen hat, den sowohl Rompe als auch Kondylis als den historischen Kulminationspunkt der systematischen Trennung von Metaphysik und Ontologie ansehen. Am Beispiel Wolff lässt die bisher ab­

39 Bei Kondylis werden daher über die Schulmetaphysiker hinaus, die Rompe abhandelt, Hobbes, Gassendi und Galilei als wichtige Figuren der Metaphysikkritik, die nicht ohne Einfluss auf die Trennung von Metaphysik und Ontologie sind, ausführlicher behandelt. Francis Bacon, den beide diskutieren, ist für Kondylis von weitaus größerer Bedeutung als für Rompe, da Kondylis die Umwälzung der Metaphysik im Auge hat, wohingegen für Rompe im wesentlichen von Be­deutung nur die Frage ist, ob und inwieweit Bacons „Unterscheidung von Metaphysik, prima philosophia und natürlicher Theologie“ deckungsgleich ist mit „des Pererius Aufteilung der Metaphysik in prima philosophia, scientia de intelligentiis und scientia de Deo“. (Rompe 1968: 102 f.)40 Kondylis 1990:17.41 Ebd.: 269.

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strakt bleibende Trennung von Metaphysik und Ontologie sich präzise verdeut­lichen, die nicht bloß von antiquarischem Interesse ist, da Wolffs Statusbestim­mung der Ontologie und die Bestimmung ihres Verhältnisses zur Metaphysik in den elementaren philosophiegeschichtlichen Überlieferungsbestand Eingang gefunden hat und bis in die Gegenwart von bestimmender Wirkung geblieben ist.

2.1.3 Die Kodifikation der Trennung von Metaphysik und Ontologie bei Wolff

Wolff eröffnet sein Werk Erste Philosophie oder Ontologie (lat.: Philosophia Prima sive Ontologia, 1730) mit einer konzisen Definition des Begriffs der Ontologie: „Ontologie oder Erste Philosophie ist die Wissenschaft des Seienden im Allge­meinen oder insofern es Seiendes ist.“42 Eine Wissenschaft, die vom Seienden im Allgemeinen handelt, muss die theoretischen Grundlagen bereitstellen, die in Spezialwissenschaft begrifflich und methodologisch ihren jeweils spezifischen Zuschnitt erhalten. Die Ontologie als Grundlagenwissenschaft ist nach Wolff zwar eine philosophische Disziplin, allen anderen Disziplinen jedoch übergeordnet als die prinzipiengebende Disziplin, von welcher alle anderen Disziplinen „ihre Prinzipien, ohne die sie jener Evidenz ermangeln, die allein zur Überzeugung zureicht“,43 erhalten. Die ontologischen Grundbegriffe nennt Wolff daher auch „Leitbegriffe“.44 Um Leitbegriffe handelt es sich bei den ontologischen Grund­begriffen nicht aufgrund einer intrinsischen und insofern letztlich metaphysisch garantierten Dignität derselben, sondern weil die Ontologie bzw. Erste Philoso­

42 Christian Wolff: Erste Philosophie oder Ontologie. Hamburg 2005, § 1. - Wolff nimmt hier die aristotelische Bestimmung der Metaphysik als Wissenschaft des Seienden als Seienden wörtlich auf, vgl. Met. Γ (4. Buch) 1, 1003 a26f. Nicolai Hartmann verweist auf die Ambivalenz dieses Anschlusses an Aristoteles: „Christian Wolf hat die Aristotelische Bestimmung in wörtlicher Übereinstimmung aufgenommen. Er bestimmt die philosophia prima als scientia entis in genere seu quatenus ens est. Die weitere Durchführung zeigt freilich, daß er das ens nicht streng im Sinne des „Seienden“ nimmt; die Bedeutung nähert sich nach scholastischer Weise dem, was wir „Gegenstand“ nennen würdenl). Damit wäre der streng ontologische Sinn der Formel preisge­geben.“ (Hartmann 1965: 8) Dem Hinweis Hartmanns auf eine Verschiebung im Verständnis der Ontologie, die Hartmann als Preisgabe ihres strengen Sinnes bezeichnet, entspricht auch die Wölfische, gegenständlich bestimmte Definition: „Dieser Teil der Philosophie wird aber Ontologie genannt, weil er vom Seienden im allgemeinen handelt, wobei er seinen Namen vom Gegenstand erhalten hat, mit dem er befaßt ist. Derselbe Teil wird gewöhnlich Erste Philosophie genannt, weil er die ersten Prinzipien und ersten Begriffe lehrt, die im Schließen gebraucht werden.“ (Wolff 2005: § 1)43 Ebd.: 17 (Vorrede)44 Ebd.

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2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena 63

phie „die ersten Prinzipien und Begriffe lehrt, die im Schließen gebraucht wer­den“.45

Nicht übergangen werden sollte, dass Wolff die Ontologie als Wissenschaft definiert; sie wird also von einem allgemeinen Vorverständnis davon, was eine Wissenschaft sei bzw. was ein theoretisches Unterfangen zu einem wissen­schaftlichen mache, bestimmt: „Da Wissenschaft die Fertigkeit ist, seine Be­hauptungen zu beweisen, ist das in der Ontologie Vorgelegte zu beweisen.“46 Indem der Ontologie ein Beweiszwang auferlegt wird, gerät sie in einen Zirkel: Als Wissenschaft von den Begriffen, die im Schließen gebraucht werden, muss sie Begriffe, die im Schließen gebracht werden, bereits in Anspruch nehmen; sie muss sich auf Prämissen stützen, die sie ihrerseits wiederum begründen muss und die einzig sie als die allgemeine Grundlagenwissenschaft erarbeiten kann. Es stellt sich daher die Frage, wie die Ontologie methodisch verfährt.

Als Methode der Ontologie bestimmt Wolff die demonstrative M ethode:47 „In der Ersten Philosophie ist die demonstrative Methode anzuwenden. Wenn in der Logik, der praktischen Philosophie, Physik, natürlichen Theologie, allgemeinen Kosmologie und Psychologie alles streng zu beweisen ist, muß man sehr oft on­tologische Prinzipien anwenden.“48 Spätestens seit Descartes treibt der Anspruch, strenge und idealiter unangreifbare Beweisführungen durchzuführen, die Philo­sophen zur Mathematik als methodischem Vorbild. Auch Wolff unterwirft sich diesem Ideal, wenn er behauptet, die Ontologie habe nur das zu lehren, was „evident als wahr erkannt und auf alle Fälle des menschlichen Lebens ange­messen angewandt werden kann“;49 es sei daher angemessen, die ontologischen Probleme „mit der philosophischen Methode, folglich mit derselben, welche die Mathematiker anwenden, also mit der demonstrativen Methode zu behandeln“.50 Die demonstrative Methode, die Wolff im Auge hat, unterscheidet sich trotz der idealtypischen Orientierung an der mathematischen von derselben, vermag doch die Philosophie weniger als die Mathematik, welche bei Wolff, wie die Wahl seiner Beispiele bezeugt, im wesentlichen Geometrie ist, aus der Evidenz von An­schauung und Einbildungskraft zu schöpfen:

45 Ebd.: § 1.46 Ebd.: § 2.47 Die demonstrative Methode geht der natürlichen Theologie voraus, welche nach derselben ge­lehrt werden muss: „Wenn die natürliche Theologie nach demonstrativer Methode gelehrt werden soll, müssen aus der Kosmologie, der Psychologie und der Ontologie Grundsätze entnommen werden.“ (Wolff 1996: § 96)48 Wolff 2005: § 4.49 Ebd.: § 4.50 Ebd.

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Die wissenschaftliche Behandlung der Ersten Philosophie ist jedoch schwerer als die der Mathematik, da das, was den metaphysischen Begriffen entspricht, nicht in der gleichen Weise wie das Mathematische unter die Sinne und die Einbildungskraft fällt und auch nicht so leicht einer Prüfung unterzogen wird.51

Die Demonstration wird in der Mathematik wie in der Philosophie gemäß onto­logischer Prinzipien entfaltet; so bezeichnet Wolff gar die Prinzipien der Eukli­dischen Beweisführung als ontologische Prinzipien: „Denn Euklid führt seine Beweise auf ontologische Prinzipien zurück, die er als Axiome ohne Erweis nimmt [...].“52 Die Mathematik ist somit in ihrer Axiomatik auf ontologische Prinzipien und damit auf die Philosophie verwiesen.

Die beiden Grundprinzipien der Ontologie sind der Satz vom Widerspruch53 sowie das Prinzip des zureichenden Grundes,54 über welche Wolff sagt, dass „diese zwei allgemeinen Prinzipien für die Erste Philosophie zureichen“.55 Der Fundamentalcharakter der beiden Prinzipien gründet darin, dass sie nicht aus der Erfahrung zu erschließen oder gar induktiv zu beweisen sind,56 sondern bei jedem Beweisgang vorausgesetzt werden müssen. So wird das Prinzip des Widerspruchs aus der für ihn selber unhintergehbaren Natur des Geistes erklärt: „Die Erfahrung, auf die wir uns hier beziehen, ist so offenkundig, daß keine andere für offen­kundiger gehalten werden kann: Sie ist nämlich gegenwärtig, solange der Geist sich seiner selbst bewußt ist.“57 Die Prinzipien sind jedoch keine bloß subjektiven Prinzipien oder Prinzipien der Organisation unseres Denkens, sondern, wie Wolff in Bezug auf das Prinzip des zureichenden Grundes sagt, „durch die Erfahrung bestätigt“58 und daher „wahr und uns gewiß“.59 Indem Wolff den Grundprinzipien

51 Ebd.: § 7.52 Ebd.: § 9.53 Die Definition desselben lautet: „Wir erfahren dies als die Natur unseres Geistes, daß er, während er urteilt, daß irgend etwas ist, nicht zugleich urteilen kann, daß dasselbe nicht ist.“ (ebd.: §27)54 Die reichlich abstrakte Definition des Satzes lautet: „Unter zureichendem Grund verstehen wir das, von woher eingesehen wird, warum etwas ist.“ (ebd.: § 56)55 Ebd.: § 77.56 Obgleich es nicht induktiv zu erweisen ist, so ist dessen Gewissheitsgrad offensichtlich in­duktiv zu steigern, da Wolff in Bezug auf das Prinzip vom zureichenden Grunde sagt, dass „die Zustimmung, die dem ohne Erweis angenommenen Prinzip gegeben worden war, sicherer“ (ebd.: § 76) werde.57 Ebd.: § 27.58 Ebd.: § 76.59 Ebd., Hervorhebung, S.E.

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einerseits apriorische Dignität zuspricht und sie andererseits immer wieder60 durch ihre Kompatibilität mit der Erfahrung legitimiert, führt er seine Ontologie in den Zirkel hinein, aus dem Kants Transzendentalphilosophie später alles Philo­sophieren herausführen will, nämlich in den Zirkel der Begründung der (onto­logischen) Prinzipien aus der Erfahrung und der Erklärung der Erfahrung aus den (ontologischen) Prinzipien. Wolff befindet sich als philosophischer Nachfahre von Descartes auf halbem Wege zum neuzeitlichen Subjektivismus, hält jedoch zu­gleich an traditionellen Gewissheitsambitionen und -ansprüchen fest, ohne beide Motive und Stränge konsistent zusammenzuführen. Wichtiger als die Konsistenz oder Inkonsistenz der Begründung der ontologischen Prinzipien ist das Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie bei Wolff, da dieses uns auf das Verhältnis zwischen Ontologie und Metaphysik zurückführt.

In seinem Discursus praeliminaris (Einleitende Abhandlung über die Philoso­phie im Allgemeinen) von 1728 legt Wolff seine Aufteilung der Philosophie dar. Der natürlichen Theologie wird in dieser Aufteilung eine Rolle zugewiesen, die der Gebietszuweisung der metaphysica specialis entspricht: „Der Teil der Philosophie, der von Gott handelt, heißt natürliche Theologie.“61 Da auch die natürliche Theologie nach der demonstrativen Methode gelehrt werden soll und sie der Ontologie als prinzipiengebender Instanz unterworfen ist,

muß das, was von Gott ausgesagt wird, aus gewissen und unerschütterlichen Grundsätzen hergeleitet werden. Diese unerschütterlichen Grundsätze, aus denen die Existenz Gottes und seine Attribute zuverlässig gefolgert werden, müssen aus der Betrachtung der Welt herge­nommen werden: Von ihrer kontingenten Existenz schließen wir nämlich durch notwendigen Schluß auf die notwendige Existenz Gottes, und es müssen ihm diejenigen Attribute zuge­schrieben werden, aus denen er als der einzige Urheber der Welt verstanden wird.62

Das zirkuläre Verhältnis zwischen Prinzip und Erfahrung, das im Falle des Wi­derspruchsprinzips und des Satzes vom zureichenden Grunde aufzeigbar ist sowie die doppelte Verödung im Subjektiven (Erfahrungsgebundenheit) und Objektiven (als die Realität selbst durchwirkendes Prinzip) erstreckt sich aufgrund des wis­senschaftshierarchischen Prius der Ontologie gegenüber der natürlichen Theo­logie noch auf die Kriterien, denen theologische Beweisführungen zu genügen

60 Sogar am Anfang des Paragraphen Die Grundlage des Widerspruchsprinzips verweist Wolff darauf: „Wir erfahren dies als die Natur unseres Geistes, daß er, während er urteilt, daß irgend etwas ist, nicht zugleich urteilen kann, daß dasselbe nicht ist. Die Erfahrung, auf die wir uns hier beziehen, ist so offenkundig, daß keine andere für offenkundiger gehalten werden kann: Sie ist nämlich gegenwärtig, solange der Geist sich seiner selbst bewußt ist.“ (ebd.: § 27)61 Wolff 1996: § 57.62 Ebd.: § 96.

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haben. Nicht umsonst erwähnt Wolff in Erste Philosophie oder Ontologie, dass Leibniz „daran erinnert, daß ohne das Prinzip des zureichenden Grundes die Existenz Gottes nicht erwiesen werden könne“.63 Das Prinzip vom zureichenden Grunde bildet also ein Prinzip, das die Theologie nicht hintergehen kann, wodurch der Theologie Rechtfertigungsleistungen abverlangt werden, die nicht mit Bibel­zitaten und bloßem Offenbarungsglauben abzugelten sind. Die genaue Stelle, welche die Theologie in Wolffs System der Wissenschaften im Allgemeinen und im Verhältnis zur Ontologie im Besonderen einnimmt, zeigt die folgende synoptische Gesamteinteilung der Philosophie, welche Wolff unter dem Begriff der Metaphy­sik64 statt dem der Philosophie formuliert:

In der Metaphysik nimmt den ersten Platz die Ontologie oder Erste Philosophie ein, den zweiten die allgemeine Kosmologie, den dritten die Psychologie und den letzten schließlich die natürliche Theologie. Die Teile der Metaphysik sind in der Reihenfolge anzuordnen, daß diejenigen vorausgeschickt werden, aus denen die übrigen Grundsätze entnehmen (§ 87). Weil die natürliche Theologie Grundsätze aus der Psychologie, der Kosmologie und der Ontologie (§ 96), die Psychologie aus der allgemeinen Kosmologie und der Ontologie (§ 98), die Kosmologie aus der Ontologie (§ 97) entnimmt, deshalb ist evident, daß an erster Stelle die Ontologie, an zweiter die Kosmologie, an dritter die Psychologie, an vierter schließlich die natürliche Theologie behandelt werden muß.65

In der Wolff’schen Rangordnung ist die natürliche Theologie der Ontologie klar untergeordnet, und kein Weg führt philosophisch zu Gott an der Ontologie vorbei. Dennoch sieht Wolff sich zu historisch und politisch bedingten Konzessionen genötigt, die sich darin zeigen, dass die Theologie als Wissenschaft sich nicht von der Offenbarung emanzipieren kann wie die Ontologie dies im Verhältnis zur Metaphysik zu leisten vermag. So versteht Wolff unter der Theologie eine Wis­senschaft, in welcher „der Theologe nicht weniger irren kann als der Philosoph“,66 während er über die Offenbarung sagt, dass „die natürliche oder philosophische Wahrheit der offenbarten nicht widersprechen kann“.67 Die Theologie als Wis­senschaft wird also der Ontologie als Grundlagenwissenschaft des Seins über­haupt unterstellt, während zwischen der Offenbarung und den Grundprinzipien der Ontologie gleichsam eine prästabilierte Harmonie unterstellt wird.

63 Wolff 2005: § 75.64 „Ontologie, allgemeine Kosmologie und Pneumatik werden aber mit dem gemeinsamen Na­men der Metaphysik bezeichnet. Daher ist die Metaphysik die Wissenschaft vom Seienden, von der Welt im allgemeinen und von den Geistern.“ (Wolff 1996: § 79)65 Ebd.: § 99.66 Ebd.: § 163.67 Ebd.

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2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena 67

Eine Ontologie, welche als der Theologie übergeordnete Instanz Autorität für dieselbe Verbindlichkeit beanspruchen darf, hat sich von der scholastischen Metaphysik nicht grundsätzlich gelöst, worauf auch die oben angesprochene Einteilung der Ordnung der Teile der Metaphysik, die Wolff vornimmt, hinweist. Der Grundfehler der Scholastik ist nicht im Bereich der systematischen und damit metaphysischen Intention zu suchen, sondern lediglich in der begrifflichen Durchführung: „Wer die Erste Philosophie mit der wissenschaftlichen Methode behandelt, der holt die scholastische Philosophie nicht in die Schulen zurück, son­dern verbessert sie.“68

Die Verbesserung, die mit den Methoden der Ontologie erzielt wird, resultiert, wie die Abgrenzung der Ontologie von der natürlichen Theologie nahelegt, in der Wahrung einer metaphysischen Intention bei gleichzeitiger Abwendung vom theologischen Horizont der Scholastik. Die methodische Erneuerung der Philo­sophie, durch welche die Ontologie diese Verbesserung zu leisten vermag, besteht zum einen in der bereits angesprochenen demonstrativen Methode, zum anderen aber darin, dass Wolff - und darin erweist er sich als der Moderne zumindest zugewandter Denker - die Verbesserung in der Form einer Sprachkritik durch­zuführen versucht. Die Wolff’sehe Sprachkritik unterscheidet zwischen Arten der Sprachen und ihnen korrespondieren Ontologien; so gibt es Wolff zufolge eine natürliche Ontologie, welcher die Alltagssprache, und eine künstliche Ontologie, welcher die scholastische Ontologie zugeordnet wird. „Die alltäglichen undeutli­chen Begriffe bilden eine gewisse Art von natürlicher Ontologie.“69 Weil die All­tagssprache nicht ontologisch neutral ist, sondern von einer nicht explizierten Ontologie durchzogen ist, ist eine philosophische Ontologie unverzichtbar:

Daher kann die natürliche Ontologie definiert werden als ein Komplex von undeutlichen Begriffen, die den abstrakten Ausdrücken, mit denen wir allgemeine Urteile über das Seiende ausdrücken, entsprechen und durch den gewöhnlichen Gebrauch der Geistesvermögen er­worben wurden. Und daher kommt es, daß, obwohl der Gebrauch der Ontologie unver­zichtbar ist, diejenigen, die auf sie keine Mühe verwendet haben, doch glauben, sie könnten ihrer entbehren.70

Über die Scholastiker sagt Wolff, dass sie „die natürliche Ontologie ausführlicher gemacht haben“71 und fügt hinzu, dass „eine deutliche Entfaltung der natürlichen Ontologie künstliche Ontologie genannt werden“72 könne. Kennzeichnend für eine

68 Wolff 2005: § 7.69 Ebd.: § 21.70 Ebd.71 Ebd.: § 22.72 Ebd.

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68 2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

künstliche Ontologie ist, dass sie „bestimmte Sätze lehrt“,73 also aufgrund ihrer Termini kodifizierenden Praxis unweigerlich die Gestalt einer Lehre annimmt. Eine jede künstliche Ontologie steht daher unter dem Anspruch, ein das Sein im Ganzen und als Ganzes erklärendes System zu sein. Gemäß der Systematizität der künstlichen Ontologien sind diese dazu in der Lage „deutliche Begriffe von Ausdrücken“74 zu bieten, weshalb „die Aussagen der Scholastiker und anderer sowohl klarer verstanden als auch zu einer größeren Gewißheit gebracht werden und daß ihre Verknüpfung mit gewissen Wahrheiten durchschaut wird“.75 Merkwürdig ist jedoch, dass Wolff im darauffolgenden Satz das methodische Proprium, das seine eigene Philosophie von der scholastischen abgrenzen sollte, nämlich die de­monstrative Methode, als ein allgemeines Merkmal künstlicher Ontologien be­zeichnet: „Dies wird auch daraus klar, daß sie mit der demonstrativen Methode behandelt wird.“76

Die logischen Probleme der Wolff’schen Konzeption sollen hier allerdings nicht weiterverfolgt werden; viel wichtiger ist es, zwei entscheidende Implika­tionen dessen, was hier dargelegt worden ist, explizit festzuhalten:(1) Eine Ontologie existiert überall dort, wo eine natürliche Sprache bzw. eine

Alltagssprache existiert, weil Ontologien nichts anderes als künstliche, d. h. terminologische, Entfaltungen der abstrakten Begriffe und sie durchziehen­den Verhältnisse darstellen, die in der natürlichen Sprache implizit bereits vorhanden sind.

(2) Es gibt demzufolge eine scholastische Ontologie unabhängig davon, ob die Scholastik neben der Metaphysik das, was später Ontologie genannt worden ist, als Ontologie konzeptualisiert hat oder nicht. Ontologie ist keine Option, für oder gegen die man sich entscheiden kann, sondern lediglich ein Indikator des Reflexivitätsniveaus einer Kultur; die Ausformulierung einer Ontologie hingegen stellt ein sekundäres Phänomen dar gegenüber den ontologischen Gehalten, welche natürliche Sprachen unweigerlich zumindest untergründig durchwirken. Lediglich die Entscheidung, eine Ontologie zu formulieren oder nicht zu formulieren, kann individuell vollzogen oder verweigert werden. Überträgt man dies auf die Antike, so lässt sich sagen: Von einer antiken Ontologie zu reden, ist demgemäß nicht verfehlt, sondern geradezu folge­richtig und notwendig.

73 Ebd.: § 24.74 Ebd.75 Ebd.76 Ebd.

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2.1 Ontologie und Metaphysik. Prolegomena 69

Wolff vollendet die von Pererius inaugurierte Traditionslinie, in welcher die Loslösung der Ontologie von der Metaphysik stattfindet, indem er die Ontologie nicht nur zur Königsdisziplin einer de nomine noch immer als Metaphysik ver­standenen Philosophie macht, sondern sie darüber hinaus so weitreichend fun- damentalisiert, dass die retrospektive Betrachtung der Antike keine Metaphysik mehr ohne ihre ontologischen Grundlagen zu denken vermag. Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um die Etablierung einer Vorurteils-Struktur, die zu überwinden wäre, sondern vielmehr verhält es sich so, dass das, was als Ontologie in den philosophischen Sprachgebrauch Eingang gefunden hat, lediglich ex post eine begriffliche Grundlagenarbeit bezeichnet, die von jeher in aller Metaphysik de jure geleistet werden musste und de facto geleistet worden ist. Weil dies so ist, kann Wolff sich auch in einem Kontinuitätsverhältnis zur Scholastik77 sehen und als deren Verbesserer statt bloß als deren Überwinder verstehen; zugleich steht Wolff damit in einem Konkurrenzverhältnis zur Scholastik. Sämtliche Differenzen, in welchen die Trennung von Ontologie und Metaphysik ihren Ausdruck findet, ob die zwischen scientia generalis und scientia divina (Pererius), metaphysica gene­ralis und metaphysica specialis (Schulmetaphysik nach Pererius) oder Ontologie und natürlicher Theologie (Wolff), werden innerhalb der Metaphysik getroffen und unter deren Namen versammelt; sie werden damit auch unter dem Namen des traditionsstiftenden aristotelischen Hauptwerks versammelt. Der Begriff der On­tologie bildet daher historisch gesehen eine neuzeitliche Akzentuierung des Selbstverständnisses der Metaphysik und einen Aspekt ihrer internen Ausdiffe­renzierung; von einer klassischen Ontologie zu reden, ist daher nicht nur legitim, sondern konsequent, will man die philosophische Überlieferung ernstnehmen und nicht künstlich von gegenwärtigen, weitestgehend78 säkularisierten Ontoto­gien her zerreißen und überblenden.

77 In diesem Kontinuitätsverhältnis gründet Wolffs ambivalente Haltung zum aristotelischen Erbe, worauf Nicolai Hartmann in Zur Grundlegung der Ontologie hinweist: „Christian Wolf hat die Aristotelische Bestimmung in wörtlicher Übereinstimmung aufgenommen. Er bestimmt die phi- losophia prima als scientia entis in genere seu quatenus ens est. Die weitere Durchführung zeigt freilich, daß er das ens nicht streng im Sinne des „Seienden“ nimmt; die Bedeutung nähert sich nach scholastischer Weise dem, was wir „Gegenstand“ nennen würden. Damit wäre der streng ontologische Sinn der Formel preisgegeben.“ (Hartmann 1965: 39)78 Die Renaissance der Metaphysik indiziert, dass Ontologien, die säkulare Autarkie erstreben, eine Weigerung darstellen, die Gehalte ihrer Begrifflichlceit konsequent und damit zu Ende zu denken.

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70 2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens

2.2.1 Prolegomena

Die Philosophie des Aristoteles wird im folgenden Kapitel in fokussierter und gedrungener Weise darauf hin befragt, welche Rolle die Akt-Potenz-Relation als organisierender Faktor innerhalb ihrer spielt. Diese Fragestellung hat nicht den Zweck, originell zu sein; bereits Edith Stein hat sie - und womöglich gar nicht als erste - gestellt und nennt es „ein gewagtes Unternehmen, aus einem geschlos­senen System ein einzelnes Begriffspaar herauszugreifen, um ihm auf den Grund zu kommen“.79 Aus der Tatsache, dass der Rückgang auf Aristoteles bereits Teil des ontologischen Projekts von Edith Stein war, erklärt sich der eher kursorische Charakter der folgenden Auseinandersetzung mit dieser Philosophie ebenso wie die Tatsache, dass Stein selbst mehr Raum zugedacht wird. Thomas von Aquin, der zweite Lehrmeister Steins neben Aristoteles, wird innerhalb des Stein-Kapitels nur beiläufig behandelt, da Thomas weder die systematisch-terminologische Grün­dungsfigur ist, auf welche eine Transformation der Ontologie immer zurückgehen muss, noch hinreichend bestimmend für die spezifische moderne Gestalt der philosophischen Anthropologie und Ontologie Edith Steins ist, sondern vielmehr als theologische Inspiration für Steins Denken fungiert. Die Privilegierung Edith Steins in dieser Dreierreihe ergibt sich zum einen aus ihrem historischen Ort - der Tatsache also, dass sie innerhalb der Moderne und im Angesicht der Moderne philosophiert, sowie aus ihrer Zeitgenossenschaft mit Plessner, für den dasselbe gilt; zum anderen gründet die Privilegierung Edith Steins darin, dass sie eine wichtige begriffliche und systematische Innovation der Moderne ins Zentrum ihrer philosophischen Anthropologie integriert, nämlich die durch Scheler inaugurierte und von Plessner ebenfalls für verbindlich anerkannte Zentralisierung der Kate­gorie der Personalität.

Im Folgenden soll die aristotelische Ontologie als eine Ontologie des Lebens gelesen und dargestellt werden. Diese Interpretation orientiert sich an der Rolle von Akt und Potenz innerhalb dieser Ontologie des Lebens, die ihre vorrangige Darstellung und begriffliche Grundlegung in De anima und der Metaphysik, teil­weise aber auch in der Physik findet. Die aristotelischen Grundbegriffe und -konzepte, z. B. die Bestimmung des Substanzbegriffs, erfahren ihre Ausformung in den genannten Werken, ohne in konsistenter Systematisierung durch alle Werke hindurch auffindbar zu sein; eine solche Konsistenz vorauszusetzen oder als

79 EES: 7.

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2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens 71

analytisches Ziel sich vorzugeben, wäre verfehlt allein schon angesichts des konvoluthaften Charakters der nicht von Aristoteles als einheitliches Buch ver­fassten Metaphysik. Thomas Szlezak geht im Vorwort zu seiner Übersetzung der Metaphysik sogar soweit, von dem Buch zu reden, „das wir gemeinhin etwas gedankenlos ,die Metaphysik des Aristoteles* nennen“.80 Von Szlezàks konzisen und kenntnisreichen Ausführungen her erscheint es letztlich fraglich, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, das Sammelsurium von Überlegungen als ein Buch zu tradieren und zu drucken. Doch Szlezak unterscheidet zwischen der,Metaphysik* als Buch und der - selbst wiederum strittigen - „Einheit der metaphysischen Theorie“81 des Aristoteles. Eine solche Einheit soll hier nicht naiv vorausgesetzt werden, aber die heuristische Präsupposition der kurzen und in groben Zügen verfahrenden Skizzierung gewisser Grundlinien und -formen des aristotelischen Denkens bilden; eine solche Orientierung fasst die theoriestrukturell und be­grifflich maßgeblichen Minima ins Auge, ohne sich beispielsweise in Detailfragen der im Buch B entfalteten 14 Aporien zu versenken und von denselben her die Metaphysik, in ihrer Gesamtheit und als Gesamtheit aufgefasst, auf ihre interne Konsistenz hin zu befragen. Den hermeneutischen Fluchtpunkt der Betrachtun­gen stellt die Explikation der Rolle von Akt und Potenz in der als immanent an­thropologische Ontologie des Lebens zu lesenden Philosophie des Aristoteles dar.

2.2.2 Die Grundlagen der Metaphysik in der Physik

Aristoteles unterscheidet in der Physik zwischen dem methodischen Gang der natürlichen Erkenntnis und dem der theoretischen Betrachtung, die sich hin­sichtlich ihres Ausgangspunktes unterscheiden; während die natürliche Er­kenntnis vom Besonderen ausgeht,82 behandelt die theoretische Betrachtung zuerst das Allgemeine,83 um von da aus zum Besonderen zu gelangen. Die Me­thodendifferenz ist nicht disjunktiv zu verstehen, da beide Wege notwendig ge­gangen werden müssen und natürliche Erkenntnis und theoretische Betrachtung in der philosophischen Betrachtung zueinander führen. So setzt Aristoteles bei dem an, was sich unserem Streben nach Einsicht zunächst darbietet, also beim

80 Szlezak 2003: vii81 Ebd.: xxiii.82 „Nun ist es aber das natürliche Schicksal unserer Erkenntnis, daß sie auszugehen hat von dem, was für uns das Einsichtigere und Deutlichere ist, und weiterzugehen zu dem, was an ihm selbst das Deutlichere und Einsichtigere wäre.“ - Phys. 1 1 ,184a.83 „Denn es liegt in der Natur (der theoretischen Arbeit), erst das Allgemeine zu behandeln und dann die Sonderverhältnisse des Einzelnen zu studieren.“ (ebd. I 7 :189b)

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72 2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

Beweglichen in seiner sinnlichen Gegebenheit. Das bewegliche Seiende fasst Aristoteles im ersten Buch der Physik auch als Naturprodukt oder Naturgebilde (als Beispiele führt Aristoteles Tiere, Pflanzen aber auch „Elementarkörper“ wie die Erde an),84 deren elementares Merkmal -und hier setzt Aristoteles mit der Be­stimmung des Allgemeinen als dem Ersten der theoretischen Arbeit ein -ihre Prozesshaftigkeit ist: „Die Naturgebilde sind prozeßhaft, und zwar entweder alle oder aber wenigstens zum Teil; die methodische Erfahrung erweist es.“85 Die methodische Erfahrung meint hier wiederum die sinnliche Erfahrung, in welcher die Natur ihrer allgemeinen Bestimmung nach als prozesshaft sich auch dann erweise, wenn ein prozessfreies Seiendes deren Bestimmungsgrund bilde.86 Im gleichen Maße nun, wie den Naturgebilden Prozessualität87 zukommt, ist ihre Existenz zeitlicher und ihre Konstitution räumlicher Natur; Existenz in der Zeit und Prozessualität bilden bei Aristoteles zwei Seiten einer Medaille: „Gibt es aber [...] Zeit, dann zweifellos auch Prozessualität, so gewiß die Zeit eine Art von Be­stimmtheit an der Prozessualität ist.“88 Was in der Zeit existiert, existiert not­wendigerweise zugleich im Raum als Teilbares: „Jeder Gegenstand, der einen Prozeß soll durchmachen können, muß teilbar sein.“89 Die Teilbarkeit ist jedoch eine doppelte, eine sowohl räumliche als auch zeitliche, da sowohl Gegenstände teilbar im Sinne der Zerlegbarkeit sind als auch zeitlich im Sinne der Einteilung von Prozessen in temporäre Zustände und Phasen.90 Die Unmöglichkeit, empiri­sche Gegenstände raum- und zeitlos zu denken, wird von Aristoteles auf der Objektebene als Bestimmung der Seinsweise der physischen Welt selbst gefasst. Aufgrund dieser Verödung der Bestimmungen von Raum und Zeit im Objekt selbst, hegt es nahe, die Physik strikt objektbezogen als „eine Wissenschaft von einer bestimmten Gattung des Seienden“,91 nämlich von „solchem Seienden, das bewegt werden kann“,92 zu bestimmen.

Das sich bewegende Seiende befindet sich in Veränderung und im Werden. Das Werden bestimmt Aristoteles nicht einfach abstrakt als Veränderung im Sinne

84 Ebd. II 1 :192b.85 Ebd. I 2 :185a.86 „Selbst wenn es der Wahrheit entspricht, was von einigen behauptet wird, daß nämlich das Seiende unendlich und prozeßfrei sei, so ergibt doch die sinnliche Erfahrung nichts von alledem, sondern gerade die Prozeßhaftigkeit einer Menge von Dingen.“ (ebd. VIII 3: 254a)87 Mit „Prozessualität“ und „Prozess“ wird durchgängig der aristotelische Begriff der κίνησις (Bewegung) übersetzt.88 Ebd. V II1: 251b.89 Ebd. VI 4: 234b.90 Vgl. ebd.91 Met. E 1 :1025a.92 Ebd.

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2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens 73

des Aufeinanderfolgens verschiedener Zustände oder der wechselnden Be­stimmtheiten an einem Gegenstand, sondern als Werden gemäß den für das Werden konstitutiven Prinzipien, die Aristoteles in geradezu axiomatischer Weise bestimmt: „Für jedes Werdende sind das Zugrundeliegende und die Gestalt die konstitutiven Prinzipien.“93 Die Prinzipien bestimmt Aristoteles auch als (Fun- damental-)Gegensätze und begründet sowohl ihren Fundamentalcharakter als auch ihren Status als Gegensätze: „ [W]eil sie Fundamentalität haben, eignet ihnen Unabhängigkeit gegenüber dem Sonstigen; weil sie Gegensätze sind, (schließen sie einander aus, gehen also gewiß nicht auseinander hervor, vielmehr) besitzen sie Unabhängigkeit gegeneinander.“94 Aus ihrer Fundamentalität und Gegen­sätzlichkeit ergibt sich auch, dass Prinzipien keine Bestimmtheiten von Zugrun­deliegendem sind,95 die an Zugrundeliegendem eigenschaftlich auftreten. Als Bestimmtheiten von Zugrundeliegendem wären sie nicht von diesem unabhängig; sie wären darüber hinaus nicht nur der Veränderung der Gestalt unterworfen, sondern sie müssten wie die konkreten Eigenschaften, die an Zugrundeliegendem auftreten, entstehen und vergehen können. Sie wären dann sowohl untereinander als auch von kausalen Relationen zur Gestalt abhängig.

Doch nicht nur bilden die notwendig als Gegensatzpaare auftretenden Prin­zipien,96 z. B. warm und kalt, keine Bestimmungsgründe der Bestimmtheiten, die an Gegenständen erscheinen, sie stehen überdies „nicht im Verhältnis eines realen Einflusses zueinander“.97 Warm und kalt, die Aristoteles als Beispiele für Prinzipien anführt, sind jedoch relationale Phänomene, die im Verhältnis der Gradualität zueinander stehen und in ihrer höchsten Intensitätsform Pole eines Spektrums bilden, innerhalb dessen Gegenstände in allerlei Abstufungen auf­treten. Dem versucht Aristoteles mittels des Begriffs der Dimensionalität gerecht zu werden, welchen er am Beispiel des Verhältnisses von schwarz und weiß ex­pliziert. Aristoteles zufolge könne nur Nichtweißes weiß werden, wobei der nichtweiße Gegenstand „nicht ein Gegenstand von beliebiger Bestimmtheit, sondern ein schwarzer und ein solcher, dessen Bestimmtheit einen Wert innerhalb der Dimension Schwarz-Weiß darstellt“,98 sei. Prinzipien bilden Aristoteles zu­folge also die polaren Enden innerhalb von Dimensionen, modern gesprochen:

93 Phy. I 7 :190b.94 Phys. I 5 :188a.95 Den Zirkel, der daraus resultieren würde, bringt Aristoteles lconzise, wenn er sagt, ein Prinzip dürfe „Nicht eine bloße Bestimmtheit an einem möglichen Urteilsgegenstande sein; denn sonst brauchen wir zum Prinzip hinzu sogleich ein Prinzip dieses Prinzips.“ (ebd. I 6 :189a)96 „Die Prinzipien treten notwendig als Gegensatzpaare auf.“ (ebd. I 5 :189a)97 Ebd. I 7 :190b.98 Ebd. I 5 :188b.

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74 2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

von Spektren; darin gleichen sie idealen Gebilden, deren Zweck darin besteht, Verhältnisse bestimmen und Bewegungsrichtungen erfassen zu können, ohne dass den entgegengesetzten Prinzipien ein Gegenstand entsprechen könnte oder müsste, der sie in Reinform realisiert.

Die oben zitierte Elementarbestimmung allen Werdens - „Für jedes Werdende sind das Zugrundeliegende und die Gestalt die konstitutiven Prinzipien“99 - enthält mit dem Begriff des Zugrundeliegenden noch einen ungeklärten Begriff, der ins Zentrum des aristotelischen Denkens führt. Unter dem Namen des Zu­grundeliegenden handelt Aristoteles in der Physik das Substanzproblem ab. Für einen Zugang zum Substanz-Begriff, wie er in der Physik verwendet wird, bietet sich vorbereitend ein Blick in die Kategorien-Schtiit an, wo Aristoteles im fünften Kapitel anhand seines an vielen systematisch wichtigen Stellen leitmotivisch verwendeten Beispiels des Menschen zwischen zwei Arten von Substanzen un­terscheidet. Unter der ersten Substanz versteht Aristoteles hier den individuellen Menschen, unter der zweiten Substanz den Menschen als Art- und Gattungswesen. Die erste Substanz - der Begriff wird hier, wie noch zu zeigen sein wird, in einem gänzlich anderen Sinn als in der Metaphysik verwendet - , also der individuelle Mensch, bildet gegenüber dem Menschen als Art- oder Gattungswesen das Zu­grundeliegende im Sinne des gegenüber dem Allgemeinen Realen, weshalb Ari­stoteles sagt: „Alles andere wird entweder von den ersten Substanzen als dem Zugrundeliegenden ausgesagt oder ist in ihnen als dem Zugrundeliegenden.“100 Obwohl Aristoteles zumeist das Zugrundeliegende im Sinne der ersten Substanz, wie er sie in den Kategorien bestimmt, verwendet, wird das Zugrundeliegende in der Physik konsequent relational bestimmt, d. h. als ein wiederum Höherstufigem Zugrundeliegendes, so wenn Aristoteles sagt, dass auch die Substanzen „nur aus etwas Zugrundeliegendem entstehen“.101 Das Reich der Substanzen bildet dann keine geschlossene Sphäre und keine theoretisch unhintergehbare Erstheit bzw. Letztheit, sondern das Material (Aristoteles verwendet den Begriff teilweise syn­onym mit dem der „Materie“) bildet selbst wiederum ein der Substanz Zugrun­deliegendes, das zugleich ein Quasi-Element derselben ist, weshalb Aristoteles sagt, dass das Material „in gewissem Sinne“ Substanz sei: Das Material „steht dem, was Substanz heißt, sehr nahe und ist sogar in gewissem Sinne Substanz“.102

Vom Zugrundeliegenden sagt Aristoteles, dass es „numerisch Eines, der Ar­tung nach aber ein Doppeltes“103 sei. Es ist numerisch eins als die im Hier und Jetzt

99 Ebd. I 7 :190b.100 Cat. 5: 2a.101 Phys. I 7 :190b.102 Ebd.: I 9 :192a..103 Ebd.: I 7 :190b.

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2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens 75

aktuell existierende erste Substanz (dieser Mensch), der Artung nach aber ein Doppeltes, weil auch dieses Zugrundeliegende wiederum eines Zugrundeliegen­den als seines konstitutiven Prinzips bedarf. Diesen Zusammenhang führt Ari­stoteles in der Physik nicht vollständig durch, die Durchführung müsste sonst schon selbst die Metaphysik enthalten. In der Bestimmung des numerisch einen Menschen als gebildet koinzidieren Bestimmung und Sein - Aristoteles fasst ex­plizit „Artung (einer Sache) und Begriff (einer Sache) als dasselbe“104 auf - in­sofern, als Substanz (Mensch) und Akzidens (gebildet/ungebildet) komplemen­täre Momente des jeweiligen Menschen als einer ,,komplexe[n], aus beiden zusammengesetzte [n] Bestimmtheit“105 sind. Diese Zusammengesetztheit ist trotz der Identität von Begriff und Artung der Sache asymmetrischer Natur, weil vom Menschen nur aussagbar ist, was von ihm als Mensch ausgesagt wird. Er bleibt der notwendige Bezugspunkt der Prädikation; Artungen sind hingegen viele möglich, denn „es ist nicht die nämliche (Bestimmtheitsart), ob etwas ein Mensch oder aber ungebildet ist“.106 Artungen dieser Art sind akzidentelle Bestimmungen des Menschen wie sein Gebildetsein, das im Unterschied zu seinem Menschsein an seinen Gegensatz, das Ungebildet-sein, gebunden bleibt, denn „dem Menschen, der gebildet wird, bleibt das Menschsein; dem Ungebildeten, der gebildet wird, bleibt die Ungebildetheit nicht“.107 Akzidentelle Bestimmungen von Substanzen sind als solche kontingent, nicht aber in ihrem Auftreten an der jeweiligen Sub­stanz selbst, deren Vorrang wegen die akzidentellen Bestimmungen kein ihr Zu­grundeliegendes sein können noch das Werden eines Zugrundeligenden be­stimmen können. Denn für das Werden eines jeglichen Zugrundeliegenden gilt: „Bei all diesen Werdensweisen entsteht nun aber das Werdende zweifellos aus etwas Zugrundeliegendem.“108 Aufgrund der Identität von Artung und Begriff führt die konsequente Zurückführung von Werdendem auf sein Zugrundeliegen­des begrifflich und damit zugleich real-konstitutiv über die Physik hinaus zu einem Ersten, das aller Physik zugrunde liegt. Anders gesagt: Begriffslogik und Konsti­tutionslogik koinzidieren, wobei die Aristotelische Konstitutionslogik gemäß der realistischen Methodik entitär zu denken ist. Sie durchbricht die tautologische Identität eines geschlossenen Reichs der Substanzen, in dem die kleinste Einheit, d. h. die individuelle, real existierende Substanz als entstehungslose Erstheit und Letztheit angesetzt werden muss, hinter die nicht zurückgefragt werden kann, dadurch, dass sie eine nicht prinzipiell abgeschlossene Stufenfolge etabliert, in­

104 Ebd.105 Ebd.: 190a.106 Ebd.107 Ebd.108 Ebd.: 190b.

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76 2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

nerhalb welcher verschiedene Stufen des Zugrundeliegenden (Materie, erste Substanz qua individueller Mensch, zweite Substanz qua Art- und Gattungswesen) gegenüber der jeweils nächsthöheren Stufe im Sinne einer notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingung den real-konstitutiven Ermöglichungsgrund bil­den.109

2.2.3 Übergang zur Metaphysik

Den real-konstitutiven Ermöglichungsgrund alles Werdens, das als solches pro­zessual ist, bildet Aristoteles zufolge eine „prozeßfreie Prozeßursache“,110 also ein Prozessfreies, das zugleich als Quelle aller Prozessualität aufzufassen sei, die einen Gegenstand der Naturphilosophie bilden kann. Mit „Prozess“ wird in der hier verwendeten Übersetzung durch Hans Wagner das griechische κίνησις (ki­nesis) übersetzt. Die Ungenauigkeit der Übersetzung springt ins Auge; allein schon die semantische Bedeutung der grammatischen Form von „Bewegung“ artikuliert die Tätigkeit des Sich-Bewegens, verweist also im Unterschied zum begrifflich zunächst objektindifferenten Prozess auf ein sich Bewegendes. Die modernisie­rende Übersetzung von κίνησις mit „Prozess“ verhält sich gar ironisch zur ari­stotelischen Intention und Rezeptionsgeschichte, weil das Prozessdenken im 20. Jahrhundert, besonders in Gestalt des Whitehead’sehen Denkens, sich als Prozessdenken im fundamentalen Unterschied zu einem jeglichen Substanzden­ken begreift, als dessen Ahnherr Aristoteles stets einen mindestens indirekt mitgemeinten polemischen Referenzpunkt bildet. Die Übersetzung ist auch irre­führend, weil die unbewegliche Substanz und damit die „prozeßfreie Prozeßur­sache“ im griechischen Original als ουσία ακίνητος (ousia akinetos) bezeichnet wird. Wo im Folgenden also von „Prozess“ die Rede ist, ist derselbe stets im Sinne von „Bewegung“ zu denken.

Die Frage nach dem Prozessfreien stellt sich in der Physik in mehrfältiger und hier nicht in ihren Einzelheiten zu verfolgender Weise; sie stellt sich aber auch konkret als die Frage nach dem Prozessfreien im Sinne der Metaphysik (sowohl der

109 Im nächsten Kapitel wird sich von den explizierten theoretischen Voraussetzungen her erst zeigen können, inwiefern der gebildete Mensch im Gesamtzusammenhang der aristotelischen Philosophie von der Aktualität der Bildung her zu verstehen ist und diese nicht aus der Materialität der physischen Konstitution hinreichend erklärbar ist. Solange man nicht in De anima und der Metaphysik zentrale, an die Relation von Akt und Potenz gebundene, Begriffe wie den der En- telechie und die teleologische Ausrichtung der aristotelischen Philosophie in Betracht zieht, nimmt das Verhältnis die Gestalt letztlich scheinhaften einseitigen Bedingtheit an.110 Ebd. III 3: 201a.

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2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens 77

Sache als auch dem Werktitel nach verstanden), wodurch in der Physik die Not­wendigkeit eines unbewegten Bewegers klar zur Sprache gebracht wird: „Da es Prozessualität zu jeder Zeit geben muß und sie niemals aussetzen kann, muß es ein Ewiges geben, welches die letztendliche Quelle dieser Prozessualität darstellt: sei es in der Form eines einzigen Gegenstands, sei es in der Form einer Mannig­faltigkeit von Gegenständen.“111 Die Frage nach diesem Ewigen als der letzten Ursache dessen, was die Physik behandelt, stellt sich nicht als Frage der Physik und damit der Naturphilosophie: „Was nun die Frage nach etwaiger Einzigkeit und Prozeßlosigkeit des Seienden angeht, so ist sie gar keine Frage, welche die Natur betreffen könnte“,112 denn das prozessfreie bzw. nicht bewegt werdende Seiende entzieht sich der methodisch an die sinnliche Erfahrung gebundenen Physik, „ergibt doch die sinnliche Erfahrung nichts von alledem, sondern gerade die Prozeßhaftigkeit einer Menge von Dingen“.113

Für den Übergang von der Physik zur Metaphysik ist zentral die Unterschei­dung zweier Prozess- bzw. Bewegungsquellen, die Aristoteles durchführt: „Als Prozessualitätsquelle kommt in Frage einmal ein Gegenstand aus der Klasse der selbst prozeßhaften Gegenstände, nämlich ein solcher, der selbst Quelle seiner Prozesse ist, sodann aber als alles umfassende Prozeßquelle diejenige, die von jeder Prozessualität selbst frei ist.“114 Als selbst prozesshafte Prozessquellen führt Aristoteles „die Gattung der Organismen und speziell der Tiere“115 an, schränkt jedoch deren Fähigkeit, über sich selbst zu verfügen, ein, indem er sagt, dass „im Innern der Tiere natürliche Prozesse, für welche die Tiere nicht selbst die Quellen darstellen“,116 ablaufen; sie sind also nicht von jeder Prozessualität frei und in letzter, wie immer weitläufig vermittelter Instanz selbst von einer absoluten Pro­zessquelle abhängig. Aristoteles exemplifiziert dies am Beispiel der Nahrung, deren Umwandlung in vom Körper benötigte Energie eine Umformung dessen darstelle, „was dem Organismus mit entgegengesetzter Bestimmtheit gegen­übersteht“.117 Diese Umwandlung bedürfe selbst wiederum einer dem Organismus innewohnenden Prozessquelle, welche diesen als „Qualitätsveränderung“118 aufgefassten „Übergang aus möglicher Wärme zu wirklicher Wärme (am Nah­

111 Ebd. VIII 8: 258b.112 Ebd. I 2 :184b - 185a.113 Ebd. 1 3: 254a.114 Ebd. VIII 6: 259a - b.115 Ebd. VIII 6: 259b.116 Ebd.117 Ebd. VIII 7: 260a.118 Ebd.

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rungsmittel) bewirkt“.119 Welches Vermögen diesen Übergang zu vollziehen im­stande ist, wird Gegenstand des folgenden Kapitels sein und einen Rekurs sowohl auf den Begriff der Selbstbewegung in De anima als auch die Akt-Potenz-Relation erfordern.

In diesem Zusammenhang entscheidend ist vielmehr, wovon Aristoteles die selbst prozesshaften Prozessquellen abgrenzt und die Tatsache, dass das Problem der Metaphysik, nämlich die Frage nach dem ewigen und einzigen Seienden, sich aus der Reflexion eines physikalischen Grundbegriffs, nämlich der Prozessualität, ergibt. Die Prozessualität selbst wiederum muss von einem Begriff her verstanden werden, in dem der unbewegte Beweger der Metaphysik bereits anklingt, nämlich dem der κίνησις (Bewegung), welche Aristoteles zufolge den Urtyp aller Prozes­sualität darstelle: „Wenn nun drei Prozeßtypen zu unterscheiden sind: Verände­rung der Größe, Veränderung der sinnlichen Qualität und Veränderung des Orts, welch letztere Bewegung heißt, dann ist dieser letztere als der Urtyp aller Pro­zessualität anzusehen.“120 Konsequent zu Ende gedacht muss als Quelle aller Prozessualität, die nicht als letzter Grund anzunehmen ist, eine entstehungslose und damit unbewegte Entität stehen, welche alle Entstehung und Bewegung in­itiiert, d. h. ein unbewegter Beweger.

Den unbewegten Beweger definiert Aristoteles als „ein Ewiges, das Substanz (ουσία, ousia) und Wirklichkeit (Aktualität, ενέργεια, energeia) ist“.121 Dieses Ewige sei kein Mittleres, also kein als selbst Bewegtes zwischen bewegendem Bewegtem und von ihm Bewegten Stehendes, und auch kein Letztes, das als solches den Endpunkt einer Kette von Bewegungen und daher ein Bewegtes bil­det.122 Der unbewegte Beweger, als Wirklichkeit aufgefasst, ist kein Wirkliches gegenüber der als ein bloß Scheinhaftes aufgefassten physischen Realität; er nimmt dieser nichts von ihrem Realitätsgehalt, sondern bildet „lediglich“ ihren letzten Grund als alle - in Wirklichkeit und Möglichkeit als ontologische Momente zerfallende - empirische Wirklichkeit ermöglichende metaphysische Wirklichkeit. Er ist Wirklichkeit qua ενέργεια als Ewiges, weil er sowohl immer als auch aus­schließlich Wirklichkeit ist, er ist also notwendig ungeteilt, da die Teile selbst wieder bewegt werden müssten: „Da es aber etwas gibt, das in Bewegung hält und selbst unbewegt ist und in Aktualität existiert, so kann dieses sich in keiner Hinsicht anders verhalten.“123

119 Ebd.: 260b.120 Ebd.: 260a.121 Met. Λ 7 (12. Buch): 1072a.122 Vgl. ebd.123 Ebd.: 1072b.

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2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens 79

Da der unbewegte Beweger „in Bewegung hält“, ist er nicht im Sinne eines singulären Ereignisses zu denken; die Bewegung ist nicht einmal von einem Ewigen angestoßen worden und nimmt seitdem ihren Gang, sondern sie wird in Gang gehalten, weil der unbewegte Beweger nicht nur ein Wirkliches (ein höheres Wirkliches könnte im Sinne der einmaligen Initialisierung einer anschließend fortlaufenden Bewegung gedacht werden), sondern selbst Wirklichkeit124 ist, Wirklichkeit als solche also erfüllt statt nur deren zeitlichen Anfang oder ihren sie verursachenden Anstoß zu bilden. Szlezäks Übersetzung von ενέργεια mit „Wirklichkeit“ wird auch von Georg Picht gestützt, der darauf hinweist, dass nicht ενέργεια mit dem bereits vorhandenen Begriff „Wirklichkeit“ übersetzt, sondern der Begriff „Wirklichkeit“ zur Übersetzung von ενέργεια überhaupt erst geprägt worden sei: „Nur wenige wissen, daß die deutsche Mystik im 14. Jahrhundert dieses deutsche Wort geprägt hat, um den aristotelischen Begriff ενέργεια zu übersetzen.“125 Der unbewegte Beweger als Wirklichkeit erfüllendes Prinzip der­selben garantiert mit der von ihm instantiierten Bewegung zugleich die Wirk­lichkeit der Wirklichkeit, die sich uns in der Erfahrung darbietet. Der unbewegte Beweger ist also nicht nur das definitorisch und epistemologisch identitätsstif­tende Prinzip der Physik insofern, als das Denken der Ursachen der Bewegung bei einem unbewegten Ersten ankommen muss, will es den infiniten Regress ver­meiden, sondern es ist das real identitätsstiftende Prinzip, weil die Deduktion des unbewegten Bewegers gemäß der realistischen Methodik und der sie kenn­

124 Vgl. Schopenhauers Hinweis auf die semantische Bedeutung der Endsilbe „-keit“ in Scho­penhauer 1988a: 467.125 Picht 1992:38. - Es soll trotz aller Plausibilität dieser Übersetzung nicht unerwähnt bleiben, dass Aryeh Kosman in seinem Buch The Activity o f Being. An Essay on Aristotle’s Ontology die englische Komplementärvariante zu „Wirklichkeit“, nämlich „actuality“, massiv angreift und behauptet, dass die aristotelische Ontologie nur dann richtig verstanden werden könne, wenn man actuality durch activity (sowie potentiality durch ability und substance durch being) ersetze (vgl. Kosman 2013, viii f.), wobei ενέργεια jedoch auch teilweise im Sinne von activity zu übersetzen sei. (vgl. ebd.: 9) Kosmans Neuinterpretation kann hier nicht im einzelnen verfolgt werden; die begriffliche Umstellung markiert jedoch eine Umkehrung des Vorrangs des lcosmologischen vor einem handlungstheoretischen Grundverständnis, was sich in Kosmans Definition der Bewegung (motion) als „something’s ability to be something“ (ebd.: 46) zeigt, welche Bestimmung in Ver­bindung mit der Übersetzung von ενέργεια mit activity mutmaßen lässt, dass hier das „something“ nach „someone“ modelliert werde (dazu vgl. ebd.: 69). Die ένέργεια wird bei Kosman tendenziell ent-kosmologisiert und anthropomorphisiert; sie bildet dann kein ontologisches Strukturmoment mehr, das auf verschiedenen Ebenen wirkt, sondern wird als activity nach dem Modell eines Akteurs in diesen als ein Aktivitätszentrum verlegt. In der lcosmologischen Interpretation muss die ενέργεια dann re-lcosmologisiert bzw. der Kosmos anthropomorphisiert werden. Das είδος wird im Falle des Menschen nicht mehr von der Form-Materie-Relation her bestimmt, sondern diese vom humanspezifischen είδος her.

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zeichnenden Identität von Sache und Begriff den metaphysischen Ursprung der Physik freilegt. Die ενέργεια zu denken heißt, die Wirklichkeit als Wirklichkeit zu denken; aufgrund der Identität von Erkenntnis und Sein ist der Aristotelische Realismus eine Ontologie des Lebens und als solche eine Ontologie der Wirk­lichkeit des Lebens. Das Verhältnis zwischen ενέργεια und νόησις wird dies ver­deutlichen.

Der unbewegte Beweger ist nicht reine ενέργεια im Sinne eines blinden Be­wegungsprinzips; wäre er es, so wäre Aristoteles eher als Vorläufer Schopenhauers denn als Vorläufer Hegels zu lesen, als welchen Picht ihn systematisch einführt und interpretiert. Zwar bestimmt Aristoteles ihn - modern gesprochen - als Ur­sprung (αρχή), als solchen jedoch zugleich als Denktätigkeit (νόησις): „Wir stre­ben eher nach etwas, weil wir es (für schön) halten, als daß wir es dafür hielten, weil wir es erstreben; denn Prinzip (Ausgangspunkt, αρχή, arche) ist die Denk­tätigkeit (νόησις, noesis).“126 Was prima facie eine psychologische Erörterung über die menschliche Denktätigkeit darstellt, wird von Aristoteles kosmologisch auf das Prinzip von Himmel und Natur angewandt, über welches Aristoteles in Übertra­gung des Angeführten sagt: „Seine Lebensweise ist aber so, wie unsere beste es für kurze Zeit ist.“127 Das Bestimmtwerden des Denkgegenstandes durch das Denken, die Aristoteles vornimmt, ist daher kosmologisch zu interpretieren als Be­stimmtwerden der Bewegung durch den als Geist als dem aufgefassten Beweger: „Sich selbst aber denkt das Denken (der Geist) kraft der Teilhabe am Gegenstand (am Intelligiblen); denn es wird denkbar (intelligibel) durch Berühren und Denken (seines Gegenstandes, so daß Denken und Denkgegenstand (Geist und Intelligi­bles) dasselbe (werden).“128 Wenige Zeilen weiter schreibt Aristoteles dem Denken den „Charakter des Göttlichen“129 zu und bestimmt den νους als Gott. Die Be­stimmung der ενέργεια als αρχή und νους und die Bestimmung des letzteren als Gott verbindet sich kurz darauf dem Begriff des Lebens, wenn Aristoteles über den νους sagt: „Auch Leben kommt ihm ganz gewiß zu; die Wirklichkeit des Denkens nämlich ist Leben (oder, die Aktualität des Geistes ist nämlich Leben), jener (der Gott) ist aber diese Wirklichkeit (Aktualität). Die ihm an sich zugehörige Wirk­lichkeit (Aktualität) ist bestes und ewiges Leben.“130 Den unbewegten Beweger macht Georg Picht daher gleichermaßen als Zentrum und Schlussstein des ari­stotelischen Denkens aus: „Hält man hingegen die Lehre νους als dem unbe­wegten Beweger nach den eindeutigen Aussagen des Aristoteles selbst für den

126 Met. Λ 7 (12. Buch): 1072a.127 Ebd.: 1072b.128 Ebd.129 Ebd.130 Ebd.

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2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens 81

Schlußstein und Höhepunkt seiner gesamten Philosophie, so rückt die Lehre von der Seele notwendig ins Zentrum, weil der νους das höchste Vermögen der Seele ist.“131 Die Lehre von der Seele interpretiert Picht - und dieser Interpretation schließen wir uns hier an - wiederum als Kernstück der aristotelischen Ontologie des Lebens. Die kosmologische Dimension der Ontologie des Lebens ist damit angedeutet; um die in Bezug auf Plessner wesentlich interessantere „anthropo­logische“ Variante der Ontologie des Lebens wird es im nächsten Kapitel gehen.

2.2.4 Substanz und Akzidens

In der Auseinandersetzung mit der Physik wurde das Substanzproblem bereits gestreift. Die offen gebliebene Frage nach der grundlegenden Bestimmung des Substanzbegriffs, die Aristoteles in der Metaphysik vornimmt und die für De anima wegweisend bleibt, ist daher nun aufzugreifen. Wie wird also der Substanzbegriff in der Metaphysik fundamental bestimmt?

Die „erste Substanz“ meint in der Metaphysik das Seiende als Seiendes statt das Einzelding, wie es in den Kategorien der Fall ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Unterscheidungen zwischen den beiden Arten von Substanzen, die Ari­stoteles in den Kategorien trifft, damit hinfällig wären; vielmehr wird der Sub­stanz-Begriff in der Metaphysik „vervielfältigt“. Allen Bedeutungen von Substanz ist die im Hinblick auf Plessner wichtige Gemeinsamkeit eigen, dass Substantia- lität das deflniens eines jeglichen Seienden in seinem Charakter als Seiendes ist. Aristoteles zufolge wird etwas „seiend“ genannt,

weil es Substanz ist, anderes, weil es eine Beschaffenheit (ein Widerfahrnis, πάθος, pathos) der Substanz, anderes, weil es ein Weg zur Substanz oder ein Vergehen, eine Privation, eine Qualität, ein Hervorbringendes oder Erzeugendes von Substanz ist oder von etwas, das mit Beziehung auf die Substanz ,seiend“ genannt wird, oder eine Negation eines solchen oder einer Substanz; daher sagen wir auch vom Nichtseienden, daß es das Nichtseiende ,ist‘.132

Es gibt also kein Seiendes, das nicht substanzrelativ ist; anders gesagt: Ein jeg­liches Seiendes ist nur dadurch Seiendes, dass es zumindest substanzrelativ ist, wenn es nicht selbst Substanz ist, weshalb Christof Rapp diese Abhängigkeit von der Substanz in seinem Aufsatz Substanz als vorrangiges Seiendes als das „Prinzip der ontologischen Dependenz“133 bezeichnet, welchem das Prinzip der natürli­

131 Picht 1992:134.132 Met. Γ 2 (4. Buch): 1003 b.133 Rapp 1996a: 29 f.

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chen Priorität134 entspricht. Picht behauptet gar, dass ουσία mit „Seiendheit“ treffender zu erfassen sei als mit der Bezeichnung „Substanz“: „ουσία heißt weder ,Substanz* noch ,System*; das Wort bezeichnet vielmehr das, wodurch sowohl Substanzen als auch Systeme erst möglich werden, nämlich die ,Seiendheit*, also den Inbegriff der konstitutiven Merkmale von dem, was ist.“135

Dadurch, dass wie im Falle von Privation oder Negation Substanzrelatives als Seiendes gilt, werden Seiendes und Dingliches fundamental unterschieden. Da Aristoteles auch die Qualität unter den Begriff des Seienden subsumiert, fallen auch die Akzidenzien und damit die Eigenschaften von Substanzen unter diesen Begriff. Was Szlezäk im obigen Zitat als Beschaffenheit übersetzt, πάθος, wird an anderen Stellen der Metaphysik136 auch mit „Eigenschaft“ übersetzt. Explizit werden die Akzidenzien als Eigenschaften bestimmt, wo Aristoteles das Verhältnis von Substanz und Akzidens am Ausdruck des „gebildeten Menschen“ expliziert. An dieser Stelle sagt Aristoteles, dass dem Menschen, „der eine Substanz ist, .gebildet* akzidentell zukommt“137 und dass

beide Bestimmungen (.Mensch“ und gebildet“) einem Einzelding akzidentell zukommen, z. B. dem Koriskos. Nur daß die beiden Bestimmungen nicht in derselben Weise zukommen, sondern die eine wohl als Gattung und als Bestimmung in der Kategorie Substanz, die andere als Zustand und Eigenschaft der Substanz.138

134 Rapp unterscheidet zwischen einer natürlichen und definitorischen und einer daraus sich ergebenden epistemischen Priorität. Das Prinzip der natürlichen Priorität fasst Rapp konzise: „Die Qualitäten, Quantitäten usw. existieren nicht ohne die Substanz, sie hören auf, Seiendes zu sein, wenn die Substanz aufgehoben würde.“ (ebd.: 36) Die definitorische Priorität hingegen meint, „daß die Definition einer nicht- substantialen Bestimmung immer die Definition der jeweiligen Substanz beinhalten muß, so wie etwa die Definition von „gehen“, weil es immer nur als Akzidens eines Lebewesens vorkommt, immer die Definition bestimmter Lebewesen beinhalten muß“ (ebd. : 35). Die Definitionen bewegen sich im Raum des Logos, ohne dass eine prästabilierte Harmonie zwischen der Definition und dem in Wirklichkeit Seienden unterstellt wird; insofern ist die De­finition fallibel, solange nicht vorausgesetzt wird, dass sie durch die natürliche Priorität in zu­treffender Weise bestimmt wird. Das Prinzip der natürlichen Priorität hingegen ist zunächst epistemisch neutral, weil es nur die Wertigkeit von Bestimmungsgliedern für ein Bestimmungs­verhältnis angibt, ohne über die Richtigkeit der Bestimmungen etwas auszusagen und insofern ein elementares Sinnkriterium in Bezug auf den Gehalt von semantischen Ausdrücken darstellt, wie Rapps resümierende Bestimmung zeigt: ,,[0]hne eine zugrundeliegende Substanz nämlich stellen Prädikate wie ,gehen* diesem Abschnitt zufolge überhaupt nichts Seiendes dar.“ (ebd.: 36)135 Picht 1992:175.136 Vgl. z.B. Met. Γ (4. Buch) 2 :1004b, Met. Γ (4. Buch) 12:1020a und 1020b.137 Met. Δ (5. Buch) 4 :1015a.138 Ebd..

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2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens 83

Die Eigenschaften von Substanzen sind durch das Wesen der Substanzen bedingt, ohne wiederum deren Wesen auszumachen, d.h. ohne ein der Substanz We­sentliches zu bilden, weshalb Aristoteles sie auch definiert als das, „was einem Wesen zukommt, ohne zu seinem Wesen (ουσία, ousia) zu gehören“.139 Der Un­terscheidung zwischen Substanz und Akzidens korrespondiert die zwischen Notwendigkeit und Zufälligem; die Akzidenzien werden von Aristoteles auch als das Zufällige definiert: „Das Akzidens (das Zufällige) ist also eingetreten oder es ist vorhanden, aber nicht insofern es selbst, sondern insofern etwas anderes (ein­getreten oder vorhanden ist); denn der Sturm ist die Ursache dafür, daß der Reisende nicht dorthin kam, wohin er fahren wollte.“140 Weil die Akzidenzien das gegenüber den Substanzen Zufällige und an ihnen Auftretende bilden, sind sie nicht aus sich selbst heraus verständlich und epistemologisch an ein zugrunde­liegendes Reales qua Substanz gebunden, dem sie ihre Realität überhaupt erst verdanken: „Wenn aber alles akzidentell ausgesagt wird, so kann es kein Erstes geben, von dem es ausgesagt wird, wenn doch stets die akzidentelle Bestimmung die Prädizierung von einem Zugrundeliegenden bezeichnet.“141

2.2.5 Der Substanzbegriff zwischen Einzeldingontologie undWesensontologie. Die Bedeutung der Form-Materie-Relation

Welche Arten von Substanzen unterscheidet Aristoteles nun aber in der Meta­physik? Das Seiende als Seiendes ist bereits als „erste Substanz“ angesprochen worden. Darüber hinaus bestimmt Aristoteles Substanz fundamental als ein reales Seiendes im Unterschied zu Abstraktionen, die sich auf Gemeinsames von Sub­stanzen beziehen, „denn kein Gemeinsames bezeichnet ein bestimmtes Etwas, [...] die Substanz aber ist ein bestimmtes Etwas“.142 Die genaue Natur dieses be­stimmten Etwas ist jedoch ein strittiger Gegenstand der Aristoteles-Forschung. So unterscheidet Rapp drei Varianten des Substanzbegriffs, ohne eine Gewichtung zwischen denselben vorzunehmen:

Hierbei ist bemerkenswert, daß der Begriff insgesamt drei unterschiedlichen Typen von Entitäten beigelegt wird: (1.) konkreten Einzeldingen, wie Sokrates, einem bestimmten Pferd, (2.) den untersten Arten oder Spezies (infimae species), wie den Arten Mensch, Pferd usw., (3.) der Form einer Sache, wie der menschlichen Form des Sokrates.143

139 Met. Δ (5. Buch) 29 :1025a.140 Ebd.141 Met. Γ 4 (4. Buch), 1007a - b.142 Ebd.: B (2. Buch) 6:1003 a.143 Rapp 1996b: 8.

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84 2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

Walter Mesch hingegen stellt in seinem Aufsatz Die Teile der Definition (Z10-11) zwei gegenstrebige Tendenzen in der Forschung dar, welche jeweils einen inter- pretatorischen Suprematie-Anspruch erheben, nämlich die einzeldingontologi­sche Position (Punkt 1 nach Rapp), die das Prinzip der ontologischen Dependenz starkmacht und laut Mesch ,,[b)is vor wenigen Jahrzehnten“144 dominierend ge­wesen sei, und die formtheoretische bzw. eidologische Position (Punkt 3 nach Rapp), die vom Vorrang der Form (des είδος, eidos) gegenüber dem Stoff (υλη, hylê) als dem wesentlichen definiens einer der aus beiden zusammengesetzten Substanz ausgeht. Punkt 2 nach Rapp, die Arten und Gattungen, stehen der Einzeldingontologie näher als der formtheoretischen Position, weil sie mit jener darin übereinstimmen, ein realiter existierendes Seiendes als solches begrifflich zu bezeichnen statt es in seiner begrifflichen Bestimmung von seiner Wesensform her zu erklären; insofern lässt sich sagen, dass die Arten und Gattungen prinzipiell der einzeldingontologischen Position wesentlich näher stehen, da sie analytisch vom korrelativen Verhältnis von Einzelding und Allgemeinem qua Art/Gattung her konzeptionalisierbar sind, ohne formtheoretische bzw. eidologische Vorausset­zungen mit akzeptieren zu müssen.

Die ersten beiden Begriffe der Substanz, die Rapp nennt, entsprechen den beiden Bedeutungen aus den Kategorien, die bereits zur Sprache gekommen sind; die dritte hingegen wird in der Metaphysik und De anima erst entfaltet. Explizit trifft Aristoteles die Unterscheidung, auf die Mesch sich bezieht, im 8. Kapitel des Buches Δ (5. Buch) der Metaphysik. Daselbst nennt Aristoteles erstens die „ein­fachen Körper [...] wie Erde, Feuer, Wasser und was von dieser Art ist, und über­haupt Körper und die aus ihnen bestehenden Lebewesen und göttlichen Dinge und deren Teile“;145 zweitens, „was als Ursache des Seins in solchen Dingen enthalten ist, die nicht von einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden, wie die Seele für das Lebewesen“.146 Der zweiten Bedeutung von Substanz, die Aristoteles hier anspricht, sekundiert eine längere Passage, welche die von Mesch ange­sprochene eidologische Deutung des Substanzbegriffs deutlich stützt:

Da aber die Seele der Lebewesen (denn sie ist die Substanz des Beseelten) die Substanz, die durch die Formel ausgedrückt wird und die Form und das ,Was es war zu sein“ für einen Körper von dieser bestimmten Beschaffenheit ist (jedenfalls wird jeder Teil, sofern er richtig definiert wird, nicht ohne seine Funktion definiert werden, die ihm nicht zukommt ohne Wahrnehmung), so sind die Teile der Seele früher als das konkrete Lebewesen, entweder alle oder einige davon. Und ebenso ist es natürlich beim Einzelding. Der Körper hingegen und

144 Mesch 1996:135.145 Met. Δ (5. Buch) 8 :1017b.146 Ebd.

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2.2 Die klassische Ontologie: Von der Metaphysik zur Ontologie des Lebens 85

seine Teile sind später als diese Substanz, und in diese Teile als in ihre Materie zerfällt nicht die Substanz, sondern das Konkrete.147

Dem Anschein nach verwickelt sich Aristoteles mit dieser Passage in unauflösbare Widersprüche, behauptet er doch, dass das Konkrete, also das Einzelding, zerfalle, nicht aber die Substanz. Dies liegt daran, dass Aristoteles hier mit „die Substanz des Beseelten“ eine bestimmte Bedeutung von Substanz im Auge hat, nämlich diejenige, auf welche Mesch mit dem Begriff der Form zielt und die hier als Seele angesprochen wird. Indem die Seele der Lebewesen die „Substanz des Beseelten“ ist, ist sie nicht nur „früher“ als das konkrete Lebewesen, sondern das die We­sentlichkeit desselben Ausmachende und damit auch das dieses als solches Er­möglichende, welches anders als das Einzelding nicht zerfallen kann. Die Seele wohnt jedoch nicht einfach dem Leib inne, sondern bildet mit ihm zusammen das konkrete Lebewesen als einem wiederum gegenüber Materie und Form Dritten, weshalb Aristoteles an anderer Stelle sagt, dass es noch etwas geben müsse „neben dem konkreten Ding, nämlich die Gestalt (μορφή, morphé) und die Form (είδος, eidos)“148 und dass „das konkrete Ding beides (Materie und Form) ist“.149 „Beides“ ist es nicht, weil es Form und Materie im summativen Sinne ist, sondern indem es sowohl Form als auch Materie ist, ist es beides als ein Konkretes und und damit gegenüber seinen Konstituentien Drittes. Das Konkrete im Sinne des indi­viduellen Menschen z. B. ist dann gemäß der verschiedenen Bedeutungen von „Substanz“ (Substanz als Einzelding und Form als die Substantialität der Substanz Darstellendes) selbst wiederum Substanz; was mit dem Formbegriff dann be­zeichnet wird, ist die Substanz der Substanz.150 Diese Lesart legen vor allem die Ausführungen über den Seelenbegriff in De anima nahe, wo Aristoteles die Seele als „Wesenheit im Sinne der Form des natürlichen Körpers“151 bestimmt und als

147 Met. Z (7. Buch) 10 :1035b.148 Met. B (2. Buch): 999b.149 Ebd.150 Diese These findet sich auch bei Frank Lewis: „In particular, the cause of being of an in­dividual substance will be the substance of that substance.“ (Lewis 1996: 40) Die Substanz als Form ist die Substanz der Substanz; nach Lewis gilt nämlich, dass „questions about the thing’s kind involve the content of the relevant form, which is the substance of the thing and the cause of its being“, (ebd.: 42) Lewis’ missverständlicher Begriff der Ursache (cause) zielt auf das die Wesenheit des Dings Bestimmende und widerspricht insofern der hier dargelegten Deutung nicht, denn „cause of its being“ meint cause of its being as unity: „Aristoteles supposes that the source of a thing’s unity is not an element of elements, but rather a form“, (ebd.: 39) mit dem Formbegriff zielt Lewis also nicht auf die Verursachung des Seins eines Seienden, sondern auf das Bestim­mungsmoment des Seins als erste Substanz.151 De anima I I 1: 412a.

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„das eigentliche Sein für einen so und so beschaffenen Körper, wie wenn ein Werkzeug, z. B. ein Beil, ein natürlicher Körper wäre: Seine Wesenheit wäre das eigentliche Sein des Beils und dieses Sein die Seele.“152

Das Verhältnis zwischen Form und Materie ist bisher nur berührt worden, seine Explikation jedoch setzt eine andere Herangehensweise an die Aristotelische Philosophie voraus, die es ermöglicht, die elementaren Relationen, die bisher angesprochen wurden, wesentlich konkreter und präziser zu fassen. Im Folgenden ist daher im Anschluss an Nicolai Hartmanns Ausführungen über die aristoteli­sche Ontologie zu zeigen, dass sowohl das Verhältnis zwischen Metaphysik und Physik als auch die Gesamtanlage der aristotelischen Ontologie, deren inhaltlicher Kern der Substanzbegriff und das Verhältnis von Form und Materie bildet, sich einzig im Rekurs auf Akt und Potenz als fundamentale, die gesamte aristotelische Ontologie strukturierende Modalitätsstufen entfalten lässt:

Es ist eine erstaunliche Tatsache, daß Aristoteles in seiner Lehre vom „Seienden als Seien­den“ von den sorgfältig aufgestellten und entwickelten „zehn Kategorien“ kaum Gebrauch macht. Die ουσία steht wohl im Zentrum der Erörterung, aber nicht wie ein Prinzip, das man anwendet, sondern wie ein verzweigtes Gewirr von Problemfäden, das zu entwirren ist. Um es aufzulösen, führt er vier andere Prinzipien ein, die mit jenen Kategorien nichts zu tun haben, die sich als zwei Gegensatzpaare darstellen: Form und Materie, Potenz und Aldus. Die ers- teren beiden sind offenkundig konstitutiver Art, die letzteren treten mit dem Anspruch auf, Modalitätsstufen zu sein.153

Bisher hat sich die Auseinandersetzung mit Aristoteles in einem, Hartmann zu­folge, konstitutiven Rahmen gehalten. Erst im Rückgang auf die Akt-Potenz-Re- lation und die modalen Bestimmungen und Zusammenhänge innerhalb der Ari­stotelischen Ontologie, so soll gezeigt werden, lässt sich eine Ontologie, die in schwer verständlichen Unterscheidungen zu terminieren scheint, material be­stimmen. Dabei lassen sich zwei Grundbegriffe, die in Plessners Stufen eine wichtige Rolle spielen, überhaupt erst verstehen: das Konzept der Entelechie und das der Teleologie.

152 Ebd. 412b.153 Hartmann 1966a: 3.

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2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet 87

2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet

2.3.1 Die metaphysische Akt-Potenz-Relation

Wie bereits gezeigt, muss es Aristoteles zufolge neben allem Bewegten ein Letztes geben, das „ein Ewiges, das Substanz (ουσία, ousia) und Wirklichkeit (Aktualität, ενέργεια, energeia) ist“.154 Dieses Ewige, das ουσία und ενέργεια ist, ist zugleich im metaphysischen Sinne αρχή, anfangsloser Anfang oder, wie Aristoteles sagt, letzte und schlechthin prozessfreie Prozessursache.

Zentral in diesem Zusammenhang ist die modale, gleichwohl aber ontologi­sche und nicht formale Bestimmung des unbewegten Bewegers als ενέργεια. Der Begriff der ενέργεια, wie er hier verwendet und der Vollständigkeit halber in aller Kürze angesprochen wird, führt in Tiefen der aristotelischen Theologie hinein, die uns hier nicht zu interessieren brauchen. In Λ 7 (12. Buch) 1072 b bestimmt Ari­stoteles das, was bewegt wird, als etwas, das sich auch anders verhalten könne, „so daß die erste Ortsbewegung, mag sie auch der Wirklichkeit nach (oder; in Aktualität) existieren, in der Hinsicht jedenfalls, daß sie bewegt wird, sich auch anders verhalten kann“.155 Von dem, was sich anders verhalten könne, grenzt Aristoteles im nächsten, weiter oben bereits zitierten Satz, den unbewegten Be­weger ab: „Da es aber etwas gibt, das in Bewegung hält und selbst unbewegt ist und in Aktualität existiert, so kann dieses sich in keiner Hinsicht anders ver­halten.“156 Der unbewegte Beweger ist also ενέργεια ohne δύναμις; darin gründet jedoch nicht seine Defizienz, sondern seine Dignität: er ist das einzig im Modus der Wirklichkeit Existierende; nicht wirklich, nicht Akt oder ενέργεια zu sein, stellt keine Potenz des unbewegten Bewegers dar, weil die als solche stets unvollendete Nicht-Identität mit sich selbst keine Potenz, kein Vermögen-zu darstellt; die Identität mit sich selbst herzustellen, würde Prozessualität erfordern und damit die Differenz zwischen Unbewegtem und Bewegtem sowie die korrelative zwi­schen Metaphysik und Physik (physikalisch) einebnen.

154 Met. Λ 7 (12. Buch): 1072a.155 Met. Λ 7 (12. Buch): 1072b.156 Ebd.

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88 2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

2.3.2 Die physikalische Akt-Potenz-Relation

Aus heutiger Perspektive liegt die Annahme nahe, dass in der Physik die Relation von Akt (ενέργεια, energeia) und Potenz (δύναμις, dynamis) eine andere Be­stimmung erfährt als in der Metaphysik oder in De anima. Georg Picht weist in seiner grandiosen Interpretation von De anima, die zugleich eine in den weiteren Ausführungen als Leitfaden fungierende lebensontologische Gesamtinterpreta­tion des aristotelischen Denkens darstellt, daraufhin, dass nicht der Seelenbegriff vom Naturbegriff her zu explizieren ist, sondern die Seelenlehre umgekehrt die Grundlage noch der Physik bildet, ohne in derselben mehr als nur angerissen zu werden: „Ohne die aristotelische Lehre von der Seele wäre der Begriff der orga­nischen Natur nicht ausgebildet worden. Wer die organische von der anorgani­schen Natur unterscheidet, setzt die aristotelische Ontologie der Seele voraus.“157 Dass die Physik (Sache und Werk) lediglich einen Teil einer umfassenderen Theorie bildet und, als Sache verstanden, keineswegs eine eigenständige, aus genuin eigenen Prinzipien zureichend begründbare wissenschaftliche Disziplin oder gar, wie zeitgenössische reduktionistische Ansätze behaupten, eine Reduk­tionsbasis der Metaphysik darstellt, zeigt sich am Verhältnis von Akt und Potenz am Beispiel des Prozessbegriffs.

In der Physik definiert Aristoteles Prozess bzw., in Orientierung am griechi­schen Originaltext, κίνησις (Bewegung), grundlegend als „Verwirklichung einer Möglichkeit des Gegenstands, der seinerseits durch die Möglichkeit charakterisiert ist, diesen Prozeß zu verursachen“158 und der deshalb „selbst (bereits) im Modus der Wirklichkeit steht und nicht als solcher, sondern nur seinem Möglichkeits­moment nach in Verwirklichung begriffen ist“.159 Ein Verursachendes kann daher als solches nur im Modus der Wirklichkeit im Modus der Möglichkeit sein; der Möglichkeitsbegriff ist also nicht, etwa stochastisch, formalisierbar, weil die Verursachungsmöglichkeit dem Verursachenden als wirkliches (aktuales) Ver­mögen innewohnen muss und die Beziehung zwischen dem Verursachenden und der Verursachung insofern eine intrinsische ist; ebenso ist die Verwirklichung an die „Möglichkeit des Gegenstands“ gebunden. Mit der Genitivkonstruktion zielt Aristoteles nicht auf einen dispositioneilen Zustand, in dem ein mögliches Pro­zessobjekt sich befindet, sondern er zielt auf eine im Gegenstand als solchem material gründende Empfänglichkeit für eine auf ihn einwirkende Ursache. An anderer Stelle führt Aristoteles daher aus, dass das Möglichkeitsmoment am

157 Picht 1992: 334.158 Phys. III 3: 202a.159 Phys. I I I1: 201 a.

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2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet 89

Gegenstand beidseitig gegeben sein müsse und nennt folglich den Prozeß die „Verwirklichung (des Möglichkeitsmoments) beider Gegenstände“.160 Die Spie- gelbildlichkeit der Aktualität des Möglichkeitsmoments an beiden Prozessgliedern wird damit klar artikuliert. Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind somit in der aristotelischen Physik keine anonymen bzw. neutralen Kausalrelationen, die aufgrund determinierter und determinierender Gesetzmäßigkeiten bestimmbar wären. Die Beziehungsglieder können somit nicht als prinzipiell gegenüber ein­ander indifferent angesetzt werden, weshalb die Anlehnung an einen zeitgenös­sischen Dispositionsbegriff irreführend wäre;161 ein solcher Dispositionsbegriff neutralisiert nämlich nicht nur die Relation zwischen A und B, sondern gar die Relata insofern ihrer eigenen Identität nach, als sie in ihre materielle Konstitution als ihren hinreichenden Erklärungsgrund aufgelöst werden können. Die Zwei- stelligkeit in der aristotelischen Sprechweise („beider Gegenstände“) resultiert aus der pädagogischen Idealisierung des Modells der κίνησις, in dem zwei Gegen­stände A und B als Prozessglieder angenommen werden, wäre jedoch, wie der Fundamentalcharakter der Begriffsbestimmung von „Prozess“ qua κίνησις logisch impliziert, beliebig numerisch erweiterbar.

Der Nexus zwischen einer Prozessursache und ihrem Gegenstand ist also nicht abstrakt universaler, sondern spezifischer Natur; ein universaler Nexus im modernen Sinne könne, wie Thomas Buchheim treffend herausstellt, „keinen ursächlichen Nexus zwischen den Dingen, die es erfüllen“,162 begründen. Die spezifische Verfasstheit der Gegenstände, die es ihnen ermöglicht, miteinander einen Nexus zu bilden, fasst Aristoteles im Begriff der φύσις (physis), der zumeist mit „Natur“ übersetzt wird.163 Die φύσις ist nicht die kontingente Verfasstheit des jeweiligen Einzeldings, die zufällig mit einem anderen einen Nexus bilden kann, sondern die φύσις (physis) meint den umfassenden Zusammenhang der natürli­

160 Phys. I 3: 202a.161 Die Differenz artikuliert Bubner in seinem Aufsatz Antike und moderne Wissenschaftstheorie. Eine Skizze bündig: „Weiterhin ist als philosophiegeschichtliche Tatsache zu konstatieren, daß die Substanzenontologie des Aristoteles nicht das neuzeitliche Konzept der Kausalität kannte. Man hat in der Konzentration auf die Kausalursache eine Verkümmerung der Lehre von den vier Ur­sachen gesehen, deren Primat in der aristotelischen Ontologie der causa formalis gebührte, während sich die neueren Naturwissenschaften unter erklärter Verwerfung der Formalursachen ausschließlich mit der causa efficiens beschäftigten.“ (Bubner 1992:130)162 Buchheim 1996:122.163 Picht weist darauf hin, dass diese Übersetzung problematisch und ungenau ist, da sie unsere gegenwärtigen Vorstellungen von „Natur“ in einen Begriff hineinprojiziert, der etwas anderes meint: „Alles, was überhaupt ουσία hat, liegt innerhalb der φύσις. Es ist irreführend, wenn wir dieses griechische Wort durch das Wort ,Natur“ übersetzen; denn ,Natur“ bedeutet für das neu­zeitliche Denken die Gesamtheit der Objekte der Erkenntnis.“ (Picht 1992: 75)

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chen Gegenstände. Das häufig zitierte und zentrale Beispiel des Aristoteles, an­hand dessen sich der φύσις-Begriff explizieren lässt, ist der Satz „ein Mensch zeugt einen Menschen“, der Buchheim zurecht dazu veranlasst zu sagen, „daß die Physis, von der Aristoteles spricht, nicht nur als die eines Dinges begriffen wird [...], sondern als das gleiche Eidos mehrerer Dinge in einem generativ-ursächlichen Nexus und deshalb zugleich auch als Materie zum je verursachten Werden des einen aus dem anderen“.164 Das zitierte Beispiel der Zeugung führt Aristoteles in Met. Z (7. Buch) 6 1032a an, wo er erläuternd sagt, dass „das, woraus etwas wird, eine Natur [ist], als auch das, gemäß dem es wird (denn das Entstehende hat eine Natur, z. B. eine Pflanze oder ein Lebewesen), und wodurch es wird, ist die Natur im Sinne der Form, die artgleich ist“. Die φύσις qua Natur bildet also einen alles in ihr als Einzelnes Auftretende übergreifenden und die Form (είδος, eidos) der Einzeldinge in ihrem Verhältnis zueinander organisierenden Nexus. Eine detail­lierte Entfaltung des bisher Angedeuteten und der Rolle von Akt (ενέργεια) und Potenz (δύναμις) innerhalb des aristotelischen Denkens macht den Rekurs auf die Metaphysik und vor allem De anima erforderlich.

2.3.3 Die Grundzüge der Ontologie des Lebens in De anima

In der Metaphysik und in De anima entfaltet Aristoteles sowohl eine Ontologie des Lebens als auch eine Anthropologie; die Grundbegriffe bilden die Denkfiguren von ενέργεια (Akt) und δύναμις (Potenz), welche sowohl die Ontologie als auch die Anthropologie strukturieren und als Modalbegriffe Vermögen designieren, welche gemäß der realistischen Methodik, der gemäß Begriff und der Sache nach dasselbe seien, die Reallogik des Seins artikulierbar machen. Die anthropologische Ein­teilung der Natur ergibt sich aus der hierarchisch-essentialistischen Unterschei­dung der Seelenkräfte und der ihr korrespondierenden Logik von Vermögen (δύναμις, Potenz) und Wirklichkeit (ενέργεια, Akt) in De anima; die Ontologie des Lebens ergibt sich wiederum aus dem Fundamentalcharakter der Kategorien von ενέργεια und δύναμις, aufgrund dessen sie auf verschiedenen theoretischen Ebenen zur Anwendung gelangen können und dies de facto tun.

In De anima bestimmt Aristoteles die Seele als den elementaren Seinsgrund der Lebendigkeit im Sinne eines nicht bloß analytisch-epistemologischen Un­terscheidungskriteriums, sondern im Sinne eines real-substantiellen Unter­scheidungsgrundes: „Die Seele ist der lebenden Körper Ursache und Grund.“165

164 Buchheim 1996:121.165 De anima II 4: 415b.

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Ursache und Grund der lebenden Körper ist die Seele nicht, wie die Formulierung in ihrer grobschlächtigen Auslegung suggeriert, im Sinne ihrer kausalen Hervor­bringung, sondern weil sie wesen

Körper zu lebenden im Unterschied zu toten Körpern oder bloßen Dingen macht. Die elementarste Form der Seele, die Ernährungsseele, wohnt toten Kör­pern Aristoteles zufolge nicht mehr inne: „Notwendig hat jedes Wesen, das lebt, die Ernährungsseele, und es hat sie von der Geburt bis zum Tode.“166 Der Er­nährungsseele ordnet Aristoteles als spezifische Leistungen sowohl die Verdau­ung als auch die Zeugung zu.167

Die verschiedenen Seelenkräfte ordnen das Reich der lebendigen Natur und bilden den Leitfaden der Taxonomie der Formen des Lebendigen. Aufgrund der allgemeinen Definition der Seele als einer „Wesenheit im begrifflichen Sinne“168 bildet die Unterscheidung zwischen Lebensformen zugleich eine Unterscheidung zwischen Wesensformen gemäß der Unterschiedlichkeit der spezifischen seeli­schen Verfasstheit. Als in der Natur auftretende Seelenkräfte führt Aristoteles das „Ernährungs-, Wahrnehmungs-, Strebungs-, Ortsbewegungs- und Überlegungs­vermögen“169 an. Auf der untersten Stufe des Lebendigen stehen die Pflanzen, bei denen nur das Wachstum ermöglichende Ernährungsvermögen und darüber hinaus „kein anderes Seelenvermögen“170 vorhanden sei. Dem Begriff des „See­lenvermögens“ entspricht, dass Aristoteles keine starre Zuordnung von Lebens­formen und für sich getrennt existierenden und jeweils nur einzelnen Lebens­formen oder gar Individuen zukommenden Seelenformen vornimmt, sondern die Ernährungskraft der Pflanzen als Teilhabe an einem „Teil der Seele“ definiert: „Unter der Ernährungskraft verstehen wir den Teil der Seele, an dem auch die Pflanzen teilhaben.“171 Bei den Tieren seien darüber hinaus auch ein Wahrneh­mungsvermögen (Tastsinn) und ein Strebungsvermögen (Erstreben des Lustvol­len, Vermeidung von Unlust, Begierde) und ein Vermögen der Ortsveränderung bzw. Selbstbewegung vorhanden.172 Die Unterschiedlichkeit der seelischen Ver­mögen von Pflanzen und Tieren ist jedoch nicht substantieller Natur, denn beide „scheinen der Art nach die gleiche Seele zu haben“.173 Der ontologisch signifikante Bruch findet beim Menschen statt, da dieser sich beiden gegenüber durch „das

166 De anima III 12: 434a.167 Ebd. II 4: 415 a.168 Ebd. I I 1: 412 b.169 De anima II 3: 414a.170 Ebd. II 2: 413b.171 Ebd.172 Ebd.: 414 b.173 Ebd. I: 409a.

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Vermögen zur Überlegung und den Geist“174 auszeichne. Das Denken unter­scheidet Aristoteles explizit und fundamental vom Wahrnehmen, da es im Un­terschied zu diesem nicht mehr an den Körper gebunden sei: „Denn das Wahr­nehmungsvermögen besteht nicht ohne den Körper, der Geist aber ist von ihm getrennt.“175 Der Geist (νους) trete zwar aus der Sphäre des Organischen heraus, nicht aber aus der Sphäre des Seelischen, sondern er bilde als „Geist der Seele“ sowohl eine selbständige als auch die höchste Form des Seelischen: „So besitzt er auch keine andere Natur als diese, daß er Vermögen ist. Der sogenannte Geist der Seele - ich nenne Geist das, womit die Seele nachdenkt und vermutet - ist der Wirklichkeit nach, bevor er denkt, nichts von den Dingen.“176 Der Mensch tritt also durch das Denkvermögen bzw. den Geist scheinbar aus dem Reich der Natur heraus, bleibt aber durch die übrigen Seelenkräfte, die er mit anderen Lebens­formen teilt, zugleich Teil der Natur. Er ist durch die beiden elementaren Kräfte ausgezeichnet, nach denen die Seele der Lebewesen bestimmt sei, „durch die des Unterscheidens, der Leistung des Denkens und der Wahrnehmung, und ferner durch die Veranlassung der Ortsbewegung“,177 also durch das Vermögen der Selbstbewegung und das der Überlegung (νόησις), deren Organ der νους ist. Die Sonderstellung des Menschen in der Natur gründet in diesem ihn auszeichnenden Bruch, der wiederum im νους als einem exklusiv ihm zukommenden Seelenver­mögen gründet.

Die ontologische Ambivalenz des νους rührt daher, dass er als höchste see­lische Form178 mit den niederen Seelenvermögen verbunden bleibt, jedoch zu­gleich eine seelische Form sui generis darstellt, insofern er nicht den niederen

174 Ebd.175 Ebd. III 4: 429b.176 Ebd. 429a.177 Ebd. III 9: 432a.178 Aristoteles spricht daher auch von der „Denkseele“, vgl. ebd. Der Denkseele bzw. dem Geist entspricht im Griechischen der νους (nous). Die metaphysische Ambivalenz des Begriffs νους hat Picht klar herausgearbeitet; sie hier zu verfolgen, würde zwar ermöglichen, die aristotelische Philosophie in ihrer Ganzheit und in ihren theologischen Verästelungen ins Visier zu nehmen, würde jedoch zugleich zu weit vom Thema wegführen. In der Metaphysik bestimmt Aristoteles den νους als Teil der Seele, den er von der „ganzen“ Seele abgrenzt, vgl. Met. Λ (12. Buch) 3 :1070a 25 ff. Picht weist jedoch in seiner Vorlesung, in welcher die Beziehung zwischen Aristoteles und Hegel einen durchlaufenden Topos bildet, darauf hin, dass der Begriff des νους darüber hinaus eine theologische Bedeutung im aristotelischen Denken hat, die theoriestrukturell dem Hegelschen Geist entspreche: „Die höchste Gestalt der Seele - Hegel ersetzt den Begriff ,Seele“ durch den neuzeitlichen Begriff ,Bewußtsein“ - ist bei Hegel der Geist, bei Aristoteles der νους. In seiner reinen und vollendeten Wirklichkeit ist der Geist bei Hegel und der νους bei Aristoteles nicht endlicher Geist des Menschen sondern Gott.“ (Picht 1992: 34) Dieser Interpretation kann hier jedoch leider nicht (sinnvoll) weiter nachgegangen werden.

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Seelenkräften unterworfen ist. Bildet die Seele das die Wesentlichkeit des le­bendigen Körpers ausmachende Vermögen, so bildet der Geist (der Seele) das die Wesentlichkeit des Menschen ausmachende Vermögen. Gemäß der oben ange­sprochenen kosmologischen Bestimmung des νους als das Gottähnliche im Menschen, sagt Aristoteles, der Geist könne „abgetrennt werden wie das Ewige vom Vergänglichen“.179 Der Geist besteht demzufolge in einer Unabhängigkeit vom Körper, deren explanative Uneinholbarkeit Aristoteles zu Formulierungen drängt, die von Unsicherheit und inhaltlicher Bestimmtheit gleichermaßen zeugen: „Der Geist scheint als eine Wesenheit hineinzugelangen und nicht der Zerstörung zu verfallen. [...] Der Geist aber ist wohl etwas Göttlicheres und etwas Leidensun­fähiges.“180 Den direkt daran anschließenden nächsten Abschnitt lässt Aristoteles beginnen mit dem Satz: „Daß nun die Seele unmöglich bewegt wird, ist aus dem Bemerkten klar. Wird sie aber überhaupt nicht bewegt, dann offenbar auch nicht von sich selbst.“181 Der Sprung, den Aristoteles hier in der Besetzung der Sub- jektstelle in den Sätzen vollzieht, ist aufschlussreich:

Nicht nur der Geist, sondern die Seele -und damit ist die Seele überhaupt, nicht nur die menschliche Seele gemeint -wird nicht bewegt und ist daher selbst nicht bewegtes Bewegendes und die Selbstbewegung der Körper Ermöglichendes. Mittels der Seele aber ist der Mensch mit der Natur und den übrigen Lebensformen wesenhaft verbunden, während der Geist eine Wesensform sui generis ermöglicht, die auch dem Leiden enthoben ist, welches den beseelten Körper kennzeichnet. Bei Geist (νους bzw., in der Vollzugsform des Denkens, νόησις) und Seele (ψυχή) handelt es sich nicht einfach um zwei distinkte Vermögen, deren Verhältnis das einer Ergänzung bildet, sondern um zwei teleologisch verschränkte Entitäten, wie es sich in der Doppelnatur des Menschen andeutet, weshalb Picht sagt: „Der Mensch kann seinem Sich-Bewegen nur durch reine Erkenntnis Ziele setzen. Deshalb kann bei Aristoteles das Vermögen, sich selbst zu bewegen, oder das Leben, von der Erkenntnis der Wahrheit nicht abgetrennt werden“,182 und: „Das Leben ist gleichursprünglich auf Wahrheit und auf Bewegung bezogen“,183 wobei hier hinzuzusetzen wäre: das menschliche Leben bzw. das Leben, wie es sich in der Gestalt des Menschen realisiert. Weil der νους des Menschen dessen Teilhabe am Göttlichen in der νόησις ermöglicht, zugleich aber der Mensch durch die ψυχή mit der gesamten lebendigen Natur verbunden ist, ermöglicht der νους die Einheit des göttlich-kosmischen Lebens mit dem natürlichen Leben, der ζωή, aus welcher der

179 De anima II 2: 413b.180 Ebd. I 4: 408b.181 Ebd.182 Picht 1992:192.183 Ebd.: 217f.

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Mensch durch seinen νους, einen Bestandteil desselben bildend, heraustritt; der νους im göttlich-kosmologischen Sinne leistet gerade die Integration des Men­schen in die Natur, aus der er durch seine Gottesähnlichkeit herauszutreten scheint. Aufgrund der weiteren, metaphysisch-kosmologischen bzw. theologi­schen Bedeutung des νους sagt Picht, „daß der νους in der Einheit seiner beiden Funktionen das είδος der Seele und damit von Leben überhaupt ist. Deswegen kann Aristoteles das Wesen des göttlichen νους als ζωή bezeichnen.“184

Den allgemeinen Ort der Seele, aufgefasst als den Geist und die niederen einzelnen Seelenkräfte umgreifendes Vermögen, bildet in der aristotelischen Ontologie die Form-Materie-Relation. In De anima erfährt diese Relation jedoch zunächst eine Konkretisierung im Rahmen der Akt-Potenz-Relation, aber auch eine Erweiterung. Die ψυχή als „Wesenheit im Sinne der Form des natürlichen Körpers, der seiner Möglichkeit nach Leben hat“,185 lässt sich als das είδος der aus είδος (Form) und σώμα (Materie) zusammengesetzten Substanz bezeichnen. Ari­stoteles definiert den natürlichen Körper explizit als „zusammengesetzte We­senheit“: „Und so ist jeder natürliche Körper, der am Leben Anteil hat, Wesenheit und zwar im Sinne zusammengesetzter Wesenheit.“186 Die zusammengesetzte Wesenheit ist das aus Seele und Körper zusammengesetzte konkrete Lebewesen: „Aber wie die Pupille und die Sehkraft zusammen das Auge sind, so sind die Seele und der Körper zusammen das Lebewesen. Daß nun die Seele nicht abtrennbar ist vom Körper, oder einige ihrer Teile, wenn sie von der Natur geteilt ist, das ist of­fensichtlich“.187 Die Nicht-Abtrennbarkeit der Seele scheint der bereits ange­sprochenen Unabhängigkeit derselben vom Körper zu widersprechen; der scheinbare Widerspruch verschwindet jedoch, wenn man zwischen dem Sein und der Bestimmung der Seele unterscheidet: ihrem Sein nach existiert sie nicht ab­getrennt vom Körper als ätherisches Wesen in einem eigenen Reich, aber sie ist insofern vom Körper unabhängig, als sie den Körper bestimmt und nicht umge­kehrt, weshalb Aristoteles sagt, dass, „wenn der Stoff Möglichkeit ist, die Form Erfüllung, so ist, da das Zusammengesetzte der beseelte Körper ist, nicht der Körper die Erfüllung der Seele, sondern diese die eines bestimmten Körpers“.188 Weil die Seele die Erfüllung des konkreten, aus Form und Materie zusammen­gesetzten Körpers ist, „so muß sie Begriff und Form sein, und nicht Materie und Unterlage“.189 Die ψυχή ist Form im doppelten Sinne: Form im Unterschied zur

184 Ebd.: 362.185 De anima I I 1: 412a.186 Ebd.187 Ebd.: 413a.188 Ebd. II 2: 414a.189 Ebd.

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Materie in der Form-Materie-Relation und Form als Substanz des jeweiligen in­dividuellen Körpers. Der ψυχή kommt also ein spezifischer Charakter insofern zu, als sie für den jeweiligen Organismus identitätskonstitutiv ist, sie ist aber dennoch kein lediglich individuelles, bloß dem jeweiligen Körper innewohnendes Prinzip, sondern ein alle lebendigen Körper umfassendes Prinzip. Als ein solches Prinzip bestimmt Aristoteles die Seele daher folgerichtig und explizit als das dem Körper gegenüber Frühere; will man diese dem Anschein nach vor allem zeitliche Rela­tion aufschlüsseln, so muss man dies vom Verhältnis Akt (ενέργεια) und Potenz (δύναμις) her versuchen, um damit das Problem der Teleologie und den Begriff der εντελέχεια (Entelechie) in den Blick zu bekommen, das sich im oben zitierten Begriff der „Erfüllung“ ankündigt.

2.3.4 Erste und Zweite Entelechie

Eine grundsätzliche, sowohl zeitliche als auch prioritäre Bestimmung des Ver­hältnisses von Akt (ενέργεια) und Potenz (δύναμις) im Zusammenhang der Frage nach dem Leben, gibt Aristoteles im zweiten Buch von De anima: „Denn früher als die Vermögen sind dem Begriffe nach die Betätigungen und Ausübungen.“190 In der Rückwendung auf den Begriff des Lebens bedeutet dies: Das Leben aktualisiert sich im Medium der lebendigen Einzeldinge im Sinne der ersten Substanzen (denen die Betätigungen entsprechen); es aktualisiert sich jedoch deshalb, weil allen Aktualisierungen von Lebendigkeit eine Aktualität im Sinne der ενέργεια als durchlaufendes Bestimmungsprinzip vorausgeht und sie umgreift. „Früher sein“ heißt hier auch: als ενέργεια auf der kosmologischen Ebene und als είδος auf der Ebene der Lebensformen ermöglichend sein, d. h. wirken. Das Frühere ist nicht ermöglichende Möglichkeit, sondern ermöglichende Wirklichkeit. Als solches ist das είδος Substanz der Substanz,191 denn weder kann das konkrete Ding als solches sich in seinem Sosein und (Zu-diesem-)Werden selbst ermöglichen, noch

190 Ebd. II 4: 415a.191 Es ist dann Substanz im Sinne der zweiten Substanz, d.h. der Artform. Auf ein sowohl umstrittenes als auch ungelöstes Problem der Bestimmung des Substanzbegriffs, das sich daraus ergibt, weist Rapp hin: „Wenn aber das eidos Substanz ist und ,nichts von dem allgemein Aus- gesagten“ Substanz sein soll, dann folgt, daß auch das eidos nicht allgemein sein kann.“ (Rapp 1996c: 157 f.) Rapp weist jedoch darauf hin, dass Z 13 insofern eine verwirrende Sonderstellung einnehme, als der „Zusammenhang, der allein die Allgemeinheit des eidos begründete, nämlich die Forderung nach Definierbarlceit und Erkennbarkeit der Substanz, [...] bei der Charakterisierung des Allgemeinen in Kapitel 13 überhaupt keine Rolle“ (Ebd.: 172f.) spiele, sondern lediglich das Allgemeine kritisiert werde, „insofern es die in T5 bis HO gegebenen Kennzeichnungen erfüllt, und nicht das Allgemeine als adäquater Gegenstand von Definitionen“ (Ebd.: 173).

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kann es die Gestalt (μορφή), sondern beide sind in ihrem Sein vom είδος bestimmt. Die Substanzrelativität, die Aristoteles in der Metaphysik als realen Seinsgrund der Qualifizierung von „etwas“ als „seiend“ anführt, ist auf das Leben, kosmisch als ενέργεια und auf der Ebene der lebendigen Körper als ψυχή und diese als είδος des Körpers aufgefasst, übertragbar. Die είδος-Bestimmtheit des lebendigen Körpers inauguriert ein gegensinniges Zeitverhältnis zwischen einer logischen Bestim­mung der Sache durch den Begriff und der substantialen Bestimmung der Sache durch das είδος, das Picht konzise darstellt:

Der logische Begriff soll mit dem bezeichneten Gegenstand übereinstimmen. Beim είδος ist es umgekehrt: hier soll der Gegenstand mit dem είδος übereinstimmen. Wenn eine Rose sich entfaltet und blüht, so gelangt sie zur Übereinstimmung mit dem είδος „Rose“, aber nicht zur Übereinstimmung mit dem logischen Begriff, für den wir das Wort „Rose“ als Zeichen ein- setzen.192

Die Mimesis des logischen Begriffs an das reale Bestimmtwerden des Gegenstands durch dessen είδος bildet nicht nur den Kern des sogenannten Realismus des Aristoteles, sondern führt ins Zentrum seiner Teleologie, welches die Lehre von der Entelechie bildet.

Die teleologische Verfasstheit des Lebens lässt sich von der folgenden Passage her ins Auge fassen, in welcher auch die Unterscheidung zwischen der ersten und zweiten Entelechie bereits enthalten ist:

Ursache und Grund haben verschiedene Bedeutungen, und so ist die Seele Ursache nach den drei unterschiedenen Arten. Denn Bewegungsanstoß ist sie ebenso wie Endzweck, und auch als Wesen der beseelten Körper ist die Seele Ursache. Daß sie es als Wesen ist, leuchtet ein; denn das Wesen ist für alles die Seinsursache, Sein aber ist für die lebenden Dinge das Leben, und Ursache und Grund dafür ist die Seele. Ferner ist sie Begriff oder Erfüllung des der Möglichkeit nach Bestehenden. Klar ist aber auch, daß die Seele Ursache ist als Endzweck.193

Bewegungsanstoß und Sein kann die Seele nur als das die ενέργεια auf der Ebene der Lebensform repräsentierende είδος sein. Die Seele ist, wie Picht die zentrale Stelle in De anima 412 a, II 1 übersetzt, „die erste Entelechie eines physischen Körpers, der der Möglichkeit nach Leben hat“194 und kann nur als solche Ursache der Selbstbewegung und zugleich die Aktualisierung der Lebendigkeit in der Selbstbewegung dieses Körpers sein. Der Rekurs auf Pichts Übersetzung ist hier angebracht, weil Willy Theiler in seiner hier meist verwendeten Übersetzung von

192 Picht 1992: 42.193 De anima II 4: 415b.194 Pichtl992: 310.

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De anima εντελέχεια durchgängig mit „Erfüllung“ übersetzt, obwohl die Über­setzung mit „erste Entelechie“ vom griechischen Originaltext195 her definitiv nä­herliegt; den Begriff der „ersten Entelechie“ (εντελέχεια ή πρώτη) übersetzt Theiler mit „vorläufige Erfüllung“, womit die Differenz zwischen der Zweckmä­ßigkeit der Bewegung, welche von der Seele als Ursache und Wesen bestimmt ist und dem zu erreichenden Endzweck allerdings besser getroffen wird als mit der Unterscheidung zwischen „erster“ und „zweiter“ Entelechie. Den zentralen Be­standteil des Aristoteles-Zitats bildet für Picht jedoch die von ihm öfter zitierte und teilweise kursiv gesetzte Wendung „der Möglichkeit nach Leben hat“196 (δυνάμει ζωήν έχοντος), woraus Picht folgert: „Der Begriff ,Leben* muß demnach die Wirklichkeit des Seele-Seins bezeichnen.“197 „Leben“ ist dann nicht einfach das Gegenteil des Todes, sondern das körperlich-leibliche Erscheinen von Seelischem in seiner entelechialen Verfasstheit.

Körper und Leib werden im Griechischen noch nicht begrifflich geschieden, der Sache nach war Aristoteles der Unterschied klar und ist von ihm in essentia mittels der Lehre von der Entelechie ausbuchstabiert worden. Dementsprechend übersetzt Picht den oben mit „physischer Körper“ zitierten aristotelischen Aus­druck σώματος φυσικού an anderer Stelle in modernerer Variante mit „physi­schem Leib“. Die begriffliche Nicht-Unterscheidung von „Leib“ und „Körper“ im griechischen σώμα wird im Begriff der ersten Entelechie systematisch nach- und eingeholt, der die Übersetzung von σώμα mit „Leib“ eher gerecht wird als die mit „Körper“. In der Selbstbewegung wird der Unterschied zwischen einem bloß von außen her durch physikalische Einflüsse bewegbaren Körper und dem Leib als dem lebendigen Körper gefasst. In der Selbstbewegung des Körpers, der als sol­cher Leib ist, manifestiert sich die erste Entelechie (έντελέχεια ή πρώτη oder έντελέχεια ατελής), die Picht mittels des Begriffs der „Latenz“ charakterisiert:

Die Selbstbewegung des Lebens ist bestimmt durch den Drang alles Lebendigen nach der Entwicklung der in ihm angelegten Gestalt. Weil es danach drängt, seine Gestalt auszubilden, ernährt es sich. Es hat den Drang, (das,) was in ihm latent ist, zu manifestieren, und eben dieser Drang ist das Prinzip seiner Selbstbewegung. Diese Selbstbewegung ist έντελέχεια ατελής.198

Den Schauplatz der ersten Entelechie bildet das Organische, das Leben des Or­ganismus als solchem und im Hinblick darauf, was seine Lebendigkeit ausmacht. Was Aristoteles in der ersten Entelechie, deren Gravitationszentrum die ψυχή

195 „διό ή ψυχή έστιν έντελέχεια ή πρώτη σώματος φυσικού δυνάμει ζωήν έχοντος.“196 Vgl. Picht 1992: 318.197 Ebd.198 Ebd.: 322.

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bildet, zum Gegenstand macht, ist das, was in Plessners Philosophischer An­thropologie der „Ontologie des Organischen“ entspricht, die ihre Entfaltung vor allem im dritten und vierten Kapitel der Stufen findet. Die erste Entelechie ist bei Aristoteles jedoch keine spezifisch anthropologische, da die Selbstausdifferen- zierung der ψυχή in den verschiedenen Seelenkräften durch die verschiedenen Lebensformen zur Ausbuchstabierung anthropologischer Spezifika noch nicht hinreicht. Nicht ohne Grund exemplifiziert Aristoteles die Differenz zwischen erster und zweiter Entelechie am Beispiel von Schlafen und Wachen: „Mit dem Dasein der Seele ist auch Schlaf und Wachen gegeben. Das Wachen entspricht dem Betrachten, der Schlaf dem Besitzen und Nichtbetätigen.“199 Auch im Schlaf durchwirkt die Seele den lebendigen Körper, wodurch der Körper lebendiger Körper im Unterschied zum bloßen Ding ist. Darüber hinaus suchen uns im Schlaf Vorstellungsbilder in Träumen heim, ohne dass diese durch Wahrnehmung, also durch eine Form der Betätigung, entstünden.200 Der Schlaf ist also nicht der Zu­stand gänzlicher Inaktivität der Seele oder des Rühens aller Potenzialität, da die Vorstellungsbilder gerade von einer Aktivität im Schlaf zeugen, doch im Schlaf ruht der Bezug des Menschen als Lebewesen zur Wahrheit, weil die Potenzialität nicht durch Betätigung mit der Realität vermittelt wird: „Vorstellungsbilder er­scheinen auch den Schlafenden. Aber die Vorstellung gehört auch nicht zu den immer die Wahrheit erfassenden Kräften, wie das Wissen oder das geistige Er­fassen.“201 Die erste Entelechie zielt, modern gesprochen, auf die vegetativen Grundfunktionen, die alles Lebendige kennzeichnen und die elementare Zweck­mäßigkeit der physischen Organisation, kurz: die Selbstorganisation des Orga­nismus, die darin zum Ausdruck kommt.

Die zweite Entelechie steht zur ersten Entelechie in einem geradezu „ente- lechialen“ Verhältnis, da sie die erste Entelechie auf höherer Stufe erfüllt. Auf­grund der zweiten Entelechie ist die Seele im umfassendsten Sinne Ursache als Endzweck, d. h. bereits als Ursache von einer teleologischen Intentionalität ge­sättigt, die sich in der Sinneswahrnehmung als dem allen Lebewesen Gemein­samen zeigt,202 sich jedoch erst in der Denktätigkeit des Menschen (νόησις) erfüllt.

199 De anima I I 1: 412a.200 Vgl. hierzu Aristoteles’ kleine Schrift Über Träume (De insomniis): „[U]nd wenn es allen Lebewesen unmöglich ist, bei geschlossenen Augen und im Schlaf etwas zu sehen, und ebenso auch bei den übrigen Sinnen, so ist es klar, daß wir im Schlaf gar nichts wahrnehmen. Es ist also nicht vermöge der Sinneswahrnehmung, daß wir den Traum wahmehmen.“ (Aristoteles 1994:458 b)201 De anima III 3: 428a.202 Der folgende Satz des Aristoteles auf der Selbstbewegung fähige Lebewesen gemünzt: „Das Lebewesen aber muß notwendig das Wahrnehmungsvermögen haben, wenn die Natur nichts vergebens schafft.“ (De anima III 12: 434a)

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2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet 99

Die Anfangsgründe einer in der Ontologie des Lebens gründenden Anthropologie, welche die Spezifik der menschlichen Lebensform entlang der Gestalten der εντελέχεια erklären will, lässt sich bei Aristoteles daher nur unter Explikation der inneren Differenziertheit der zweiten Entelechie ausmachen, die Picht zufolge die „vollendete Entelechie, also das είδος der Seele“203 sei. Die Unterscheidung zwischen erster und zweiter Entelechie ermöglicht es Picht zufolge, die „Differenz zwischen der Seele als Prinzip des Lebens und der Seele als Vermögen der Er­kenntnis zu überbrücken und so die Auflösung der Fundamentalfrage nach dem Verhältnis von Bewegung und Wahrheit vorzubereiten“.204 Dieses Verhältnis von Bewegung und Wahrheit wäre ein nicht eskamotierbarer Topos einer philoso­phischen Anthropologie aristotelischer Provenienz, die letztlich nur in einem kosmologischen Rahmen durchführbar wäre.

Dem Verhältnis zwischen Schlafen und Wachen korrespondiert das hier mitzubedenkende Verhältnis zwischen Bewegung und Betätigung. Als Prinzip des Lebens ist die Seele zunächst das Prinzip der Selbstbewegung natürlicher Körper. Aristoteles unterscheidet dabei grundlegend zwischen Bewegung und Betätigung: „Denn die Bewegung ist die Betätigung des Unvollendeten, die Betätigung schlechthin ist eine andere, die des Vollendeten.“205 Unter den Betätigungen unterscheidet er wiederum hierarchisch zwischen dem (sinnlichen) Wahrnehmen und dem (geistigen) Betrachten. Die sinnliche Wahrnehmung ist bereits eine Er­füllung höherer Stufe, in ihr erfüllt sich die Bewegung der Sinnesorgane, mittels derer wahrgenommen wird: „Die Wahrnehmung ist entweder Möglichkeit oder Verwirklichung, z. B. Sehkraft oder Sehen; doch gibt es Erscheinung (Vorstellung) auch ohne diese beiden, wie im Schlaf.“206 Von den Vorstellungsbildern unter­scheidet die Wahrnehmung sich dadurch, dass sie die sinnliche Wahrnehmung eines real Existierenden und nicht bloß Imaginären ist. Das Sehen ist Erfüllung, weil es die Verwirklichung der Möglichkeit darstellt, von der Sehkraft und dem Auge als dem physischen Organ des Sehens Gebrauch zu machen. Im Sehen realisiert das Lebendige eine spezifische physische Potenzialität, es hat also nicht nur der Möglichkeit nach Leben, sondern es realisiert die Möglichkeit, die es dank der ψυχή hat, „der Wirklichkeit (Betätigung) nach“,207 oder, wie Picht sagt: „In der Sprache der aristotelischen Ontologie entspricht das Schlafen dem Zustand der δύναμις, das Wachen dem Zustand der ενέργεια.“208 Die Wahrnehmung ist als

203 Picht 1992: 392.204 Ebd.: 306.205 De anima III 7: 431a.206 Ebd.207 Ebd. II 5: 417a.208 Picht 1992: 306.

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100 2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

Betätigung die Erfüllung eines spezifischen Potentials lebendiger Wesen und mehr als nur Manifestation von Lebendigkeit als solcher.209

Die geistige Betrachtung unterscheidet sich wiederum von Wahrnehmung und Vorstellung fundamental; weil ihr Organ der nicht physisch restringierte Geist ist, ist sie nicht nur Erfüllung, sondern im anthropologischen und theologischen Sinne Vollendung. Wie schon an anderer Stelle gezeigt, tritt der Geist aus der Sphäre des Physischen und damit vor allem aus der Determinationsreichweite des Physischen heraus; er tritt damit jedoch nicht in den Gegensatz zur Bewegung, sondern in die Unabhängigkeit von der Sphäre der Bewegung:

Aber auch nicht der überlegende Teil und der sogenannte Geist ist die Veranlassung für die Bewegung, denn der betrachtende Geist betrachtet nichts, was sich auf das Handeln bezieht, und sagt nichts aus über zu Meidendes und zu Erstrebendes, während Bewegung immer dem angehört, der etwas meidet oder erstrebt.210

Der betrachtende Geist erkennt nicht nur Einzelnes wie die Wahrnehmung es tut, die aufgrund ihrer Gebundenheit an die Sinne zugleich ein Erleiden bildet, son­dern Allgemeines; durch ihn verfügt der Mensch im eigentlichen Sinne über Wissen, da sich „die Wahrnehmung in ihrer Betrachtung auf das Einzelne, das Wissen aber auf das Allgemeine richtet. Dieses aber befindet sich in gewisser Weise in der Seele selbst.“211 Weil das Wissen, durch welches der Geist zur Be­trachtung gelangt, sich in der Seele selbst befindet, ist geistige Betrachtung so­wohl Betrachtung des Allgemeinen durch den Geist als auch Betrachtung des Geistes durch diesen selbst. In der geistigen Betrachtung, der νόησις, wird der menschliche Geist (νους), aufgefasst als der Seelenteil, „mit dem die Seele erkennt und denkt“,212 seiner selbst wie auch der Seele im Sinne der ψυχή inné. Was dadurch also seiner selbst inne wird, ist nicht nur der menschliche Geist, sondern, da die ψυχή als Wesenheit (ουσία) des Lebens bestimmt wird, im Medium des

209 Diese Unterscheidung, wie sie hier getroffen worden ist, entspricht in den Grundzügen der Explikation der Unterscheidung, wie Hubertus Busche sie vornimmt, demzufolge die Differenz zwischen erster und zweiter Entelechie die zwischen einem einer Disposition und der Ausübung der dispositiven Fähigkeiten im Tun ist. Der erste Zustand (die erste Entelechie) „stellt eine έξις (hexis) dar, d.h. ein Erworbenhaben und jederzeit abrufbares Ausübenlcönnen von Fähigkeiten. [...] Der zweite Zustand dagegen besteht im wirklichen Ausüben der Fähigkeiten, ist folglich ganz allgemein der wache oder aufgeweckte Zustand auf allen drei Systemebenen.“ (Busche 2001:128)210 De anima III 9: 432b.211 De anima I I5 :417b. - Die Behauptung, das Wissen sei in der Seele selbst enthalten, geht auf des Aristoteles intime Vertrautheit mit der Anamnesis-Lehre Platons zuruclc, worauf Picht aus­führlich hinweist, vgl. Picht 1992: 314.212 De anima III 4: 429a.

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2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet 101

gottähnlichen menschlichen Geistes das Leben in seiner höchsten entelechialen Gestalt. Das bereits angesprochene Verhältnis von menschlichem und göttlichem νους ist hier entscheidend: Die höchste Erkenntnis des menschlichen νους ist die Erkenntnis des göttlichen νους als des Prinzips des Kosmos, welches die ενέργεια ist. Die von Picht angesprochene und oben zitierte Differenz zwischen Bewegung und Wahrheit wird hier überbrückt, weil die Selbsterkenntnis der Seele zugleich die Erkenntnis der Natur (φύσις) und des Grundes der Lebewesen darstellt, von dem Aristoteles in den ersten Zeilen von De anima spricht: „Aber auch zum Blick in das gesamte Sein scheint ihre Kenntnis Wichtiges beizutragen, am meisten zum Blick in die Natur. Denn die Seele ist gewissermaßen der Grund der Lebewesen.“213 Die Übersetzung Theilers krankt an dieser Stelle daran, dass die im Griechischen enthaltene Wendung προς αλήθειαν άπασαν nicht wörtlich übersetzt wird und die explizite Bezugnahme auf den Wahrheitsbegriff (αλήθεια) dadurch verschwiegen wird. Picht übersetzt die Stelle philologisch sorgfältig folgendermaßen: „Ihre [der Seele - S. E.] Erkenntnis scheint nämlich sowohl im Hinblick auf die Wahrheit insgesamt wie vor allem im Hinblick auf die Natur Großes beizutragen; sie ist nämlich in einer noch näher zu bestimmenden Bedeutung der Ursprung der Le­bewesen.“214 Die von Theiler mit „Grund der Lebewesen“ und von Picht treffender mit „Ursprung der Lebewesen“ übersetzte Wendung lautet im Griechischen αρχή τών ζώων und stellt einen Zusammenhang zwischen Ursprung bzw. Grund (αρχή) und deren Erkenntnis her, die wiederum mit der Erkenntnis der Wahrheit (αλή­θεια) in einen direkten Zusammenhang gebracht wird.

Die „Prinzipien und Ursachen“ des Seienden, welche die Metaphysik gemäß der aristotelischen Definition sucht, sind die αρχαι (Prinzipien) und αιτία (Ursa­chen). In der Ordnung der Begriffe wäre die Seele als αρχή - wie in der Ordnung der Werke De anima - demzufolge das geheime Zentrum der aristotelischen Me­taphysik. Diese Deutung wird auch durch den folgenden Satz aus der Metaphysik bestätigt, der aufgrund seiner zentralen Bedeutung im aristotelischen Denken noch einmal zitiert zu werden verdient: „Wir streben aber eher nach etwas, weil wir es (für schön) halten, als daß wir es dafür hielten, weil wir es erstreben; denn Prinzip (Ausgangspunkt, αρχή, arche) ist die Denktätigkeit (νόησις, noesis).“215 Der bereits angesprochenen doppelten Bedeutung von νόησις und νους als gött- lichemund menschlichem Denken gemäß ist der νους sowohl das kosmische Prinzip der Bewegung als auch das Prinzip der Lebendigkeit. Bewegung, deren Wesenheit die ψυχή bildet, und Wahrheit, die durch den νους erkannt wird, ge­

213 Ebd. I 1: 402a.214 Picht 1992:136.215 Met. A 6 (4. Buch): 1072a.

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102 2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

langen im Denken (νόησις), das zugleich ενέργεια und vollendete Entelechie ist, zur Einheit. Die aristotelische Anthropologie, sofern man von einer solchen sprechen will, terminiert daher in der Theologie bzw. Kosmologie.216

2.3.5 Die Rolle von δύναμις und ενέργεια in der Ontologie des Lebens

Bisher ausgeklammert wurde die Frage nach dem, was Plessner die „Zeithaftigkeit des lebendigen Seins“ nennt und wonach zu fragen naheliegt, wenn man sich die Struktur der Entelechie vergegenwärtigt. Wenn Aristoteles die Seele als Ursache und als Endzweck bestimmt, scheint er sie widersprüchlich, weil von zwei ent­gegengesetzten Zeitpolen her zu bestimmen, nämlich als Früheres, welches das Spätere bestimmt (Ursache) und als Späteres, welches das ihm vorhergehende als das in der Realisierung seines Zweckes sich Befindende, d. h. als das Noch-Nicht seiner selbst, bestimmt (Endzweck). Bei der Bestimmung der Seele als Endzweck handelt es sich jedoch nur dem Anschein nach um eine widersprüchliche oder aporetische Bestimmung vom entgegengesetzten Zeitpunkt innerhalb eines Pro­zessverlaufs her; die Aporie ergibt sich vielmehr erst dann, wenn man die eido- logische Struktur der Entelechie, die in der Doppelbestimmung der Seele als Ur­sache und Endzweck ihre Pointe findet, mittels chronologischer Bestimmungen einzuholen versucht. Weil die Entelechie eidologisch bestimmt ist, ist (raum-) zeitlich und phänomenal sich Zeigendes nicht das die Organisation von Lebe­wesen ontologisch Bestimmende, sondern durch das είδος Bestimmtes.

Die είδος-Bestimmtheit, die in der Denkfigur der Entelechie artikuliert wird, meint keine ausschließliche Bestimmtheit des aus υλη (Materie) und είδος (Form) zusammengesetzten Lebewesens durch dieselbe. In einer solchen Fassung des Entelechie-Begriffs müssten z.B. Krankheiten einen Teil eines das Lebewesen absolut durchwaltenden είδος darstellen. Diese Beeinflussbarkeit des Organismus durch die Umwelt versucht Aristoteles durch die Unterscheidung zwischen der Seele und dem Träger der Seele einzuholen; nicht die Seele erleidet, z. B. im Falle des Alters oder bei Krankheiten, einen Schaden, sondern der Träger der Seele, d. h.

216 Was hier in anthropologischer Orientierung Umrissen werden sollte, koinzidiert mit Pichts äußerst konziser, prospektiv gehaltener Interpretationssynopsis: „Aristoteles fragt nach dem, was dem Ursprung der Lebewesen als Ursprung zugrunde zu liegen scheint: der Einheit von Bewegung und Wahrheit. Wir werden beim Ausblick auf die Theologie des Aristoteles sehen, daß alle hier eingeführten Begriffe dort in der Gotteslehre wiederkehren: Gott ist als νοϋς, als die vollkommene Präsenz der reinen Wahrheit, zugleich der unbewegte Beweger, und indem er beides in Einem ist, ist er Leben, genauer gesagt: das Leben des Lebens.“ (Picht 1992: 218)

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2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet 103

der Körper in seiner stofflichen Affizierbarkeit durch materielle Einflüsse.217 Worauf die eidologische Bestimmung des Lebewesens mittels des Entelechie- Begriffs zielt, ist die Zweckmäßigkeit der physischen Organisation desselben, weshalb Aristoteles als Exempla Fälle wie Ernährung, Wachstum oder Wahr­nehmung heranzieht, in denen die - teleologisch verstandene und insofern nicht nur anscheinende - Zweckmäßigkeit der Natur sich im Organismus realisiert.

Der Idee einer teleologischen Zweckmäßigkeit der physischen Organisation entspricht die aristotelische Bestimmung der Seele als Ursache und Endzweck. In dieser Bestimmung fungiert das είδος als das nicht-temporale Frühere (Ursache) insofern, als es das Bestimmungsprinzip des in der existierenden Gestalt reali­sierten Endzwecks bildet; zugleich bildet das είδος der Seele, wie gezeigt, ein das Werden des lebendigen Körpers durchlaufend bestimmendes Prinzip. Aus der doppelten Bestimmung der Seele als Ursache und Endzweck ergibt sich eine Struktur, die in der Formel „Etwas wird zu dem, was es seiner Anlage nach ist“ sich fassen lässt; diese Struktur wird von Aristoteles in dem Begriff der Entelechie zusammengefasst, einer künstlichen Schöpfung, deren philologisch präzise Analyse Picht gibt:

Das είδος ist nach Aristoteles nicht etwas Übersinnliches außerhalb des Wirklichen, sondern es ist im Wirklichen selbst als das Ziel, dem dieses zustrebt, enthalten. ,Ziel‘ heißt auf griechisch τέλος,,enthalten“ heißt εχειν. Deshalb hat Aristoteles die Weise, wie das Wirkliche die Idee in sich enthält, als έν-τελ-έχεια bezeichnet.218

Die Verwirklichung, deren Gestalt im Seienden vor ihrem empirischen Verwirk­lichtsein bereits präformiert ist, ist deshalb nicht plötzliche oder zufällige Ent­stehung, sondern Erfüllung des είδος und als solche εντελέχεια.219 Möglichkeit ist etwas nicht schlicht als bloße Möglichkeit (modern gesprochen: als schlechthin Kontingentes), sondern als Möglichkeit der (bestimmend-bestimmten) Wirklichkeit bzw. mögliche Wirklichkeit - und zwar aufgrund der Wirklichkeit des Lebens als ενέργεια.

Der Vorrang der ένέργεια vor der δύναμις spielt im aristotelischen Denken auf drei Ebenen eine Rolle, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden soll:1) auf der Ebene der Kosmologie bzw. Theologie,2) auf der Ebene der Ontologie des Lebens, deren Zentralbegriff die έντελέχεια

bildet,

217 „So tritt das Alter ein, nicht weil die Seele einen Schaden erlitten hat, sondern ihr Träger wie bei Trunkenheit und Krankheit.“ (De anima I 4: 408b)218 Picht 1992: 40.219 Vgl. Picht 1992: 392 f.

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104 2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

3) auf der Ebene der Lebenspraxis bzw. im Handeln.

2.3.5.1 Zur KosmologieDie εντελέχεια bildet den Schlüssel zum kosmologisch verstandenen Vorrang der ενέργεια vor der δύναμις, weil an der έντελέχεια der Übergang von der Sphäre des Lebens zu der des Kosmos sich aufzeigen lässt. Dies zeigt sich an einer für die Bestimmung des Entelechie-Begriffs zentralen Stelle, an der Aristoteles von Er­nährung, Wahrnehmung und Denken als Vermögen der Seele handelt:

Wer über diese Vermögen eine Betrachtung anstellen will, muß erfassen, was jedes von ihnen ist, und dann dem Anschließenden und allem Weiteren nachgehen. Wenn man nun sagen soll, was jedes von ihnen ist, z. B. was das Denkvermögen oder das Wahrnehmungsvermögen oder das Emährungsvermögen, ist vorher noch zu sagen, was das Denken oder Wahrnehmen ist. Denn früher als die Vermögen sind dem Begriffe nach die Betätigungen und Ausübungen. Steht es so und muß man noch früher als sie die Objekte betrachten, dann muß man aus demselben Grunde zuerst über diese handeln, so über Nahrung, Wahrnehmbares und Denkbares. Also muß man zuerst über Nahrung und Zeugung sprechen.220

Aristoteles entfaltet hier dem Anschein nach ein Stufenmodell, in dem die Identität von Seins- und Begriffshierarchie zur Deckung gelangt: Von der Nahrung über die Wahrnehmung zum Denken entfaltet sich das Sein in solcher Auffassung im aufsteigenden Gang der Betätigungen. In einer solchen durchaus konventionell erscheinenden Betrachtung bildet die Ernährung die genetische Voraussetzung der Wahrnehmung; der Vorrang der ενέργεια vor der δύναμις wäre dann in einem konventionellen Sinne pragmatisch interpretierbar, zugleich aber würde in einer solchen pragmatischen Betrachtung strukturell das Henne-oder-Ei-Problem ent­stehen, weil Betätigungen als möglichkeitsermöglichend gedacht werden müss­ten, ohne selbst durch eine δύναμις ermöglicht zu sein. Dieses Problem findet auf zwei Ebenen seine Auflösung: auf der kosmologisch-theologischen durch die Auffassung der ενέργεια als unbewegten Beweger, auf der Ebene der Lebewesen durch die είδος-Bestimmtheit der Entelechie.

Die kosmologisch-theologische Variante der aristotelischen Teleologie gründet in der Hingeordnetheit alles Seins auf das Göttliche: „Denn die natür­lichste Leistung ist bei den lebenden Wesen, die ausgewachsen und nicht ver­stümmelt sind oder durch Urzeugung entstehen, die, daß sie ein anderes gleich­artiges erzeugen, das Tier ein Tier, die Pflanze eine Pflanze, damit sie nach Vermögen am Ewigen und Göttlichen Anteil haben. Denn nach diesem strebt alles, und auf diesen Endzweck hin wirkt gemäß der Natur alles, was wirkt; der End­

220 De anima II 4: 415a.

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2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet 105

zweck ist in doppeltem Sinne zu verstehen: als Endzweck von etwas und für et­was.“221 Das Göttliche, worauf die entelechial verfassten Lebewesen (den „End­zweck von etwas“ realisierend) teleologisch hingeordnet sind, ist das sie letzt­endlich Ermöglichende und Bestimmende; um des Göttlichen willen sind die Organismen „Endzweck für etwas“. Die Entelechie ist daher nicht nur immanente Erfüllung eines Lebewesens, sondern Erfüllung der ενέργεια im kosmologisch- theologischen Sinne; das Lebewesen ist in dieser Sichtweise der Möglichkeit (δύναμις) nach Bestehendes und Wirkliches aufgrund der Wirklichkeit des Gött­lichen, der ενέργεια, ist.

2.3.5.2 Zur Ontologie des LebensDie δύναμις ist zwar ontologisch der ενέργεια untergeordnet, sie ist prinzipiell nur δύναμις aufgrund der ενέργεια und durch die ενέργεια; ontologisch gesehen sind die Organismen jedoch als aus μορφή (Materie) und είδος (Form) zusammenge­setzte Wesenheiten ihrer Wirklichkeit (ενέργεια) nach im Ganzen entelechial verfasst222 und als solche Endzweck in sich (bzw. „Endzweck von etwas“, falls man als dieses „etwas“ sie selbst auffasst, d. h. ihre physische Organisation findet ihren Zweck in ihrem Lebensvollzug), welcher Ausdruck dem ontologisch gefassten Begriff der Entelechie am ehesten nahekommt. Die Pointe des Vorrangs des είδος, in dem die entelechiale Gestalt der Lebewesen gründet, besteht darin, dass Pro­zesse wie Ernährung und Wahrnehmung, die der gewöhnlichen (heutigen) Er­fahrung nach Bedingendes, teleologisch gesehen dem Sein nach Bedingtes sind. Dass sie in der Weise vollzogen werden, in der sie vollzogen werden müssen, um die Lebensfähigkeit der Lebewesen zu gewährleisten, gründet nicht in den Zu­fälligkeiten der ύλη (Materie), aber auch nicht nur in der Determination des είδος im engeren Sinne, da das είδος die Lebewesen als vorrangiges konstitutives Ele­ment bestimmt, nicht aber wie die ψυχή die Lebendigkeit als solche ausmacht. Die permanente Realisierung des von den die ύλη betreffenden Wechselfällen der Umstände her maximal Unwahrscheinlichen, d. h. die Konstanz in der Gestalt und Funktionsweise von Organismen sowie ihre metabolische Regulation und dia-

221 Ebd.: 414a - b.222 „ή δ’ ουσία έντελέχεια· τοιούτου αρα σώματος έντελέχεια.“ - De anima I I 1:412a. In Theilers Übersetzung: „Die Wesenheit ist Erfüllung, Erfüllung also eines solchen Körpers.“ Der Vordersatz „ή δ’ ουσία έντελέχεια“ lässt sich auch ohne weiteres übersetzen mit ,Die Substanz aber ist En- telechie“; was in dieser Übersetzung deutlicher hervortritt, ist die eidologische Bestimmung der Entelechie als das eigentlich Reale durch die Bestimmung derselben als Substanz.

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chrone Identifizierbarkeit, basieren darauf, dass nicht nur das είδος,223 sondern auch die ψυχή,224 also das ontologische Prinzip von Leben überhaupt, von Ari­stoteles explizit als εντελέχεια bestimmt werden.

Mit dem Begriff der εντελέχεια versucht Aristoteles die teleologische Ver- fasstheit sowohl des Lebens (έντελέχεια als ψυχή) als auch des Lebewesens (έντελέχεια als είδος) begrifflich zu erfassen. Die doppelte Bestimmung der έντελέχεια als ψυχή und als είδος eröffnet einen größeren teleologischen Zu­sammenhang, da die έντελέχεια als ψυχή auf die Lebendigkeit im Ganzen und damit auf die Natur zielt und somit ein teleologischer Zusammenhang zwischen der Natur im Ganzen225 und der entelechialen Verfasstheit des Organismus als Bestandteil derselben hergestellt wird, kurzum: Umwelt und Organismus bilden aufgrund des entelechialen Charakters der ψυχή und des είδος nicht bloß eine beliebige, sondern vielmehr diejenige Einheit, die im Begriff der Natur sich fassen lässt. Einheit meint hier, in Begriffen der Gegenwart formuliert, ein Passungs­verhältnis zwischen dem Organismus und der Umwelt, in die er eingelassen ist; ein solches Passungsverhältnis setzt voraus, dass die Funktion der Organe und die physische Organisation des Organismus zur Umwelt in einer Relation stehen, die im Allgemeinen, d.h. solange der Organismus nicht auf der hyletischen Ebene geschädigt wird,226 die Lebbarkeit des Lebens ermöglicht. Diese Einheit wird, auf

223 „έστι δ’ ή μέν ύλη δύναμις, τό [ίο] δ’ είδος έντελέχεια, καί τούτο δίχως, τό μέν ώς έπιστήμη, τό δ’ ώς τό θεωρέίν.“ In Theilers Übersetzung: „Die Materie ist Möglichkeit, die Form Erfüllung, und zwar in doppeltem Sinne, einmal wie das Wissen, das andere Mal wie das Betrachten.“ (ebd. I I 1: 412a)224 „διό ή ψυχή έστιν έντελέχεια ή πρώτη σώματος ψυσικοϋ δυνάμει ζωήν έ’χοντος.“ In Theilers Übersetzung: „Deshalb ist die Seele die vorläufige Erfüllung des natürlichen Körpers, welcher der Möglichkeit nach Leben besitzt.“ (ebd.: 412a)225 Gemeint ist hier die Natur im eingeschränkten modernen Sinne, d. h. Natur unter Absehung von der Sphäre der Freiheit und von einer möglichen theologischen Dimension, die Picht zufolge dem Begriff der φύσις inhärieren: „Es ist irreführend, wenn wir dieses griechische Wort durch das Wort „Natur“ übersetzen; denn „Natur“ bedeutet für das neuzeitliche Denken die Gesamtheit der Objekte der Erkenntnis. Die Erkenntnis selbst und was zu ihr gehört, hegt nicht in der Sphäre der Natur sondern in der ihr entgegengesetzten Sphäre der Freiheit. Der griechische Begriff der φύσις hingegen umspannt die Sphäre der Natur und die Sphäre der Freiheit. Die Menschen, ja sogar die Götter haben ihren Sitz innerhalb der φύσις. Platon, dem man ohne jede Berechtigung einen Dualismus unterstellt, den er nie gelehrt hat, sagt ausdrücklich von den Ideen, daß sie ihren Stand in der φύσις haben. Die φύσις selbst hat nach Aristoteles ihren Ursprung in der ενέργεια Gottes. Dieser Ursprung hegt nicht jenseits der φύσις; er ist vielmehr ihre άρχή ένυπάρχουσα - der in ihr als ihr Grund enthaltene und sie in alle Ewigkeit durchwaltende Ursprung.“ (Picht 1992: 75)226 Zwar gelten die Affekte als Wallungen der Seele, doch als solche, die mit ihr nur vermittels ihres Anderen, also des Körpers, zukommen können: „ Auch die Affektionen und Affekte der Seele scheinen alle mit dem Körper verbunden zu sein : Zorn, Milde, Furcht, Mitleid, Wagemut, dazu Freude und Lieben wie Hassen.“ (De anima 1 1: 403a). Aristoteles gelangt zur Ansicht, „daß die

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2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet 107

der angesprochenen Grundlage der Identität von Begriff und Artung der Sache, als reale und als begriffliche durch die εντελέχεια ermöglicht, da diese umgekehrt realiter die Konstanz und Identität der Lebewesen ermöglicht. Probleme und Fragestellungen, um die mittlerweile Evolutionstheorien kreisen, vor allem aber auch die Frage danach, was die Lebendigkeit des Lebendigen ausmache, auf welche die Philosophische Anthropologie Plessners im 20. Jahrhundert eine Antwort zu geben versucht, finden bei Aristoteles ihre systematische Antwort im Begriff der εντελέχεια.

In der Metaphysik bestimmt Aristoteles das είδος bzw. die Form als von der Materie „der Gattung nach verschieden“.227 Wäre die έντελέχεια hyletischer Natur oder Produkt hyletischer Genesis, also auf der Ebene der Veränderung und Be­wegung der Materie, erklärbar, so fiele sie, gemäß der aristotelischen Zuordnung der Wissenschaften zur Gattung ihrer Gegenstände, in den Bereich der Natur­philosophie. Sowohl έντελέχεια als auch είδος aber bezeichnen die hyletisch nicht determinierte Zielbestimmtheit der natürlichen Entwicklung von Lebewesen, wobei είδος das bezeichnet, wodurch und von woher die Entwicklung dem Zu­stand in teleologischer Bestimmtheit zustrebt, den Aristoteles als έντελέχεια be­zeichnet. Es wäre daher falsch, die έντελέχεια mit dem είδος umstandslos gleichzusetzen, weil die έντελέχεια kein Bestandteil des aus είδος und υλη zu­sammengesetzten Lebewesens ist, das als Werdendes notwendig auch Entste­hendes ist: „Das Entstehende muß nämlich immer zerlegbar sein, und ein Teil davon muß dies, der andere dies sein, ich meine ein Teil muß Materie, der andere Form sein.“228 Warum also hat Aristoteles diese Identifikation von είδος und έντελέχεια expressis verbis vorgenommen?229 Die Paradoxie der Identifikation230

Affekte materiegebundene Begriffe sind“ (ebd.) und definiert dementsprechend den Begriff des Zorns: „Zorn ist eine Art Bewegung des so und so beschaffenen Körpers oder Körperteiles oder Vermögens unter der und der Einwirkung zu dem und dem Zweck.“ (ebd.) Allerdings gesteht Aristoteles jedoch dem an der Untersuchung des Körpers orientierten Naturforscher und dem dem heutigen Psychologen am ehesten vergleichbaren Dialektiker zu, dass deren unterschiedliche Sichtweise auf die Affekte der unauflöslich ambivalenten Konstitution der menschlichen Natur geschuldet seien: „Von diesen [den Affekten — S. E.[ gibt der eine die Materie wieder, der andere die Form und den Begriff.“ (ebd.: 403b) Der Dualismus, der in der heutigen Frontstellung zwischen pharmakologischen und psychotherapeutischen Grundhaltungen zur Behandlung seelischer bzw. psychologischer Probleme zum Ausdruck kommt, wird hier bereits abgesegnet.227 Met. Δ 28 (5. Buch): 1024b.228 Met. Z 8 (7. Buch): 1033b.229 Vgl. Fußnote 222.230 Diese Paradoxie entfaltet Adorno, Heideggers Seinsbegriff explizit kritisierend, in seiner Vorlesung Ontologie und Dialektik: „Was das „Ist“ sagt, muß immer schon zugleich in dem Subjektsbegriff - ich meine natürlich das grammatische Subjekt hier und nicht das Subjekt im erkenntnistheoretischen Sinn - enthalten sein, damit das Prädikat von ihm ausgesagt werden

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besteht darin, dass sie nur Distinktes identifizieren kann und im Akt der Identi­fikation eine in der Benennung der miteinander identifizierten Elemente impli­zierte Unterscheidung, die in der Differenz der Begriffe bzw. Namen zum Ausdruck kommt, mitlaufen lassen muss, diese Unterscheidung aber zugleich aufhebt. Der hermeneutische Weg aus der Paradoxie heraus führt hier über das von Aristoteles nicht verwendete „insofern“: είδος und εντελέχεια sind identisch insofern, als beide Instantiierungen der kosmischen ενέργεια sind und die έντελέχεια im είδος enthalten ist, sowohl als dessen Endzustand im faktischen Wirklichkeitsgesche­hen als auch in der generalisierten Form, der die Lehre entspricht, wonach ein jegliches είδος auf den Endzustand bzw. die Vollendung hinstrebe, welche die έντελέχεια darstelle. Die Verbindung zwischen έντελέχεια und ενέργεια wird von Aristoteles in der Metaphysik klar artikuliert: „Die Bezeichnung energeia (Wirk­lichkeit, Verwirklichung, Aktualität), die wir mit entelecheia (Vollendung) zu­sammenbringen, wurde vor allem von den Bewegungen auch auf anderes über­tragen.“231 In dieser Engführung von ενέργεια und έντελέχεια zeigt sich, warum der griechische Begriff der φύσις, wie oben angedeutet, sich nicht ohne weiteres mit „Natur“ übersetzen lässt. Die kosmologische Relation zwischen δύναμις und ενέργεια ragt in die έντελέχεια hinein; die έντελέχεια ist eine Gestalt der ενέργεια und als solche realisierte Potenzialität bzw. verwirklichte Möglichkeit, zugleich aber, da die έντελέχεια ein Zustand eines Lebewesens ist (die Perfektibilität gründet hier im είδος), selbst wiederum im Verhältnis zu einer höheren, auf sie zurückgehenden Vollendung (έντελέχεια) die konkrete Gestalt eines bestimmten Bewegungszustands (eine Gestalt der κίνησις) und insofern eine Potenz (δύναμις). In ihrer generalisierten Form, d. h. als Lehre verstanden, zielt die έντελέχεια auf eine zweckmäßige Präformiertheit des natürlichen Lebens (die Perfektibilität gründet hier in der ψυχή), welche die Lebbarkeit des Lebens im Sinne der funk­tionalen organismischen Konstanz ermöglicht. Die generalisierte Realisierung eines kosmischen τέλος, welche das Werk der ενέργεια ist, korrespondiert mit der konkreten Realisierung und ermöglicht diese.

Die verwirklichte Möglichkeit bezeichnet Aristoteles auch als „Werk“ (εργον, ergon). Der Werkbegriff kommt zwar vorrangig in Beispielen aus dem Bereich der menschlichen Praxis zur Anwendung, wird von Aristoteles in der Metaphysik je­

kann.“ (Adorno 2008:300) Auch für das Identitätsurteil gilt, was für sämtliche Urteile gilt, nämlich „daß jegliche Analyse von Urteilen auf zwei Momente führt, deren keines auf das andere zu re­duzieren ist“ (ebd.). Um diese Irreduzibilität innerhalb der Identifikation geht es in der formal identifilcatorischen Verhältnisbestimmung des Identischen, das hier dem Leibniz’schen Gesetz der Nichtunterscheidbarkeit des Identischen nicht standzuhalten vermag.231 Met. Θ (9. Buch) 3 :1047a.

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2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet 109

doch explizit auf das „Leben in der Seele“232 bezogen und mit der bereits als Gestalt der εντελέχεια angesprochenen wissenschaftlichen bzw. theoretischen „Betrachtung“ parallelisiert. Über beide sagt Aristoteles: ,,[W]o es aber kein an­deres Werk neben der Wirklichkeit (wirklichen Betätigung) gibt, da ist die Wirk­lichkeit im Wirkenden (Tätigen) selbst gegeben“.233 Der „Wirklichkeit im Wir­kenden“ entspricht die εντελέχεια, die als solche eine konkrete Gestalt der ενέργεια ist, weshalb Picht ενέργεια mit „Im-Werk-Sein“ übersetzt;234 überdies übersetzt Picht die folgende, von ihm zitierte Passage aus De anima: ,,ή δε ενέργεια το έργον“ mit ,,[D]as Im-Werk-Sein ist das Werk“, und den Zusatz: „καί, συντείνει προς την εντελέχειαν“ mit „und spannt sich in Richtung auf die Entelechie“.235 Die gewöhnungsbedürftige und womöglich irritierende Bestimmung der ενέργεια als έργον macht eine Verbindung sichtbar zwischen der Ontologie des Lebens und der praktischen Philosophie, die in der Auffassung der Verwirklichung des Möglichen als Vollendung (εντελέχεια) Gestalt annimmt. Auf der organismischen Ebene ist, auf das Beispiel des Verhältnisses von Sehen und Auge angewandt, das Im-Werk- Sein des Organs Auge das Sehen. Picht sagt daher: „Das Sehen ist das Werk des Auges.“236 Im Sehen findet das Organ Auge seine Vollendung (εντελέχεια), zu­gleich ist das Sehen als Im-Werk-Sein Wirklichkeit (ενέργεια) gegenüber der bloßen Möglichkeit (δύναμις) des Sehens, die dem Auge beispielsweise im Schlaf zukommt. Die εντελέχεια ist Vollendung innerhalb eines Prozesses bzw. einer Bewegung, die in ihr zu einer sie nicht abschließenden Erfüllung kommt, d. h. sie tritt nicht aus dem Prozess heraus, sondern bleibt Teil desselben. Die als „Im-Werk- Sein“ verstandene εντελέχεια ist eine Vollendung, die nicht derjenigen entspricht, welche man mit dem Begriff des „Werkes“ zu assoziieren geneigt ist, weil ihr sowohl der Charakter des Heraustretens aus der Bewegung und der Abgeschlos­senheit des Werkes abgehen, welche dem Bauwerk, auf das Aristoteles in seinen Beispielen häufig rekurriert, zukommen. Darin unterscheidet sich die teleologi­sche Vollendung auf der Ebene des Lebens und der Lebewesen von der prakti­schen Vollendung im geschaffenen Werk (z. B. in der Baukunst), welches Voll­endung im Sinne des έργον ist. Beide jedoch, έργον und εντελέχεια, sind in je spezifischen Bereichen (Natur und Praxis) auftretende Gestalten der (Selbst-) Vollendung der ενέργεια. Im Unterschied zum έργον realisiert sich in der εντε­

232 Ebd.: 8 :1050b.233 Ebd.: 1050a.234 Vgl. Picht 1992:39. Dementsprechend nennt Picht das Denken „das ,Im-Werlc-Sein‘ des νους“ (ebd.: 73), bezeichnet „Wissen und Erkennen als Vollzug, a ls ,Im-Werk-Sein1 der Seele“ (ebd.: 138).235 Ebd.: 40. - Zum Zusammenhang zwischen ενέργεια und εντελέχεια vgl. außerdem ebd.: 305.236 Ebd.

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110 2 Grundbegriffe der Aristotelischen Ontologie

λέχεια ein τέλος, das nicht von menschlicher Vernunft rational gesetzt worden ist; daher bildet der Begriff der εντελέχεια den Zentralbegriff der Naturteleologie.

Das Eingelassensein der έντελέχεια in einen Fortgang von teleologisch prä- formierten Verwirklichungen, die den ontologischen Vorrang gegenüber dem je­weiligen Vermögen, auf dem sie fußen, hat Nicolai Hartmann zum Anlass ge­nommen, die aristotelische Teleologie und die Lehre von der έντελέχεια im Besonderen einer kategorialanalytischen Kritik zu unterziehen. Hartmann zufolge „findet man in den Aristotelischen Bestimmungen ein Bild der Welt, in dem für das eigentliche Werden kein Platz ist“,237 was verwunderlich sei, „da sich ja ande­rerseits nicht verkennen läßt, daß es dem Aristoteles gerade um die Bestimmung des Werdens geht“.238 Die aristotelische Bestimmung des Werdens wird Hartmann zufolge durch die Priorität der ενέργεια vor der δύναμις ausgehöhlt: „Und die Dynamis ist überall, wo sie auftritt, nur ein Übergang, eingelagert zwischen En- ergeia und Energeia. Bringt man auch diesen Satz auf seinen rein modalen Sinn, so besagt er, daß alle Möglichkeit nur Möglichkeit ,auf Grund* eines Wirklichen ist. Von einem bloß Möglichen geht keine Möglichkeit aus.“239 Potenzialität ist demzufolge keine reale, eine eigene Hervorbringungskraft enthaltende Poten­zialität sondern bloß eine Aktualität, die weiterer, teleologisch determinierter Verwirklichungen harrt: „Dem Eidos nach früher - Aristoteles sagt ,dem λόγος nach* (d. h. der Wesensbestimmung nach) früher - ist die Energeia darum, weil die Potenz nicht Potenz schlechthin ist, sondern bestimmte Potenz ,von etwas*, um dessen Wirklichwerden es sich handelt.“240 Die είδος-Bestimmtheit stellt sich für Hartmann als ausschließliche dar; die Eliminierung von Kontingenz gründet also nicht darin, dass der Potenz nicht die Möglichkeit zu Beliebigem inhäriert, son­dern darin, dass die Potenz einzig vom είδος ihre den chronologischen Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft übergreifende Bestimmung erhält: „Daß die Möglichkeit von etwas Bestimmten auch in sehr anderen Bedingungen liegen kann, die keine Identität der inneren Form (des Eidos) mit dem Resultat zeigen, ist nach dieser Auffassung ausgeschlossen.“241 An anderer Stelle spricht Hartmann daher konsequenterweise nicht von der Potenz als einer Potenz zu etwas, sondern bezeichnet sie als „Bestimmung zu etwas“:

237 Hartmann 1966a: 6.238 Ebd.239 Ebd.: 77. - Dem entspricht die aristotelische Bestimmung der δύναμις in Met. Δ 12 (5. Buch): 1019a. Dessen als vermögend, „was eine Einwirkung erfährt, daß es diese zu erfahren „vermö­gend“ (fähig) ist kraft des Vermögens, kraft dessen es die Einwirkung erfährt“.240 Hartmann 1966a: 77.241 Ebd.

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2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet 111

Potenz, als Anlage verstanden, ist nicht Möglichkeit, sondern die,Bestimmung zu Etwas“ und die immanente Tendenz, dieses Etwas zu werden. Energeia aber ist nicht Wirklichkeit, sondern die Vollendung dieses Etwas; und zwar in der doppelten Bedeutung des zunächst vorgezeichneten, dann aber des verwirklichten Zweckes.242

Die aristotelische Welt stellt sich in Hartmanns Augen also dar als eine determi­nierte Welt, in der jegliches Werden die von bloß scheinhaften Potenzen grun­dierte Realisierung bereits vorbestimmter Endzustände ist.243 Der Nexus zwischen Potenz und Akt ist gemäß Hartmanns Definition der Finalität ein Finalnexus:

Das wird verständlich, wenn man bedenkt, daß Finalität in erster Näherung sich als Um­kehrung der Kausalität darstellt, nämlich als die zeitliche Umkehr der Dependenzrichtung im Prozeß: Abhängigkeit des Früheren vom Späteren. Das bedeutet nicht nur die Umkehrung des Kausalnexus, sondern auch der Zeitfolge. Und da die Zeitfolge in Wirklichkeit durch keine Macht der Welt umgekehrt werden kann, so muß man vielmehr sagen: der Finalnexus ist eine Determination, welche der Richtung des Zeitflusses und der Prozeßabläufe entgegen läuft.244

Mit Blick auf Plessner, der in den Stufen den Begriff der „Zukunftsfundiertheit“245 einführt, wäre hier von einer „Zukunftsbestimmtheit“ zu sprechen, die in der Doppelbestimmung der Seele als Ursache und Endzweck gründet. In dieser Doppelbestimmung kommt dem Endzweck der Vorrang zu: die Seele ist Ursache, weil und insofern sie zugleich Endzweck ist. Dem Begriff des Endzwecks ent­spricht die von Hartmann angesprochene „Umkehrung des Kausalnexus“, auf­grund welcher die reale Zeitfolge nur vom Finalnexus der Determination her richtig gedeutet werden kann. Was Hartmann die „Abhängigkeit des Früheren vom Späteren“ nennt, ist genau genommen die Zukunfts- bzw. Zielbestimmtheit des Früheren (δύναμις) durch die von ihm im zeitlichen Verlauf zu realisierende Ge­stalt, wobei dieser zeitliche Verlauf im Ganzen wesentlich ενέργεια ist wie auch die manifesten Gestaltformen die Realisierung des jeweiligen τέλος sind. Weil der zeitliche Verlauf im wesentlichen ένέργεια, also eine Verkettung von Aktualitäten ist, verbindet sich die teleologische Zukunftsbestimmtheit mit einer Vergangen­heitsbestimmtheit im Sinne der kategorischen Vorgängigkeit der ένέργεια vor jeglicher δύναμις; in diesem Modell der Verursachung wird das Deduktionsprinzip des unbewegten Bewegers ohne Bezugnahme auf denselben abstrakt generali­siert: „Aber der Zeit nach früher als diese Dinge sind andere, der Wirklichkeit nach

242 Ebd.: 4.243 Picht stimmt zurecht darin mit Hartmann überein, wenn er sagt: „Die Priorität der Entelechie vor dem Entstehen wird der Priorität der Zeit nach entgegengesetzt.“ (Picht 1992: 315)244 Hartmann 1966b: 3245 Vgl. SOM: 177 und 212.

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Existierende, aus welchen diese entstanden sind; denn stets entsteht das der Wirklichkeit nach Seiende aus dem der Möglichkeit nach Seienden durch ein der Wirklichkeit nach Seiendes, z. B. ein Mensch aus einem Menschen“.246

Betrachtet man die Differenz zwischen δύναμις und ενέργεια ausschließlich im zeitlichen Sinne, demzufolge δύναμις nur noch nicht verwirklichte ενέργεια wäre, dann wäre die Differenz zugleich keine ontologische mehr, weil sie die „teleologische Struktur der Determination in den Realprozessen“247 nicht auf­bricht: Potenz ist das, was noch nicht zum Akt übergegangen ist. Die ontologische Marginalisierung der Potenz trägt jedoch selbst wiederum eine ontologische Si­gnatur, da die kausale Priorität der ένέργεια die ontologische Grundlage der te­leologischen Struktur der naiven Erfahrung bildet, die das zeitliche Nacheinander der in der Realität erfahrenen Prozesse für eine Widerspiegelung ontologischer Determination hält. Die grundlegende Unterscheidung, die Hartmann zwischen Form und Materie als statischen Prinzipien und Akt und Potenz als dynamischen Modalkategorien trifft, auf deren Explikation „fast die ganze Schwere des Seins­problems“248 liege, wird mit Tilgung des dynamischen Charakters der Relation von δύναμις und ένέργεια allerdings entkernt. Die als „Vollendung“ verstandene έντελέχεια wird hier eher zur „Vollstreckung des eigenen Seins“, dem sein zu realisierender Imperativ unvertilgbar innerviert. In der έντελέχεια vollzieht sich dann eine Verwirklichung einer Potenz, die ontologisch mit einer Entwirklichung der Wirklichkeit durch die ontologische Exklusion alles nicht eidologisch Be­stimmten koinzidiert:

Und ebenso ist dann auch die Energeia nicht der reine Seinsmodus eines beliebigen Wirk­lichen, einerlei wie es zustande kommt, sondern durchaus nur die Verwirklichung eines ,Eidos‘, d. h. einer Formsubstanz, die als Zweck vorgegeben ist. Dieses Vorgegebensein reimt sich genau mit der Priorität der Energeia, sofern diese in der Dynamis vorbesteht. Das ist von ausschlaggebender Bedeutung: gemäß diesem Energeia-Begriff ist zum Beispiel ein Bruch­stück, das als solches ja nicht Verwirklichung eines Eidos ist, nichts,Wirkliches1; und ebenso wenig wirklich ist eine gleichgültige, d. h. ,zufällige“ oder ,automatische“ Bewegung, eine Zerstörung oder ein Zerfall. All sowas ist eben kein Gelingen und Zustandekommen, keine Vollendung (Entelecheia) von etwas, was entstehen sollte und worauf es abgesehen war.249

In der Perspektive dieser Kritik des Akt-Potenz-Verhältnisses als eines Verhält­nisses, in dem der ενέργεια nicht nur der Vorrang vor der δύναμις zukommt, sondern diese die Marionette jener darstellt, erscheint die έντελέχεια nicht mehr

246 Met. Θ 8 (9. Buch), 1049b.247 Hartmann 1966b: 4248 Ebd.: 3.249 Hartmann 1966b: 49.

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2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet 113

als Vollendung, sondern als eine Verschiebung auf einer Zeitachse, welche ver­schiedene Zeitpunkte einer ontologisch differenzlosen Wirklichkeit aufzeichnet - kurzum: die εντελέχεια verliert ihren spezifischen Sinn, weil die Relation von δύναμις und ενέργεια so abstrakt bestimmt wird, dass sie auf jede Kausalrelation, ungeachtet des jeweiligen Gegenstandes (z.B. Belebtes im Unterschied zu Un­belebtem), anwendbar wird. Auf die Ontologie des Lebens bezogen ergäbe eine solche Kritik, dass die Lebendigkeit des Lebendigen in der Akt-Potenz-Lehre als dem intentional dynamischen Gerüst der aristotelischen Ontologie aufgrund der Marginalisierung der Potenz zum bloßen Noch-Nicht der Wirklichkeit gemacht und damit gleichsam um seine Lebendigkeit gebracht wird.

Hartmann hält Aristoteles nicht vor, die Ambivalenz im Begriff der δύναμις nicht erkannt zu haben, sondern die ihm bewusste „Dialektik des inneren Wi­derstreits“250 des Begriffs der κίνησις nicht ausgetragen zu haben, die sich im Realsein der Übergangsstadien zeigt; die κίνησις garantiere nämlich das Wirk­lichsein der Übergangsstadien,251 die ansonsten nicht einmal Übergangsstadien wären,252 sondern bloß die negative - im Sinne des Substanzbegriffs: nicht sei­ende - Rückseite der Wirklichkeit, die als ontisch und ontologisch differenzloses Positivum aufträte. Diese Marginalisierung dessen, was nicht Verwirklichung ei­nes Zwecks (Vollendung) ist, resultiert Hartmann zufolge aus einer Übertragung der Verursachung, die im Bereich der menschlichen Praxis und Tätigkeit auftritt, auf den Bereich der Natur, d.h. auf einer Anthropomorphisierung der Naturte­leologie: „Die Ursächlichkeit aber, soweit man sie anerkennt und der Erörterung wert erachtet, hat vollkommen das Gesicht eines zielbewußt lenkenden Prinzips angenommen, so wie wir es vom Tun des Menschen her kennen.“253 In der Analyse des menschlichen Tuns, als deren Kernstück Hartmann das siebte Kapitel des Buches Z ausmacht, habe Aristoteles „das erste klar durchgeführte Stück einer durchaus objektiven Kategorialanalyse des Finalnexus geliefert [...] und damit zugleich den Weg zur Überwindung seiner eigenen Metaphysik gewiesen“.254 Der menschlichen Praxis entstammt die dritte und letzte der hier zu skizzierenden

250 Ebd.: 50.251 Das Wirklichsein der Übergangsstadien findet ebenfalls seine Legitimation im aristoteli­schen Text, nämlich in der Bestimmung der δύναμις als „Prinzip der Bewegung oder Veränderung“ in Met. Δ 12 (5. Buch): 1019a.252 „Nun aber haben die Übergangsstadien doch auch ein Wirklichsein, wennschon sie nicht Verwirklichung des Endzieles sind. Hier bricht also deutlich schon bei Aristoteles selbst ein an­derer Wirklichkeitsbegriff durch, und dieser ist neutral und ateleologisch. Aber nicht das ist die Folgerung, die Aristoteles zieht. Er schließt umgekehrt: die Kinesis ist unvollendete Wirklichkeit (ένέργεια ατελής), die noch nicht zum Ende gekommene Verwirklichung.“ (Hartmann 1966b: 50)253 Ebd.254 Ebd.: 66.

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Varianten des Verhältnisses von δύναμις und ενέργεια, um die es im Folgenden in einer äußerst knappen Betrachtung geht, deren Knappheit darin gründet, dass zwar das Verhältnis von δύναμις und ενέργεια geschärft wird, die Ontologie des Lebens jedoch dadurch keine entscheidende Vertiefung erfährt.

2 .3 .5 3 δύναμις und ενέργεια in der menschlichen PraxisDer zentrale Begriff der menschlichen Praxis ist der bereits angesprochene Begriff des Werks; die in der Praxis erreichbare Vollendung (έντελέχεια) nimmt die Gestalt eines Werks an: „Denn Ziel ist das Werk, die Wirklichkeit aber ist das Werk, daher ist auch der Name ,Wirklichkeit* (energeia) nach dem ,Werk* (ergon) gebildet und zielt auf die Vollendung (entelecheia j .“255 Das paradigmatische Werk, das in der menschlichen Praxis vollbracht, ist der aristotelischen Wahl der Beispiele nach das Bauwerk und dessen Korrelat auf der Ebene der es hervorbringenden Hand­lung der Baumeister.

Über den Baumeister sagt Aristoteles, „daß einer auch kein Baumeister sein kann, solange er nicht baut“.256 Damit ist nicht gemeint, dass der Baumeister nur in dem Augenblick, in welchem er sich als Baumeister betätigt, über die Fähigkeit zu bauen verfüge; vielmehr artikuliert dieser Satz auf missverständliche Weise den Vorrang der Betätigungen vor den Vermögen: der Baumeister kann nur durch die Tätigkeit des Bauens (d.h. zugleich: die Übung) das ihn als Baumeister kenn­zeichnende Vermögen ausbilden bzw. erwerben, weshalb es nach Aristoteles unmöglich ist, „solche Künste zu besitzen, ohne sie einmal gelernt und erworben zu haben“.257 Die Ausbildung eines komplexen Vermögens auf dem Wege der Habitualisierung erworbener Fähigkeiten ermöglicht es dem Baumeister, sowohl im Zustand der Aktivität, d. h. der Ausübung des Vermögens, Baumeister zu sein als auch im Zustand der Passivität bzw. der Ruhe, d. h. in den Phasen der Nicht- Ausübung dieses Vermögens; aufgrund dieser doppelten Potenz sagt Aristoteles, „daß es also möglich ist, daß etwas vermögend ist zu sein, aber nicht ist, und vermögend nicht zu sein, aber ist“.258 Wäre der Baumeister nur Baumeister in dem Augenblick, in welchem er sich als Baumeister betätigt, würde es keinen Sinn machen zu sagen, dass er die Fähigkeit des Bauens erworben habe und situativ aktualisiere, da das jeweilige Vermögen im Akt jeweils neu entstehen müsste; wer nicht Baumeister ist, während er nicht baut, müsste auf mysteriöse Weise plötzlich wieder Baumeister zu sein vermögen, und dies auch nur, während er sich als ein

255 Met. Θ (9. Buch) 8 :1050a.256 Met. Θ (9. Buch) 3 :1046b.257 Ebd.: 1046b - 1047a.258 Ebd.: 1047a.

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2.3 Die Aristotelischen Grundbegriffe der ontologischen Modalität nachbetrachtet 115

solcher betätigt.259 Aufgrund des doppelten, aktiv-passiven Charakters des Ver­mögens ist dieses auch im Status der Nichtaktualisiertheit real und, gerade weil es real ist, auch substantieller Natur. Aufgrund dieser Substantialität der Vermögen ist es möglich, „daß etwas vermögend ist zu sein, aber nicht ist, und vermögend nicht zu sein, aber ist, und ebenso in den anderen Kategorien, daß etwas, das vermögend ist zu gehen, nicht geht, und etwas, das vermögend ist nicht zu gehen, geht“.260

Der dispositioneile Charakter der durch Akte der Habitualisierung ausgebil­deten Vermögen ist nicht teleologisch neutral; ihm wohnt die Aktgerichtetheit der Vermögen konstitutiv inne. Die Privilegierung der Wirklichkeit gegenüber der Möglichkeit findet ihren Ausdruck in der Identifikation von Wirklichkeit und Existenz und der damit einhergehenden Virtualisierung der Existenz dessen, was der Möglichkeit nach ist; was der Möglichkeit nach ist, ist immerhin der Mög­lichkeit nach und wird implizit unterschieden von dem, was schlicht nicht ist: „Denn von dem, was nicht ist, ist manches der Möglichkeit nach; es existiert nicht, weil es nicht der Wirklichkeit nach ist.“261 Dass etwas nicht existiere heißt nicht nur, dass es bloß Mögliches im Unterschied zu Wirklichem sei, sondern dass es als bloß Mögliches nicht vollendet, nicht εντελέχεια, sondern nur εντελέχεια in p o ­tentiel ist. Daher taucht in diesem Zusammenhang der an anderer Stelle zitierte Satz auf: „Die Bezeichnung energeia (Wirklichkeit, Verwirklichung, Aktualität), die wir mit entelecheia (Vollendung) zusammenbringen, wurde vor allem von den Bewegungen auch auf anderes übertragen.“262

Möglichkeit bzw. Vermögen sind jedoch, obwohl sie nicht der Wirklichkeit nach sind, Ermöglichungsbedingung von Wirklichkeit und als solche real; sie sind es, weil sie reale Möglichkeit nur aufgrund der alle Verhältnisse durchwaltenden ενέργεια sind. Trotz der Priorität der ενέργεια vor der δύναμις sind Vermögen in dieser Auffassung nicht einfach epiphänomenale Zustände einer endlosen Kette von Aktualisierungen, welche zusammengenommen das bilden, was wir Praxis nennen. Die Aktintentionalität der selbst wiederum durch Betätigung erworbenen Vermögen zeugt zwar von der Priorität der ενέργεια gegenüber der δύναμις, doch die Vermögen sind als die Vermögen, etwas zu tun, und als conditio sine qua non des Tuns nicht kontingente Potenz im Unterschied zu determiniertem Realem, sondern die bestimmt vorausliegende Möglichkeit263 einer bestimmten Verwirk­lichung derselben, die anders nicht Verwirklichung genannt werden könnte. Die

259 Vgl. ebd.: 1047a.260 Ebd.261 Ebd.: 1047b.262 Ebd.: 1047a.263 Daher spricht Nicolai Hartmann von einer „Anlage“, vgl. Hartmann 1966a: 4.

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den Vorrang der ενέργεια nicht aufhebende Irreduzibilität der Vermögen hat auch Dirk Setton in seinem Buch Unvermögen. Die Potentialität der praktischen Vernunft herausgestellt:

Um diese explanatorische Rolle spielen zu können, muss einerseits die Irreduzibilität der dynamis (dem Vermögen, seine Versprechen zu halten) gegenüber der energeia (dem Akt des Haltens eines Versprechens) vorausgesetzt werden - denn sonst besäße der Begriff des Vermögens schlicht keine erklärende Kraft: Er wäre auf den der energeia reduzierbar.264

Setton unternimmt in seinem Buch den Versuch, der in einer systematischen Weiterführung der Hartmann’sehen Kritik in direkter Auseinandersetzung mit Aristoteles zu leisten wäre und hier gleichwohl nur angedeutet werden konnte, nämlich eine Kritik des aristotelischen Aktualismus in praktischer Absicht, die darauf abzielt, die Irreduzibilität der δύναμις nicht nur anzuerkennen, sondern als der ενέργεια gleichwertig aufzufassen und demgemäß zu rehabilitieren.265 Als praktisches Komplement der gleichermaßen teleologisch wie aktualistisch ver­standenen έντελέχεια fungiert bei Setton die allerdings normativ von außen an das Handeln herangetragene „Gelingensfixiertheit“, welche die Potenzialitât des Unvermögens verdeckt und die er zurecht einer hier nicht in ihren umfangreichen Einzelheiten zu verfolgenden Kritik unterzieht.266

264 Setton 2012:16.265 Vgl. ebd.: 15: „Obgleich also Aristoteles für die ontologische Unreduzierbarkeit der dynamis argumentiert, stellt sie für ihn keine gleichwertige Seinswfeise dar: Sie bleibt sekundär - und Aristoteles’ Ontologie somit eine solche, der man die Position eines verfeinerten Aktualismus zuschreiben könnte.“266 Vgl. dazu: „Andererseits soll die Bindestrichkonstruktion [in der Rede vom „Un-Vermögen“, S. E.[ deutlich machen, dass das hier gemeinte Unvermögen von der Vorstellung eines abgeleiteten und theoretisch irrelevanten Unvermögens, das gelingensfixierte Ansätze in Anschlag bringen, strikt zu unterscheiden ist. Die Rede von einem ,Un-Vermögen‘ soll dabei vor allem verständlich machen, dass dasjenige Strukturmerkmal einer praktischen Fähigkeit, wodurch unser Handeln konstitutiv den Möglichkeiten des irrationalen Scheiterns, der Krise oder gar der Selbstblockade ausgesetzt ist, zugleich die eigentümliche Produktivität und Offenheit eines rationalen Vermögens konstituiert - und darin über das engere Phänomen der Irrationalität hinausweist.“ (ebd.: 11)

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3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie in eine philosophisch-theologische Anthropologie

3.1 Prolegomena

Edith Stein verarbeitet in ihrem philosophischen Denken eine Vielzahl von Ein­flüssen, die Systematik, Methode und terminologische Orientierung maßgeblich bestimmen und daher eine synoptische Betrachtung verdienen. Als von funda­mentaler Reichweite wird sich dabei der Einfluss von Thomas von Aquin und Edmund Husserl erweisen. Die Heterogenität der philosophischen Bemühungen beider Denker, die dem Anschein nach überhaupt nicht sinnvoll zusammen­stimmen können, zeigt, wie Stein versucht, das theologische Erbe, für welches Thomas von Aquin steht, mit den philosophischen Errungenschaften ihres aka­demischen Lehrers Husserl zu versöhnen; die Versöhnung von scholastisch ge­prägter Theologie und Phänomenologie markiert den Versuch, die Theologie in­nerhalb der Moderne und damit zugleich in die Moderne hinein zu retten. Dieser Versuch wird durchgeführt als Ontologie, in Steins Vokabular als „Seinslehre“, und der perennierende Versuch Steins, eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein zu finden, geht auf den Einfluss Martin Heideggers zurück. Die Orien­tierung am Seinsbegriff verbindet sich bei Stein jedoch nicht mit dem Begriff des Daseins oder dem des Menschen, sondern mit dem Begriff der Person, mit dem Stein - ebenso wie Plessner - an Max Schelers Werk anschließt. Diese Anknüp­fung ist von zentraler Bedeutung, da Stein sowohl eine theologische als auch eine philosophische Anthropologie entwickelt, innerhalb welcher der Personbegriff jeweils eine tragende Rolle spielt. Von den hier angedeuteten Einflüssen her und unter systematischer Beachtung derselben soll im Folgenden die Transformation der klassischen Ontologie in eine moderne Ontologie nachverfolgt werden, die letztlich die Gestalt einer philosophisch-theologischen Anthropologie annimmt, aber lediglich in philosophischer Perspektive thematisiert wird.

3.2 Das philosophisch(-theologische) Erbe Steins I: Thomas von Aquin

Unter den Denkern, die ihr philosophisches Denken maßgeblich beeinflusst ha­ben, hebt Stein Edmund Husserl und Thomas von Aquin hervor:

DOI 10.1515/9783110459159-004

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118 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

Die Verfasserin, deren philosophisches Denken von Edmund Husserl gebildet wurde, ist in den letzten Jahren in der Gedankenwelt des Aquinaten heimisch geworden. Es ist nun für sie eine innere Notwendigkeit, die verschiedenen Modi des Philosophierens, die durch diese beiden Namen bezeichnet sind, in sich zum Austrag kommen zu lassen.1

Verdankt Stein Husserl nützliches philosophisches Rüstzeug, so ist doch Thomas derjenige, der die Heimat gewährt, welche die Phänomenologie nicht zu bieten vermag, definiert diese sich in der Husserl’sehen Gestalt doch gerade durch das Nomadentum des Suchers, welches von Husserl theoretisch durch Selbstrevisio­nen und Neuanfänge hindurch gelebt worden ist. Konsequenterweise ist es auch Thomas, an den Stein gleich im ersten Teil ihres Hauptwerkes Endliches und ewiges Sein, betitelt „Die Frage nach dem Sein“, anschließt: „Als Zugangsweg soll eine erste vorläufige Darstellung der Akt- und Potenz-Lehre des hl. Thomas von Aquino dienen.“2 Über die Akt-Potenz-Lehre kommuniziert Stein jedoch auch durchweg indirekt mit Aristoteles, an den Thomas nicht nur mit seiner Akt-Potenz-Lehre direkt anknüpfe,3 sondern auf dessen Spuren er auch noch in seiner Reflexion der Frage nach dem Sein wandele: „Der hl. Thomas hat die Frage nach dem Sein aufgegriffen, wie er sie bei Aristoteles fand. Seine Auffassung der Philosophie als einer Wissenschaft, die rein auf Grund der natürlichen Vernunft vorgeht, gestat­tete ihm diese Anknüpfung.“4 Diese Auffassung der Philosophie als Wissenschaft teilt Stein nicht nur, sondern sie ermöglicht ihr gar, in verschiedenen Werken eine philosophische (Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung über philosophi­sche Anthropologie) und eine theologische Anthropologie (Was ist der Mensch? Theologische Anthropologie) zu entwickeln. Doch wie genau schließt Stein an Thomas von Aquin an?

Das Proprium des thomasischen Denkens macht Stein offenbar weder in der Grundfrage noch in den Grundbegriffen des Aquinaten aus, sondern in der theologischen Ausgestaltung der aristotelischen Unterscheidung von δύναμις (Potenz) und ενέργεια (Akt). Elementar sei im thomasischen Denken der „Dop­pelsinn von Potenz und Akt“,5 ein Doppelsinn, der sich aus der fundamentalen Heterogenität zweier Sphären, der göttlichen und der menschlichen, ergibt und die radikale Trennung beider zum Ausdruck bringt, ohne sie hermeneutisch ge­geneinander gänzlich abzuschließen. Das Unaufschließbare wenigstens annä­

1 PuA: 4.2 EES: 9.3 „Mit seiner Lehre von Akt und Potenz steht der hl. Thomas durchaus auf dem Boden der ari­stotelischen Philosophie.“ (ebd.: 10)4 Ebd., 11., vgl. auch ebd.: 12.5 PuA: 7.

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3.2 Das philosophisch(-theologische) Erbe Steins I: Thomas von Aquin 119

herungsweise aufzuschließen, sei die Aufgabe der einer realen Scheidelinie theoretisch Ausdruck verleihenden Lehre der analogia entis, deren Name der Kompromiss zwischen der Unergründlichkeit Gottes und dem innigen Bemü­hen um eine Erschließung der göttlichen Sphäre gemäß den unzulänglichen menschlichen Fassungskräften in der terminologischen Kodifizierung angenom­men hat:

[N]ichts kann im gleichen Sinn von Gott und Geschöpfen gesagt werden. Wenn trotzdem die gleichen Ausdrücke für beide gebraucht werden dürfen, so liegt es daran, daß diese Termini zwar nicht eins innig (univok), aber auch nicht schlechthin zweideutig (äquivok) sind, sondern in einem Übereinstimmungsverhältnis stehend (analog). Und so könnte man der Scheidelinie selbst den Namen „Analogia entis“ geben, die Bezeichnung für das Verhältnis von Gott und Geschöpf.6

Die Differenz zwischen der göttlichen und der geschöpflichen Sphäre wird von Thomas bündig durch die Unterscheidung zwischen einem einfachen Wesen, das seiner Wesenheit nach reiner Akt ist, und den übrigen Wesen getroffen, die ihrer Wesenheit nach aus Form und Materie zusammengesetzt sind und denen daher sowohl Akt als auch Potenz zukomme. Die Differenz ist jedoch keine des Ne­beneinander, sondern der Abhängigkeit dessen, dem Akt und Potenz zukommt, von dem Wesen, das reiner Akt (actus purus, Gott) und Bestimmungsgrund dessen ist, was zu ihm als von ihm zu Bestimmendes sich potentiell verhält.7 Der Dop­pelsinn von Akt und Potenz tritt bei Thomas zutage in der Unterscheidung der göttlichen Sphäre, in welcher die Differenz von Akt und Potenz in der Ununter- schiedenheit Gottes als actus purus aufgehoben wird, und einer kreatürlichen Sphäre, durch deren Geschöpfe die Differenz als ein in verschiedenen Graden8 ausgeprägter Riss hindurchgeht und deren Bestimmung daher eine nach dem jeweiligen Verhältnis von Akt und Potenz sich stratifizierende ist.

Die Akt-Potenz-Verhältnisse begründen also eine Rangordnung der Lebewe­sen in ihrer sie verbindenden teleologischen Hinordnung auf Gott, der ihr Sein bestimmt. Der Mensch nimmt in dieser Rangordnung keineswegs die höchste Stelle als das Gott aufgrund seines Denkvermögens am ehesten ähnelnde Wesen

6 EES: 10.7 „Alles nun, was etwas von einem anderen (= Prinzip) empfängt, verhält sich zu diesem po­tentiell. Und das von diesem her Empfangene ist sein Akt. Also muß die Washeit oder Form selbst, die das Vernunftwesen ausmacht, ich potentiell zum Sein verhalten, das sie von Gott empfängt.“ (Thomas von Aquin 1988: 45)8 „Sie unterscheiden sich also im Verhältnis zueinander je nach der Stufe der Potenz und des Aktes, in der Weise, daß das (je) höhere Vernunftwesen, das näher zum ersten Prinzip steht, mehr vom Akt und weniger von der Potenz hat, und entsprechend bei den anderen.“ (ebd.: 47)

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120 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

ein, sondern er ist den Engeln als reinen, körperlosen Vernunftwesen9 hierar­chisch untergeordnet. Nicht nach oben hin, also zu Gott, sondern nach unten hin, zu den nicht vernunftbegabten Wesen, schließt der Mensch die Rangordnung ab: „Diese Rangordnung schließt mit der menschlichen Seele ab, die im Bereich der vernunftbegabten Substanzen auf der untersten Stufe steht.“10 Der Rang des Menschen resultiert aus seiner ihn von den Engeln und Gott unterscheidenden Zusammengesetztheit aus Materie und Form.

In der theologisch-anthropologischen Ausgestaltung der Akt-Potenz-Lehre, welche in einer Ontologie des Lebens als einer skalierten Kosmologie des Lebens terminiert, besteht die genuine Errungenschaft Thomas’, die Stein in ihrem Werk vertieft. Die von Aristoteles übernommene Unterscheidung von Form und Mate­rie11 bildet hingegen die Grundlage der thomasischen Substanzenlehre, mittels welcher die ontologisch-kosmologischen Akt-Potenz-Verhältnisse am Beispiel der verschiedenen Lebensformen, die keine reinen Vernunftwesen sind, inhaltlich stufenförmig spezifiziert werden.12 Die thomasische Substanzenlehre hier im Einzelnen weiterzuverfolgen, ist weder möglich noch nötig. Sowohl der grund­begriffliche Leitfaden als auch der metaphysisch-theologische Grundriss, den Edith Stein von Thomas von Aquin übernimmt, ist skizziert worden. Im Anschluss an die Beleuchtung weiterer Quellen der Philosophie Steins wird in einer syste­matischen Rekonstruktion der Philosophie Steins die vertiefende Ausgestaltung dieses Grundrisses wiederauf genommen werden.

9 Die Engel unterscheiden sich von Gott als von ihm geschaffene Wesen durch ihre Geschöpf- lichkeit (vgl. Thomas von Aquin 2013: 217); vom Menschen unterscheiden sie sich als reine In­telligenzen durch ihre Unkörperlichkeit, aufgrund welcher ihre - und nicht bei Aristoteles die menschliche - Erkenntnis nicht durch die Sinne vermittelte reine Vernunfterkenntnis sei und daher dem göttlichen Erkennen ähnlicher als die menschliche Erkenntnis: „Ein Engel erkennt aber die körperhaften Dinge nicht mit einer Erkenntnis, die aus den Dingen gewonnen wird; er ist ja nicht mit Vermögenskräften zur sinnlichen Wahrnehmung ausgestattet, durch deren Vermittlung eine Erkenntnis von sinnlich Wahrnehmbarem in den Intellekt gelangt. Also erkennt ein Engel mit einer Erkenntnis, mit der etwas Dingliches zustande kommt, und diese ähnelt dem göttlichen Erkennen.“ (Thomas von Aquin 2009:124)10 Thomas von Aquin 1988: 47.11 Thomas vereindeutigt diese Unterscheidung gegenüber Aristoteles, indem er sie am Beispiel des Menschen als Differenz zwischen Seele (Form) und Körper bzw. Leib (Materie) spezifiziert. Vgl. ebd.: 9.12 „So findet sich bei den Vemunftwesen Potenz und Akt, nicht jedoch Form und Materie, außer in äquivokem Sinne.“ (ebd.: 45)

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3.3 Das philosophische Erbe Steins II: Die Phänomenologie Edmund Husserls 121

3.3 Das philosophische Erbe Steins II: Die Phänomenologie Edmund Husserls

Die Phänomenologie bildet den methodischen Weg zum theologisch-scholasti­schen Ziel: „Sie [die Verfasserin - S. E.] muß versuchen, von diesem Ausgangs­punkt den Weg in den großen Dom der Scholastik zu finden.“13 Dieser befrem­dende Anspruch an die Phänomenologie verbindet sich zuweilen mit einem merkwürdigen und unspezifischen Verständnis derselben, das in der von Stein artikulierten Überzeugung Ausdruck findet, dass die „phänomenologische, d. h. die Methode, wie sie E. Husserl ausgebildet und im II. Band seiner Logischen Untersuchungen zuerst angewendet hat, [...] nach meiner Überzeugung von den großen Philosophen aller Zeiten bereits angewendet wurde“.14 Worauf Stein damit zielt, ist die sachliche Gesättigtheit aller großen Philosophie, d. h. die Realisierung von Husserls Devise „Zu den Sachen selbst“, welche auch Stein sich auf die Fahne schreibt.

In nichts zeigt der Einfluss des späten, die transzendentale Wendung mit den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie bereits vollzogen habenden Husserl15 sich deutlicher als darin, dass Stein stets unser Erleben, nach Husserl das Erleben des „reinen Ich“,16 als methodischen Aus­gangspunkt ihrer Untersuchungen wählt. So heißt es in Der Aufbau der mensch­lichen Person: „Das Ausgangsmaterial für unsere Untersuchung des Menschen ist also das, was wir in lebendiger Erfahrung vor Augen haben.“17 18 In Endliches und ewiges Sein bestimmt Stein als Ausgangspunkt der Untersuchung des Verhält­nisses von Akt und Potenz die „Tatsache des eigenen Seins“1S das im Medium des eigenen Bewusstseins unmittelbar erfahrbar sei und daher den festen Boden bilde, von dem eine jede Untersuchung auszugehen habe: „Was als Feld der Untersuchung übrig bleibt, ist das Feld des Bewußtseins im Sinne des Ichlebens“.19 Bewusstsein im Sinne des Ichlebens, mit dem Stein an Husserls Begriff des „reinen Ich“ anschließt, wird vom cartesischen Bewusstsein dadurch unterschieden, dass

13 Ebd.14 AmP: 28.15 Die Ideen-Schrift Husserls erschien 1913, Stein war von 1916-1918, also während der Aus­arbeitung der Ideen IIIund der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Assistentin Husserls.16 „Im Gegensatz zu diesem verborgen hinter dem unmittelbar bewußten Erleben stehenden Ich nennt er das im Erleben unmittelbar bewußte das ,reine Ich“. Nur von diesem soll vorläufig die Rede sein, solange die Betrachtung sich im Bereich des unmittelbar Bewußten, des uns Nächsten und von uns Unabtrennbaren, hält.“ (EES: 51)17 Ebd., 29.18 EES: 40.19 Ebd.: 41.

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das Bewusstsein in der phänomenologischen Bedeutung keine Begründungsin­stanz sei, sondern eine Realität sui generis, die als solche ungeachtet der Korre­spondenz ihrer Inhalte mit der Realität der natürlichen Erfahrung zu erforschen sei. Soll die Zweifelsbetrachtung bei Descartes noch zur Gewissheit führen, so soll in der Phänomenologie gar nicht erst gezweifelt und folglich auch nicht die Existenz des in Zweifel Gezogenen bewiesen werden, sondern die Wahrnehmung in ihrer Unmittelbarkeit und direkten Gegebenheit als ein in der Erfahrung Un- hintergehbares angenommen und betrachtet werden: ,,[I]ch kann es dahingestellt sein lassen, ob das Ding, das ich mit meinen Sinnen wahrnehme, wirklich existiert oder nicht - aber die Wahrnehmung als solche läßt sich nicht durchstreichen“.20 Aufgrund ihrer nur nachträglichen und insofern bloß artifiziellen Bezweifelbar- keit bildet die im Bewusstseinsleben sich manifestierende „Gewißheit des eigenen Seins [...] die ursprünglichste Erkenntnis: nicht die zeitlich erste, denn die natür­liche Einstellung* des Menschen ist vor allem anderen der äußeren Welt zuge­wandt“.21 Sie ist die ursprünglichste, weil wir immer in ihr stehen, sofern wir uns als existierend erleben, und nur von ihr aus, in ihrer jeweiligen Aktualität, sie selbst nachträglich objektivieren können;22 sie ist ohne Anfang und Ende, weil sie mit unserem Erleben zusammenfällt und es kein retrospektives Davor oder pro­spektives Danach gibt, das nicht als Erleben oder bloß negativ als qualitätslose Leere oder als bloßes Abstraktum gedacht werden kann. Die Auffassung des Ich als Monade in Husserls Cartesianischen Meditationen erläuternd, sagt Stein daher: „Darum kann das Dasein des Ich in seiner Faktizität als absolut bezeichnet werden. Und diese Faktizität erstreckt sich über den gegenwärtigen Moment hinaus. Das wache Ich findet sich immer schon im Dasein und findet sein ge­genwärtiges Dasein als kontinuierliche Fortsetzung eines abgelaufenen.“23

Dem Ich wohnt in seinem Erleben eine Grenze inne, die das Erleben aus dem gravitationslosen Raum der reinen Phänomenalität und transzendenzlosen Wahrnehmung herausholt. Diese Grenze bildet die Intentionalität, die sich bei Stein jedoch von der Husserl’schen Intentionalität dadurch unterscheidet, dass in ihr der Übergang von der Epistemologie zur Ontologie und vom Ich zur Perso­nalität vollzogen wird. Husserl spricht in den Cartesianischen Meditationen zwar vom „personalen Ich“, lässt aber dabei den Vorrang des Ich bzw. des ego als des

20 Ebd.21 Ebd.22 Ebd.23 Zur Gebundenheit der - notwendig immer nachträglichen - Objektivierung an die stets ur­sprüngliche Aktualität: „Das Bewußtsein kann nicht nachträglich hinzukommen, wenn es nicht ursprünglich da war: Es kann nur eine Steigerung des Bewußtheitsgrades und der Übergang zur Reflexion nachträglich eintreten.“ (PuA: 171) - Dazu vgl. auch ebd.: 229.

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phänomenologisch zu erschließenden Subjekts des Bewusstseinserlebens un­angetastet, weshalb das „personale Ich“ nicht die spezifisch menschliche Person meint: „Indem aus eigener aktiver Genesis das Ich sich als identisches Substrat bleibender Ich-Eigenheiten konstituiert, konstituiert es sich in weiterer Folge auch als stehendes und bleibendes personales Ich - in einem allerweitesten Sinn - der auch von untermenschlichen Personen zu sprechen gestattet.“24 Auch der Begriff der Eigenheitlichkeit hat ironischerweise eine formale Bedeutung bei Husserl als Differenzbezeichnung, obgleich wir als Eigenheiten von Personen das schlechthin Individuelle im durchaus materialen Sinn und die damit einhergehenden perso­nalen Idiosynkrasien aufzufassen pflegen. Eigenheitliches im Sinne Husserls ist schlicht das, was ein Ich zu diesem oder jenem im Unterschied zu einem anderen Ich macht. Der Begriff der Eigenheit zielt nicht auf die je eigene Erfahrung eines jeweiligen intentionalen Ich, sondern auf Habitualisierungsleistungen des menschlich-personalen Ich der Lebenswelt: „In diesem beständigen Wandel der menschlichen Lebenswelt wandeln sich offenbar auch Menschen selbst als Per­sonen, sofern sie korrelativ immer neue habituelle Eigenheiten annehmen müs­sen.“25 Von „Personen“ spricht Husserl hier in einem eher umgangssprachlichen Sinn als von Akteuren der Lebenswelt, nicht von Entitäten, deren Genesis oder ontologischer Status in der phänomenologischen Konstitutionslogik aufzu­schließen wären. Dass in der phänomenologischen Betrachtung unterhalb der Ebene der Personalität geforscht und deren Ermöglichungsbedingungen in den Grundlagen der Egologie aufgesucht werden sollen, spürt Husserl deutlich und nimmt Bezug auf das Befremden, welches die Erzeugung der Kluft zwischen Person und Ego in der egologischen Betrachtung der Phänomenologie aufreißt:

So verstehe ich, der Meditierende, am Anfang nicht, wie ich, da die anderen Menschen insgesamt eingeklammert sind, überhaupt zu Anderen und mir selbst kommen soll. Im Grunde verstehe ich auch noch nicht und erkenne es nur widerwillig an, daß ich selbst, mich als Menschen und als menschliche Person einklammernd, nun doch als ego erhalten bleiben soll.26

Die Person als ontische Ermöglichungsbedingung des Ich, welches Gegenstand der transzendentalen Egologie ist, ist nicht die Referenzgröße phänomenologi­schen Konstitutionslogik. Konstitutionslogisch geht Husserl vielmehr den um­gekehrten Weg, weshalb das aus den Konstitutionsleistungen des Egos erwach­

24 CM: 101.25 Ebd.: 162.26 Ebd.: 176.

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sende „menschlich-personale Ich“ wesentlich ein „Ich“ bleibt, wenn auch ein durch spezifisch personale Konstitutionsleistungen gekennzeichnetes:

Indem ich als dieses ego die für mich seiende Welt als Phänomen (als Korrelat) konstituiert habe und fortgehend weiter konstituiere, habe ich unter dem Titel Ich, im gewöhnlichen Sinne des menschlich-personalen Ich, innerhalb der gesamten konstituierten Welt eine verweltlichende Selbstapperzeption in entsprechenden konstitutiven Synthesen vollzogen und halte sie in beständiger Fortgeltung und Fortbildung.27

In der Konsequenz einer solchen Konstitutionslogik liegt auch die Auffassung der (objektiven) Welt als das, was sich „auf dem Untergründe meiner primordinalen Welt in mehreren Stufen“28 konstituiere. Intersubjektivität wird als Aporie gera­dezu in der Konstitutionslogik aufgenommen, indem sie nicht als das Andere des Ich, sondern als schlicht aus der Sphäre des ego ausgeschlossenes Anderes de­finiert wird: „Als erste [Stufe, S. E.] ist abzuheben die Konstitutionsstufe des An­deren oder Anderer überhaupt, das ist aus meinem konkreten Eigensein (aus mir als dem primordinalen ego) ausgeschlossener ego’s.“29 Der Andere und dessen Realität, die konstitutionslogisch eingeholt werden soll, wird demzufolge notge­drungen transzendentalegologisch restringiert. Was buchhalterisch unterschie­den wird, Ich und Anderes, wird ich-scholastisch dem transzendentalen Ego als dem Weltkonstituens zugeschlagen.30

Das Bewusstseinserleben ist jedoch nicht nur die Sphäre der Konstitution der Welt, sondern hat selbst eine konstitutionale Struktur, vermittels derer es über sich selbst hinausreicht. Dieses dem Bewusstseinserleben inhärierende Über-sich- hinaus fasst Husserl mit dem Begriff der Intentionalität, der bei Husserl eine engere Bedeutung hat als bei Edith Stein, die ihn ontologisch transformiert, um den Übergang vom Bewusstsein zur Personalität zu vollziehen. Husserl unter­scheidet dabei zwischen einer „noetischen Intentionalität“ bzw. „Horizontinten­tionalität“, also einer die immanente Logik des Bewusstseins bestimmenden In­tentionalität, „ohne die ein Objekt nicht Objekt sein könnte“,31 und einer noematischen Intentionalität, die das Bewusstsein als Bewusstsein von etwas

27 Ebd.: 130.28 Ebd.29 Ebd.: 137.30 „Wir haben abscheiden gelernt die Selbstkonstitution des ego für sich selbst und in seiner primordinalen Eigenwesentlichkeit und die Konstitution aller Fremdheiten verschiedener Stufe aus Quellen der Eigenwesentlichkeit. Es resultierte die universale Einheit der in meinem eigenen ego sich vollziehenden Gesamtkonstitution in ihrer Wesensform, als deren Korrelat die objektiv seiende Welt für mich und ein ego überhaupt beständig vorgegebene ist und sich in Sinnes­schichten fortgestaltende ist; das aber in einem korrelativen apriorischen Formstil.“ (ebd.: 164)31 Ebd.: 21.

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3.3 Das philosophische Erbe Steins II: Die Phänomenologie Edmund Husserls 125

qualifiziert. Der Begriff der Horizontintentionalität bezeichnet die Tatsache, dass jedes Erlebnis „einen im Wandel seines Bewußtseinszusammenhanges und im Wandel seiner eigenen Stromphasen wechselnden Horizont - einen intentionalen Horizont der Verweisung auf ihm selbst zugehörige Potentialitäten des Bewußt­seins“32 habe. Mit dem Begriff der „noetischen Intentionalität“ bezeichnet Husserl den Subjektpol einer notwendig noetisch-noematischen Struktur: „Der Gegen­stand ist sozusagen ein Identitätspol, stets mit einem vorgemeinten und zu ver­wirklichenden Sinn bewußt, in jedem Bewußtseinsmoment Index einer ihm sinngemäß zugehörigen noetischen Intentionalität, nach der gefragt, die expli­ziert werden kann.“33 Aufgrund des noematischen Pols und der noetisch-noe­matischen Struktur habe „das jeweilige cogito nicht in unterschiedsloser Leere sein cogitatum bewußt, sondern in einer deskriptiven Mannigfaltigkeitsstruktur von einem ganz bestimmten, gerade diesem identischen cogitatum wesensmäßig zugehörigen noetisch-noematischen Aufbau“.34 Der noematische Aspekt der In­tentionalitätsstruktur wird meistens als der Aspekt in den Blick genommen, der die strukturelle Weltbindung des Bewusstseins garantiert, weshalb Husserl vom „noematisch-ontischen Gehalt“35 des erfahrenen Anderen spricht.

Die Explikation der noetisch-noematischen Struktur der Intentionalität ver­legt das Verhältnis zwischen ego und cogitatum in prinzipieller Einseitigkeit ins ego. Unsere Beziehung zur Sphäre der Intersubjektivität und Kultur wird als eine des Ich, wenn auch des personalen Ich, aber nicht als ein Verhältnis der die Person qua ego grundsätzlich übersteigenden Ganzheit zur Welt aufgefasst.36 Eine deutliche Abgrenzung von Husserl vollzieht Stein in Potenz und Akt. Studien zu einer Philosophie des Seins im Kapitel „Versuch einer Bestimmung des Geistigen“, wo sie als die drei Grundcharakteristika des geistigen Lebens „Intentionalität, Intelligibilität und Personalität“37 anführt. Die begriffliche Anknüpfung an Hus­serl, welche Intentionalität als Charakteristikum des geistigen Lebens indiziert, bildet zugleich die Grundlage der Überschreitung des Husserl’schen Horizonts,

32 Ebd.: 82.33 Ebd.: 83.34 Ebd.: 79.35 Ebd.: 122f.36 Entsprechend bescheiden gibt Husserl sich trotz seines fundamentalphilosophischen An­spruchs, wenn es um die Erschließung der Kulturwelt geht: „Die genauere Erforschung der Sin­nesschicht, welche der Menschheits- und Kulturwelt als solcher ihren spezifischen Sinn gibt, sie also zu einer mit spezifisch geistigen Prädikaten ausgestatteten macht, müssen wir uns versagen.“ (ebd.: 162)37 Vgl. PuA: 83. - Unter Intelligibilität versteht Stein das Hingeordnetsein des Geistes auf die Welt, welcher umgekehrt das weltliche „intelligibile“ als ein auf den Geist Hingeordnetes ent­spricht. Zur näheren Bestimmung vgl. Kap 3.8.5.

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denn Stein geht es darum, die Intentionalität als Medium der Personalisierung des Ich aufzufassen, welches gerade nicht mehr im Husserl’sehen Sinne aufgefasst werden kann: „Auf geistigem Gebiet heißt das: Es muß etwas mehr vorhanden sein als ein pures, qualitätloses Subjekt geistigen Lebens (ein ,reines Ich“, wie es im ersten Kapitel im Anschluß an Husserls Terminologie genannt wurde).“38

Als das Leben der freien, geistigen Person bezeichnet Stein - Husserl zunächst scheinbar die Treue haltend - die intentionalen Akte.39 Das Leben der geistigen Person führt diese jedoch in eine die Reflexivität des phänomenologischen ego cogito prinzipiell übersteigende Reflexivität hinein, welche der Person praktisch die Aufgabe der Selbstformung im Leben, d. h. in der Lebensführung, auferlegt und ihr philosophisch aufgibt, ihre Konstitution als Person unter Miteinbeziehung ihrer leiblichen Verfasstheit zu reflektieren. Die Bestimmung der Personalität als differentia speciflca, die den Menschen von den übrigen Lebewesen unterscheidet, weist aufgrund der die Person mit jenen Lebewesen wiederum verbindenden Naturwüchsigkeit auf eine philosophische Anthropologie hin und erheischt eine solche: „Daß der Mensch Person ist, das unterscheidet ihn von allen Naturwe­sen.“40 Um die Entfaltung dieses Unterschieds in Steins philosophischer An­thropologie wird es im Ausgang vom Begriff der Person im Folgenden gehen.

3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff

3.4.1 Steins Dissertation Zum Problem der Einfühlung und der Einfluss Schelers: Das verdrängte Desiderat

Edith Stein hat den Begriff der Person, obwohl eine solche Beeinflussung sowohl zeitgeschichtlich als auch biographisch naheliegt, nicht von Max Scheler über­nommen, der Stein offenbar eher beeindruckt als beeinflusst hat.41 Systematisch und in größerem Umfang geltend gemacht hat Schelers Einfluss, genauer seine Theorie der Erfahrung des fremden Bewusstseins, sich einzig in Steins Disserta­tion Zum Problem der Einfühlung, in welcher Stein in der Auseinandersetzung mit Schelers Wertlehre den Mangel einer durchgeführten Theorie der Person zwar als solchen anerkennt und eine solche Theorie folglich als Desideratum betrachtet,

38 PuA: 85.39 „Was aber ist das Ich? Wir nannten es freie, geistige Person, die intentionalen Akte sind ihr Leben.“ (AmP: 83)40 AmP: 78.41 „Der erste Eindruck, den Scheler machte, war faszinierend. Nie wieder ist mir an einem Menschen so rein das .Phänomen der Genialität1 entgegengetreten.“ (Stein 2002: 210)

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3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff 127

zugleich aber eingesteht, eine solche Lehre in besagter Schrift nicht durchführen zu können:

Wir fanden eine durchgängige Korrelation von Person und Welt, genauer gesprochen Wer­tewelt. Es genügt für unsere Zwecke, diese Korrelation aufgewiesen zu haben. Es geht daraus hervor, daß eine durchgeführte Lehre von der Person (auf die wir hier natürlich keinen Anspruch erheben) nicht ohne eine vorliegende Wertlehre möglich ist, und daß sie von einer solchen Wertlehre aus gewonnen werden kann.42

Steins Dissertation stellt also eine Vorarbeit zu einer Theorie der Person dar, statt selbst eine solche zu entwickeln. Dies zeigt sich auch darin, dass Stein, in der Unterscheidung zwischen Ich bzw. Bewusstsein und dem Kern der empirischen Person auf den Spuren der Husserl’schen Egologie wandelnd, implizit den me­thodischen und essentiellen Vorrang von Ich und Bewusstsein postuliert, wenn sie behauptet, dass „das reine Ich, nicht die Person dem Menschen aus den Augen sieht und daß das cogito, das rein geistige Gerichtetsein im körperlichen Gerich­tetsein sichtbar wird“43 und dass außerdem das „reine Ich Kern der empirischen Person“44 sei.

Allerdings hält in dem Buch eine Unentschiedenheit Einzug, die vermutlich auf den Einfluss Schelers zurückgeht, denn als Kern der empirischen Person beschreibt Stein an anderen Stellen des Buches nicht das reine Ich, sondern das, was sie als „personale Struktur“ bezeichnet. Den Begriff der personalen Struktur entwickelt Stein nicht in der Unterscheidung desselben vom Begriff des Ich, sondern vom Begriff der Seele, die wiederum vom Bewusstseinsstrom deutlich unterschieden wird: „Unser einheitlich abgeschlossener Bewußtseinsstrom ist nicht unsere Seele. Sondern in unseren Erlebnissen [...] gibt sich uns ein ihnen zugrunde Liegendes, das sich und seine beharrlichen Eigenschaften in ihnen bekundet, als ihr identischer ,Träger“: das ist die substanzielle Seele.“45 Die substanzielle Seele ist weder eine Qualität des Bewusstseins noch eine das Be­wusstsein ätherisch fundierende Substanz, sondern die Seele eines psychophy­

42 Stein 2008:126. - Die Korrelativität von Person und Welt geht auf Scheler zurück, der sie explizit in Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik einführt: „Als das Sachlcorrelat der Person überhaupt nannten wir die Welt. Und also entspricht jeder individuellen Person auch eine individuelle Welt. Wie jeder Akt aber zu einer Person gehört, so ,gehört“ auch jeder Gegenstand wesensgesetzlich zu einer Welt.“ (Scheler 1980: 392)43 Stein 2008:102.44 Ebd.45 Ebd.: 55f.

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sischen Individuums46 und aufgrund ihrer Verbindung mit Sphären, die über ihre reine Immanenz hinausgreifen (z. B. die Sphäre der Körperlichkeit), die substan­zielle Einheit, in deren Akten „mein reines Ich lebt“.47 Deshalb hängt Stein zufolge der „Gehalt des Erlebnisstroms [...] von der Struktur der Seele“48 ab. Aufgrund ihrer Affiliation mit dem Leib ist die Seele auch als substanzielle Einheit aufgrund der psychophysischen Kausalität anders als die personale Struktur nicht der Determination durch Umstände enthoben; die personale Struktur nennt Stein daher den „innerhalb ihrer [der Seele, S.E.] individuellen Gestalt“49 anzutref­fenden „unwandelbaren Kern“.50

Die Seele sei Stein zufolge von den Umständen abhängig, in denen der Mensch sich befindet, ihre Erlebnisse und Beschaffenheiten „beeinflußbar durcheinander und durch die Zustände und die Beschaffenheit des Leibes“.51 Folglich ist es konsequent, von „Fähigkeiten der Seele“52 zu sprechen, die durch Gebrauch, etwa durch Übung, entwickelbar und modifizierbar seien. Im Unter­schied zur personalen Struktur, welche die seelischen Fähigkeiten durch ihre unwandelbare Struktur begrenzt, ist die Seele somit denselben Einflüssen aus­gesetzt, denen der Mensch ausgesetzt ist, ohne die Wirkung dieser Einflüsse zu begrenzen; sie ist somit im starken Sinne identitätskonstitutiv: „Die personale Struktur grenzt einen Bereich von Variationsmöglichkeiten ab, innerhalb dessen sich ihre reale Ausprägung ,je nach den Umständen* entwickeln kann.“53 Die sowohl begrenzende als auch ermöglichende Kapazität der personalen Struktur gründet in ihrer intrinsischen Bindung der Person an eine Wertewelt; Person und Wert sind einander in einer Art prästabilierten Harmonie oder prästabilierten Disharmonie zugeordnet, die darüber entscheidet, ob zwischen Person und Sache eine lebendige Beziehung möglich ist. Weil der personalen Struktur der identi­tätskonstitutive Vorrang gegenüber der Seele zukommt, können personale Ei­genschaften durch Habitualisierung in der Lebenspraxis zu seelischen werden,

46 Vgl. ebd: 56f„ außerdem ebd.: 66: „Die Seele als die sich in den einzelnen psychischen Er­lebnissen bekundende substanzielle Einheit ist - wie das geschilderte Phänomen der „psycho­physischen Kausalität“ und das Wesen der Empfindungen zeigt - auf Leib fundiert, bildet mit ihm das .psychophysische Individuum*.“47 Ebd.: 56.48 Ebd.49 Ebd.: 128.50 Ebd.51 Ebd.: 127.52 Ebd.:128.53 Ebd.

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3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff 129

nicht aber umgekehrt, weil sonst die Seele als am Individuum Erscheinendes determinate seines eigenen determinate werden müsste.54

In Steins Terminologie kreuzen sich mehrere systematische Linien. Husserls Begriff des reinen Ich bleibt als Substrat des Erlebens erhalten, erfährt aber durch den Begriff der Seele eine Vertiefung, die in der klassischen Phänomenologie eher ein Abgleiten in phänomenologisch nicht streng aufweisbare Derivationen oder eidetische Spekulationen metaphysischer Art bedeutet. Die Seele bildet in ihrer Bindung an den Leib das Medium der Habitualisierung, die insgesamt von der ihr zugrundeliegenden personalen Struktur determiniert wird, statt selbst, wie im Form-Begriff der klassischen Ontologie, als Bestimmendes zu fungieren. Die personale Struktur wird vor allem durch ihren Fundamentalcharakter bestimmt, worin sich zeigt, dass Stein um den Begriff der Personalität nicht herumkommt, wenngleich sie ihn auch nicht systematisch zu entwickeln vermag. Sowohl mit den Begriffen der Seele und des psychophysischen Individuums als auch mit dem der personalen Struktur tastet Stein sich in Richtung einer philosophischen Anthro­pologie vor, ohne die Entwicklung einer solchen bereits als systematische Not­wendigkeit zu antezipieren.

Hat man den fundamentalen Stellenwert einer ausgearbeiteten Lehre von der Person vor Augen, überrascht mehr als die Tatsache, dass Stein diese Lehre in ihrer Dissertation nicht ausführlich entwickelt, das Faktum, dass sie in ihren späteren Schriften nur spärlich an Max Scheler anschließt. Wie der oben zitierte Begriff „Lehre von der menschlichen Person“ indiziert, hat Stein etwas anderes im Sinn als das, was Plessner in seinem frühen Aufsatz Über die Erkenntnisquellen des Arztes (1923) eine „Wissenschaft von der menschlichen Person“55 nennt. Die Schwierigkeiten, die der Entwicklung dieser Wissenschaft im Wege stehen, finden ihren Ursprung in den Grenzen von Steins philosophischer Muttersprache, d. h. in der Inkompatibilität der phänomenologischen Ego-Fixiertheit und -Gebundenheit mit einem das common sense-Verständnis von Person philosophisch ernstneh­menden Denken,56 das mit ersterem auch in Steins Augen unvereinbar zu sein scheint: „Indessen sträubt sich etwas in uns, dies merkwürdig substratlose

54 „Natürlich werden auch die personalen Eigenschaften - die Güte, die Opferwilligkeit, die Tatkraft, die ich in meinen Handlungen erlebe - zu seelischen, wenn sie an einem psychophy­sischen Individuum wahrgenommen werden. Aber sie sind auch als Eigenschaften eines rein geistigen Subjekts denkbar und behalten ihr Eigenwesen auch im Zusammenhang der psycho­physischen Organisation bei. Ihre Sonderstellung offenbart sich darin, daß sie außerhalb des Kausalzusammenhangs stehen.“ (Stein 2008:127)55 Plessner 1985b: 50.56 Vgl. die Einleitung in Krüger 1999.

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130 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

.geistige Subjekt* als das anzuerkennen, was man gemeinhin eine Person nennt.“57 Stein teilt also das Unbehagen an der Husserl’schen Phänomenologie, das Scheler in seiner Habilitationsschrift Die transzendentale und die psychologische Methode. Eine grundsätzliche Erörterung zur philosophischen Methodik (1900) zur pro­grammatischen Formulierung einer alternativen Forschungsorientierung veran­lasst hat. Die von Scheler formulierte Frage hingegen nimmt sie nicht konsequent auf:

Mit einem Ich, das lediglich eine zusammenhängende wissenschaftliche Erfahrung ermög­lichte, waren die Ansprüche, die wir an eine philosophische Theorie der Persönlichkeit zu stellen haben, lange nicht erschöpft. Die Frage lautet vielmehr: Wie ist eine zusammen­hängende geistige Welt in der Form einer personalen möglich?58

3.4.2 Exkurs: Naturphilosophie und philosophische Anthropologie

Steins Dissertation Zum Problem der Einfühlung stammt aus dem Jahr 1916. In ihrem 1917 erschienen Aufsatz Die ontische Struktur der Person und ihre er­kenntnistheoretische Problematik geht Stein dem Problem der Person weiter nach, allerdings ohne in das Gebiet der philosophischen Anthropologie vorzudringen. Diese Entwicklung kann hier nicht im Einzelnen verfolgt werden. Stattdessen soll hier, da Plessner seine Philosophische Anthropologie als Naturphilosophie ent­wickelt, in einem kleinen Exkurs ein Blick auf das Verhältnis zwischen Natur­philosophie und philosophischer Anthropologie in Steins 1920 gehaltenen und unter dem Titel Einführung in die Philosophie veröffentlichten Vorlesungen ge­worfen werden, weil die darin getroffene Verhältnisbestimmung auch im späteren Werk nicht revidiert, wenngleich auch nicht systematisch vertieft wird.

Die Sphäre der Kreatürlichkeit und damit die philosophische Anthropologie bilden in Steins Vorlesung zwar den Gegenstand einer ontologischen Betrachtung, die Ontologie wird von Stein aber derart in sich differenziert, dass die philoso­phische Anthropologie nicht in die Ontologie der Natur und damit in die Natur­philosophie fällt, die im ersten Teil, Die Probleme der Naturphilosophie, dargelegt wird, sondern in die Ontologie des Geistes, die im zweiten Teil, Die Probleme der Subjektivität, entfaltet wird:

Es gibt eine Ontologie der Natur und eine Ontologie des Geistes. Genauer gesprochen: während die empirischen Naturwissenschaften untersuchen, was für Gegenstände in der Natur Vorkommen und wie sie beschaffen sind, fragt die Ontologie der Natur, was ein m a­

57 Stein 2008:114.58 Scheler 1971: 302.

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3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff 131

terielles Ding überhaupt (d. h. seinem Wesen nach) ist, was ein Organismus überhaupt ist etc.59

Unter die materiellen Dinge fallen in Steins Naturphilosophie zunächst ganz allgemein sämtliche materiellen und damit räumlichen Gebilde, worunter die Organismen als körperliche Naturdinge zunächst auch fallen. Deshalb sagt Stein, dass „sowohl Kulturobjekte wie Lebewesen, unangesehen ihrer besonderen Ei­gentümlichkeiten, auch Naturdinge sind und an allem teilhaben, was Natur als solche ausmacht“.60 Natur als solche fällt dann zusammen mit der Gesamtheit der für uns existierenden Objektwelt, sofern die Objekte „selbstgenugsam und ,von Natur aus* keinen fremden Zwecken unterworfen“61 sind, d.h. sofern sie als Substanziales begegnen und nicht als Eigenschaft an Substanzialem, von dem sie ihrem Sein nach abhängig sind, wie etwa die aus der Tiefe eines Dinges kommende Farbe desselben.62 An anderer Stelle sagt Stein, die über den Substanzbegriff laufende Differenz zwischen Dingen und Naturdingen einebnend, weil letztere im generellen Dingbegriff aufgehen lassend, dass die Schilderung der derart weit aufgefassten Naturdinge „auch auf die Lebewesen Anwendung“63 finde. Diese äußerst allgemeine Dinganalyse führt Stein in ihrer Durchführung nicht zu einer Auffindung eines Unterschieds zwischen lebendigen und nicht lebendigen Din­gen, der sich in der Anschauung an den Dingen selbst zeigt, wie dies bei Plessner der Fall ist, sondern die Analyse der, wiederum mit Plessner gesprochen, „Cha­raktere der Lebendigkeit“64 wird von Stein, obwohl in der oben zitierten Passage vom „Organismus überhaupt“ die Rede ist, erst im zweiten Teil, Die Probleme der Subjektivität, durchgeführt, in den auch die Unterscheidung zwischen Körper und Leib bzw. die Einführung beider Begriffe im Zusammenhang mit der Betrachtung der Personalität fallen. Im naturphilosophischen Teil wird die Differenz zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem nicht nur nicht entfaltet, sondern sie wird gar intentional ausgeblendet:

59 EP: 9.60 Ebd.: 26.61 Ebd.62 „Eine Farbe kann glänzend oder stumpf sein, das Ding kann Strahlen aussenden usf. Glänzen, Leuchten, Strahlen und dgl. sind nicht nur sichtbare Beschaffenheiten, die die Ausdehnung des Dinges bedecken, sich über sie ausbreiten, sondern sie kommen aus der Tiefe des Dinges selbst, sie erscheinen als Ausfluß seiner materiellen Beschaffenheit.“ (ebd.: 37)63 Ebd.: 26.64 Vgl. SOM: 92. Plessner setzt sich an der Stelle mit Driesch auseinander, in dessen Hauptwerken der Begriff allerdings nicht auftaucht.

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132 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

Die Lebewesen als solche, soweit sie nicht von sich aus gestaltend in das Naturgeschehen eingreifen, betrachten wir mit als zur reinen Natur gehörig. Doch sehen wir, daß das, was sie zu Lebewesen macht, besondere Eigentümlichkeiten sind, die nicht allem Natursein eignen; und da uns zunächst das interessiert, was notwendig und unaufhebbar zu allem Natursein gehört, so schalten wir auch die Lebensphänomene vorläufig aus und behalten nur als erstes Objekt unserer Betrachtung das übrig, was man als ,tote Natur“ zu bezeichnen pflegt.65

Die Nicht-Unterscheidung zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem inner­halb der Naturphilosophie ergibt sich nicht mit prinzipieller Notwendigkeit aus der Art und Weise, in der Stein von der phänomenologischen Methode Gebrauch macht, steht aber damit in einem interessanten Zusammenhang. Stein betreibt Phänomenologie im Sinne der Husserl’schen Transzendentalphänomenologie, d. h. als Beschreibung der Phänomene in Abhängigkeit vom sie erlebenden Ego: „Aber wohl gemerkt: wenn ich in der Einstellung auf das Erlebnis - der phäno­menologischen Einstellung - den fliegenden Vogel beschreibe, so beschreibe ich kein Naturding, gebe keiner natürlichen Erfahrung Ausdruck, sondern gebe nur getreu wieder, was im Wahrnehmungserlebnis beschlossen liegt.“66 Wichtiger als die Tatsache, dass der Begriff des Naturdings hier in Diskordanz zu den oben zitierten Passagen verwendet wird, nämlich zur Bezeichnung dessen, was in der natürlichen Wahrnehmung als Naturding identifiziert wird, ist, dass der Unter­schied zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem dem eben angeführten Zitat zufolge in die noetisch-noematisch strukturierte intentionale Sphäre und damit in die Abhängigkeit vom erlebenden Ego fallen muss, für welches die gesamte Ge­genstandswelt ein „Erlebniskorrelat“67 ist. An die Stelle der Naturbeschreibung im Sinne der Beschreibung von Natur, wie diese sich in der Anschauung von sich aus zeigt, tritt die Beschreibung des Naturerlebnisses, welches Stein zum Ausgangs­punkt naturwissenschaftlicher Forschung erklärt, obwohl diese offenkundig in­nerhalb einer durch die der Vorentscheidungen der natürlichen Wahrnehmungen bestimmten Welt und auf der Grundlage der natürlichen Wahrnehmung operiert:

Wir halten uns an das, was uns im ursprünglichen Erlebnis als Natur entgegentritt und den selbstverständlichen Ausgangspunkt für alle naturwissenschaftliche Forschung bildet. Wir behalten ferner im Auge, daß die Aussagen, die wir nun machen werden, keine Naturbe­schreibung darstellen, d. h. keine Beschreibung der wirklichen, als Wirklichkeit erfahrenen und gesetzten Natur, sondern Beschreibung des ,Naturphänomens“, dessen, was zum Na­turerlebnis unaufhebbar gehört.68

65 EP: 26.66 Ebd.: 18.67 EP: 19.68 Ebd: 23.

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3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff 133

Stein fragt konsequenterweise nicht danach, wie Natur als solche aufgebaut sei, sondern danach, wie Natur sich für ein erkennendes Bewusstsein aufbaue: „ [W]ie ist es zu verstehen, daß sich für das erkennende Bewußtsein so etwas wie Natur aufbaut?“69 So kantisch die Frage klingt, die als solche die Erschließung des Unterschieds zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem vom erkennenden Bewusstsein her nicht prinzipiell verunmöglicht, so kantisch fällt die phänome­nologische Deskription der natürlichen Gegenstandswelt in einem die Freilegung dieses Unterschieds verunmöglichenden Sinne aus, da Stein sich in dieser De­skription eher auf dem Abstraktionsniveau der Dingbestimmung in Kants tran­szendentaler Ästhetik als auf dem Konkretionsniveau Plessners bewegt. Dies zeigt sich besonders darin, dass Stein zufolge die Analyse der Naturdinge sowohl eine „reine Raumlehre“ als auch eine „reine Zeitlehre“ erforderlich macht;70 das Zwischenergebnis der an den Ermöglichungsbedingungen naturwissenschaftli­cher Forschung orientierten Überlegungen lautet dementsprechend: „Natur und Naturgeschehen sind einer mathematischen Behandlung so weit fähig, als sie in Raum und Zeit ausgedehnt sind, als sie an einem homogenen Kontinuum Anteil haben.“71 Wiederum im Kantischen Geist werden Mathematik und Physik, für die der Unterschied zwischen Lebendigem und Unlebendigem unwichtig ist, als wie models naturwissenschaftlicher Forschung vorausgesetzt, da anders die Frage nach diesem Unterschied innerhalb der Naturphilosophie sich von selbst auf­drängen würde und nicht in der Theorie der Subjektivität ihre Verödung finden würde. Bemerkenswert ist diese Ausblendung vor dem Hintergrund, dass die von Stein phänomenologisch freigelegte Eigentümlichkeit materieller Dinge, nicht nur eine geometrische Stelle im Raum einzunehmen, sondern „ihn zu erfüllen“,72 eine spezifisch phänomenologische Feststellung darstellt. Diese wiederum ebnet den Weg zu einer Betrachtung, welche die spezifische Art und Weise, in der belebte und unbelebte Gegenstände sich als solche in der Wahrnehmung zeigen, „in­nerphänomenologisch“ und ohne Rückgriff auf die natürliche Wahrnehmung zu elaborieren vermag. Ebenso antezipiert Stein - wie die Anführungszeichen im folgenden Zitat zeigen - , dass das Innere eines Dinges nicht sein Inneres im starken, metaphysisch wesenhaften, Sinne ist, ohne Inneres und Äußeres als Innen und Außen und damit im Plessner’sehen Sinne als Richtungsgegensätze zu denken, was sich daraus erklärt, dass Stein das „Innere“ mit dem für den ari­stotelischen Substanzbegriff maßgeblichen Charakter des Bleibenden zusam­menbringt: „Es ist die Eigentümlichkeit des .Inneren* der Naturdinge, ihrer Sub­

69 Ebd.: 54.70 Vgl. ebd.: 39.71 Ebd.: 59.72 Ebd.: 27.

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134 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

stanz oder ihres dauernden Bestandes an materiellen Eigenschaften, daß sie nicht selbst greifbar sind, sondern sich durch äußere Erscheinungen bemerkbar ma­chen.“73 Der kantische und aristotelische Überlieferungsbestand verbindet sich so mit dem Husserl’schen Konzept der Phänomenologie zu einer phänomenologi­schen Betrachtung der Natur vom Subjekt aus.

Wie soll nun auf der Basis einer methodisch am Erleben des Subjekts an­setzenden Naturphilosophie eine Ontologie der Natur möglich sein, die nicht letztlich eine Phänomenologie des Naturerlebens darstellt? Steins Antwort fällt einfach und direkt aus: indem Philosophie Wesensforschung und als solche Ontologie sei: „Und sofern sie [die Philosophie, S. E.] Wesensforschung ist, kön­nen wir sie als Ontologie bezeichnen.“74 Da die philosophische Wesensforschung eine Pluralität von Gegenstandsbereichen zum Thema ihrer Betrachtungen ma­chen kann, gibt es nicht nur eine Ontologie, sondern eine gebietsabhängige Pluralität von Ontologien, z. B. eine Ontologie des Rechts, der Sprache etc.75 Stein spricht von „verschiedenen materialen Ontologien“,76 die begründen und erklären sollen, „wie bestimmte Erkenntnisarten und bestimmte Gegenstandsregionen möglich sind“.77 Gemäß der Bestimmung der Ontologie der Natur als der Unter­suchung der Frage, was ein materielles Ding oder ein Organismus überhaupt seien, ist die phänomenologische Wesensforschung nicht auf einen letzten Grund, sondern auf das in der natürlichen Wahrnehmung unexplizierte und die positiven Wissenschaften grundierende Vorverständnis von Gegenstandsbereichen gerich­tet, das in der Fraglosigkeit der natürlichen Erfahrung verdeckt bleibt:

Bei allen Untersuchungen einer positiven Wissenschaft werden die Wesenswahrheiten des betreffenden Gebiets als Selbstverständlichkeiten vorausgesetzt, mag sich auch der positive Forscher selbst niemals darüber klar geworden sein. Wenn man daran geht, bestimmte materielle Dinge auf ihre Beschaffenheit zu prüfen, so setzt man als bekannt voraus, was ein materielles Ding ist.78

Will man die Analyse, die dieser Art des Fragens entspringt, als Präsupposi- tionsanalyse bezeichnen, so sollte man die Differenz zur Präsuppositionsanalyse im Sinne der Plessner’schen Philosophischen Anthropologie, wie Krüger sie ent­faltet, nicht unterschlagen. Geht es bei Plessner um das Selbst- und Weltverhältnis

73 Ebd.: 37.74 Ebd.: 9.75 Vgl. ebd.: 10.76 Ebd.: 99.77 Ebd.78 Ebd.: 10.

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3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff 135

der Person im Ganzen ihrer Lebensführung,79 so geht es bei Stein um gegen­standsspezifische hermeneutische Voraussetzungen, deren Woher und Wohin, nämlich die Personalität, innerhalb ihrer naturphilosophischen Vorlesung auf­grund des erkenntnistheoretisch-phänomenologischen Rahmens nicht thema­tisch werden kann. Um dieses Woher und Wohin, diesen Ausgangs- und Flucht­punkt, die Lehre von der Personalität, welche die spätere philosophische Entwicklung Steins und ihre Ontologie und philosophischen Anthropologie80 entscheidend bestimmt, geht es im Folgenden im Ausgang von ihrer doppelten philosophisch-theologischen Bestimmung.

3.4.3 Konvergenz von Philosophie und Theologie im Personbegriff

Die Durchführung des Projekts einer Lehre von der Person bestimmt Steins in den 1930er Jahren entstandenen anthropologischen Werke Was ist der Mensch? Theologische Anthropologie (1932) und Der Aufbau der menschlichen Person. Vor­lesung über philosophische Anthropologie (1932/33). In die selbe Entstehungszeit fällt ihre ontologische Grundlegung in Potenz und Akt. Studien zu einer Philosophie des Seins (1931), die ihre ausführliche und die genannte Studie systematisch fortsetzende Ausformulierung in ihrem opus magnum Endliches und ewiges Sein (1937) erfahren hat. Die Entwicklung der philosophischen Anthropologie und der Ontologie Steins fallen also in denselben Zeitraum und lassen sich daher weder als nur zufällig sich wechselseitig erhellende, erläuternde und interpretierende Ent­würfe lesen, noch bedarf deren Engführung eines interpretatorischen Gewaltakts.

Wie die obengenannten Werktitel zeigen, formuliert Stein parallel eine phi­losophische und eine theologische Anthropologie aus, die einander ergänzen statt bevormunden sollen. Die Theologie bildet dabei die notwendige Ergänzung der Philosophie, die sich nicht immanent, d. h. aus den Kräften der Vernunft voll­enden lasse81 und ihre Vollendung durch die Theologie erfahren müsste. Philo­

79 Dazu vgl. insbesondere Krügers Aufsatz Expressivität als Fundierung zukünftiger Geschicht­lichkeit. Zur Differenz zwischen Philosophischer Anthropologie und anthropologischer Philosophie in Krüger: 2009. Zum hier angesprochenen Zusammenhang insbesondere Krüger 2009a: 134 f. Dass in der Einholung der lebensweltlichen Präsuppositionen nicht das solitäre Projekt der Philosophi­schen Anthropologie besteht, sondern Philosophische Anthropologie und Pragmatismus in diesem Problemzugang harmonieren und daher beide dem Problem der Lebensführung sich philosophisch von der Lebensführung selbst her zu stellen vermögen, stellt Krüger ebenfalls heraus, vgl. Krüger 2009b: 342 f.80 Der Redlichkeit halber sei hinzugefügt: auch ihrer theologischen Anthropologie.81 „Die Grundwahrheiten unseres Glaubens - von der Schöpfung, vom Sündenfall, von der Er­lösung und Vollendung - zeigen alles Seiende in einem Licht, wonach es unmöglich erscheint,

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136 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

sophie und Theologie verfolgen Stein zufolge mit je eigenen Mitteln je spezifische Zwecke, die sich aus den jeweiligen Mitteln ergeben, und sind daher nicht in­einander überführbar oder durcheinander ersetzbar. Stein fasst diese doppelte Differenz, explizit auf Thomas von Aquin sich berufend,82 konzise als eine Dif­ferenz von Gegenstand und Methode, worin Philosophie und Theologie sich un­terschieden.83 Der Gegenstand der Theologie sei Gott, der der Philosophie „die geschaffene Welt“,84 die Quelle der theologischen Erkenntnis die Offenbarung, die der Philosophie hingegen die natürliche Erkenntnis. Die natürliche Erkenntnis habe dabei der geoffenbarten Wahrheit, welche Stein als höchstrichterliche In­stanz auch der Philosophie gegenüber ins Feld führt, zu dienen; sie verhält sich darin wie die Ontologie (metaphysica generalis) zur Theologie (metaphysica spe­cialis):

Die Philosophie schöpft aus natürlicher Erkenntnis. Sie berücksichtigt die Glaubenswahr­heiten als Maßstab, der es ihr ermöglicht, an ihren eigenen Ergebnissen Kritik zu üben: Da es nur eine Wahrheit gibt, kann nichts wahr sein, was zur offenbarten Wahrheit in Widerspruch steht. Sie dient ferner der Theologie, indem sie ihr den begrifflich-methodischen Apparat zur Verfügung stellt, dessen sie zur Darstellung der Glaubenswahrheiten bedarf.85

Mit „Philosophie“ ist explizit nicht die „moderne“ Philosophie gemeint; von dieser grenzt Stein sich, an die Kritik des „Modernismus“ in der Enzyklika Pascendi dominici gregis von Pius X. anschließend, dezidiert ab, indem sie ihr als Prinzip ihrer Unwissenheit die „Unkenntnis der Scholastik“86 vorhält und als „Heilmittel gegen das Übel [...] die Pflege der scholastischen Philosophie als Grundlage der kirchlichen Studien, insbesondere das Studium des Hl. Thomas von Aquino“87 empfiehlt.

Dieses Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie erfährt eine sinnge­mäße, aber gründlichere Ausbuchstabierung in Endliches und ewiges Sein. Stein unterscheidet darin zwischen den Glaubenswahrheiten und den der natürlichen Vernunft zugänglichen Wahrheiten, die Notwendigkeit der Vernunft als einer universellen Letztinstanz anerkennend, die es ermögliche, über die Gräben von

daß reine Philosophie, d. h. eine Philosophie aus bloß natürlicher Vernunft, imstande sein sollte, sich selbst zu vollenden, d. h. ein ,perfectum opus rationis“ zu leisten. Sie bedarf der Ergänzung von der Theologie her, ohne dadurch Theologie zu werden.“ (EES: 30)82 „Thomas hat den Unterschied und die selbständige Berechtigung beider Wissenschaften in vollendeter Klarheit im Prolog seiner theologischen Summa entwickelt.“ (AmP: 27)83 „Sie unterscheiden sich nach Gegenstand und Methode.“ (ebd.: 27)84 Ebd.85 Ebd.86 Stein 2005: 204.87 Ebd.

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3.4 Person als theologisch-anthropologischer Grundbegriff 137

Glaubensunterschieden hinweg eine substantielle Verständigungsbasis zu fin­den.88 In dieser natürlichen Vernunft gründe der Sinn des thomasischen Versuchs, einen „Erweis der Wahrheit des katholischen Glaubens“89 darzulegen. Dieser Erweis nützt dem Gläubigen nichts, der in dessen Aufstellung oder Nachverfolgung kaum mehr als eine Zeitverschwendung erblicken könnte; der Ungläubige allerdings könne, so die Prämisse dieses vernunftbasierten Erweises, deutlich einsehen, dass die natürliche Erkenntnis nicht nur an eine Grenze stoße, sondern diese Grenze auch eine Rückseite habe, von welcher die Offenbarung Zeugnis ablege. Der Sinn dieses Wahrheitserweises liege darin, dem strikt der Vernunft sich verschreiben­den Philosophen auf dessen Terrain zu begegnen, „weil sich nur so ein Stück gemeinsamen Weges mit den Ungläubigen ergibt; wenn sie einwilligen, diese Strecke mit uns zu gehen, werden sie sich in der Folge vielleicht noch weiter führen lassen, als es ihre ursprüngliche Absicht war“.90 Dieser Glaube an die Verführ­barkeit der Vernunft durch die ihrer Gesetzmäßigkeit entsprechend dargelegte Begründung der Glaubenswahrheit gründet in der Vernunft selbst, in ihrer auf ihre Selbstüberschreitung angelegten Verfasstheit, weshalb eine Grenzen akzeptie­rende Vernunft - auch selbstgesetzte Grenzen wie die aus der Kantischen Ver­nunftkritik resultierenden - zur Unvernunft würde: „Die Vernunft würde zur Unvernunft, wenn sie sich darauf versteifen wollte, bei dem stehen zu bleiben, was sie mit ihrem eigenen Licht entdecken kann, und die Augen vor dem zu schließen, was ein höheres Licht ihr sichtbar macht.“91 Der Vernunft als dem Organ der Philosophie inhäriere ein τέλος, das Thomas „perfectum opus rationis“92 nennt und das sich für Stein durch das Streben nach „letzte[r] Klarheit“93 auszeichnet. Um diesem Ideal gerecht werden zu können, müsse der Philosoph Gläubiger sein: „Wenn der Philosoph seinem Ziel, das Seiende aus seinen letzten Gründen zu verstehen, nicht untreu werden will, so wird er durch seinen Glauben genötigt, seine Betrachtungen über den Bereich dessen hinaus, was ihm natürlicherweise zugänglich ist, auszudehnen.“94

Die Implikationen dieser Ausführungen sind eminent: Das Kantische Projekt der Vernunftkritik würde demnach einen Verrat an der Metaphysik darstellen, da es der Vernunft Grenzen zieht, die Metaphysik im klassischen Sinne und somit das Seiende „aus seinen letzten Gründen zu verstehen“ unmöglich macht. Ein jedes

88 Vgl. EES: 21.89 Ebd.90 Ebd.: 36.91 Ebd.: 30.92 Zitiert nach: ebd.: 27.93 Ebd.94 Ebd.: 29.

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138 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

philosophisches Projekt, das nicht selbst in einer letztlich christlichen Metaphysik terminiert, sondern beispielsweise die Ermöglichungsbedingungen von Meta­physik etwa im Rahmen einer philosophischen Anthropologie offenzulegen ver­suchte, wäre ein leeres Spiel, das immer nur unzureichend begründen könnte, wodurch es selbst ermöglicht ist. Mehr noch: der Philosoph, sofern er nicht Gläubiger ist, wäre seiner geistigen Konstitution nach paradoxerweise unfähig, dem Erkenntnisideal der Philosophie zu genügen. Gleichwohl müsse die derart Grenzen überschreitende Philosophie sich ihrer eigenen, genuin philosophischen, Grenzen bewusst sein, da es an ihr sei - und das macht sie zur christlichen Philosophie - , „die Einheit einer umfassenden Lehre herzustellen“,95 d.h. Ver­nunft- und Glaubenswahrheiten philosophisch zusammenzuführen. Indem sie diese Einheit mit den Mitteln der Philosophie, d. h. mittels der Vernunft, herstelle, vollende die Philosophie sich „durch Theologie, nicht als Theologie“.96 Philoso­phische Gestalt müsse diese Vollendung annehmen, weil die Ergänzung der Philosophie qua natürliche Vernunft durch die Theologie qua Offenbarung sich dadurch vollziehe, dass in der Offenbarung Gott in einer für uns fasslichen Sprache zu uns spreche, weshalb Stein die geoffenbarte Wahrheit definiert als „Wahrheit, von Gott in der Weise des menschlichen Erkennens in Begriffe und Urteile gefasst, in Worten und Sätzen ausgedrückt“.97

Diese Ausführungen Steins zur Ergänzungsbedürftigkeit der Philosophie wären nur halb so interessant, würden sie nicht direkt in das Zentrum ihrer an­thropologischen Terminologie zurückführen, genauer zum Person-Begriff: „Die Offenbarung spricht in einer dem natürlichen Menschenverstand zugänglichen Sprache und bietet Stoff zu einer rein philosophischen Begriffsbildung, die von den Offenbarungstatsachen als solchen ganz absehen kann und deren Ergebnis Gemeingut aller späteren Philosophie wird (z. B. die Begriffe ,Person* und .Sub­stanz*).“98 Nicht das Scheler’sche Projekt einer Wissenschaft von der Person, welches Stein in Zum Problem der Einfühlung als verbindlich anerkannt und durch welches sie das Desiderat einer durchgeführten Lehre von der Person begründet sieht, wird hier wie in den übrigen Schriften der 1930er Jahre fortgeführt oder auch nur als philosophischer Wegweiser angeführt, sondern der Rückgang auf die theologischen Wurzeln des Personbegriffs bildet den Ausgangspunkt Steins.

Auf die theologische Ausgestaltung des Personbegriffs und die diese durch­waltenden Probleme, etwa der Dreipersönlichkeit in der Trinitätslehre, kann und braucht hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Worauf es hier vielmehr

95 Ebd.: 33.96 Ebd.: 32.97 Ebd.: 35.98 Ebd.: 31.

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3.5 Die Begriffe Akt und Potenz 139

ankommt, ist, dass bei Stein der Unterscheidung zwischen ewigem und endlichem Sein in Potenz und Akt die zwischen einer unendlichen Person (Gott) und der Mannigfaltigkeit endlicher Personen, zu denen die Menschen zählen, entspricht. Dieser Unterschied ist nicht im Sinne einer deskriptiven Differenz zu begreifen, sondern im Sinne einer ontologischen Spaltung: „Der vollkommenen Einheit des göttlichen Seins steht die Gebrochenheit und Gespaltenheit des geschöpflichen Seins gegenüber. Aber trotz des Abgrundes zwischen beiden ist doch eine Ge­meinsamkeit, die es erlaubt, hier und dort von Sein zu sprechen.“99 Nicht nur von Sein ist hier und dort zu sprechen, sondern gemäß der analogia entis-Lehre auch von Personalität: „Worin liegt die Gemeinsamkeit zwischen Gott und endlichen Personen, die es ermöglicht, in beiden Fällen von ,Person* zu sprechen? In der Analogie des Seins: des Personseins und des geistigen Lebens.“100 Im Folgenden soll in Absehung vom theologischen Personbegriff die spezifisch anthropologi­sche Bestimmung der menschlichen Person als ganzer, d.h. in ihrer geistig-ge- schöpflichen Doppelnatur, von der Relation von Akt und Potenz her in den Blick genommen werden.

3.5 Die Begriffe Akt und Potenz

Der Name der Akt-Potenz-Relation indiziert bereits, dass die Definition von Akt und Potenz eine strikt korrelative sein muss. In Potenz und Akt ordnet Stein das Begriffspaar der materialen Ontologie zu, die sie von der formalen Ontologie un­terscheidet, in welche wiederum Kategorien wie „Gegenstand überhaupt“ oder „Etwas überhaupt“ fallen. Gemäß der Zuordnung des Begriffspaars zur materialen Ontologie bestimmt Stein Akt und Potenz grundsätzlich als „materiale Erfüllun­gen der [jeweiligen, S.E.] Seinsform“.101 Akt bzw. Aktualität und Potenz bzw. Potenzialität sind daher Abkürzungen „für aktuelles und potentielles Sein“102 oder „wirkliches und mögliches Sein“.103 Mittels der Unterscheidung zwischen Wirk­lichkeit (Aktualität) und Möglichkeit (Potenzialität) allein lässt das Verhältnis zwischen Akt und Potenz sich nicht hinreichend erfassen, da es sich dabei um eine Relation mit einer zeitlichen Struktur handelt - außer im Falle Gottes, dessen Sein reine Aktualität ist und daher zu keinem Noch-nicht oder Nicht-Mehr in Beziehung steht.

99 Ebd.: 46.100 PuA: 87.101 PuA: 37.102 Ebd.103 Ebd.

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140 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

Grundlegend für die Bestimmung des Akts ist Steins Aussage, dass der Akt „als das Wirkliche und Wirksame aus einer zeitlich vorausliegenden realen Mög­lichkeit - einer ,Seinsanlage‘ hervorgehe“ [Hervorhebungen, S.E.].104 Diese Doppelbestimmung des Verhältnisses als ein reales und zeitliches verunmöglicht lineare Erklärungen und Deduktionen: Wäre das Verhältnis ein bloß zeitliches, so wäre mit jeder Potenzialität die jeweilige Aktualität virtuell mitgegeben, weil nichts zwischen beide treten könnte, wie es allerdings z. B. bei einer Verletzung oder einer externen Behinderung eines Körpers, eine Fähigkeit auszuüben, der Fall ist. Ebenso wenig wäre die reale Möglichkeit im Falle einer bloßen Zeitdifferenz zwischen Akt und Potenz (potentiell) unbestimmter Natur, z.B. im Falle der Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Aktualisierungsmöglichkeiten, die sich gegenseitig ausschließen. Umgekehrt kann das Verhältnis nicht allein über den Realitätscharakter der Möglichkeit bestimmt werden, und das nicht nur, weil Zeitlichkeit die formale Bedingung einer jeglichen in der Zeit stattfindenden Ak­tualisierung ist, sondern auch, weil die Realität einer Möglichkeit lediglich eine materiale Bedingung und keine sichere Voraussagen erlaubende Deduktionsbasis darstellt; verwirklicht konnte etwas nur deshalb werden, weil die Möglichkeit real war, d. h. nur die Retrospektive kann die Beziehung zwischen dieser Verwirkli­chung und der Realität ihrer Möglichkeit herstellen. Der zeitlich-materiale Dop­pelcharakter der Potenzialität kommt in dem bei Stein an unzähligen Stehen verwendeten Begriff der Vorstufe zum Ausdruck, mittels dessen sie zwischen logischer und realer Möglichkeit unterscheidet: „Wir haben ja unter Potenzialität nicht die bloße logische Möglichkeit des Übergangs vom Nichtsein zum Sein verstanden, sondern eben eine Vorstufe zum Sein, die selbst schon eine Weise des Seins ist.“105 Eine Weise des Seins ist die Vorstufe, weil es keine Potenzialität gibt, die nicht letztlich wieder in einer Aktualität ruhte; der Realitätscharakter der Möglichkeiten lässt sich somit nicht logisch auflösen, wie dies der Fall wäre, wenn eine gleichermaßen reale und reine Potenzialität als zeitlich-ursprüngliche Ak- tualitätsermöglichung postuliert würde.106

Von der logischen und realen Möglichkeit unterscheidet Stein, an Thomas anschließend, als dritten Möglichkeitstypus die „Wesensmöglichkeit“: „Das ist aber nicht eigentlich die Möglichkeit des Wesens, sondern die in ihm begründete Möglichkeit seiner Verwirklichung. Das Wesen schließt in sich ein eigenes Sein,

104 Ebd.: 13.105 EES: 52.106 In der klassischen Ontologie tritt aber gerade an diese Stelle der unbewegte Beweger des Aristoteles und der mittelalterliche actus purus (Gott), also die reale und reine Aktualität als Antwort auf die sonst umso unbegreiflicher offenbleibende Frage, warum überhaupt etwas und vielmehr nichts sei.

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3.5 Die Begriffe Akt und Potenz 141

das nicht nur als ein Weg zur Wirklichkeit als zu seinem Ziel zu verstehen ist, sein wesenhaftes Sein.“107 Für die Wesensmöglichkeit gilt, dass das noch nicht ver­wirklichte Sein mehr ist „als die logische Möglichkeit, daß es in einem Gegenstand wirklich werden kann, und auch mehr als die niedere Vorstufe zum wirklichen Sein, die wir als Potenz bezeichneten“.108 Obwohl das noch nicht verwirklichte Sein nicht Vorstufe im Sinne der Potenz ist, ist es erstens insofern Vorstufe, als „das wirkliche Sein nur von ihm aus zu erreichen ist“,109 und zweitens, insofern „das Wesen etwas Unselbständiges und Ergänzungsbedürftiges ist und weil zu ihm die Möglichkeit des Eingehens in die Gegenstandswirklichkeit“110 gehöre. Das noch nicht verwirklichte Sein des Wesens ist somit das nicht-aktuelle Wirkliche seines Seins bzw. seiner selbst; vom Wesen als dem „grundlegend Wirkliche [n]“111 her lasse sich verstehen, wieso „der Name Akt vom wirklichen Sein auf das, wo­durch ein Wirkliches wirklich ist, übertragen wurde“.112 Stein exemplifiziert die Bedeutung der Wesensmöglichkeit am Beispiel der menschlichen Entwicklung, in der jemand im Laufe des Übergangs vom Jüngling zum Mann ein anderer wird. In diesem Fall biete es sich an, von „zwei Wesen“113 zu sprechen, da „wir dem we­senhaften Sein nach das, was vor der Veränderung war, von dem, was nachher ist, als ein anderes unterscheiden müssen“.114 Was zeitlich sich entfaltet hat, hat sich auf der Grundlage einer realen Entwicklungsmöglichkeit entfaltet. Um die Ent­wicklung als die Entwicklung dieser Person nachvollziehen zu können und nicht als eine mystische Verwandlung auffassen zu müssen, müssten wir die Wesens­möglichkeit als ein Drittes zwischen dem Davor und dem Danach voraussetzen:

Wir müssen aber außerdem ein drittes voraussetzen, das die beiden andern und den Über­gang von einem zum andern umfaßt und begründet, denn dieser Übergang ist ein wesens­möglicher. Von dem umfassenden und begründenden Wesen wird man sagen müssen, daß es während der ganzen Lebensdauer in jedem Augenblick wirklich sei, die Teilwesen dagegen nur während der ihnen entsprechenden Dauerabschnitte.115

Die Wesensmöglichkeit schafft eine doppelte Verbindung: (1) metaphysisch-kos- mologisch die von Urbild und Abbild, und (2) ontologisch-anthropologisch die

107 Ebd.: 80 f.108 Ebd.: 80.109 Ebd.: 81.110 Ebd.111 Ebd.112 Ebd.113 Ebd: 82.114 Ebd.115 Ebd.

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142 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

Verbindung des konkreten Individuums mit dem Urbild durch die Wesensform (είδος). Vorrangig um die zweite wird es im Folgenden gehen.

Mit dieser Definition der Wesensmöglichkeit befindet man sich zudem mitten im Problem der personalen Identität und des Werdens der Person. Dieses Problem wird allerdings erst im Abschnitt über den Menschen abgehandelt werden, in dem die Relation von Akt und Potenz, die hier in Grundzügen skizziert worden ist, ihre Ausbuchstabierung in der anthropologischen Analyse erfahren wird. Der Weg dorthin wird nun vom zum Menschen hinführenden ontologisch-anthropologi­schen Stufenbau her zu nehmen sein.

3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau

3.6.1 Die Pflanze

Steins ontologische Grundeinteilung der Wesenheiten, in welcher sie sich vor­behaltlos Thomas von Aquin und dessen Unterscheidung dreier „Hauptstufen“116 anschließt, nämlich (1) der stofflichen bzw. zusammengesetzten Dingen (tote Dinge, Lebewesen, also auch der Mensch), (2) der rein geistigen oder einfachen Dinge (z.B. Engel) und (3) des ersten Seienden, d.h. Gott, enthält bereits die anthropologische Bestimmung des Standorts des Menschen im Sein. Die Stufen differenzieren danach, wie die Seinsweise der jeweiligen Entitäten durch Akt- Potenz-Verhältnisse strukturiert wird, wobei Gott als reiner Akt fungiert und die hier relevanten zusammengesetzten Dinge die Spannweite der Potenzialität er­öffnen gemäß der Grundregel: Je stärker ein Lebewesen stofflich, also durch seine Körperlichkeit bestimmt wird, desto größer ist der Anteil an Potenzialität und desto geringer die Möglichkeit, diese von einem Innenleben her zu bestimmen und zu gestalten. Die Potenzialität ist so verstanden nicht die Potenzialität von Orga­nismen, nicht ihre eigene Potenzialität, sondern eine Potenzialität, die sich durch das Fehlen von Aktualität negativ definiert. Könnte diese Defizienz durch die Lebewesen in der Sphäre des Handelns bzw. des Aktes behoben werden, so müssten sie einen Spalt schließen können, der gerade konstitutiv für sie ist; sie wären die real gewordene Unmöglichkeit von nachträglich zu solchen sich ma­chenden Göttern, fähig, den sie konstituierenden Mangel aufzuheben, durch dessen Absenz der actus purus definiert ist. Konsequenterweise wird in der tho- masischen Ontologie die Frage danach, durch welche Aktualität die Organismen

116 Ebd.: 38. Die hier skizzierte Einteilung findet sich auf der selben Seite.

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3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau 143

bestimmt werden, demgemäß durch Gott beantwortet.117 Die Architektonik der ontologisch-anthropologischen Einteilung, insbesondere die Unterscheidung zwischen geschöpflichem Sein (leibkörperlich existierende Lebewesen) und nicht- geschöpflichem Sein (Gott, Engel), wird im Rahmen der Akt-Potenz-Relation und anhand der die Hierarchie des Seins bestimmenden Akt-Potenz-Verhältnissen bestimmt.

Doch auch innerhalb der geschöpflichen und im engeren Sinne anthropolo­gischen Sphäre fungiert die Akt-Potenz-Relation als Leitfaden der Verhältnisbe­stimmung zwischen den Lebensformen. In Der Aufbau der menschlichen Person. Vorlesung über philosophische Anthropologie bestimmt Stein den Menschen fol­gendermaßen: „Er ist materielles Ding, Lebewesen, Seelenwesen und geistige Person.“118 In dieser Bestimmung fasst Stein den gesamten Stufenbau der Natur zusammen, wie sie ihn von Thomas von Aquin übernommen hat. Entscheidend ist dabei, dass die Aufzählung aufgrund des Gesetzes der Kontinuität, das die Stu­fenordnung bestimmt, nicht bloß summativer, sondern integrativer Art ist: „So­dann waltet durch alle Stufen hindurch ein Gesetz der Kontinuität.“119 Trotz der Kontinuität gebe es keine fließenden Übergänge zwischen den Stufen, sondern diese seien prinzipiell gegeneinander abgegrenzt, wobei auf der jeweils höheren bewahrt bleibe, was der jeweils niederen Stufe eigen sei.120 Aufgrund dieser prinzipiellen Abgrenzung der Stufen gegeneinander lässt sich synoptisch sagen, dass in dieser Perspektive der Mensch die ontologische Summe der Natur darstellt, weil er nicht nur geistige Person, sondern auch seine Vorstufen ist. Indem er aber zugleich als geistige Person deren Überwindung ist; enthält er die Seinsprinzipien seiner Vorstufen genauso in sich wie deren Aufhebung in seinem spezifischen Sein. Doch zunächst zu den zu ihm hinführenden Stufen.

Stein schließt in ihrer philosophischen Anthropologie nicht nur an Aristoteles und Thomas von Aquin an, sondern folgt darüber hinaus in vielen Punkten, vor allem in der Abgrenzung des Organischen vom bloß Materiellen und der Be­stimmung des pflanzlichen Seins, Hedwig Conrad-Martius, weshalb die Grund­begriffe, die Steins philosophische Anthropologie tragen, in ihrem in Potenz und Akt enthaltenen Kapitel „Die endlichen Dinge als Stufenreich geformter in Aus-

117 Vgl. Thomas von Aquin 1988: 45.118 AmP: 30 f.119 Ebd.: 40.120 „Die Stufen sind prinzipiell gegeneinander abgegrenzt, sodaß mit jeder etwas Neues gegeben ist. Aber sie stehen nicht zusammenhanglos nebeneinander: Einmal ist in der jeweils höheren das bewahrt, was der niederen eigen ist (nur für die reinen Geister gilt das, wegen ihrer Freiheit von Materie, nicht von dem, was den irdischen Geschöpfen auf Grund ihrer Materialität eigen ist).“ (ebd.: 40)

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einandersetzung mit H. Conrad-Martius’ Metaphysischen Gesprächen entwickelt werden.

So greift Stein Conrad-Martius’ Unterscheidung zwischen materiellem und organischem Werden auf, um den Unterschied zwischen Dinglichem und Le­bendigem zu explizieren. Was das organische Werden im Unterschied zum bloß materiellen und den Organismus im Unterschied zum „toten Ding“ kennzeichne, sei die Formung121 bzw. die von innen her erfolgende Selbstgestaltung des Orga­nismus: „Dieses Sichgestalten von innen her ist eine eigentümliche Seinsweise, die Seinsweise des Lebendigen. “122 Die konkrete Bestimmung dieses Sichgestaltens erfolgt nicht abstrakt über den Begriff der Form, sondern über die Begriffe des Akts und seiner substanzialen Bestimmung als Lebensseele:

Wenn die ,Lebensseele‘ als Akt des Organismus bezeichnet wird, so ist damit das gemeint, was dem ganzen organischen Gebilde das Sein gibt, und zwar das eigentümliche Sein, das wir,Leben“ nennen. Wenn im Verhältnis dazu das, was durch die Seele,belebt“ wird,,Potenz“ genannt wird, so ist damit nicht mehr die bloße Materie gemeint, sondern bereits ein ge­formtes materielles Gebilde.123

Diese dem Organismus sein eigentümliches Sein verleihende Lebensseele be­stimmt Stein an anderer Stelle auch aristotelisch als „Ernährungsseele“, biolo­gisch gesprochen als das Prinzip der Assimilation und Transformation fremden Stoffs zum Zwecke der Selbsterhaltung und Selbstorganisation. In solchen Pro­zessen formt das belebte materielle Gebilde sich, es ist ein geformtes Gebilde aufgrund endogener Formungsprozesse, die strikt zu unterscheiden sind von der „Umformung eines Stoffes durch äußere (materielle) Einwirkungen“,124 etwa im Fall des ,,Gestaltwerden[s] von Steinen unter dem Einfluß der Witterung“.125 Nicht nur, weil er nicht Akt ist, ist das steinerne Gebilde kein Lebewesen, sondern auch, weil ihm keine „geschöpfliche Potentialität“126 zukomme, deren Sinn im Übergang

121 „Was die Organismen vor ändern materiellen Dingen (.toten“ Dingen) auszeichnet, ist, daß die Formung Lebensprozeß ist.“ (ebd.: 38)122 Ebd.123 PuA: 189. - An dieser Stelle ist der Hinweis darauf angebracht, dass Stein den Begriff des Lebens in einem weiteren Sinn verwendet als es hier den Anschein hat. Der historische Standort Steins schlägt in bemerkenswerter darin durch, dass sie den äußerst wirkmächtigen Begriff des Lebens theologisiert und vom Leben Gottes spricht. Der actus purus steht zwar als erstes Seiendes außerhalb des Reichs der Substanzen, aber nicht außerhalb des Lebens, im Gegenteil, er ist selbst Leben: „Das wirkliche (= aktuelle) Sein des Geistes ist Leben und ist lebendiges Verstehen. Gott als .reiner Akt“ ist wandellose Lebendigkeit.“ (EES: 101)124 PuA: 47.125 Ebd.126 Ebd.: 9.

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3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau 145

von der Potenz zum Akt bestehe. Von einer Potenzialität des Steins lässt sich im eigentlichen Sinne nicht sprechen, weil alle den Stein betreffenden Möglichkeiten bloß solche des Bestimmtwerdens durch Umstände sind. Weil der Stein keine Möglichkeiten in sich trägt, die er verwirklichen kann, kann er sich nicht in einem Übergang befinden, sondern nur in wechselnden Zuständen. Der Stein ist weder Akt (ενέργεια) noch Potenz (δύναμις) noch durch ein ihm inhärierendes τέλος bestimmt. Edith Stein grenzt die bloß umweltlich bestimmte Existenzweise des nicht-lebendigen Dings durch den Begriff der Idee vom lebendigen Ding ab, das eine solche verkörpere und sich gemäß einer solchen verkörpere, d. h. forme: „Es ist ein Stoff da, aus dem das Gebilde wird, und etwas, wozu es wird, aber nicht ein Ziel, nur ein Ergebnis. Eine Idee, wonach es gebildet wird, fehlt, obgleich es einer solchen Idee entspricht, und das, wodurch es wird, ist die materielle Einwirkung von außen.“127

Der Idee, wonach etwas, nämlich ein Lebewesen, gebildet ist, inhäriert zu­gleich ein Ziel, zu dem hin dieses Lebewesen sich entwickelt. Sowohl Idee als auch Ziel sind bereits bei der Pflanze als Momente ihrer Bestimmung vorhanden; die „Hineinformung der aufgenommenen Materie in die eigentümliche Gestalt des sich formenden Organismus“128 folgt Stein zufolge daher einer Idee bzw. einer Leitidee, deren das Werden der Pflanze bestimmendes Vorhandensein das „Ei­gentümliche des Pflanzlichen“ ausspreche:

Das Erste, das Aufstreben zum Licht, zum Manifestwerden, kann man als das Treibende im Formungsprozeß selbst verstehen, die ,Seele der Seele“; die Formung ist ja eine Selbstof­fenbarung, eine Entfaltung in die Sichtbarkeit hinein. Das ist aber zugleich die Leitidee, die das Eigentümliche des Pflanzlichen als solchen ausspricht.129

Die Idee ist hier nicht nur das Bestimmende und der teleologische Fluchtpunkt des Sichgestaltens, denn das „Sich-Aussprechen“ der Pflanze in ihrer sichtbaren Entfaltung, die zugleich Entfaltung der Idee in die Sichtbarkeit hinein ist, reicht in die Dimension dessen hinein, was als Ausdrucksgeschehen benannt werden kann. Das Sich-Aussprechen der Idee ist das „Manifestwerden“ derselben in der Gestalt der Pflanze.

Dem Begriff des Manifestwerdens bzw. der Manifestation liegt die in Steins Denken zentrale Unterscheidung zwischen wirklichem und wesenhaftem Sein zugrunde. Das wirkliche Sein ist wirkliches Sein nur, weil es als solches bestimmt ist durch ein wesenhaftes Sein, welches nicht seine unsichtbare Verdoppelung

127 Ebd.: 47.128 Ebd.: 189.129 Ebd.

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darstellt, sondern die Idee, gem äß welcher das wirkliche Sein gestaltet ist und sich gestaltet. Die Manifestation des wirklichen Seins ist ein Werden und Gestalt-An- nehmen gem äß einer das Sein bestimmenden Idee bzw. Wesenheit: „Die ,Ver­wirklichung* der Wesenheit besagt nicht, daß sie wirklich wird, sondern daß etwas wirklich wird, was ihr entspricht. Die Möglichkeit des wirklichen Seins ist in ihr begründet.“130 Die theologischen Implikationen dieser Bestimmungen explizie­rend, sagt Stein an anderer Stelle: „Es ist .dasselbe*, was in ,urbildlicher Wirk­lichkeit* von Ewigkeit her in Gott war und was in der Zeit in den Dingen wirklich wird.“131 Die Behauptung der Identität von „theologischer“ und „empirischer“ Wirklichkeit ist zugleich eine Behauptung ihrer Differenz; weder werden zwei Welten parallelisiert, noch wird das wirkliche Sein theologisch verdoppelt, son­dern das Werden des wirklichen Seins wird aufgefasst als die zeitliche Entfaltung und (im uneigentlichen Sinne) Sichtbarwerdung dessen, was wesenhaft nicht zeitlicher und empirischer Natur ist. Damit wird auch behauptet, dass es keinen Übergang vom Nichtsein zum Sein gebe, sondern lediglich ein Übergang von ei­nem wesenhaften Sein (An-sich-Sein) in das wirkliche Sein (das ein Sein für uns ist). Die Möglichkeit des Wirklichwerdens ist „mehr als die logische Möglichkeit, daß es in einem Gegenstand wirklich werden kann“132 oder eben nicht kann; vielmehr ist diese dem wesenhaften Sein eigene Möglichkeit eine „Wesensmög- lichkeit“,133 d. h. - scheinbar paradox formuliert - eine notwendige Möglichkeit. Der Übergang bzw. das Wirklichwerden des wesenhaften Seins muss sich in der Zeit - genauer wäre es wohl zu sagen: in die Zeitlichkeit hinein - vollziehen, weshalb Stein das wesenhafte Sein auch als Vorstufe des wirklichen bezeichnet, dabei allerdings darauf beharrt, dass es nicht aufzufassen sei „als die niedere Vorstufe zum wirklichen Sein, die wir als Potenz bezeichneten“,134 sondern als nicht bloß nomologisch zu präsupponierende Vorstufe (das wäre die oben an­gesprochene und von Stein verworfene logische Möglichkeit): „Vorstufe ist es allerdings, weil das wirkliche Sein nur von ihm aus zu erreichen ist; außerdem, weil das Wesen etwas Unselbständiges und Ergänzungsbedürftiges ist und weil zu ihm die Möglichkeit des Eingehens in die Gegenstandswirklichkeit gehört.“135

Wie in direkter Anwendung dieser Bestimmung des Verhältnisses von we- senhaftem und wirklichem Sein auf das pflanzliche Sein sagt Stein: „Es ist das­

130 EES: 68.131 Ebd.: 108.132 Ebd.: 80.133 Ebd.134 Ebd.: 80.135 Ebd.: 81.

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selbe, was erst Samenkorn war und jetzt Pflanze ist.“136 Die zeitliche Differenz zweier für verschiedenen gehaltener Entitäten wird in der Selbigkeit metaphysisch aufgehoben; Samenkorn und Pflanze sind, zu verschiedenen Zeitpunkten und als separate Entitäten existierend, ein Selbiges, das kein Empirisches ist, sondern die Idee, deren Widerschein das empirische Sein ist. Der Wirklichkeit der Existenz der Pflanze wird ihre (Wesens-)Möglichkeit als Wirklichkeit bzw. wirkliche Möglich­keit vorgeordnet, weshalb mit der Möglichkeit der Wirklichkeit die Wirklichkeit der Möglichkeit, die zuletzt wesentlich immer Wirklichkeit ist, das Frühere ist: „Der Zeit nach aber ist das Wirkliche in der Weise früher, daß in dem Einzelwesen, das sich entwickelt, die Möglichkeit der Wirklichkeit vorangeht, d. h. der Same der vollentwickelten Pflanze. Aber diesem Möglichen geht wieder ein Wirkliches voraus: eine Pflanze derselben Art, von der der Same stammt.“137 Dem Anschein nach verwirklicht sich also ein höheres Wirkliches, ein wesenhaftes Wirkliches innerhalb der uns zugänglichen Wirklichkeit. Doch die Relation zwischen we- senhaftem und wirklichem Sein ist, wenngleich sie als Manifestation zu denken ist, dennoch nicht im Sinne einer deterministischen oder epiphänomenalistischen Ontologie zu verstehen, die das Verhältnis zwischen wesenhaftem und wirklichem Sein als ein Verhältnis zwischen einem eigentlichen bzw. metaphysischen Un­sichtbaren und seiner sichtbaren, aber ontologisch insignifikanten Gestalt kon- zeptualisiert. Zum wesenhaften und wirklichen Sein tritt als Vermittlungsfigur in Steins Ontologie die Wesensform hinzu, die das Gravitationszentrum von Steins Adaptation der Aristotelischen Terminologie bildet.

Die Aristotelischen Grundbegriffe, an die Stein explizit anknüpft, sind die Begriffe ενέργεια, εργον und εντελέχεια, über welche Stein sagt, dass durch sie „die Sinnmannigfaltigkeit, die in dem Wort ,Akt‘ zusammengefaßt ist, durch die Ausdrücke εργον, ενέργεια, εντελέχεια (Werk, Wirken, Wirksamkeit oder Wirk­lichkeit, Seinsvollendung) auseinandergefaltet wird“.138 Um diese Sinnmannig­faltigkeit begrifflich weiter auszudifferenzieren, unterscheidet Stein terminolo­gisch zwischen ενέργεια und ενέργεια ον, also zwischen dem „Leben selbst“139 und der konkreten Gestalt, in der das Leben sich materialisiert und die Stein „das wirkliche und wirksame Seiende“140 sowie „die Wesensform und das in ihrer Kraft wirksame Lebensganze“141 nennt. Durch die Unterscheidung zwischen ενέργεια und ενέργεια ον wird stärker zwischen dem Lebendigen und dem Leben, welches

136 Ebd.: 191.137 Ebd. : 195 f.138 Ebd.: 197.139 Ebd.: 224.140 Ebd.141 Ebd.

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das Lebendige ontologisch trägt und dessen Verkörperung das Lebendige dar­stellt, unterschieden. Die Leistung der Verkörperung des Lebens im Lebendigen fasst Stein dem Aristotelischen Sprachgebrauch getreu als εργον auf, worunter zweierlei verstanden wird, nämlich (1) „das Lebewesen auf der jeweiligen Ent­wicklungsstufe“,142 und (2) „jede seiner .Leistungen“, jede Lebenstätigkeit“.143 Die engere Bedeutung von εργον, nämlich „Werk“, ist hier der weiteren zu subsu­mieren, die in dem Begriff der Lebenstätigkeit enthalten ist. Εργον ist damit jede Lebenstätigkeit und jede Lebenstätigkeit ist zugleich eine Verwirklichung von Möglichkeiten; der Begriff ist also gerade nicht spezifisch menschlichen Leis­tungen Vorbehalten, wie es eine zentrale Stelle Steins aufgrund der Wahl des Beispiels suggeriert: „Die Möglichkeit oder Fähigkeit (δύναμις, Potenz) hat die Wirklichkeit zum Ziel (τέλος) - so die Denkfähigkeit das Denken; wenn die Ver­wirklichung der Möglichkeit ein ,Werk“ ist, wird sie auch εργον genannt.“144 In der weiteren, anthropologisch gegenüber dem Unterschied von Lebensformen neu­tralen Bedeutung fallen „Werk“ und „Wirken“ zusammen; unter dem Werkbegriff wird dann jede Selbstaktualisierung des Lebens im Lebensvollzug des Lebendigen gefasst:

Die einzelne .Leistung“ heißt εργον in dem weiteren Sinn des Wortes ,Werlc‘, wonach es zugleich Taten (gute oder schlechte .Werke“ des Menschen) und selbständige, von dem schaffenden Geist abgetrennte Gebilde bezeichnen kann. Wenn wir das Wort auf Taten be­ziehen, leuchtet es ohne weiteres ein, daß .Werk“ und .Wirken“ (εργον und ένέργειά) zu­sammenfallen.145

Der Begriff der εντελέχεια, für den Stein im Deutschen zumeist „Seinsvollendung“ verwendet und mit dem „das Ziel des ganzen Entwicklungsganges“146 bezeichnet wird, bestimmt die ενέργεια sowohl von ihrem teleologischen Endpunkt, d. h. von der Gestalt her, die das aktuell wirksame Lebendige (ενέργεια ον) durch die Realisierung der Lebenstätigkeiten (έργα) annimmt, als auch in dem, was modern gesprochen ihr „Sich-vorweg-Sein“ genannt werden könnte. Stein verwendet den Begriff der „Zielgestalt“, um ein Doppeltes am lebendigen Sein zu erfassen, nämlich den über die Aktualität hinausweisenden Aspekt und das die Aktualität des lebendigen Seins in Richtung der Zukunft transzendierende und durchwir­kende Moment:

142 Ebd.143 Ebd.144 Ebd.: 18.145 Ebd.: 197.146 Ebd.: 224.

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Und den ,Keim‘ dazu trägt er [der Mensch, S. E.[ in sich, mag er das Ziel erreichen oder nicht. Seine εντελέχεια - jetzt als Zielgestalt, nicht als Seinsvollendung verstanden - ist von An­beginn seines Seins an in ihm wirksam, aber sie ist nicht das allein Wirksame, und darum kann es sein, daß ihre formende Kraft sich nicht voll auswirken kann. Es muß also von der reinen Form, die über der Entwicklung als Leitbild steht, das in der Entwicklung selbst wirksame, sie in der Richtung auf das Ziel bestimmende lebendige Gesetz unterschieden werden.147

Was Stein hier das „lebendige Gesetz“ nennt, entspricht der oben angesprochenen „Wesensform“.148 Die Wesensform bezeichnet das lebendige Gesetz von innen, wovon zeugt, dass Stein zufolge der Wesensform eine „zielgerichtete Kraft inne [wohne], der es das ,ausgewirkte Wesen* verdankt, wenn es dem Ziel ent­spricht“.149 Der Begriff der Wesensform ist scholastischen Ursprungs und wird von Stein auch im scholastischen Sinne gebraucht. Er wird daher als Substanz (ουσία) bestimmt,150 woraus sich das Fehlen jeglicher Bezugnahme auf den Vitalismus151 erklärt. Die Wesensform verbindet das Wirken in der physischen Welt mit der metaphysischen Welt und begründet die Selbigkeit von real Existierendem und dem Urbild, dessen Verkörperung es darstellt; die Identität in der Verschiedenheit begründet den unaufhebbaren Nexus zwischen zwei Welten, die sonst irrtümlich als unabhängig voneinander existierende Parallelwelten aufgefasst werden könnten: „Wenn die Dinge als .Abbilder* der reinen Formen erscheinen und diese als .Urbilder*, auf deren Verwirklichung die Wesensformen hinwirken, so ist es nicht gut möglich, an eine .zufällige* Übereinstimmung zweier an sich völlig ge­trennter Welten zu denken.“152 Der Begriff der Wesensform hat hier also eine doppelte Bedeutung: Er bezeichnet (1) das Verhältnis zwischen Urbild und Abbild

147 Ebd.: 202.148 Vgl. ebd.149 Ebd.150 „Wenn Aristoteles in dieser abschließenden Zusammenfassung die ουσία der Dinge als die Natur im eigentlichsten Sinne bezeichnet, so ist darunter offenbar nicht das Ding selbst gemeint, sondern das, was er vorher τό είδος καί η ουσία nennt, die ,substantial Form* oder ,Wesensform‘ nach scholastischem Sprachgebrauch.“ (ebd.: 162)151 Eine solche Bezugnahme kommt in Conrad-Martius’ Metaphysischen Gesprächen, an welche Stein sich anlehnt, an einer Stelle in distanzierender Form vor, wo Psilander Montanus gegenüber sagt, es sei unter Absehung von strikt physischen Ursachen „doch im Grunde das der Pflanze innewohnende Leben oder, wenn man sich da vitalistisch ausdrüclcen soll, das die Auslösung lebendiger Bewegungen möglich machen muss“ (Conrad-Martius 1921: 16). Mit dieser Aussage wird jedoch innerhalb des Gesprächs lediglich die klärende Antwort durch Montanus vorbereitet, der auf den von Psilander bereits in die Nähe des modischen jargons gerückten Vitalismus dabei nicht mehr Bezug nimmt.152 EES: 202 f.

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(qua Realität) im Sinne der metaphysischen Manifestation des ersteren im letz­teren; er bezeichnet (2) die ουσία (Substanz) als das die Form und den Entwick­lungsgang von Lebewesen Bestimmende, d. h. das seine Realität bestimmende Wirkliche, das bei Aristoteles im Verhältnis von είδος (auf der Ebene des Orga­nismus) und ενέργεια (das Leben als das die Lebendigkeit des Lebewesens Aus­machende bezeichnend) aufgefasst wird.

Zu (1): Die metaphysische Relation zwischen Urbild und Verwirklichung desselben (Abbild) erklärt Stein mittels der Unterscheidung zwischen reiner Form oder Wesenheit und Wesensform. In der Entfaltung der Relation bedient Stein sich des Begriffs der Teilhabe in doppelter Abgrenzung sowohl von Platon153 als auch von Aristoteles,154 155 dem Stein vorhält, sich der Platonischen Erbschaft dadurch zu entledigen, dass er das Problem der Teilhabe eskamotiere. Wiederum sucht Stein die Lösung im Rekurs auf den scholastischen Überlieferungsbestand, gemäß dem die Dinge an der reinen Wesenheit vermöge ihrer Wesensform teilhaben: ,„Mit- teilbar“ an eine Vielheit von Einzeldingen ist nicht die Wesensform, sondern die reine Form oder Wesenheit, an der die Dinge durch ihre Wesensform ,teilha­ben“.“,55 Die Wesensform ist damit Bestimmungsgrund des einzelnen Lebewesens, der es überhaupt erst zu einem solchen macht, und an der Wesenheit Teilha­bendes; sie ist somit ein ontologisches Vermittlungsglied zwischen der reinen Form (Wesenheit, Idee) und dem empirisch existierenden Lebewesen, das kein empirisches Faktum oder ein Positivum darstellt, sondern eine vermöge der We­sensform in der Gestalt eines Lebendigen ausgewirkte Idee sei:

Wir stoßen hier auf den Gegensatz der .reinen Form“ - der ,Idee‘ der Pflanze oder der be­stimmten Pflanzenart, die ,über‘ dem Entwicklungsgang steht, der ,Wesensform‘, die in der einzelnen Pflanze wirksam ist, und dem sich wandelnden .ausgewirkten Wesen“, das der reinen Form mehr oder weniger entspricht.156

Zu (2): Gerade weil die Wesensform durch die Wesenheit nicht restlos bestimmt wird, ist sie nicht lediglich das Medium der Verwirklichung der Wesenheit oder des wesenhaften Seins in der Erscheinung oder eine Emanation desselben. Es handelt sich gerade aufgrund dieser Irreduzibilität der Wesensform um keinen Epiphä­nomenalismus - ein solcher würde eine Teilhabe, deren Sinn notwendig ein ak­

153 Vgl. PuA:272.154 „Wir stehen vor der Rätselfrage des .Teilhabens der Dinge an den Ideen“. Aristoteles hat diese Schwierigkeit lösen wollen, indem er die Ideen (als .reine Formen“ verstanden) ganz wegstrich.“ (EES: 210)155 Ebd.: 408.156 Ebd.: 218.

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tiver sein muss, ausschließen - , denn die Wesensform wird von Stein gänzlich nicht-reduktiv bestimmt: „Jedes Gebilde wie jeder Stoff ist Verkörperung einer Washeit, einer ,reinen Form*. Die Verwirklichung wird geleistet durch die We­sensformen.“157 Die Wesensform, die diese Verwirklichung der reinen Form leistet, wird von Stein als Seele und als Substanz (ουσία) bestimmt: „Die Fähigkeit der Lebewesen, andere ihrer Art zu erzeugen, wird von Aristoteles als ein Vermögen der Seele angesehen. Die Seele ist ja die ,Wesensform‘ (ουσία) der beseelten Körper und als solche Ursache ihres Seins.“158 Aristotelisches und scholastisches Ge­dankengut gehen hier eine Liaison ein, da die Wesensform gut aristotelisch als Substanz und Seele bestimmt wird, zugleich aber über die Teilhabe am wesen­haften Sein scholastisch gedacht wird. Wichtig ist hier zu exponieren, dass Stein, wenn sie sagt, dass die Seele die „Wesensform der beseelten Körper“ sei, die Wesensform nicht als die Wesensform der Gesamtheit der beseelten Körper oder der beseelten Körper überhaupt verstanden wissen will, sondern als die We­sensform des jeweiligen einzelnen beseelten Körpers bzw. Lebewesens:

Nun stellen wir noch einmal die Frage: hat jedes Einzelwesen seine eigene Wesensform (nur dann verdient es den Namen ,Einzelwesen1) und sein eigenes Leben? Sodann: empfängt es Form und Leben von dem Erzeugenden? Auf die erste Frage antworten wir wie früher: Ja, es trägt seine Form in sich und gestaltet sich von innen heraus nach dem ihm eigenen Bil­dungsgesetz, und diese Gestaltung, von der ersten Lebensregung bis zur Erreichung der Vollgestalt und darüber hinaus, solange die Gestalt in dauerndem ,Stoffwechsel“ erhalten wird, ist sein ,Leben“, das mit seinem,Dasein“ gleichbedeutend ist. Das Hervorbringen reifer Früchte ist darin eingeschlossen.159

Der anthropologische Status der Pflanze gerät durch diese Bestimmungen in eine Ambivalenz: Dem pflanzlichen Einzelwesen kommt als Lebewesen und muss als Lebewesen eine individuelle Wesensform zukommen, während zugleich das Sein der Pflanze die Verkörperung einer Washeit darstellt, ohne dass die Pflanze dieser Washeit gegenüber eine Individualität ausbilden könnte, durch die zwischen Urbild und Abbild ein Bruch bzw. eine ontologische Kluft entstünde. Dies zeigt sich in der Bestimmung der Wirklichkeit des pflanzlichen Seins als einer Ver­wirklichung von Möglichkeiten: „Das Leben der Pflanze ist eine beständige Ver­wirklichung von Möglichkeiten.“160 Die Möglichkeiten, welche die Pflanze in ih­rem Sein verwirklicht, sind allerdings Möglichkeiten, die darin begründet liegen, dass sie Pflanze ist, die also ihrer Natur als Pflanze inhärieren. Dementsprechend

157 Ebd.: 209.158 Ebd.: 163.159 Ebd.: 228.160 Conrad-Martius, zitiert nach ebd.: 224.

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basal ist die Formung, welche die Pflanze vollzieht: „Bei den Pflanzen ist die Formung noch reine Stoffgestaltung. Sie sind noch nicht ,zu sich selbst* und damit zu innerer Gestaltung gekommen.“161 Es handelt sich weder im schwachen noch im emphatischen Sinne um ihre Möglichkeiten; die Möglichkeiten können auch im schwachen Sinne nicht ihre sein, da der Pflanze „keine geschlossene (geinnerte, zentrierte) Individualität besitzt, sondern eine wesenhaft offene“162 zukomme, wie Conrad-Martius in Die Seele der Pflanze (1934) an einer von Stein zitierten Stelle sagt. Die einzelne Pflanze stellt demzufolge ein Individuum ohne Individualität dar, die Pflanze als solche ist „als niederste Stufe der individuellen Washeiten anzusehen“,163 weil die Individuen als individualitätslose im eigentlichen Sinne keine Individuen sind.

Das Erscheinungsdatum der von Stein zitierten Schrift lässt die Vermutung zu, Conrad-Martius habe sich der Philosophischen Anthropologie Plessners bedient. Das ist jedoch vermutlich nicht der Fall, da die terminologisch nicht explizit ge­troffene Bestimmung thematisch bereits in den Metaphysischen Gesprächen von 1921 vorhanden war, auf die Stein sich in Potenz und Akt weitläufig beruft. In den Metaphysischen Gesprächen wird die Offenheit noch als „Verteiltheit“ gefasst, der die „Geinnertheit“ des Tieres gegenübergestellt wird: „Denn was in sich persönlich wohnt - nicht in jener objektiven und verteilten Weise, wie die Pflanze, sondern in der geinnerten, in der persönlichen und subjektiven wie das Tier - muß ja jedes Schicksal, das diese Habe äußerlich oder innerlich betrifft, mit haben?“164 Die Verteiltheit der Pflanze resultiere daraus, dass sie auch in Bewegungen, die sie zu vollziehen scheint, nicht von einem Zentrum her diese Bewegung als Subjekt der Bewegung vollziehen könne; ihr fehle die „Möglichkeit, eine Bewegung überhaupt aktiv zu vollziehen. Sie, die gar nicht eigentlicher Träger und eigentliches Subjekt der Bewegung sein kann. Es fehlt ihr die ontische Möglichkeit, das körperliche Sein von innen her zu beherrschen.“165 Die ontische Möglichkeit entziehe sich der naturwissenschaftlichen Betrachtung, die an einer Bewegung „nur noch ihren körperlichen Vollzug, nicht aber ihre höchst wunderbare ontische Artung“166 wahrnehme. Diese ontische Artung erschließe sich erst einer Betrachtung, die auf „das Ganze des betreffenden Lebewesens“167 gehe. Naturwissenschaften und Wesensanalyse werden jedoch nicht einfach gegeneinander ausgespielt, da die

161 Ebd.: 358.162 Ebd.: 226.163 Ebd.: 81.164 Conrad-Martius 1921: 212.165 Ebd.: 12.166 Ebd.: 13.167 Ebd.

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Maxime, die am Anfang der Gespräche formuliert wird, lautet, „durch die dem Naturwissenschaftler zugänglichen Differenzen in der körperlichen Konstitution wirkliche, den Wesensgrundlagen entsprechende Klassen von Typen“168 zu fin­den. Die Durchführung scheitert daran, dass zwar Differenzen auf physischer und ontischer bzw. ontologischer Ebene äußerlich korreliert werden, nicht aber sys­tematisch zueinander in Beziehung gesetzt werden, sondern der Sprung in die Wesenstypologie vorschnell vollzogen wird.

Ob Plessner Conrad-Martius’ Schrift kannte und eigene programmatische Orientierungen in der Auseinandersetzung mit ihr entwickelt habe, kann hier nicht entschieden werden; interessante Verwicklungen sollen jedoch kurz the­matisiert werden. Im Vorwort zu den Stufen behauptet Plessner, dass Conrad- Martius in ihren Metaphysischen Gesprächen unter dem Einfluss Schelers philo­sophiert habe - eine Behauptung, die wenig Sinn ergibt, da 1921 von Scheler noch keine anthropologischen Schriften Vorgelegen haben und Scheler überdies in einer 1923/24 gehaltenen und unter dem Titel Altern und Tod in den Nachgelas­senen Schriften veröffentlichten Vorlesung, die von dem später in Die Stellung des Menschen im Kosmos terminologisch inaugurierten „Gefühlsdrang“ und der Ab­senz eines Zentrums bei Pflanzen handelt, auf Conrad-Martius’ Metaphysische Gespräche verweist.169 Conrad-Martius wiederum verweist, wenn auch distanzie­rend und anders als Edith Stein, die in ihren ontologischen und anthropologi­schen Werken der 1920er Jahre weder auf Driesch noch auf den Vitalismus Bezug nimmt, in den Metaphysischen Gesprächen auf den Vitalismus;170 die Schriften Drieschs waren ihr also zumindest teilweise bekannt. Auf Driesch bezieht Plessner sich wiederum Plessner in den Stufen explizit als auf den Inaugurator der Un­terscheidung zwischen einer offenen und geschlossenen Organisationsform.171 Conrad-Martius jedoch unterscheidet nicht zwischen Organisationsformen, die sie wiederum auf Seinstypen bezieht, sondern grenzt ihre Analyse der Seinstypen durch den Mund von Montanus gerade explizit gegen eine naturwissenschaftliche Zugangsweise ab, nach deren möglicher Brauchbarkeit Psilander fragt:

Es gilt zunächst und vor allem, die beiden möglichen Seinstypen selbst, den pflanzlichen undden tierischen, in ihrer spezifischen Abgegrenztheit zu fassen, ganz allgemein und ab gelöstvon jeder Realitätsfrage. Es gilt das eigne Wesen der ontischen Grundstrukturen zu finden

168 Ebd.: 4.169 Scheler 1997: 295.170 Conrad-Martius 1921:16.171 „Die Verwendung der Begriffe .offene und geschlossene Form“ zur Unterscheidung pflanz­licher und tierischer Organisation stammt von Driesch.“ (SOM: 219)

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und zu fixieren. Diese Untersuchung ist aber, wie wir sofort sehen würden, eine ganz und gar unnaturwissenschaftliche und typisch philosophische.172

Selbst wenn Plessner Conrad-Martius’ Schrift gelesen und Anregungen davon empfangen hätte, die systematische Durchführung seiner Philosophischen An­thropologie kann nicht als einem solchen Ansatz verpflichtet betrachtet werden. Was in diesen Andeutungen jedoch sichtbar wird, ist die Virulenz einer denkge­schichtlichen Problemkonstellation, die Philosophierende mit überaus verschie­denartiger systematischer Ausrichtung in Atem gehalten hat.

Edith Stein zitiert Conrad-Martius’ Charakterisierung des pflanzlichen Seins, wie sie von dieser in den 1930er Jahren vorgenommen wurde, vermutlich ohne Kenntnis der Stufen, obwohl Plessner und Stein sowohl Kommilitonen als auch privat miteinander bekannt waren. Dies ist Steins Autobiographie zu entnehmen, in welcher sie Plessner als zielstrebigen Neuankömmling im Husserl-Kreis schil­dert.173 Ob und inwieweit Stein die philosophische Entwicklung Plessners verfolgt hat, verraten ihren späteren Schriften nicht; Spuren einer Rezeption lassen sich in ihren Schriften jedenfalls nicht finden. Auf der Linie ihrer philosophischen Ori­entierung lag Plessners denkerische Entwicklung im Unterschied zu der Conrad- Martius’ sicherlich nicht, und die autobiographisch naheliegenden und zu er­wartenden, aber nur äußerst spärlich vorhandenen Scheler-Referenzen zeugen davon, dass für Stein in der Ausbildung ihrer philosophischen Anthropologie die philosophischen Entwürfe, die unter dem Namen „philosophische Anthropolo­gie“ Prominenz erlangt haben, ebenso wenig von großer Bedeutung waren wie die Werke Drieschs. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass Stein sich auf Conrad-Martius in Unkenntnis von Plessners terminologischer Ausarbeitung des

172 Conrad-Martius 1921: 5 f.173 Stein schildert ihre Bekanntschaft mit Plessner folgendermaßen: „Zwei neue Leute waren aufgetaucht, dabei einer, der Philosophie als Fach hatte und zielbewußt auf die akademische Laufbahn lossteuerte: Helmuth Plessner. Mit ihm kam ich auch außerhalb der Universität manchmal zusammen. [...] An das Ehepaar Steinberg wurde nun auch Herr Plessner von seinen Eltern empfohlen, und die freundlichen Leute machten es sich zum Vergnügen, uns manchmal zusammen zum Mittag- oder Abendessen einzuladen. Sie hören andächtig zu, wenn die beiden Philosophen beim Gänsebraten unverständliche Gespräche führten. Ich mußte später immer lä­cheln, wenn ich an diese Einladungen zurückdachte. Denn es kam mir nachträglich der wohl nicht unbegründete Verdacht, die gute Justizrätin habe wohl gehofft, es werde sich in ihrem gastlichen Hause ein Pärchen zusammenfinden. Uns beiden lag aber nichts ferner als das. Wenn Herr Plessner mich aus dem alten Bürgerhause im Innern der Stadt zur Schillerstraße hinausbegleitete, entwickelte er mir sein ,System“ und suchte mir zu erklären, in welchen Punkten er nicht mit Husserl gehen könne; aber es war ihm noch nicht gegeben, sich verständlich zu machen.“ (Stein 2002: 253 f.)

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3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau 155

Begriffs der „Offenheit“ zur Charakterisierung des Umweltverhältnisses der Pflanzen beruft.

Inwiefern kann nun die Pflanze sowohl wesenhaft „offen“ und „Verwirkli­chung von Möglichkeiten“ sein? Das Fehlen der Individualität schwächt den Sinn des Begriffs der Verwirklichung stark ab, unterminiert diesen aber nicht gänzlich, da der Pflanze Stein zufolge eine Wesensform zukomme. Dennoch stellt sich die Frage nach dem Charakter der Verwirklichung umso dringlicher, wenn man das Fehlen einer Individualität und eines Zentrums von der biologischen Genesis der Pflanze her in den Blick nimmt, d. h. ihre Entstehung als Lebewesen aus etwas, was selbst kein Lebewesen war und das folglich einer Wesensform im eigentlichen Sinne ermangelte.174 Dieses Problem der biologischen Genesis formuliert Stein mittels des aristotelischen Verhältnisses von Stoff und Form, letztere scholastisch als Wesensform auffassend. Als zusammengesetzte Substanz ist die Pflanze nicht durch ihre Wesensform allein bestimmt, sondern auch - und als Verkörperung der niedersten Stufe des Stufenreichs der Natur in eminentem Maße - stofflich be­stimmt:

Und die Eigenart und Beschaffenheit des Samenkorns wie der Nahrungsstoffe ist bestim­mend für Eigenart und Beschaffenheit der Pflanze. Die Wesensform aber scheint eine andere. Daraus ergibt sich zweierlei: 1. Wir können sagen: Dasselbe, was vorher Samenkorn war, ist jetzt Pflanze. 2. Es scheint, daß hier doch eine stoffliche Grundlage vorhanden ist, die bleibt, wenn die neue Form angenommen wird.175

Das Lebewesen entsteht in dieser Sichtweise im Übergang von einem Nicht-Le­bendigen, das „bestimmend für Eigenart und Beschaffenheit der Pflanze“ sei, zu einem Lebendigen, obwohl zugleich das so entstandene Lebewesen „das, was es ist, auf Grund seiner Wesensform [sei], wenn es auch eine gewisse Verwandtschaft mit den Stoffen aufweist, die für seine Entstehung notwendig waren“.176 Dabei komme „nicht das ,Leben* zu der Wesensform, die dem unbelebten Stoff war, hinzu, sondern es tritt die .lebendige Form* (die Form des Lebewesens, und zwar eines Lebewesens von bestimmter Art) an Stelle der vor der .Belebung* vorhan­

174 Die Verlegenheit bez. der Wesensform zeigt sich darin, dass Stein von einer „anderen We­sensform“ beim Lebewesen spricht, aber die Differenz zu einer etwaigen „Wesensform des Sa­mens“ nicht elaborieren kann: „Noch wurzelhafter ist die Umwandlung, wenn aus dem Samen ein neues Lebewesen entsteht. Es liegt hier nicht nur eine Änderung einzelner Eigenschaften, ein Wechsel der Beschaffenheit vor, sondern von dem Augenblick an, wo die ,Entwicklung* einsetzt, wo Lebenstätigkeiten beginnen, scheint eine andere Wesensform vorhanden zu sein. Es ist ein Lebewesen entstanden aus etwas, was vorher kein Lebewesen war (nur die ,Möglichkeit* dazu in sich hatte).“ (EES: 190)175 Ebd.176 Ebd.: 191.

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156 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

denen“.177 Der Übergang vom Nicht-Lebendigen zum Lebendigen bleibt so letzten Endes als Übergang unverständlich und wird als Differenz ausbuchstabiert; die Differenz zwischen beiden wird jedoch klar bezeichnet durch den Unterschied zwischen bloßer Stofflichkeit (Same) und dem Auftreten des Verhältnisses zwi­schen Stoff und (Wesens-)Form am Lebendigen. Entscheidend ist hier, dass Nicht- Lebendiges in Lebendiges übergeht, dass aber nicht Lebendiges zu Nicht-Leben­digem, es zu Lebendigem machend, schlicht hinzukomme, sondern Lebendiges als solches in ein neuartiges und für Lebendiges spezifisches, durch seine Wesens­form (Seele) bestimmtes Verhältnis zur in seine Konstitution eingehenden Stoff­lichkeit trete.178 Dem Stoff wird dabei einerseits eine weitreichende, das Lebendige in seinem Entstehen und seiner späteren Beschaffenheit betreffende Bestim­mungsmacht konzediert, er geht im Übergang also als bestimmender Faktor nicht schlicht unter; diese Bestimmungsmacht tritt allerdings von dem Zeitpunkt an, da das Lebewesen seine aus Form und Materie zusammengesetzte Gestalt annimmt, hinter der Bestimmungsmacht der Wesensform deutlich zurück.179 Die Wider­sprüchlichkeit dieser Bestimmungen findet, wenn nicht ihre Auflösung, so doch ihre Erklärung wiederum im Verhältnis von ουσία und εντελέχεια.

In unserer Auseinandersetzung mit Aristoteles war das Verhältnis von είδος und ουσία von zentraler Bedeutung. Bei Stein hingegen rückt lediglich die ουσία ins Zentrum, ohne dass Stein den Begriff des είδος in der von Aristoteles geprägten Variante aufnähme. Vielmehr schließt Stein, wo sie von είδος spricht, an den

177 Ebd.178 Vgl. EES: 222: „[D]er Keim ist der Anfang des neuen Gebildes: er ist es, der andere Stoffe ,aufnimmt‘ und in ein neues Sein überführt. Das neue und andersartige Sein ist das ,Leben“, und die Form, die das Leben gibt, ist die,lebendige Form“ oder,Seele“. Weil das ganze Gebilde eines ist, muß auch das, was ihm Einheit gibt, eines sein. Das, was vor dem Beginn des Lebens vorhanden war, ist nach der Belebung nicht mehr dasselbe, was es vorher war. [...] Das spricht für die Auf­fassung, daß die Seele nicht nur das Leben gibt - als etwas zu dem bereits vorhandenen, an­dersartigen Sein Hinzulcommendes - , sondern das ganze Sein bestimmt.“179 „Der Zusammenhang von Form und Kraft leuchtet hier auf: Wesensformen sind als solche gestaltungskräftig. Von hier aus versteht man es, daß die Form als das eigentlich Seiende be­zeichnet wird, dem der Stoff sein Sein verdankt, und daß man schwanken kann, ob man nicht sie allein und nicht erst das Ganze ουσία oder Substanz nennen solle. Die Entscheidung für das Zweite wird dadurch nahegelegt, daß sie wesenhaft stoffgestaltend und darum niemals ohne Stoff ist.“ (ebd.: 206) An anderer Stelle bestimmt Stein noch deutlicher die Wesensform als das Wassern und Sosein vorrangig Bestimmende: „Was das Ding zu dem Bestimmten macht, was es ist, das ist seine Wesensform. Weil aber die Wesensformen der sogenannten „zusammengesetzten Substanzen“ sich notwendig in stofflicher Fülle auswirken, so gehört diese ihre stoffliche Fülle zu dem, was sie sind, und ihre Stoffbestimmtheit ist als Teil ihres individuellen Wesens anzusehen.“ (ebd.: 220)

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3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau 157

Platonischen Begriff der Idee bzw. des Urbildes an180 oder bestimmt das είδος als ουσία im Sinne der scholastischen Wesensform.181 Die Probleme, die Stein mit dem aristotelischen είδος-Begriff aufgrund ihrer scholastischen Prägung hat, zeigen sich auch darin, dass sie das είδος und μορφή für gleichbedeutend hält und beide der ουσία zu- und unterordnet,182 beide damit hinter dem weitgefassten und fundamentalisierten Begriff der ουσία zurücktreten lässt. Die Wesensform wird von Stein explizit als ουσία bestimmt, auch wo sie eine dem είδος bei Aristoteles vergleichbare Bedeutung hat, d.h. auf der Ebene des Lebewesens als das ins Verhältnis zum Stofflichen tretende Prinzip fungiert. Diese begriffliche Straffung verdankt sich Steins Prägung durch Thomas von Aquin, dessen Philosophie im Ganzen als eine auf mehreren Ebenen (Theologie, Kosmologie, Naturphilosophie) entfaltete Substanzenlehre angesehen werden kann. Dementsprechend bestimmt Stein die innerhalb des Stoff-Form- Verhältnisses auftretende Form (scholastisch: form a substantialis)183 als Wesensform und diese wiederum als Kraft,184 vermöge derer etwas in Bewegung sich Befindendes sich als sich selbst Bewegendes qua­lifiziert.

Die als Kraft aufgefasste ουσία vollbringt die Leistungen (εργον), die teleo­logisch hingeordnet sind auf eine bestimmte „Zielgestalt“, die den „Sinn“ der Verwirklichungsleistungen und damit die εντελέχεια, darstellt: „Der Sinn ist die Zielgestalt, auf die die Seele durch ihre Wesensbestimmtheit hingeordnet ist; die Kraft oder Seinsmacht ist ihr gegeben, um das zu werden, was sie sein soll.“185 Um die εντελέχεια zu verwirklichen - der finale Charakter der Aussage bringt die

180 Vgl. Ebd.: 63,150. Diese Übersetzung von είδος mit Urbild steht in einem schwer nachvoll­ziehbaren Zusammenhang mit einem von Stein angeführten Zitat aus der Metaphysik, wo είδος mit ουσία übersetzt wird, vgl. ebd.: 151. Auch da, wo Stein Aristoteles’ Philosophie erläutert, übersetzt sie είδος merkwürdigerweise platonisch mit Urbild: „Es schien, als bleibe dann gar nichts; aber es muß nun doch noch etwas anderes am Aufbau des Dinges beteiligt sein, und dieses [gegenüber dem Stoff und den Bestimmungen des Stoffes, S. E .[,Dritte“ muß das sein, was ihm Halt und Grund gibt und es zu dem ausgezeichneten Seienden macht, das es ist. Aristoteles nennt es μορφή (Form) oder είδος (Gestalt, Urbild).“ (Ebd.: 124) Wenige Seiten weiter kritisiert Stein dann aber, dass Aristoteles ein solches Drittes verworfen habe, vgl. ebd.: 136).181 Vgl. Ebd.: 123.182 „Man pflegt mit ,Form‘ den aristotelischen Ausdruck μορφή wiederzugeben. Aristoteles braucht ihn öfters wechselweise mit είδος, aber wir sahen schon, daß dies nur möglich ist, wenn man είδος nicht im Sinn der platonischen Idee faßt; denn μορφή bezeichnet nicht etwas vom Ding Getrenntes, sondern etwas zu ihm Gehöriges. Man sagt dafür heute auch,Wesensform“, weil ,Form“ in der neueren Philosophie einen ganz anderen Sinn angenommen hat.“ (ebd.: 140f.)183 Vgl. auch Ebd.:221.184 „Eine solche Form ist lebendig: d.h. ihr Sein ist Bewegung aus sich selbst heraus; und kraftbegabt: d.h. zu bestimmt geartetem Wirken fähig.“ (EES: 205f.)185 Ebd.: 366.

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teleologische Struktur in der Satzform zum Ausdruck - , ist der Seele die Kraft gegeben, das urbildlich bestimmte Wesen („Wesensbestimmtheit“) zu verwirkli­chen. Wäre das Gelingen der Realisierung jedoch mit der Wesensbestimmtheit garantiert, würde die Pflanze kein Lebendiges darstellen; Stein zufolge zeugen aber „Entwicklungshemmungen und Mißbildungen“186 im Pflanzenreich davon, dass auch „die Pflanzenwelt [...] unter dem Gesetz der Sünde“187 stehe, unab­hängig davon, ob diese Missbildungen exogen oder endogen verursacht sind. Das Gesetz der Sünde wird von Stein auch ontologisch gefasst, nämlich als Ausein­andertreten von Stoff und Form:

Bei den Lebewesen treten Form und Stoff auseinander. Die Form ist .lebendige Form“ oder ,Seele“. Sie hat die Macht, das Ganze auf eigentümliche Weise zu gestalten und zu beleben. Ihr Sein ist Leben, und Leben ist fortschreitende Stoffgestaltung und damit fortschreitende Verwirklichung des Wesens, das in der eigentümlichen Formung des Stoffes besteht.188

Damit wird Entscheidendes gesagt: Zum einen, dass das Auseinandertreten von Stoff und Form bei gleichzeitigem Hingeordnetsein des aus beiden sich zusam­mensetzenden Lebewesens den Unterschied zwischen lebendigem und bloß dinglichem Sein ausmacht. Kreatürliches Leben189 ist dadurch Leben, dass es seine εντελέχεια, seine Zielgestalt, verfehlen kann; dingliches Sein, z.B. Ma­schinen, können nur dysfunktional in dem Sinn sein, dass sie von außen gesetzte Zwecke unzureichend oder gar nicht erfüllen; ihnen wohnt allerdings keine Zielgestalt inne, d. h. sie sind nicht das Abbild eines Urbildes, das ihre Stellung in einem kosmischen Ganzen bestimmt. Um einen lebendigen statt um einen me­chanischen Prozess handelt es sich bei der Verwirklichung der Zielgestalt, weil die Stoffgestaltung durch die ουσία bzw. die Wesensform, die auch als Seele und Kraft bestimmt werden, zu leisten sei.190 In der Entfaltung der Kraft im Lebendigen fällt das Sein in seiner metaphysischen Bedeutung mit dem Leben zusammen, weil

186 Ebd.: 232.187 Ebd.188 Ebd.: 238.189 Dabei ist zu beachten, dass Stein, wie aus der oben angesprochenen Entstehung des Le­bendigen (Pflanze) aus dem Nicht-Lebendigen (Samen) hervorgeht, den Samen nicht als zum Bereich des Lebendigen gehörend betrachtet und diesen auf Pflanze, Tier und Mensch beschränkt.190 Wie in der Aristotelischen so meint auch in Steins Philosophie έντελέχεια sowohl mehr auch etwas anderes als Drieschs Begriff der Entelechie (nicht umsonst vermeidet Driesch die griechi­sche Schreibweise), der auf einen spezifischen Faktor zielt, der ein Ding zu einem lebendigen Ding macht, denn die Wesensform im zweiten Sinne zielt nicht nur auf das, was Lebendiges zu solchem macht, sondern auf das, was Lebendiges in seiner spezifischen Entwicklung bestimmt. Was Stein zufolge ein Wesen zu einem Lebewesen macht und in seinem Sein und Entwicklungsgang be­stimmt, ist die Wesensform, die Stein auch explizit als „Seele“ bestimmt.

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3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau 159

„Sein [...] als das Sichauswirken der Wesensform, als die Entfaltung zum ausge­wirkten Wesen“191 zu verstehen sei, welche Entfaltung die Gestalt des Lebens annehme, weshalb diese Entfaltung sich zeige „als die Verwirklichung der im Wesen begründeten Möglichkeiten (darin ist die Zeitlichkeit eingeschlossen und d ie ,Macht zum eigenen Sein“) und bei der besonderen Gattung des Seienden, die wir als , Stoff bezeichnen, [als] das Sich Hineingestalten in den Raum, Sich-aus- breiten, Sich-darbieten und Sich-auswirken im Raum“.192 Das ausgewirkte Wesen ist nicht das endliche Sein, sondern „wirkliches“ im Unterschied zu „wesenhaf- tem“ Sein; das wirkliche Sein entfaltet sich zwar als endliches Sein, jedoch gemäß seiner ihm als wirklichem Sein und in seinem Wirklichsein inhärierenden Mög­lichkeiten, und es wird, indem es als „endliches“ angesprochen wird, in einem unauflösbaren Verhältnis zum ewigen Sein bestimmt,193 weshalb Stein das end­liche Sein als „Entfaltung eines Sinnes“194 bestimmt, der im Verhältnis von wirklicher Gestalt und wesensbestimmter, also letztlich metaphysisch bestimmter Zielgestalt gründet.195 Die Zielgestalt ist dabei das Moment, wodurch ein wirkli­ches Sein über sich selbst hinaus ist gem äß seinem Bestimmtsein durch das we­senhafte Sein, auf welches es gleichwohl nicht als auf eine begrifflich einholbare Referenzgröße explanativ bezogen werden kann, weil das Abbild kein Bild des Urbildes geben kann (was in einer Erklärung des Abbildes durch das Urbild der Fall sein können müsste); es ist über sich hinaus, indem das zeitlose, wesenhafte Sein im der Zeitlichkeit unterworfenen wirklichen Sein widerspiegelt: „Endliches Sein ist Entfaltung eines Sinnes; wesenhaftes Sein ist zeitlose Entfaltung jenseits des Gegensatzes von Potenz und Akt; wirkliches Sein Entfaltung aus einer Wesensform heraus, von der Potenz zum Akt, in Zeit und Raum.“196 Wollte man das endliche und das wirkliche Sein gleichsetzen, so müsste man den Sinn in das Spiel von Potenz und Akt hineinziehen und das endliche Sein als Verwirklichung von Möglich­keiten („fortschreitende Verwirklichung seines Wesens“, siehe obiges Zitat) auf­fassen, welche letzteren dann allerdings das wesenhafte Sein sein müssten.

191 Ebd.: 236.192 Ebd.193 „Das endliche Sein als solches verlangt danach, vom Ewigen her begriffen zu werden.“ (Stein 2006a: 493)194 EES: 284. - Die metaphysische Bedeutung des Sinnbegriffs wird auch an anderen Stehen deutlich, so z.B., wenn Stein behauptet, die Abbilder seien das „Abgeleitete, das durch das Ab­bildverhältnis seinen Daseinssinn empfängt“ (ebd.: 111).195 Der Begriff der Zielgestalt spielt nicht nur in der Explikation des pflanzlichen, sondern auch das menschlichen Seins eine gewichtige Rohe: „Der Sinn ist die Zielgestalt, auf die die Seele durch ihre Wesensbestimmtheit hingeordnet ist; die Kraft oder Seinsmacht ist ihr gegeben, um das zu werden, was sie sein soll.“ (ebd.: 366)196 Ebd.: 284.

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Zum anderen - darauf soll hier nur kursorisch eingegangen werden - wird an der zitierten Stelle von Stein gesagt, dass der Seinsbegriff nicht als alleiniger philosophischer Fundamentalbegriff fungieren kann, weil die Verwirklichung von Sein die Gestalt von Leben annehmen müsse. Die implizite Heidegger-Kritik, die hier enthalten ist, weist eine gewisse Nähe zu Plessners späterer Heidegger-Kritik auf. Während Plessner allerdings gegen Heidegger darauf beharrt, dass Leben Sein berge,197 behauptet Stein, dass Sein, das im Unterschied zu Heidegger auf scho­lastische Weise metaphysisch gedacht wird, sich notwendig als Leben verwirkli­chen müsse. So fragt Stein, die klassische ontologische und implizit naturphilo­sophische198 Entleerung des Begriffs des „Daseins“ im Blick habend: „Was bleibt vom Menschen übrig, wenn von Leib und Seele abgesehen wird?“199 Stein hält Heidegger vor, in seinem Versuch, seine Fundamentalanthropologie gegen eine jede Anthropologie abzuschotten, die Spezifik der menschlichen Endlichkeit nicht entfalten zu können. Der Mensch sei ens creatum und als solches Teil der Natur und Endliches inmitten von Endlichem, das als solches, d. h. unabhängig von seiner kreatürlichen Spezifikation, auf Ewiges bezogen und durch Ewiges bedingt und getragen sei. Das spezifische Endliche, das kraft seiner Personalität und seines Geistes auf Transzendenz bezogen sei, sei der Mensch, nicht ein jegliches Endliches:

,Ens creatum“ hat nicht nur die Bedeutung eines tatsächlichen Geschaffenen, sondern eines auf Grund seiner Endlichkeit wesenhaft durch das Unendliche Bedingten. Darin ist also der Sinn von Endlichkeit eingeschlossen:,etwas und nicht alles seiri. Dieser Sinn von Endlichkeit findet seine Erfüllung aber nicht nur im Menschen, sondern in jedem Seienden, das nicht Gott ist. So gehören Endlichkeit als solche und Transzendenz nicht ohne weiteres zusammen. Transzendenz bedeutet das Durchbrechen der Endlichkeit, das einem personal-geistigen und als solchem erkennenden Wesen in und mit seinem Seinsverständnis gegeben ist. Heidegger spricht wohl einigemal von der spezifischen Endlichkeit des Menschen, aber ohne jemals zu erörtern, was er darunter verstanden haben will.200

Diese Kritik Steins trifft sich mit Plessners Heidegger-Kritik darin, dass eine Dialektik der Anthropologie-Vermeidung (in beider Sinn implizit auch eine Ver­meidung naturphilosophischen Denkens) bei Heidegger offengelegt wird: Weil Heidegger sich der philosophischen Anthropologie verweigert, wird er von an­

197 Vgl. Plessner 2003b: 388 f.198 Implizit naturphilosophisch, weil das klassische, von Aristoteles geprägte Vokabular, seine genetische Verwurzeltheit in der aristotelischen Naturphilosophie nie ganz abstreifen kann.199 Stein 2006a: 464.200 Ebd.: 489.

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3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau 161

thropologischen Unterscheidungen, die seine Fundamentalontologie201 durch­walten, eingeholt. Diese Unterscheidungen nehmen dann die Gestalt von Vorur­teilen an, die nicht begründet werden und die darüber hinaus gegenüber Be­gründungsansprüchen unsichtbar gemacht zu werden versuchen. Mit Plessner stimmt Stein auch darin überein, dass ein menschliches Endliches als Person zu spezifizieren wäre und damit innerhalb des grundbegrifflichen Horizonts der philosophischen Anthropologie, den diese Scheler verdankt. Darauf wird später ausführlicher zurückzukommen sein.

3.6.2 Die zweite Stufe im Stufenreich:Das Tier oder Die Entstehung der Subjektivität

3.6.2.1 Der Aufbruch des InnerenWir haben gesehen, dass sich anhand der Pflanze die Grundbegriffe der Ontologie des Lebens, wie Stein sie in ihren Hauptwerken entfaltet, bereits skizzieren lassen. Diese Ontologie wird ausbuchstabiert entlang der ,,thomistische[n] Auffassung der Seele [...], die - mit Aristoteles - in der Seele die Wesensform alles Lebendigen sieht und verschiedene Stufen solcher Formung unterscheidet, je nachdem da­durch nur lebendige Stoffgestaltung oder auch ein .inneres* Leben hervorgebracht wird“.202 Das innere Leben erscheint gemäß der klassischen Ontologie innerhalb der Natur erstmals auf der Stufe des Tieres: „Das, was wir für das Tier gegenüber der Pflanze als wesentlich Neues fanden, war der Aufbruch eines .Inneren*.“203 Dieser Aufbruch des Inneren bildet sich vermöge der spezifischen Tierseele aus, deren Differenz zur Pflanzenseele den Charakter eines ontologischen Aufstiegs statt einer bloßen Andersartigkeit annimmt: „Nach dieser Abstufung ihrer Leis­tungen unterscheiden sich Pflanzen-, Tier- und Menschenseele (= Lebens-, Empfindungs- und Vernunftseele), und zwar so, daß die höhere dasselbe leistet wie die niederen und hinzufügt, was ihre besondere Aufgabe ist.“204 Weil die Differenz zwischen den Lebensformen keine bloß natürliche und naturalistisch konzipierbare, sondern eine der Wesensformen ist, findet keine Entwicklung vom pflanzlichen Dasein heraus ins tierische hinein statt. Übergänge wären denkbar unter rein naturalistischen Voraussetzungen als Selbstdifferenzierung der Gattung in verschiedene Arten, d. h. unter der Voraussetzung einer alle Arten übergrei­fende, etwa durch die Natur verbürgte Identität in der Differenz. Weil im Tier zur

201 Ebd.202 EES: 313.203 PuA: 218.204 EES: 313 f.

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162 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

Lebensseele jedoch eine Empfindungsseele hinzutritt, verkörpern beide als Le­bensformen asymmetrische Voraussetzungen, aufgrund welcher Lebensformen nur im Verhältnis der unüberbrückbaren Differenz zueinander auftreten können:

Es sind gewisse Pflanzenspezies für andere vorausgesetzt und gewisse Tierspezies für an­dere, aber nicht gewisse Pflanzenspezies für gewisse Tierspezies und auch nicht die Pflan­zenspezies als Gesamtheit für die gesamte Tierspezies, so wie die materielle Natur für die belebte, für Pflanzen- und Tierwelt, vorausgesetzt ist: Es ist kein Übergang vom einen zum andern möglich.205

Die Differenz der Seelenformen und damit der Wesensformen markieren eine unüberschreitbare ontologische Grenze, die in der Natur als dem Reich der Ab­bilder der Urbilder sich abbildet statt von der Natur selbst (jedenfalls im natu­ralistischen Sinn des Begriffs) hervorgebracht zu werden.

Der „Aufbruch des Inneren“, der phänomenologisch im Verhalten des Tieres aufscheint, gründet ontologisch in der Wesensform bzw. der substantialen Form des Tieres und deren spezifischen Leistungen: „Das Sein der substantialen Form ist hier nicht nur Leben als Gestaltung toter Materie zum Organismus, sondern inneres Leben, Sichfühlen im Leib und eine Beherrschung des Leibes in ,freier* Bewegung, die nicht nur unmittelbar im Dienst der Formung des Organismus steht.“206 In dieser Formung, die eine Formung des tierischen Leibes durch das Tier selbst207 ist statt bloß eine Formung der Art, die durch das einzelne Tier hindurchgeht, spricht sich ein „Eigenwesen“208 des nicht nur des Tieres als sol­chen, sondern auch des individuellen Tieres aus, das es von der Pflanze unter­scheidet, bei welcher „die Erhaltung der Art der hauptsächliche Lebenssinn“209 bilde. Die Seele des Tieres, d.h. seine Wesensform, tritt in ein Verhältnis zur physischen Konstitution des Tieres, weshalb Stein das Tier eine „leiblich-seelische Gestalteinheit“210 nennt. Was dergestalt im Tier sich ausprägt, ist eine Indivi­dualität; das Tier ist nicht mehr nur Durchgangspunkt, sondern es hat - und deshalb bildet es eine „Gestalteinheit“ - in sich einen sein Verhalten organisie­renden „Mittelpunkt“, der sich allerdings nicht wiederum selbst gegeben ist, d. h.

205 PuA: 218.206 Ebd.207 So werde „der Körper des Tieres Leib [...] dadurch, daß die Seele in ihm - in einem von allem Räumlichen unterschiedenen Sinn des ,in‘ - ihr eigenes inneres Leben hat und ihn nicht nur formen, sondern den geformten handhaben kann in äußerer Tätigkeit“. (EES: 229 f.)208 Ebd.: 230.209 Ebd.210 Ebd.: 315.

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3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau 163

das Verhalten des Tieres trägt den Charakter der Antwortlichkeit, nicht aber den der Freiheit:

Es steht als dieses Ganze in seiner Umwelt und setzt sich als Ganzes in der ihm eigenen Weise damit auseinander. Es setzt sich damit auseinander vom innersten Punkt seines Seins her, wo der Umschlag erfolgt von äußeren Eindrücken zu antwortendem Verhalten. Es ist dies ein lebendiger Mittelpunkt, in dem alles zusammenströmt und von dem alles ausgeht: das Spiel von ,Gereiztwerden‘ und Antworten ist Ichleben. Aber es ist kein bewußtes Erleben und kein freies Stellungnehmen: dieses Ich ist dem ,Getriebe“ seines Lebens ausgeliefert und hinge­geben, es steht nicht persönlich aufgerichtet dahinter und darüber.211

Den Charakter der Antwortlichkeit des tierischen Verhaltens resultiere aus einer „Empfindlichkeit für das, was ihr [der Tierseele, S. E.] von außen begegnet, die wie eine Vorstufe intellektuellen Geöffnetseins, ein Reagieren darauf mit Leib und Seele, das wie eine Vorstufe freien Handelns und persönlicher Beherrschung des Leibes ist“.212 Seine Verkörperungsleistungen sind Aktionen und Reaktionen und als solche ,„Ausdruck‘ des Seelischen“,213 das im Ausdruck ein Verhältnis zu Eindrücken verkörpert, weshalb Stein über die Eindrücke auch sagt, sie hinter­ließen ,„Spuren‘ in der Seele: eine Geneigtheit und Bereitschaft zur Wiederholung der entsprechenden Stellungnahmen, auch eine dauernde Gestimmtheit (das, was die Scholastik ,habitus* nennt)“.214

3.6.2.2 Ontologische Bestimmung des Tieres: Substanz, Potenz und AktDen Aufbruch des Inneren entfaltet Stein phänomenologisch und im weitesten Sinne psychologisch, so, wenn sie von der „Qual, die aus den Augen eines ver­wundeten Tieres schaut“,215 spricht, die „einer andern Welt [...] als dieser ganze tierische Leib“216 angehöre. In unserem Zusammenhang interessanter ist jedoch Steins ontologische Explikation der tierischen Seinsweise. Eine Rückbindung des tierischen Seins an die Natur, d. h. eine im modernen Sinne naturphilosophische Explikation desselben, vollzieht Stein nicht; einer zitierten Stelle aus einem Buch von Conrad-Martius, an welcher diese auf die Ausbildung von Nervenzentren bei Tieren spricht,217 geht Stein nicht weiter nach. Die naturphilosophische Expli­

211 Ebd.212 PuA: 219.213 EES: 359.214 Ebd.215 PuA: 218.216 Ebd.217 Vgl. EES: 230.

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kation der tierischen Seinsweise fällt somit vollständig in die Entfaltung der ontologischen Begrifflichkeit und bleibt damit den naturphilosophischen Ur­sprüngen des aristotelischen Kategorienbestandes verhaftet.218 „Das, woraus et­was wird, ist das, was wir Stoff nennen“219 - mit diesem Satz benennt Stein den Stoff als das naturphilosophische, gegenüber jeglicher Spezifikation in Lebens­formen indifferente Substrat des Werdens. Dieses Substrat ist nicht aus sich selbst heraus entfaltungsfähig, weshalb Pflanze und Tier werden, indem dieses Substrat seine Formung zum pflanzlichen Körper, der sich selbst nicht gegeben ist, und zum sich selbst gegebenen tierischen Leib erfährt. Stein zufolge ist das, „wodurch es wird, etwas naturhaft Seiendes“.220 Nicht der Stoff ist das konkrete Prinzip des Werdens, sondern das „naturhaft Seiende“; was dieses wiederum wird, hängt von dessen Wesensform, von seiner Substanz, ab. Der Substanzbegriff wird jedoch dem Naturbegriff subsumiert, denn Stein verwendet Natur in dreifacher Weise, als das (1) „woraus es ist“,221 d. h. im Sinne des Stoffes, (2) „das, was wird, z. B. Pflanze oder Tier“;222 (3) „das, wodurch es ist: die gleichartige, als Urbild (είδος) be- zeichnete Natur“.223 Das Tier wird hier in einem Zusammenhang mit der Pflanze genannt und kosmologisch eingebettet in die Natur als Natur, die aufgrund der Natur und seiner Natur als naturhaft Seiendes seine lebendige und urbildliche Natur zugleich realisiert. Dieses abstrakt gefasste Verhältnis des Tieres als eines naturhaft Seienden zu seiner natürlichen Umwelt und zu sich selbst spezifiziert Stein ontologisch und damit - aufgrund des eben Dargelegten - auch naturphi­losophisch genauer mittels der Termini von Akt und Potenz gemäß der Maxime, es müsse „sich auch das Sein der Tierseele als ein eigentümlicher Modus der Ak­tualität bzw. als ein eigentümliches Verhältnis von Akt und Potenz kennzeichnen lassen“.224

Die Tierseele bildet als die substantiale Form innerhalb der Form-Materie- Relation das Form-Moment und zugleich als Wesensform die Substanz der im tierischen Leben verkörperten Leib-Seele-Einheit. Aufgrund ihrer handelt es sich beim tierischen Körper um einen Leib, genauer um zu einem Leib geformten Stoff

218 Damit gehen zwei Probleme einher: (1) Naturphilosophie ist hier bloß ein durchscheinender Rest, dessen systematische Aufnahme und Weiterentwicklung ausbleibt. (2) Die historische Transformation von Begriffen kann in völlig gegenläufiger, also genuin nicht-naturphilosophi- scher Absicht erfolgen, was die in (1) angesprochene Problematik so weit verschärfen kann, dass naturphilosophische Gehalte keine Gehalte, sondern nur mehr ideenarchäologische Relikte sind.219 Ebd.: 150.220 Ebd.221 Ebd.222 Ebd: 150.223 Ebd.224 PuA: 219.

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3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau 165

bzw. Materie.225 Im Prozess der Formung fungiert für das Tier die Umwelt wie­derum als ,„Materie* für die formende Kraft der Tierseele“.226 Der daraus resul­tierende Anschein, die Umwelt sei für die Tierseele schlicht zu formende Materie und daher Potenz für die Seele als Akt, trügt, denn der ontologische Status der Tierseele bzw. der tierischen Wesensform ist Stein zufolge zutiefst ambivalent: Einerseits wird sie als „Aktionszentrum in diesem Ganzen“227 bestimmt, welches in demselben „räumlich [...] durch ihren Leib“228 und „in ihrem Leib“229 wirke, im Leib also verkörpert ist und den Körper verleiblicht;230 zugleich aber sei die Seele „nicht nur Akt für die Potenz der Leibesmaterie“,231 sondern darüber hinaus, obzwar sie „Akt für eine ganze Fülle von Potenzen ihrer Umwelt“232 sei, auch „auf formende Akte aus der Umwelt angewiesen [...], um in ihren spezifischen Akt überzugehen“,233 mit anderen Worten: Die „Aktualisierung dessen, was potentiell in ihr ist, steht nicht in ihrer Macht“.234 Das Aktionszentrum des Tieres, welches nicht zugleich ein Machtzentrum ist und somit auch kein Organ von Autonomie sein kann, ist ontologisch zwischen Akt und Potenz gespannt, weder Akt-Zentrum im starken Sinne, noch bloße Potenz der Umwelt und Spielball äußerer Einflüsse. Da der Tierseele „eigenes spezifisches Sein nur aktuell werden kann durch ak­tuelles Sein, das nicht ihr eigenes ist“,235 ist das Aktionszentrum des Tieres we­sentlich Reaktionszentrum: „Alle ihre [der Tiere, S. E.] Aktionen in der äußeren

225 Vgl. PuA:219.226 Ebd.227 Ebd.: 220.228 Ebd.229 Ebd.230 Stein verwendet in der Tat in Potenz und Akt den Begriff des Leibkörpers, wenngleich - der Kenntnis des Autors nach - nur an einer Stelle und somit ohne eine systematische Ausdeutung seines Erschließungspotenzials, wo sie sagt, dass „die ganze Seele als Form dieses Leibkörpers bezeichnet“ (PuA: 224) werden könne. Dass Stein den Begriff überdies nur in einem Abschnitt verwendet, in dem sie von der tierischen Seinsweise handelt, wohingegen Plessner die Grundlagen seiner Rollentheorie und der Verhaltensgrenzen in Lachen und Weinen im Ausgang vom Begriff des Körperleibs entwickelt, zeugt ebenfalls von der Beiläufigkeit einer Wortprägung, welcher keinen terminologischen Status für sich beanspruchen kann. Auch die Anordnung der beiden Elemente des Kompositums „Leibkörper“ (statt „Körperleib“) indiziert, dass Stein hier vor allem auf den Leibcharakter des tierischen Körpers und damit auf das spezifische Neue in der Seinsweise des tierischen gegenüber dem pflanzlichen Sein zielt statt auf ein im weiteren Verlauf zu elaborie- rendes anthropologisches Novum, das auf der Stufe des Menschen eine wiederum neue Qualität gewinnt.231 Ebd.: 220.232 Ebd.233 Ebd.234 Ebd.235 Ebd.

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166 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

Welt und auch alle ihre inneren Bewegungen sind Reaktionen, Aktuellwerden ihres eigenen Seins in der Berührung mit fremdem.“236 Gemäß der klassisch ontologischen Bestimmung der Potenz als Unvollkommenheit und Graben zwi­schen der Aktmächtigkeit und der Gebundenheit an Äußeres (hier an die Umwelt, im theologisch-finalen Sinne an Gott) ist das Sein des Tieres ontologisch ironis­cherweise umso mehr von Potenzialität geprägt, je stärker es in sich heteronom verfasst ist und die Umwelt nicht seinen genuin eigenen Aktualisierungskapazi­täten unterworfen ist. Der Passivität des Reagierens entspricht dessen Gestalt als innerer Widerhall, den Stein „Empfindung“ nennt;237 die Innerlichkeit des Tieres ist reduziert auf ein im Empfinden und Fühlen Gegebensein von Umweltlichem, sie ist nicht eröffnend, sondern bloß das Reich stummer Qualitäten von auf das Tier Einwirkendem.

Die Seele des Tieres, d. h. dessen Substanz, wird jedoch nicht im Spiel der Potenzen aufgelöst, sondern sie formt sich innerhalb dieses Spiels als ein sowohl dieses Begrenzende als auch durch dieses begrenzt Werdendes. Die Potenz un­terminiert nicht den Akt-Charakter der Seele und somit ihre Substantialität, sondern Stein zufolge bezeichnen Substanz, Potenz und Akt „drei Stufen im Aufbau der Seele“.238 Was die Substantialität der Substanz garantiert, ist, dass sie ein „Zeitfüllendes ist, also Dauerndes, das seine Dauer mit einem im Wechsel beharrenden qualitativen Bestände füllt“.239 Nicht selbst bloß Innerzeitliches zu sein, in den Wechsel der eigenen Zustände nicht im Sinne der Selbstauflösung hineingezogen werden zu können, sondern diesen Wechsel und die diesen um­greifende Dauer zu ermöglichen als Beharrendes, unterscheidet die Seele qua Substanz wesenhaft vom Wechselnden, welches Stein als „qualitative Modifizie­rungen des beharrenden Bestandes“240 bestimmt. Die Unterscheidung zwischen der Substanz bzw. Seele als dem Beharrenden und den qualitativen Modifizie­rungen ist jedoch keineswegs starr, denn die Substanz müsse „in einem der wechselnden qualitativen Modi aktuell sein, muss [...] immer mindestens eine der zugehörigen Potenzen“241 aktualisieren, da sie ansonsten rein formaler Natur und kein wirkliches Seiendes wäre.242 Dieser qualitative Modus, in dem die Substanz

236 Ebd.237 Ebd.238 Ebd.239 Ebd.: 221.240 Ebd.241 Ebd.242 Die Selbstgenügsamkeit des Formalen wird aber gerade von Stein bestritten: „Die Gehalte seelischer Akte können nur im lebendigen Vollzug der Akte durch ein seelisches Subjekt ins Dasein treten.“ (PuA: 222)

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3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau 167

notwendig existieren muss, nennt Stein einen „seelischen Akt“.2n Formales und Materiales bilden daher als unauflösliche Einheit das Wesen der Seele: „Sub­stantiate Form oder Wesen der Seele ist demnach der beharrende qualitative Bestand, der ein Quantum, die seelische Kraft, qualifiziert, und die formale Struktur, die ihn an einen Bestand von Potenzen und wechselnden seelischen Akten bindet.“243 244 Was Stein hier als Qualifizierung des Quantums und als den Inbegriff der seelischen Kraft anspricht, ist das, „was ihr Wesen ausmacht“.245 Dieses sei nicht zu trennen ist von dem, „was ihr als dauernde Eigenschaft zu­kommt“,246 nämlich die Realisierung von Potenzen in seelischen Akten. Die „formale Struktur“, von der Stein spricht, ist realiter nicht denkbar ohne die qualitativ bestimmten Potenzen,247 von denen Stein an anderer Stelle als von „vorübergehenden Zuständlichkeiten, die wir ihres Seinsmodus wegen Akte nennen“,248 spricht und zu denen als zu „dem, was aktuell beharrt, wesensmäßig ein Bestand an Potenzen hinzugehört“,249 wobei das Hinzugehörende nicht we­senskonstitutiv ist, sondern das, was vorhanden sein muss, damit das Wesen sich realisieren kann.

Die Begriffe von Akt und Potenz sind im Ausgang vom Wesen der tierischen Seele ambivalent zu fassen: Die Potenzen der Umwelt sind als Potenzen insofern Akte, als sie die Seele des Tieres aktual bestimmen; ihnen kommt also, wenn sie bestimmend wirken, als Potenzen Akt-Charakter zu. Doch auch da, wo die Po­tenzen die Seele des Tieres und sein Verhalten als reaktives Verhalten bestimmen, ist die seelische Kraft des Tieres nicht unterminierbar, bildet diese doch als die beharrende qualifizierende Kraft „Form und Akt im Verhältnis zu dem wech­selnden Bestand“250 an Potenzen. In der Sphäre des Verhaltens spiegelt diese Unaufhebbarkeit der qualifizierenden Kraft der Seele sich darin wider, dass das Tier im Zustande des Bestimmtwerdens durch Äußeres etwas erleidet. Die Seele bzw. Substanz ist also auch da, wo sie von den Potenzen aktual bestimmt wird, immer noch eine beharrende Aktualität, wenngleich eine heteronom bestimmte. Die Substanz stellt hier einen Ermöglichungsgrund dar, der über die Verwirkli­chung von Potenzen nur in äußerst beschränktem Maße verfügen kann, diese also

243 Ebd.244 Ebd.: 221.245 Ebd.: 220.246 Ebd.247 „Die Spezies seelischer Akte bilden die Mannigfaltigkeit qualitativer Modi, in deren Wechsel eine Substanz aktuell sein kann.“ (Ebd.: 221)248 Ebd.: 220.249 Ebd.: 221.250 Ebd.

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168 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

nicht im Sinne einer Macht zur Ermöglichung ermöglichen kann: „Wie die Materie der Körper und ihre Akzidenzien nur durch die Vereinigung mit einer substan- tialen Form von der Potentialität zu aktuellem Sein übergehen, so auch die see­lischen Akzidenzien und diese .Materie der Seelen*.“251 Sie bildet einen Ermög­lichungsgrund, allerdings vor dem Hintergrund einer doppelten Abhängigkeit: (1) Sie muss die Verwirklichung der Potenzen vollziehen (die Potenzen aktualisieren) und somit im Akt der Potenzen sich bemächtigen als (2) von den Potenzen selbst wieder abhängige Entität, die von den Potenzen als Aktualitäten teilweise in ihrer eigenen Aktualität bestimmt wird.

Mit dem „Aufbruch des Inneren“ verkompliziert sich nicht nur das Verhältnis von Substanz, Potenz und Akt, auch der Entelechie-Begriff erfährt eine Modifi­kation. In einer den Begriff der εντελέχεια gleichermaßen allgemein wie funda­mental bestimmenden Passage, in welcher Stein zwar auf den menschlichen Organismus im Konkreten zielt, aber mit allgemeinen Ausführungen zum Le­bendigen beginnt, auf die hier Bezug genommen wird, schreibt Stein über den körperlichen Gestaltwandel:

Dieses Sichgestalten von innen her ist eine eigentümliche Seinsweise, die Seinsweise des Lebendigen. Das von innen her Gestaltende wird von Thomas von Aquino als innere Form bezeichnet. Er nennt es im Anschluß an Aristoteles auch Seele, und zwar hier, wo es nur Prinzip des Lebens ist, Lebensseele (anima vegetativa). Aristoteles hat schließlich dafür noch den Namen Entelechie. Und wir verstehen das daraus, daß der Gestaltungsprozeß ein τέλος hat, daß er auf eine bestimmte Gestalt abzielt.252

Der Begriff der inneren Form mitsamt der Verwicklungen, die sich daraus ergeben, dass Akt und Potenz nicht trennscharf dem Inneren und der Umwelt über­schneidungsfrei zugerechnet werden können, gewinnt seine eigentliche Bedeu­tung nämlich zum ersten Mal in der Explikation der tierischen Seinsweise, in welcher das Innere als verhaltensbildendes und insofern, ontologisch gesprochen, teleologisches Moment aufbricht; das im Begriff der εντελέχεια enthaltene τέλος ist nicht mehr nur ein τέλος der blind durch das Tier hindurchgehenden Natur, sondern auch ein τέλος der Seele des Tieres (Wesensform, ουσία). Die Gestaltung des Körpers wird um die Gestaltung des Körpers in Relation zur Umwelt und zur Umwelt in Relation zum Körper erweitert, soweit eine Gestaltung in der Macht des Tieres steht. Im nicht-harmonistischen Sinne bildet das Individuum mit seiner Umwelt eine Einheit, deren Realisierung Stein als „Leben“ fasst:

251 Ebd.252 AmP: 38.

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3.6 Der „onto-anthropologische“ Stufenbau 169

Wie die körperliche Materie mit ihren Qualitäten den Raum füllt, so das seelische Leben mit dem, was es qualifiziert, die Zeit. Wie die Seele als Entelechie die Zusammenfassung der belebten Materie in die Form des Individuums, zum in sich beschlossenen Organismus, bedingt, so faßt sie auch ih r,Leben“ zu einer individuellen Einheit zusammen.253

Die Aufgabe der Zusammenfassung ihres Lebens zu einer Einheit erwächst der tierischen Seele aus der Komplikation, εντελέχεια sowohl für den Leib (wie im Fall der Pflanze) als auch - aufgrund des „Aufbruchs des Inneren“ - für sich selbst zu sein:

Die individuelle Einheit des seelischen Lebens ist einmal dadurch bedingt, daß die Seele nicht nur für den Leib, sondern auch für sich selbst Entelechie ist, d. h. ein Telos in sich trägt, dem ihr Leben zustrebt, und daß sie sich als e in ,Organismus“ aufbaut, d. h. als ein Ganzes, in dem alle Teile nach einer festen Ordnung Zusammenwirken.254

Der „Aufbruch des Inneren“,255 expliziert als eine basale Reflexivität der Seele, die für sich selbst Entelechie ist, gewinnt eine Qualität, die Stein diesen Aufbruch auch als „Durchbruch zur Subjektivität“ bezeichnen lässt: „Der Durchbruch nach innen, der die Tierseele von der Pflanzenseele scheidet, ist ein Durchbruch zur Subjektivität.“256 Letztere Formulierung hat eine signifikante ontologische Be­deutung, wird mit dem Durchbruch zur Subjektivität eine neue Qualität im ontologischen Stufenschema der Natur bezeichnet: Das Leben bricht im Tier zur Subjektivität durch, weshalb Stein die Einführung des Begriffs in einer differen­tiellen Betrachtung des Verhältnisses des Tieres als Lebensform im Verhältnis zur Lebensform der Pflanze verödet. Dieser „Durchbruch“ enthält im Unterschied zum mehrfach zitierten „Aufbruch“ eine stärkere Akzentuierung der Stellung des Tieres in der Natur und zur Natur (womit die, gleichwohl reflexionslose, Selbstgege­benheit in der Empfindung einhergeht), wohingegen der „Aufbruch“ stärker eine neue Qualität im phänomenologischen Sinne bezeichnet und in der phäno­menologischen Analyse der Verhaltensstruktur des Tieres ohne explizite Bezug­nahme auf einen ontologischen Aufbau der Natur sich ausmachen lässt.

Der „Durchbruch zur Subjektivität“ zeigt sich als ein über ein bloßes Emp­finden hinausgehendes reaktiven Verhalten des Tieres, das auf eine Umwelt ant­wortet, welche es allerdings nicht versteht: ,,[E]s wird nur ,affiziert‘ und .reagiert*

253 PuA: 222.254 Ebd.255 Um die entsprechende Textstelle hier noch einmal zur Vergegenwärtigung anzuführen: „Das, was wir für das Tier gegenüber der Pflanze als wesentlich Neues fanden, war der Aufbruch eines ,Inneren“.“ (PuA: 218)256 Ebd.: 222.

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in aktuellen und habituellen Stellungnahmen und gelangt auch darin zu einer niederen Vorstufe des intellektuellen Erkennens und Wissens.“257 Es ist ein Wollendes und seelisch Affiziertes, das etwas begehrt und etwas erleiden kann, das über einen Leib statt bloß über einen zwar lebendigen, aber in keiner Selbstempfindung sich nochmals gegebenen Körper verfügt; es verfügt also mit dem Leib zugleich über einen zu einem Seelischen in ein Verhältnis tretenden Körper,258 der in den „Wirkungszusammenhang seiner Umwelt“259 hineingestellt ist - für es existiert jedoch keine Welt, die es sich vergegenständlichend und/oder distanzierend anzueignen vermag. Die Subjektivität, deren Durchbruch die tieri­sche Seinsweise kennzeichnet, ist eine Vorstufe der Personalität, welche mit dem Menschen in die Natur tritt. Um diese geht es im folgenden Abschnitt.

3.7 Der Mensch als Gipfelpunkt des onto-anthropologischen Stufenbaus: Der Durchbruch zur Personalität und zur geistigen Person

3.7.1 Einleitung

Dem bereits angeführten Prinzip der Aufhebung gemäß, welches besagt, dass auf einer höheren Seinsstufe die seelischen Qualitäten der niederen Seinsstufen er­halten bleiben, die neue Lebensform aber im Ganzen eine inkommensurable Qualität annehme, die nicht durch das Hinzukommen einer neuen Eigenschaften oder dem additiven Auftreten eines eigenschaftlichen Surplus erklärbar ist, tritt mit dem Menschen ein Lebewesen auf die Bühne der Natur, das aufgehört hat, Tier zu sein, ohne deshalb aus der Natur, welcher das Tier verhaftet bleibt und in gewisser Weise verfallen ist, vollständig herauszutreten: „Zum Wesen des Men­schen als solchen gehört die Doppelnatur: geistige Person und leiblich gestaltet zu sein. Als Geist gehört er zur selben Gattung des Seienden wie die anderen ge­

257 Ebd.: 223.258 „Durch den Leib und im Leibe oder am Leibe trifft die Tierseele alles, was sie trifft.“ (ebd.: 223 f.) - De facto verwendet Stein in Endliches und ewiges Sein auch den Begriff des „Pflanzen­leibs“, grenzt ihn aber sachlich klar von der Bestimmung des tierischen Leibes ab, z. B. indem sie in Bezug auf die Pflanze sagt, dass „wir demnach auch die Form nicht als ,Alct‘ bezeichnen können, sondern nur als etwas,Aktuelles“, d. h. als das, was in dieser so gearteten Pflanze wirklich und wirksam ist und es macht, daß die Pflanze eine so geartete und wirkliche ist“. (EES: 223) An der gleichen Stelle spricht auch von einer bloß „passiven Potenz“ (ebd.) der Pflanze und unter­miniert damit systematisch den Begriff des Leibes, den sie nominell verwendet.259 Ebd.

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3.7 Der Mensch als Gipfelpunkt des onto-anthropologischen Stufenbaus 171

schaffenen Geister. Als leib-körperlich-seelisch gestaltet gehört er zur Gattung der Lebewesen.“260 Diese Doppelnatur ist nicht im Sinne einer Gespaltenheit zu verstehen, als sei der Mensch sowohl Gattungswesen als auch Person, ohne dass die Verbindung zwischen beiden als unexplizierbarer Hiatus hinzunehmen wäre, sondern die Zugehörigkeit zur Gattung der Lebewesen gibt dem Menschen seine Menschwerdung als Aufgabe auf: „Was der Mensch zu formen hätte, das wäre seine ganze animalische Natur. Und das Ergebnis dieser Formung wäre der voll ausgebildete, personal durchgeformte Mensch.“261 Die Naturwüchsigkeit, die den Menschen scheinbar an die Natur kettet, welcher er nicht zu entwachsen vermag, ist keine Fessel, sondern durch sie wird die Menschwerdung historisiert - und jedes substanzielle Werden setzt eine Historisierbarkeit des Werdens des Wer­denden im Ganzen voraus - , indem sie gedacht wird als eine Entwicklung, die schöpferisch vollzogen werden muss.

Die Differenz zwischen dem Menschen und dem Tier gründet in der Spezifik der menschlichen Seele, die Stein auch „Menschenseele“ nennt. Die entschei­dende, den Unterschied zwischen Mensch und Tier begründende Eigenschaft dieser Seele ist, dass sie als solche eine geistige Seele bzw. Geist sei:

Die Menschenseele als Geist erhebt sich in ihrem geistigen Leben über sich selbst. Aber der Menschengeist ist von oben und von unten bedingt: er ist eingesenkt in das Stoffgebilde, das er zu seiner Leibgestalt beseelt und formt. Die menschliche Person trägt und umfaßt,ihren“ Leib und ,ihre‘ Seele, aber sie wird zugleich davon getragen und umfaßt.262

Die Seele wird von Stein jedoch nicht leichthin mit dem Geist identifiziert, sondern der Geist als „Potenz der Seele“ verstanden: „Und wenn man von menschlichem Geist oder Intellekt spricht, so meint man damit eine Potenz der Seele“.263 Geist und Intellekt bilden spezifische Potenzen der Menschenseele, die als Seele den universellen Untergrund des Lebendigen, die ,„Wesensform‘ (ουσία) der beseelten Körper“,264 bildet, und Seele des Menschen einzig aufgrund des Geistes ist, der als differentia speciflca zwischen dem Menschen und dem Tier fungiert. Geist und Intellekt, die in dem zitierten Satz Steins durch das „oder“ mit dem Anschein wechselseitiger Substituierbarkeit ausgestattet werden, können jedoch nicht einfach gleichgesetzt werden. Vielmehr tut sich dem Leser von Steins Schriften ein kompliziertes terminologisches Geflecht auf, da Stein sich einer Reihe philoso­

260 EES: 424.261 AmP: 80.262 EES: 310.263 AmP: 99.264 EES: 163.

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phiehistorisch schwerbeladener Begriffe bedient, die teilweise nicht streng defi- nitorisch geschieden, aber an zentralen Stellen verwendet werden. Bei diesen Begriffen, deren relationale Bestimmung nötig ist, um den Begriff des Geistes explizieren zu können, handelt es sich neben dem des Geistes um die Begriffe des Verstandes, des Intellekts, der Vernunft und des Bewusstseins. Zunächst zum Begriff des Bewusstseins.

3.7.2 Der Begriff des Bewusstseins

Der Begriff des Bewusstseins fungiert bei Stein nicht als philosophischer Fun­damentalbegriff in dem Sinne, dass das Proprium des Menschen und die seine Überlegenheit gegenüber dem Tier begründende Dignität im Bewusstsein zu finden wären. Hierin zeigt sich der Vorrang des Einflusses von Thomas von Aquin gegenüber dem Einfluss Husserls, bei welchem Bewusstsein als philosophischer Fundamentalbegriff auftritt und damit als einzig möglicher Ansatzpunkt eines metaphysischen Denkens überhaupt in Frage kommen kann. Stein depotenziert aber den Begriff des Bewusstseins jedoch nicht, indem sie ihn anders als in der Phänomenologie auffasst, sondern gerade dadurch, dass sie das Bewusstsein phänomenologisch ernstnimmt und es auf die Sphären von Wahrnehmung, Er­lebnis und Intentionalität beschränkt. So spricht Stein z. B. von der

ursprünglichen Erlebnisrichtung, ehe noch ein rückwärts gewandter Blick (eine .Reflexion1) -aufmerkend, beachtend, beobachtend oder zergliedernd - dem Erlebnis sich zuwendet, wie die ursprüngliche Form des .Bewußtseins“ das Ichleben begleitet, ohne sich als eine be­sondere .Wahrnehmung“ davon abzuspalten und sich ihm zuzuwenden.265

Bewusstsein ist so verstanden „Bewusstsein von“ und als solches gegenständlich gebunden; es ist aber nicht per se das Proprium des Menschen. Dennoch kommt ihm eine spezifische Qualität zu, weshalb Stein unterscheidet zwischen der „niederen Form des dumpfen sinnlichen Spürens“266 und „der höheren des wa­chen Bewußtseins“,267 den qualitativen Unterschied damit aber innerhalb einer funktionalen Äquivalenz bestimmt. Dies zeigt sich in Steins Bestimmung des tierischen Empfindens als Bewusstsein niederer Stufe: „Empfinden ist Bewußt­sein niederer Stufe.“268 Der tierische „Durchbruch zur Subjektivität“ ist an ein

265 Ebd.: 319.266 Ebd.: 318.267 Ebd.268 PuA: 167.

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3.7 Der Mensch als Gipfelpunkt des onto-anthropologischen Stufenbaus 173

solches Bewusstsein niederer Stufe gebunden, der Durchbruch zur Personalität ist auf dieser Basis, aber auch der Basis des menschlichen Bewusstseins noch nicht möglich. Denn das Selbstbewusstsein, in dem Empfindungen, wie sie das tierische Leben kennzeichnen, in einer anderen Qualität als beim Tier gegenständlich werden, bleibt schon von seinem Namen her strikt gegenständlich gebunden, was Stein durch die Verwendung des Bindestrichs hervorhebt: „Aber wir könnten unser eigenes Bild nicht in anderen wiederfinden, wenn wir von uns selbst nicht durch eine ursprünglichere, unbildliche Erkenntnis wüßten: durch jenes ,„Selbst- bewußtseiiT, das unmittelbare Innesein des eigenen Selbst und Seins, das zu unserem Selbst und Sein gehört“.269 Aber das menschliche Selbstbewusstsein bleibt dennoch in doppelter Weise depotenziert: Es ist erstens kein Bewusstsein, das zur Suprematie über das Leben gelangt und sich der Seele zu bemächtigen vermag, sondern eine Qualität seelischen Seins, und es ist zweitens als „unmit­telbares Innesein“270 nicht konstitutiv für das seelische Sein als solches. Vielmehr ist das Seelische für den Lebensvollzug des Organismus auch da entscheidend, wo es nicht zum Bewusstsein kommt und somit nicht als Qualität auftritt: „Die Ent­faltung und Gestaltung der Seele vollzieht sich großenteils, ohne daß mir etwas davon zum Bewußtsein kommt.“271 Wo Leben nicht nur zum Bewusstsein kommt, sondern darüber hinaus verstanden wird, da ist die Vernunft am Werk.

3.7.3 Bewusstsein und Vernunft

Die spezifische Reflexivität, die als Potenz der Vernunft das menschliche Leben sowohl bereichert als auch gerade zu einem menschlichen macht, unterscheidet sich fundamental vom Innesein, durch welches Stein das Bewusstsein kenn­zeichnet:

Es gibt also ein Ichleben und ein zugehöriges ,Innesein‘, das kein Begreifen und kein Ver­stehen seiner selbst ist. Darum kann hier auch von keinem Vernehmen1 die Rede sein und von

269 EES: 298.270 Die ursprünglichste Form des Bewusstseins ist daher für Stein auch präreflexiver Natur: „Das Woher und diese Schichtenordnung der Seele selbst offenbaren Sich durch das Erleben, das aus ihnen aufsteigt, und in ihm, weil sie sich in ihm öffnen, darin zu ihrem „aktuellen“, gegenwärtig­lebendigen Sein gelangen. Das geschieht schon in der ursprünglichen Erlebnisrichtung, ehe noch ein rückwärts gewandter Blick (eine „Reflexion“) - aufmerkend, beachtend, beobachtend oder zergliedernd - dem Erlebnis sich zuwendet, wie die ursprünglichste Form des „Bewußtseins“ das Ichleben begleitet, ohne sich als eine besondere „Wahrnehmung“ davon abzuspalten und sich ihm zuzuwenden.“ (ebd.: 319)271 Ebd.

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keiner Vernunft. Denn von Vernunft sprechen wir da, wo eine innere Gesetzlichkeit des Seins herrscht und verstanden ist. [...] Vernunftbegabt aber nennt man ein Geschöpf, das die Ge­setzlichkeit des eigenen Seins verstehen und sich mit seinem Verhalten danach richten kann. Dazu gehört Verstand als die Gabe des Verstehens und Freiheit als die Gabe, das eigene Verhalten selbst aus sich heraus zu gestalten. Wenn zum Personsein Vemunftbegabung gehört, dann muß die Person als solche Verstand und Freiheit besitzen.272

Die entscheidenden Hinweise, die dieser Passage für eine Deutung des Ver­nunftbegriffs zu entnehmen sind, bestehen in der Geschöpflichkeit des vernünf­tigen Menschen und der Bindung der Vernunft an den Verstand. Stein spricht, wo sie von der Vernunft spricht, zumeist von der Vernunft des als ein natürliches Wesen aufgefassten Menschen, nicht von der Vernunft der Person. Auffällig oft ist daher die Rede vom „Erwachen der Vernunft“,273 wodurch die Vernunft in eine im weitesten Sinne entwicklungspsychologische Perspektive gerückt wird, was ins­besondere die Bezugnahme Steins auf die Kindheit als den vor-vernünftigen Zu­stand zeigt: „Das Kind wird daran gewöhnt, zu bestimmten Stunden zu schlafen und zu essen, e s ,lernt* unter Anleitung gehen und .sprechen* (damit ist vorläufig nur gemeint: bestimmte Worte äußerlich nachzubilden), ehe es zur Vernunft er­wacht ist, d. h. seinen Willen einsetzen und verstehen kann, was von ihm verlangt wird.“274 Der lebensgeschichtliche Übergang von der Gewöhnung bzw. Dressur zur Vernunft wird zugleich zum sachlichen Übergang vom Kind zum Erwachsenen. Als Zwischenglied fungiert der Verstand, der schon vorhanden sein muss, wo ein Wesen noch kein Vernunftwesen ist, denn dem obigen Zitat zufolge ist das Wesen, zu dem der Verstand gehört, vernunftbegabt, d. h. der Ausbildung der Vernunft fähig, statt ein immer schon vernünftiges Wesen zu sein, jedoch: Es ist inpotentia vernünftig vermöge des vor dem Erwachen der Vernunft bereits aktiven Verstan­des. Den Verstand bezeichnet Stein daher in Anlehnung an Thomas als die Potenz des Erkennens (synonym verwendet mit dem Intellekt bzw. intellectus),275 das in actu von der Vernunft vollzogen wird: „.Verstand haben* bezeichnet für uns nicht .intelligentes esse* schlechthin, sondern .intellegere posse*: die Möglichkeit zu aktueller Erkenntnis überzugehen“.276

In dieser ontogenetischen Historisierung des Vernunftbegriffs und der Bin­dung der Vernunft an den Verstand als deren Disposition erweist Stein sich als bemerkenswert modern und schlägt dem Anschein nach den Weg ein, den Jürgen Habermas mit seinem Konzept prozeduraler und kommunikativer Vernunft zu

272 Ebd.: 309.273 Ebd.: 426 und 201, des Weiteren vgl. ebd.: 372.274 Ebd.: 361.275 Vgl. PuA:103.276 Ebd.

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3.7 Der Mensch als Gipfelpunkt des onto-anthropologischen Stufenbaus 175

Ende gegangen ist.277 Habermas beansprucht mit der Prozeduralisierung und Ausdifferenzierung des Vernunftbegriffs, dessen Begründung er bei Kant aus­macht,278 einen „unverkürzten Begriff der Vernunft zu rekonstruieren“.279 Aus Steins Sicht muss Habermas’ Vernunftbegriff aber gerade in seiner produktiven Aneignung und Verarbeitung wissenschaftlicher Entwicklungen als verkürzend erscheinen, da Stein Vernunft sowohl im Sinne eines naturwüchsigen und in der Individuation zu entwickelnden Vermögens verwendet, dabei aber die Fassung des Vernunftbegriffs, wie er bei Thomas von Aquin maßgebend ist und von Stein in der bereits abgehandelten Unterscheidung zwischen philosophischer und theo­logischer Anthropologie zum Tragen gekommen ist, ebenfalls beibehält. Die na­türliche Vernunft bildet in der thomasischen Tradition den Ermöglichungsgrund des Übergangs zur Glaubenswahrheit gerade dadurch, dass sie in der vernunft­gemäßen Erkenntnis an Grenzen stößt, die, wie die Vernunft einzusehen imstande ist, im Glauben überschreitbar werden.

Der Begriff der Vernunft führt in das Zentrum von Steins philosophischer Anthropologie, weil der Mensch, sofern er geistige Person ist, mittels der Vernunft als dem Abbild des göttlichen Logos erkenne: „Der Mensch ist nur durch Gott, und ist, was er ist, durch Gott. Weil er Geist ist und weil er als Geist mit dem Licht der Vernunft, d. h. mit dem Abbild des göttlichen Logos ausgerüstet ist, kann er er­kennen.“280 Weil der Mensch, als Vernunftwesen aufgefasst, zugleich als Gat­

277 Habermas begreift das durch die modernen Erfahrungswissenschaften inaugurierte Schicksal der aufs Ganze gehenden und das Ganze als solches zu erfassen strebenden Vernunft, die als adäquates Organ von Totalität auftritt, als Chance, Vernunft entsubstanzialisiert und prozedural als Grundlage einer vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft zu fassen: „Die Ra­tionalität schrumpft zur formalen insofern, als sich die Vernünftigkeit der Inhalte zur Gültigkeit der Resultate verflüchtigt. Diese hängt ab von der Vernünftigkeit der Prozeduren, nach denen man Probleme zu lösen versucht - empirische und theoretische in der Gemeinschaft der Forscher und im organisierten Wissenschaftsbetrieb, moralisch-praktische Probleme in der Gemeinschaft der Bürger eines demokratischen Staates und im Rechtssystem.“ (Habermas 1992: 42) Zum evolu­tionären Status der prozeduralen Rationalität vgl. ebd.: 44. Zur begrifflichen Fassung vgl. Ha­bermas 1982:109 f.278 Vgl. dazu Habermas’ Kant-Charalcteristilc in Die Philosophie als Platzhalter und Interpret: „Die Transzendentalphilosophie erschöpft sich nicht in Erkenntnistheorie. Die Kritik der reinen Ver­nunft übernimmt mit der Analyse der Grundlagen der Erkenntnis auch die Aufgabe einer Kritik des Mißbrauchs unseres auf Erscheinungen zugeschnittenen Erkenntnisvermögens. Kant setzt an­stelle des substantiellen Vernunftbegriffes der metaphysischen Überlieferung den Begriff einer in ihre Momente auseinandergetretenen Vernunft, deren Einheit nurmehr formalen Charakter hat.“ (Habermas 1996:10) Und noch schlagender: „In Kants Begriff einer formalen und in sich diffe­renzierten Vernunft ist eine Theorie der Moderne angelegt.“ (Ebd: 11 f.)279 Habermas 1984: 605.280 AmP: 9f.

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176 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

tungswesen und in seiner Verbundenheit mit dem göttlichen λόγος zum Gegen­stand von Steins Betrachtung wird, führt der Begriff der Vernunft nicht nur ins Zentrum der Lehre vom Menschen, sondern zugleich über philosophische An­thropologie hinaus und in die theologische Anthropologie hinein. Die Zusam­mengehörigkeit von Vernunft und Geist wird von Stein in Bezug auf die Geistnatur der göttlichen Person artikuliert, welcher der Personbegriff seinen Ursprung verdanke.281 Sie findet ihren Ausdruck in der Behauptung, dass wenn die menschliche Person „als Träger einer vernunftbegabten Natur bezeichnet wurde, so scheint auch damit ihre Geistnatur ausgesprochen zu sein, denn ,Geist* und .Vernunft* scheinen untrennbar zueinander zu gehören“.282

Obwohl die Abgrenzungen zwischen Vernunft und Geist Klarheit und Trennschärfe missen lassen,283 kann der Versuch einer Unterscheidung getroffen werden. Sowohl die Vernunft als auch der Geist spielen eine entscheidende Rolle in der Bestimmung der Beziehung des Menschen zu Gott, aber auf grundlegend unterschiedliche Weise. Stein definiert, darin Thomas folgend, Gott als reinen Geist,284 Person und Urbild des endlichen Personseins zugleich: „Das göttliche Personsein ist Urbild alles endlichen Personseins.“285 Die Begriffe des Geistes und der Person verbinden den Menschen seinem Was-Sein nach per hiatum mit Gott, indem an ihnen das Verhältnis zwischen Urbild und Abbild ontologisch bestimmt wird; der Begriff der Vernunft tut dies nicht und kann dies nicht tun, sondern bildet ein kognitives Vermittlungsglied, das zwar auch abbildlich auf den göttli­chen λόγος bezogen bleibt, aber nicht zur Bestimmung des Was-Seins herange­

281 „Geschichtlich läßt sich zeigen, daß das Bemühen, die Offenbarungslehre von der Aller­heiligsten Dreifaltigkeit begrifflich zu fassen, Veranlassung zur Bildung der philosophischen Begriffe ,Hypostase“ und ,Person“ gegeben hat. Damit war etwas Wesentliches nicht nur für das Verständnis der Offenbarung von der Dreipersönlichkeit Gottes, sondern auch für das Verständnis des menschlichen Seins und des Dinglichwirklichen überhaupt gewonnen. Von dieser Seite her wollen wir nun auch versuchen, die Offenbarung für die Erkenntnis des endlichen Seins fruchtbar zu machen.“ (EES: 303)282 Ebd.: 307.283 In ihrer populär gehaltenen Vorlesung Der Aufbau der menschlichen Person lässt Stein Vernunft und Geist, deren Differenz hier gerade herausgearbeitet werden soll und auf der Basis ihrer theoretisch anspruchsvolleren Schriften Kontur gewinnt, wieder ineinanderlaufen, indem sie die Vernunft der Geistnatur zuschlägt: „Die Geistnatur des Menschen - Vernunft und Freiheit - verlangen Geistigkeit des pädagogischen Aktes: ein dem stufenweisen Erwachen der geistigen Aktivität Rechnung tragendes Miteinanderwirken von Erzieher und Zögling, bei dem die führende Tätigkeit des Erziehers mehr und mehr der Eigentätigkeit des Zöglings Raum gibt, um ihn schließlich ganz zur Selbsttätigkeit und Selbsterziehung übergehen zu lassen.“ (AmP: 14)284 Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass Gott auch als „reines Sein“ und als „reiner Akt“ bestimmt wird, vgl. Pu A: 269. Zur Bestimmung Gottes als „reiner Geist“ vgl. AmP: 101 und 115.285 EES: 299.

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3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen 177

zogen wird, sondern zur engeren - gleichwohl das Sein des Menschen als solchen wesentlich mitbestimmenden - Bestimmung des Was des Erkanntwerdenkön­nens. Weil der menschliche λόγος ein Abbild des göttlichen λόγος ist, kann die Vernunft als Organ einer rationalen Theologie und der Erkenntnis von Glau­benswahrheiten fungieren, aber sie bildet nicht den Kern der analogia entis- Lehre, welche auf die Frage antwortet, inwiefern dem Menschen eine Geistnatur zu­kommen könne, wenn doch Gott per definitionem ein rein Geistiges sei. Die Ver­nunft kann nicht im ontologischen Sinn als „Analogon des reinen Seins“286 in Betracht kommen, da sie als erworbene Fähigkeit eines natürlichen Wesens im Sinne der Naturwüchsigkeit historisiert worden ist. Sie ermöglicht zwar die me­taphysische Erkenntnis, aber der ontologische Status des Menschen als zwischen die Natur und Gott gespanntes Wesen wird vom Verhältnis von Geist und Seele her bestimmt: „Die Geistnatur der Seele ist für ihre Vereinigung mit Gott (d. h. für ihr Gnaden- und Glorienleben) vorausgesetzt. Sie erhebt sich damit zu einem Sein, das dem der reinen Geister an die Seite zu stellen ist. Daß es aber eine .Erhebung* ist, das scheidet sie von den reinen Geistern.“287

3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen. Die Doppelnatur des Menschen und die Trias von Leib, Seele und Geist

3.8.1 Die Seele als Mitte

Stein bestimmt, wie bereits angesprochen, die menschliche Natur fundamental als Doppelnatur: „Zum Wesen des Menschen als solchen gehört die Doppelnatur: geistige Person und leiblich gestaltet zu sein.“288 Obwohl die Definition der Doppelnatur von fundamentaler Bedeutung ist, spricht Stein von der Trias von Leib, Geist und Seele. Nicht der Geist allein bildet das Prinzip des Aufstiegs vom Tier zum Menschen als der nächsthöheren Stufe der Natur, sondern die Seele, genauer die Menschenseele, welche als solche die Erhebung zum Geist bedeute: „Der Aufstieg von der Tierseele zur Menschenseele war bezeichnet als Erhebung zum Geist.“289 Damit stellt sich die Frage, wie die Seele als Prinzip des Aufstiegs vom Tier zum Menschen und damit als Prinzip einer ontologischen Differenz

286 PuA: 269.287 EES: 387.288 Ebd.: 423.289 PuA: 168.

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178 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

zwischen Lebensformen, die zugleich Seinsstufen290 sind, sich zum Geist verhält, mittels dessen ebenfalls die Differenz nicht nur zwischen Mensch und Tier, son­dern zwischen der menschlichen bzw. geistigen Person und ihrem Leib und damit ihrer organischen Natur elaboriert wird.

Das Verhältnis von Seele und Geist zeigt sich vor allem in ihrem jeweiligen Verhältnis zur Natur: Die Menschenseele ist als solche die Seele eines Lebewesens, die es von anderen Lebewesen wie den Tieren unterscheidet; sie steht somit für die Kontinuität im Bruch, während der Geist vor allem den Bruch innerhalb der Natur bezeichnet. Im Unterschied zum Dualismus kann die Seele nur als „Mitte“ und Prinzip der Vermittlung des Geistes mit dem Leib Zusammenhang stiften:

Und die Seele ist hier,Mitte“ in einem neuen Sinn: die Vermittlung zwischen Geistigkeit und Leib-Sinnenhaftiglceit. Es ist aber die überlieferte Dreiteilung Leib-Seele-Geist nicht so zu verstehen, als sei die Seele des Menschen ein drittes Reich zwischen zwei ohne sie und unabhängig voneinander schon bestehenden: in ihr selbst treffen Geistigkeit und Sinnen- haftiglceit zusammen und sind ineinander verflochten.291

Die Seele qua Mitte ist im doppelten Sinne für den Menschen wesenskonstitutiv, nämlich in einem vitalen und in einem personalen Sinne. Im vitalen und ele­mentaren Sinn ist die Seele - und hier schließt Stein wiederum direkt an Conrad- Martius an292 - zunächst generell die „Seinsmitte des Lebewesens“293 (Hervorhe­bung, S.E.). Diese „Seinsmitte des Lebewesens“ bestimmt Stein auch als „Seinsmitte der lebendigen Stoffgebilde“;294 gemeint ist damit nicht die räumliche Mitte eines Dinges, sondern, phänomenologisch gesprochen: die Mitte als Ge­stalteinheit eines lebendigen Dinges; scholastisch gesprochen: die Form und Seele dieses lebendigen Dinges, welche den Unterschied zwischen Dinglichem und Lebendigem ausmacht:

Als stoffüberlegene Form, lebendige Form oder Seele haben wir das in der Gestaltung der Lebewesen Wirksame angesprochen, das sich als ,Mitte“ einer Gestalteinheit auswirkt: sie selbst von innen her umgrenzend und abschließend, bereits vorhandene Stoffe zu ihrem

290 Vgl. EES: 234 und 232, PuA: 104 und 271, wo jeweils Potenzialität als Seinsstufe aufgefasst wird.291 EES: 316.292 Zur Anknüpfung an Conrad-Martius vgl. EES: 236 f. - Obwohl Stein auf alle Fälle systematisch und meist nominell an Conrad-Martius anschließt, wo von der Seele als „Mitte“ die Rede ist, zitiert sie in einer Fußnote aus Alexander Pfänders 1933 erschienenem Buch Die Seele des Menschen eine Passage, in welcher ebenfalls die Seele als Mitte angesprochen wird. Vgl. ebd.: 318.293 Ebd.: 314.294 Ebd.: 315.

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3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen 179

Aufbau in sich aufnehmend und umformend, schließlich neue selbständige Gebilde der­selben Art aus sich hervorbringend. Hier ist Formung Leben als Eigenbewegung.295 296

Das aristotelisch-scholastische Gedankengut (Form, Seele) verschmilzt hier be­grifflich mit dem spezifisch modernen Begriff der „Mitte“, den Stein Conrad- Martius’ Metaphysischen Gesprächen entnommen hat. Wiederum auf Conrad- Martius sich beziehend, sagt Stein, dass reine Stoffnaturen keine „eigene .Mit­te“1296 und daher keine „Potenz zum eigenen Sein“297 hätten. Greifen wir hier die ontologische Terminologie auf, wie Stein sie in der Bestimmung des pflanzlichen Seins entwickelt hat, so ist die Mitte zugleich ενέργεια ον und εντελέχεια, das Einzelne Bewegendes (nicht das einzelne sich Bewegende) und Bewegung zweckmäßig Organisierendes. Das Lebendige als ein sich aus toten Stoffen, die in der Umwelt vorhanden sind, Formendes und organisch Aufbauendes, hat eine Mitte; Stein nennt diese Mitte „Lebensmitte“ und das Eigentümliche der Seele: „Lebensmitte zu sein ist demnach das Eigentümliche der Seele.“298 Bei den Tieren und Menschen findet in durchaus verschiedener Qualität darüber hinaus eine Formung des Leibes von einer Mitte her statt, d. h. die Mitte tritt als Zentrum in ein Verhältnis zum Leib, auf den sie organisierend einwirkt und von dem sie Wir­kungen empfängt, weshalb Stein zufolge „die Tier- und Menschenseele darüber hinaus Wesensgrundlage eines .inneren1 Lebens sind“.299 Einzig beim Menschen wird dieses innere Leben sich selbst gegenständlich, weshalb gemäß dem Gesetz der Aufhebung der früheren ontologischen Stufen im höherstufigen Seinsgebilde die Menschenseele als anima vegetativa und als Geist auftrete:

Die Menschenseele als Geist erhebt sich in ihrem geistigen Leben über sich selbst. Aber der Menschengeist ist von oben und von unten bedingt: er ist eingesenkt in das Stoffgebilde, das er zu seiner Leibgestalt beseelt und formt. Die menschliche Person trägt und umfaßt,ihren1 Leib und ,ihre‘ Seele, aber sie wird zugleich davon getragen und umfaßt.300

Die doppelte Bedingtheit des Menschengeistes entspricht der doppelten Gestalt der Menschenseele als einer vitalen („von unten“ bedingten) und einer personalen („von oben“ bedingten).

295 Ebd.: 358.296 Ebd.: 236.297 Ebd..298 PuA: 160.299 EES: 218.300 EES: 310.

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180 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

Es sei hier angemerkt, dass Stein die Bestimmung der Seele als Mitte dem Plessner’schen Begriff der Mitte stärker annähert, als dies bei Conrad-Martius der Fall ist, auf die Stein sich in ihren Ausführungen zur Mitte stets bezieht. Stein fasst die Differenz zwischen dem persönlichen und dem personalen Leben in ihrer Erläuterung von Passagen Conrad-Martius’ klar als anthropologische Differenz: „Wenn hier [bei Conrad-Martius, S. E.] von einem persönlichen Leben* des Tieres gesprochen wird, so wird ihm doch noch keine Personalität und keine persönliche Seele* zuerkannt.“301 Bei Conrad-Martius aber tritt die Seele grundlegend als anima vegetativa auf, ist als solche aber bereits auf das im strengen Sinne nur vom Menschen realisierte τέλος der Personalität hin angelegt; so fragt in den Meta­physischen Gesprächen Montanus, ob die „Seele nicht als ein rechtes Zentrum oder als eine eigentliche Mitte für die Totalität des gestalteten und aufgebauten Ich“302 sich darstelle. Zwar spricht Conrad-Martius in dem oben angeführten Zitat vom Ich statt von der Person, doch der Personbegriff ist in den Metaphysischen Gesprächen allgegenwärtig, und zwar in einer solchen Ubiquität, dass Personalität nicht als Humanspezifikum aufgefasst wird, sondern von der Unterordnung der Natur unter personale Zwecke bei Mensch und Tier die Rede ist: „Ist nicht die Pflanze dazu geschaffen, dass sich in ihr einmal die plastische oder wenn man so will auch künstlerische Seite der Natur frei und erschöpfend ergehen kann - die beim Tier und beim Mensch ändern, personalen Zwecken untergeordnet werden muß.“303 Diese großzügige Einschätzung des Tieres wird zwar durch die Verwendung von Anführungszeichen abgeschwächt, wo Conrad-Martius von der „zu einer Art personalen .Einheit* zusammengefaßte[n] Einheit des Tieres spricht“,304 doch die terminologische Grenzüberschreitung, die zugleich eine Grenzverwischung dar­stellt und Conrad-Martius’ philosophische Anthropologie von der Plessners irre­duzibel unterscheidet, bleibt in der weiten Fassung des Attributs „personal“ er­halten.

Schon bei Conrad-Martius findet also der Begriff der Mitte nicht nur Ver­wendung, um die Differenz zwischen bloß Stofflichem und Lebendigem, sondern auch zwischen dem Lebendigen und dem Personalen zu bezeichnen. Stärker auf die personale Sphäre zielt allerdings der engere Begriff der Mitte, d. h. der per­sonalen Seele, bei Stein; die Seele in diesem Sinne meint nicht mehr die Mitte des lebendigen Dings als Gestalteinheit, sondern die „Mitte des ganzen leiblich-see­lischen-geistigen Gebildes, das wir .Mensch* nennen“305 und dessen Kennzeich­

301 PuA: 161.302 Conrad-Martius 1921: 39.303 Ebd.: 24.304 Ebd: 13.305 Stein 2006b: 501.

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3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen 181

nung nötig sei, um „im Stufenbau des Seienden die Eigentümlichkeit des menschlichen Seins herauszuarbeiten“.306

Ist die menschliche Seele die „Mitte des ganzen leiblich-seelischen-geistigen Gebildes“, so kommt sie nicht zu Leib und Geist hinzu; Leib und Geist sind keine von ihr unabhängig existierenden Entitäten, sondern vielmehr bildet die Seele das Gravitationszentrum des menschlichen Seins: „Der Mensch ist aus einer Bil­dungswurzel dreifach gestaltet: Zum Geist ist er erhoben, durch den Leib in die äußere Welt hineingestaltet, in der Seele aber ist er recht eigentlich zu Hause. Sie ist die Mitte seines Seins, aber er lebt daraus wie aus einem jenseitigen Grunde, denn niemals geht die Seele ganz in die Aktualität des Lebens ein“.307 In der Seele zu Hause seiend, ist der Mensch von der Seele als der „Seinsgrundlage des ak­tuellen Lebens“308 her zum Geist erhoben, durch den er wiederum erhoben ist zu Gott und durch den er sein seelisches Sein transzendiert, ohne aus ihm, und das heißt auch: aus seiner Geschöpflichkeit herauszugelangen. Stein bestimmt die Menschenseele an anderer Stelle auch als „nicht nur ein Mittleres zwischen Geist und Stoff, sondern ein geistiges Geschöpf, nicht nur ein Gebilde des Geistes, sondern bildender Geist“.309 Wie das Mittlere zwischen Geist und Stoff selbst ein Geistiges sein kann, klärt sich in den weiteren Ausführungen nicht auf, sondern wird zunehmend unklarer, da „ihre [der Seele, S. E.] Geistigkeit selbst die Spuren der Stoffgebundenheit an sich trägt, schließlich weil sie verborgener Grund ist, aus dem das geistige Leben aufsteigt, darum ist sie gattungsmäßig von den reinen Geistern unterschieden“.310 Die „Spuren der Stoffgebundenheit“, welche die Menschenseele gattungsmäßig von den reinen Geistern (als welche definitorisch und im Plural die Engel fungieren) unterscheidet, überblenden durch die meta­phorische Verharmlosung des Stofflichen („Spuren“), dass gerade diese Spuren die Seele zu einem „verborgenen Grund“ machen, da sonst ein reiner Geist nur seiner selbst ansichtig werden müsste. In Potenz und Akt verwendet Stein den ebenfalls auf eine Unergründlichkeit der Seele und damit unseres Lebensgrundes zielenden Begriff des „jenseitigen Grundes“, um die Seele des Menschen zu charakterisieren: „Sie ist die Mitte seines Seins, aber er lebt draus wie aus einem jenseitigen Grunde, denn niemals geht die Seele ganz in die Aktualität des Lebens ein.“311 Die „Menschenseele als Geist“, von der oben die Rede war, ist also auch als Geist nicht ,gattungsrein‘. Weil sie kein reiner Geist und damit keine reine Ak­

306 Ebd.307 PuA: 158.308 Ebd.309 EES: 360.310 Ebd.: 360f.311 PuA: 158.

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182 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

tualität sein kann, ist der Begriff der Potenz in der Bestimmung der Seele von zentraler Bedeutung.

In die Aktualität des Lebens geht die Seele niemals „ganz“ ein, weil die Kehrseite und Grenze der Aktualität des seelischen Lebens die Gespaltenheit der Seele in Potenz und Akt ist. Die Seele bildet nicht nur die Seinsgrundlage des aktuellen Lebens, sondern als solche auch die Seinsgrundlage des Geistes, zu dem der Mensch erhoben ist, ohne in dieser Erhebung aus seinem Verankertsein im Leben heraustreten zu können. Doch nicht nur die Seele zerfällt in Aktualität und Potenzialität, auch den Geist selbst bestimmt Stein als Potenzialität:

Der Mensch, das gesamte leiblich-seelische Individuum, ist über das Tier erhoben und damit über sich selbst, soweit er Tier ist, erhoben durch etwas, das in ihm ist: das personal ge­staltete Ich mit seiner Verstandes- und Willensaktualität und der zugehörigen Potentialität: ,Geist“ (,mens‘, im Unterschied zu ,intellectus‘ und zu ,anima“) im Sinne der höchsten Form der Geistigkeit, und doch in diesem Sinne nicht,reiner Geist“, weil jenem leiblich-seelischen Ganzen eingesenkt und verhaftet, das für sich nicht durchsichtig und nicht frei und auch für den Geist nicht unbegrenzt durchschaubar und beherrschbar ist.312

Eine konzise Bestimmung des Geistes als Potenzialität bedarf daher einer Be­trachtung des Geistes in seinem Verhältnis zur selbst wiederum Potenzialität und Aktualität seienden Seele.

3.8.2 Leib und Seele als ontische und ontologische Ermöglichungsbedingungen

Um das Verhältnis von Geist und Seele bestimmen zu können, muss noch einmal genauer gefragt werden, ob und inwiefern die „Spuren der Stoffgebundenheit“ der Seele nicht nur als zu verzeichnendes ontologisches Faktum festgehalten werden müssen, sondern darüber hinaus die Genesis der „Menschenseele als Geist“ und damit das Verhältnis von Seele und Geist auch ontisch betreffen. Denn sowohl die Formung des Leibes als auch die der Seele haben eine Geschichte und sind damit einer genetischen Perspektive prinzipiell, wenn auch nicht erschöpfend, zu­gänglich:

Die Formung des Leibes und der Seele geschieht zunächst - d. h. vor der Geburt und in der ersten Lebenszeit - ähnlich wie beim Tier - als unwillkürliches Geschehen. Diese unwill­

312 Ebd.: 170.

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3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen 183

kürliche Formung hört während des ganzen Lebens nicht auf, es tritt ihr aber eine andere zur Seite, greift in sie selbst ein und gewinnt ihr Boden ab, sobald die Erziehung einsetzt.313

Wenn Leib und Seele in der Erziehung einer Formung unterliegen, werden die Grenzen zwischen der Ontologie und der Entwicklungspsychologie eingerissen, ohne dass die Ontologie in der Entwicklungspsychologie aufginge, da sie be­grifflich bereitstellt (ihre Validität und Reliabilität der Einfachheit halber vor­ausgesetzt), was eine jede Betrachtung der Seinsweise des Menschen erst ermöglicht. Die Formung von Leib und Seele unterscheidet Stein von der „per­sönlichen Formung“, die erst möglich werde, „wenn das eigentliche Geistesleben beginnt: wenn das Ich ,erwacht* und seiner selbst im vollen Sinne bewusst ist - ein Bewusstsein, das in echtes Verstehen des eigenen Lebens und alles begegnenden Sinnes übergehen kann“.314 Seele und Geist werden gleichermaßen in eine ent­wicklungslogische Perspektive gerückt, indem ihnen Erziehung, die im und durch den Erziehungsprozess erwachende Vernunft315 sowie die Ausbildung eines Selbstbewusstseins des Ich als Ermöglichungsbedigungen vorgeordnet werden. Dennoch enthebt Stein wenige Zeilen später die Seele der mit dem Leib geteilten Bedingtheit und erklärt sie zur Ermöglichungsbedingung der Formung des Leibes:

Möglich wird solche freie Formung dadurch, daß auch hier die Seele die Form des Leibes ist, deren Verhalten sich natürlicherweise im Leib ausdrückt, daß aber in dieser Seele das Ich wohnt, daß ihre Verhaltungsweisen sein Leben sind, daß es sie - in einem gewissen Umfang - selbst hervorrufen und in noch weiterem Umfang unterdrücken, in der Entstehung hemmen kann. Auch das Hineinwirken in den Leib kann willkürlich in Angriff genommen und ge­hemmt werden. [...] Das ermöglicht die willkürliche Gestaltung des Leibes.316

Wie die - wenn auch nur spurenhaft - stoffgebundene und ihrer eigenen Genesis nicht mächtige Seele der Genesis dessen sich bemächtigen können soll, was dem gleichen Gestaltungsprozess - der Erziehung - unterworfen ist, vermag Stein nicht klarzumachen. Die entwicklungslogische Perspektive wirft auch insofern Pro­bleme auf, als Stein zufolge die Person „sich beständig wandelt, obwohl der Kern, der von innen her den ganzen Gestaltungsprozess bestimmt, sich nicht in dieser Weise gestaltet und wandelt“.317 Stein steht hier vor dem Problem, einsichtig machen zu müssen, wie im Werden das Werdende zu dem werden kann, was es schon ist. In ihrer Vorlesung Der Aufbau der menschlichen Person gesteht Stein die

313 EES: 360.314 Ebd.: 361.315 Vgl. ebd.316 Ebd.: 361.317 PuA: 122 f.

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184 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

Unlösbarkeit dieses Problems ein, das sie zunächst als faktischen Sachverhalt formuliert, um dann die Unbegreiflichkeit dieses Sachverhalts durch die natür­liche Erkenntnis und die Notwendigkeit eines Sprungs ins Transzendente einzu­gestehen:

Das Individuum ist nicht erst Pflanze, dann Tier, dann Mensch, sondern vom ersten Au­genblick seines Daseins an Mensch, wenn auch das spezifisch Menschliche erst in einem gewissen Entwicklungsstadium sichtbar zu Tage tritt. So wird man auch sagen müssen, daß die geistige Seele vom ersten Moment des menschlichen Daseins an existiere, wenn auch noch nicht zu aktuellem, personalgeistigem Leben entfaltet. [...] Daß sie [die Seele, S.E.] ihr Dasein in einem materiellen Leib beginnt, ist nur als ein Faktum hinzunehmen: Es ist weder aus dem Wesen der Materie noch aus dem Wesen des Geistes zu begreifen. Hier ist einer jener Punkte, wo die natürliche Erkenntnis versagt und nur ein Sprung ins Transzendente das Unbegreifliche begreiflich macht.318

Was später „sichtbar zu Tage tritt“ ist bereits vorhanden, aber „noch nicht“ ent­faltet. Das Sein der Menschenseele und die sichtbare Entwicklung derselben im personalen Leben treten im Leben des Menschen also ontisch auseinander; ontologisches Faktum ist Stein zufolge aber, dass die Seele die Form des Leibes sei. In dem die klassische Ontologie belastenden Auseinandertreten des Ontischen und des Ontologischen spiegelt die zu Steins Lebzeiten sich vollziehende Supre­matieerlangung der Psychologie gegenüber Philosophie und Theologie wider.

3.8.3 Der phänomenologisch-ontologische Zugang zum geistigen Leben der Person

Nicht nur die Bestimmung des Verhältnisses von Leib und Seele ist von einer Ambivalenz geprägt, die sich aus Steins historischem Standort ergibt, und von der gegenüber ihrer historisch-systematischen Leitfigur Thomas von Aquin verän­derten Bewusstseinslage gekennzeichnet; auch auf den Begriff der Person trifft dies zu. In dem oben angeführten Zitat verwendet Stein nicht den von Scheler maßgeblich geprägten Begriff der Person, sondern den Begriff des Ich, der in Husserls Phänomenologie eine tragende Rolle spielt. Wie zum Beginn dieses Kapitels in der Hinführung zum Begriff der Person gezeigt, versteht Stein das menschliche Ich als personales Ich. Der spezifische systematische Ort des Ich- begriffs ist die Intentionalität: „Der intentionale Akt scheint zwei Pole zu haben: einen Ichpol und einen Gegenstandspol.“319 Innerhalb dieser Relation konstituiert

318 AmP: 132.319 PuA: 125.

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3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen 185

sich das geistige Leben der Person: „Wir haben das geistige Leben durch die In­tentionalität charakterisiert: Die Person ist darin einem Gegenständlichen zuge­wendet, ihr Akt zielt darauf hin.“320 Diese Bestimmung des Geistes, die den Ausgangspunkt der Bestimmung des Geistigen in Potenz und Akt (1931) bildet, erfährt in Steins Hauptwerk Endliches und ewiges Sein (1937) eine andere Ak­zentuierung. Die phänomenologische Orientierung wird nicht aufgegeben, aber die ontologische Abhebung des Geistes als eine „innere Mitte“ von allem Stoff­lichen rückt in das Zentrum der Aufmerksamkeit:

Das Geistige hat ein ,Inneres1 in einem Sinn, der dem Räumlich-Stofflichen durchaus fremd ist. Wenn es ,aus sich herausgeht1 - das geschieht auf mannigfache Weise: als Zuwendung zu Gegenständen (das, was Husserl die ,Intentionalität" des geistigen Lebens nennt), als rein geistiges Sicherschließen für fremde Geister und verstehendes und mitlebendes Eingehen in sie; aber auch als Sichhineingestalten in den Raum (durch die Gestaltung des Leibes und bildendes Gestalten fremder Stoff) - , so bleibt es doch darum nicht weniger in sich selbst. Von dieser inneren Mitte aus gestaltet es sich und schließt alles, was es ist und was es sich zu­eignet - in einer Zueignung, die wiederum nur dem Geistigen möglich ist -, zur Einheit zu­sammen.321

Dem geistigen Leben, das als Leben einer Person in Leib und Seele eingesenkt ist, ist aber umgekehrt nicht mit phänomenologischer Genügsamkeit analytisch beizukommen, wie die Rede von dem als „Gestaltung des Leibes“ sich materia­lisierenden „Sichhineingestaltens in den Raum“ zeigt; die Phänomenologie muss durch die Begriffe von Leib und Seele zur Ontologie erweitert werden: „Vor allem ist eine ausreichende Analyse der menschlichen Person nicht möglich vom rein Geistigen her, sondern erst, wenn man ihre Gestaltung in Leib und Seele in Be­tracht zieht.“322 Die Phänomenologie kann zwar ein Instrumentarium zur Analyse der intentionalen Struktur des Geistigen bereitstellen und eine phänomenologi­sche Freilegung der „Gehalte, in deren Erleben die Person lebt“,323 ermöglichen, sie kann aber weder im „rein geistige[n] Sicherschließen für fremde Geister und verstehende[n] und mitlebende[n] Eingehen in sie“,324 von dem Stein spricht, dem Problem der Intersubjektivität325 anders als in prinzipiell subjektphilosophischer

320 Ebd.: 125. - An anderer Stelle: „Geistiges Leben war uns gleichbedeutend mit Intentionalität, ,Alcte‘ mit aktueller Zuwendung zu einem Objekt.“ (ebd.: 168)321 EES: 192 f.322 PuA: 147.323 Ebd.: 124.324 EES: 192.325 Stein hat 1916 in ihrer Dissertation Zum Problem der Einfühlung das Intersubjektivitätspro­blem mittels des Geistbegriffs zu lösen versucht. Wir hätten, so Stein in ihrer Dissertation, „indem wir den fremden Leib als Orientierungszentrum der räumlichen Welt auffaßten, [...] das zugehörige

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und „intermonadischer“326 Weise sich stellen, noch kann sie die Substanz des Geistigen und des geistigen Lebens der Person erschließen, weil sie den „jensei­tigen Grund“,327 aus dem heraus diese lebt, in der phänomenologischen Fassung der Intentionalität aus dem Blick verliert. Eine Passage in Potenz und Akt zeigt allerdings deutlich, wie das epistemologische Erbe trotz der häufigen Rekurse auf Husserl gerade da ontologisch unterlaufen wird, wo direkt an es angeknüpft wird; mit einer Formulierung aus Plessners Macht und menschliche Natur ließe sich sagen, dass erst in der ontologischen Sprengung der Erkenntnistheorie die „Durchgegebenheit in das Andere seiner selbst“328 sichtbar wird: „Subjekt und Objekt sind die beiden möglichen Gegenstandsformen. Der Unterschied ist kein logischer (logisches Subjekt können beide sein), sondern ein ontologischer. Subjektivität ist die ursprüngliche Gegenstandsform des Geistigen. Geistiges Ob­jekt sein als Dasein für ein Subjekt ist demgegenüber etwas Abgeleitetes.“329 In dieser ontologischen Überschreitung der Phänomenologie, die gerade dann

Ich als geistiges Subjekt hingenommen, denn wir haben ihm damit ein objektkonstituierendes Bewußtsein zugeschrieben, die Außenwelt als sein Korrelat betrachtet; alle äußere Wahrnehmung vollzieht sich in geistigen Akten. Desgleichen sie wir mit jedem Einfühlungsakte im wörtlichen Sinne, d.h. mit jedem Erfassen eines fühlenden Aktes, bereits in das Reich des Geistes einge­drungen.“ (Stein 2008:108) Stein behauptet also ein „Hineinreichen des Geistes in die physische Welt, ein ,Sichtwerden‘ des Geistes im Leibe, ermöglicht durch die psychische Realität, die den Akten als Erlebnissen eines psychophysischen Individuums zukommt, und die Wirksamkeit auf die physische Natur in sich schließt.“ (ebd.: 109) Das Verstehen wird unter dieser Voraussetzung und gemäß der angesprochenen Trias von Innenwelt, Außenwelt und Überwelt statt Mitwelt als die Begegnung zwischen zwei Innenwelten, deren eine innerhalb der Außenwelt (der Andere) begegnet. In Potenz und Akt handelt Stein auch das Verstehen der Tiere durch den Menschen ab (das Verstehen vorpersonalen Lebens also) und behauptet dabei, dass „ein Ineinandergreifen der Seelen“ (PuA: 253) stattfinde im Mit-Spüren: „Was ihm [dem Tier, S. E.[ begegnet, was es bedroht, spüre ich ,gleichsam“ mit.“ (ebd.) Auch hier begegnen sich Innenwelten, wenn auch solche von sehr unterschiedlicher Art und Komplexität. Da Stein im Mit-Spüren und im geistigen Verstehen früher erarbeitete Lösungen des Intersubjektivitätsproblems parat zu haben meint, stellt sich das Problem in ihren anthropologischen und ontologischen Schriften der 1930er fahre nicht mehr als Aporie dar.326 Stein spricht in Endliches und ewiges Sein von einer ,,intersubjelctive[n], in Wechselver­ständigung stehende[n] Gemeinschaft von .Monaden““. (EES: 235)327 Andere Ausführungen zeugen von der keiner direkten Beeinflussung bedürfenden Wir­kungskraft der gleichzeitig zu Steins Wirken virulenten Psychoanalyse und Lebensphilosophie: „Der dunkle Grund, aus dem sich alles menschliche Geistesleben erhebt - die Seele - , tritt im Ichleben ans Tageslicht des Bewußtseins (ohne damit .durchsichtig“ zu werden). Dadurch enthüllt sich das Ichleben als ein seelisches und zugleich - durch das Ausgehen von sich selbst und das Aufsteigen zum Licht - das seelische Leben als geistiges.“ (ebd.: 363)328 MmN: 231.329 PuA: 84.

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3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen 187

stattfindet, wenn die Differenz zwischen Subjektpol und Objektpol in vermeint­licher Treue zur Phänomenologie als ontologische Differenz gefasst wird, bricht das ontologische Erbe sich gegen alle phänomenologischen Grenzziehungen Bahn. In Steins Analyse des geistigen Lebens der Person spielen daher auch tragende Begriffe der Husserl’schen Phänomenologie und ihrer Analyse der transzendentalen Bewusstseinsstruktur wie die der Protention oder Retention keine Rolle. An die Stelle der zeitlichen Struktur des Bewusstseins tritt der zeit­liche Aufbau der Person und die ontologische Terminologie von Akt, Potenz und Habitus:

Vom geistigen Leben der Person, von ihren Akten, wissen wir ja, daß sie sich in einem zeitlichen Nacheinander aufbauen und daß immer andere ,Teile“ von ihnen in Aktualität übergehen und wiederum in Inaktualität zurücksinken. Auch die Person, die dahinter steht, hat einen zeitlichen Aufbau. Wir sahen ja, daß der,Charakter“ sich allmählich entwickelt und daß es dabei auch einen Wechsel von Potenz, Akt und Habitus gibt.330

Der Ausdruck „Wechsel von Potenz, Akt und Habitus“ schreibt diese als ontolo­gische Konstanten fest, da mit diesen Begriffen der Rahmen aller inhaltlichen Wechsel und Veränderungen vorgegeben ist. Damit stellt sich die Frage, in welcher Weise Potenz und Akt ontologische Konstanten sind, wenn Leib, Seele und Geist ontologische Grundbegriffe sind? Die Antwort ist in der Unterscheidung zwischen Entitäten und deren Seinsmodi zu finden.

3.8.4 Potenz und Akt als personale Seinsmodi

Stein unterscheidet zwischen reinem Akt (dem actus punis der Ontologie Thomas von Aquins), reiner Potenzialität (welcher die reine Materie entspricht) und dem Lebendigen (den aus Form und Materie zusammengesetzten Substanzen, die in Akt und Potenz als Seinsmodi sich konstituieren). Potenzialität und Aktualität bestimmt Stein am Anfang ihres einführenden Kapitel „Die Problematik von Po­tenz und Akt“ in systematisch grundlegender Absicht als Seinsmodi: „So wie Aktualität und Potenzialität hier gefasst sind, sind es Seinsmodi: reine Aktualität der göttliche Seinsmodus, die geschöpflichen Seinsmodi verschieden abgestufte Mischungen von Aktualität und Potentialität“.331 Diejenige Potenzialität, die überhaupt in einem Spannungsverhältnis zur Aktualität steht, ist die „ge-

330 Ebd.: 126.331 Ebd.: 9.

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schöpfliche Potentialität“; 332 um ein Spannungsverhältnis statt bloß um eine Mischung von Potenzialität und Aktualität handelt es sich, weil Stein zufolge der „Seinsmodus der konkreten Individuen [...] Potentialität und Aktualität zu­gleich“333 ist, womit etwas qualitativ anderes bezeichnet ist als die Simultaneität zweier Eigenschaften.

Das Verhältnis von Akt und Potenz zum Eigenschaftsbegriff erfordert einen Rekurs auf den Begriff der Seele, in dem sich eine fundamentale Differenz zwi­schen Steins und Plessners Begriff der Seele aufzeigen lässt. Während bei Plessner die nichträumliche Dingmitte als Substanzkern eines räumlichen Dinges mit ei­genschaftstragenden Seiten selbst Eigenschaftscharakter gewinnt und der Ei­genschaftsbegriff phänomenologisch konsequent gedacht wird, verwendet Stein ihn fast durchgängig334 in der klassischen Bedeutung, wonach Eigenschaften dingliche - in Plessners Terminologie: an den eigenschaftstragenden Seiten des Dingkörpers phänomenal auftretende - Eigenschaften sind, wie das Grün des Blatts. Von den dinglichen Eigenschaften unterscheidet Stein „dauernde Eigen­schaften“, die nicht dem dinglichen Gegenstand, sondern der Seele als der „dingartigen“335 Substanz eines lebendigen Dinges zukommen, z. B. Verstandes­gaben wie „Leichtigkeit der Auffassung, Schärfe des Urteils, Fähigkeit, Zusam­menhänge zu entdecken“.336 Was Dinglichem (dem Körperding) und Dingartigem (der Seele) gemeinsam ist, ist die Substantialität. Als Träger von Eigenschaften können in der klassischen Ontologie nur Substanzen fungieren, die selbst nicht eigenschaftlich erfassbar sein können; die Seele kann dementsprechend keine Eigenschaft sein337 noch eigenschaftlich in Erscheinung treten, denn Letzteres können nur die „seelischen Eigenschaften“,338 die Stein auch als „Attribute“339 bezeichnet; die Seele kann damit allenfalls indirekt eigenschaftlich in Erschei­nung treten. Die Seele, als Mitte aufgefasst, ist also bei Stein phänomenologisch nur über die im Verhalten sich manifestierenden Eigenschaften ihrer selbst er­

332 Ebd.333 Ebd.: 40.334 Vgl. EES: 131,184f„ 189, 399, 410, 412 und PuA: 23.335 Die Seele ist Stein zufolge „ein dingartiges Ganzes mit Eigenschaften, die sich in ihrem Verhalten bekunden“ (EES: 364); an anderer Stelle nennt sie die Seele „ein ,Dingartiges“, ,Sub­stantielles“ mit dauernden Eigenschaften, mit Fähigkeiten, die der Ausbildung und Steigerung fähig und bedürftig sind“ (ebd.: 320).336 Ebd.: 312.337 „Die Seele ist keine Eigenschaft.“ (PuA: 155)338 Diese treten nur vermittelt, nämlich im Verhalten, in Erscheinung: „Das Tier ist eine leiblich­seelische Gestalteinheit, seine Eigenart ist auf doppelte Weise ausgeprägt, in leiblichen und seelischen Eigenschaften, und bekundet sich in leiblichem und seelischem Verhalten.“ (EES: 315)339 Vgl. ebd.: 354.

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3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen 189

schließbar, d. h. sie tritt erkörpert und damit vermittelt in Erscheinung.340 Diese Erschließbarkeit ist keine phänomenologische im Sinne Plessners, in dessen objektiver Transformation der Phänomenologie im Erscheinen die Sache selbst erscheint.341 Bei Stein hingegen zeigen sich im Erscheinen körperliche bzw. dingliche Eigenschaften oder seelische Gehalte (im intentionalen Sinn wie im Fall der Freude) und verweisen zugleich auf etwas, was jenseits allen Erscheinens liegt, nämlich die Seele selbst. Dieser doppelte, phänomenologisch-ontologische Bo­den, ist eine unvermeidbare Konsequenz von Steins Festhalten am klassischen Substanzbegriff. Die Eigenschaften bilden Attribute, die aber die Substanz als ihren nie selbst sichtbar werdenden und sichtbar werden könnenden Träger, dem sie anhaften und der das sie Ermöglichende und wesentlich Ausmachende bildet, gleichsam „hinter“ sich selber verstecken.

Nicht nur die Seele und Substanzen im Allgemeinen sind keine Eigenschaften, auch Potenz und Akt sind als Seinsmodi keine Eigenschaften. Dies festzuhalten ist wichtig, weil Steins Sprachgebrauch hier schwankend ist und sie in Potenz und Akt eine mehrfache Bedeutung von Aktualität und Potenzialität exponiert, innerhalb welcher Aktualität und Potenzialität auch als „Akzidenzien einer Substanz“, die per defmitionem Eigenschaften der Substanz sind, bezeichnet werden:

Was die formale Ontologie über Akt und Potenz ergibt, haben wir herauszustellen gesucht: Es sind einmal verschiedene Seinsmodi (Aktualität und Potentialität), von denen der eine auf den andern bezogen ist; sodann - als Tätigkeit und Fähigkeit - Akzidenzien einer Substanz, die in einer gewissen Wechselbeziehung stehen; schließlich bezeichnet Akt das an einem Seienden, was es zu einem Seienden macht, d. h. ihm Aktualität gibt und bestimmt, was es ist.342

Die drei Bedeutungen sind keineswegs koextensional, da die Seinsmodi (erste Bedeutung) und das Substantiale (dritte Bedeutung) strikt korrelativ zu denken sind, weil die Substanzialität der Substanz in der Aktualisierung von Potenzen sich naturgemäß artikuliert. Die Seinsmodi von Akt und Potenz definieren den Modus des Was-Seins, wohingegen die „Akzidenzien einer Substanz“ (zweite Bedeutung) die empirische Materialisierung von Potenzialität und Aktualität im phänomenal beobachtbaren Verhalten bezeichnen. Letztere Bedeutung von Aktualität und

340 Diese erscheinungsmäßige Zeichenvermitteltheit der Seele selbst, ihr Verschwinden hinter ihren Eigenschaften, bildet die Grundlage der unverlierbaren Innerlichkeit und der Unsterblich­keit der Seele, die in Erscheinung treten, von denen Erscheinungen aber nicht zerstört werden kann.341 Dazu vgl. die an anderer Stelle vorgelegte Analyse der Deutung des mimischen Ausdrucks in Kapitel 1.3.342 PuA: 68.

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Potenzialität ist daher eine derivative; wäre sie dies nicht, so wären Aktualität und Potenzialität tatsächlich dem Eigenschaftsbegriff zu subsumieren, statt eine modal-ontologische Bestimmung der Eigenschaften zu bilden, die Stein hier nicht hinreichend klar von den Eigenschaften selbst als den Akzidenzien der Substanz unterscheidet. (Onto-)Logisch schlüssiger legt Stein ihre Gedanken an den Stellen dar, wo sie die Akzidenzien, die Seinsmodi und die Substantialität der Seele in eine alle drei Momente unterscheidende und zusammenführende Perspektive rückt: „Wie die Materie der Körper und ihre Akzidenzien nur durch die Vereinigung mit einer substantialen Form von der Potentialität zu aktuellem Sein übergehen, so auch die seelischen Akzidenzien und diese .Materie der Seelen*.“343 Die Eigen­schaften bleiben hier strikt dinglich gebunden, werden aber aufgrund der diese Eigenschaften bedingenden und gestaltenden Potenzialität und Aktualität der Seele als der Substanz und Form des Körpers nicht zu Epiphänomenen bloßer Dinge reduziert, sondern in ihrer einheitsbildenden Funktion betrachtet. Ein Le­bendiges ist irreduzibel eine Gestalteinheit, die nicht in Substanz und Akzidens zerfällt, sondern als Einheit von Substanz und Akzidens gemäß den Seinsmodi von Aktualität und Potenzialität erscheint. Und weil Aktualität und Potenzialität Seinsmodi sind, sind die Verhaltensmöglichkeiten von Lebendigem reale statt bloß logische Möglichkeiten. Sie sind also Möglichkeiten dadurch und insofern, als sie Möglichkeiten des Lebendigen sind, etwas zu tun oder zu sein (d. h. ver­körpern). Der Potenzialitätsbegriff ist daher ein ontologischer und kein modal­logischer, da die Modallogik, deren Interesse sich auf die interne Konsistenz von Aussagen und Zusammenhängen von Aussagen beschränkt, den Begriff der Po­tenzialität in eine abstrakte Optionalität (Möglichkeiten des Lebendigen wären Optionen, dieses oder jenes zu tun, ohne dass dafür Seinsmodi in Anschlag zu bringen wären oder vom Lebendigen in seiner Begrenztheit und Lebendigkeit auszugehen wäre) und Kasuistiken auflösen würde. Der Seinsmodus der Ontologie verschwindet in der Modallogik hinter dem Schleier von Propositionen über Möglichkeiten, die nicht als Möglichkeiten einer bestimmten Lebensform als solcher, d. h. im Ausgang von ihrem zu ontologisch elaborierten Was-Sein, in den Blick kommen, sondern anekdotisch bleiben oder ein Gesamtbild dieses Leben­digen bloß induktiv zu generieren versuchen können und dem Lebendigen als solchem daher gerade äußerlich bleiben müssen. Als ontologische Begriffe sind Akt(ualität) und Potenz(ialität) insofern Begriffe einer Ontologie des Lebendigen, die Potenzialität ist „geschöpfliche“ Potenzialität.

343 Ebd.: 222.

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3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen 191

3.8.5 Die konstitutiven Wahrheiten des Geistes: transzendentale, ontologische, logische und Wesenswahrheit

Um die geschöpfliche Potenzialität humanspezifisch konkretisieren zu können, muss die Betrachtung des Begriffs des Geistes wieder aufgenommen werden, um dessen Reichweite und Grenzen zu bestimmen. Bisher ist zur Sprache gekommen, dass der Geist ambivalent bestimmt worden ist: als Spezifikation der Seele („Menschenseele als Geist“) und als Entität sui generis. Inwiefern der Geist endlich und der Geschöpflichkeit eingesenkt ist und inwieweit dem Menschen die Emanzipation von seiner Geschöpflichkeit erlaubt, ist im Folgenden darzulegen. Es soll dabei, auch der Kürze wegen, aber vor allem, weil Stein in ihrem Hauptwerk philosophisch reifer und selbstsicherer ihre Gedanken ausbuchstabiert hat, vor­rangig von der Explikation des Begriffs des Geistes in Endliches und ewiges Sein der Ausgang genommen werden. Diese Reife - sofern Reife so viel bedeutet wie Zu- sich-selbst-Kommen - zeigt sich darin, dass Stein in Endliches und ewiges Sein die Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Geist, jeglichen Anklang an Hegel in der Begriffswahl zum Verschwinden bringend, fallen lässt, und die Begriffsarbeit in strenger Anlehnung an Thomas von Aquin durchführt. Diese Fokusverlagerung ist deshalb unproblematisch, weil Stein keine Revision ihrer Grundgedanken aus Potenz und Akt vollzieht, sondern lediglich eine Modifikation.

Der Geist steht ontologisch in den bereits angesprochenen Bezügen zu Leib und Seele, welche das Lebendige als zusammengesetzte Substanz konstituieren, aber auch zu Gott als dem ersten Seienden, das keine Substanz, sondern reiner Geist ist.344 Diese Entitäten bilden nicht einfach Dingartiges, sondern die „Grundformen wirklichen Seins“: „Die Ausdrücke ,Seele' und ,Leib‘ erhalten in den verschiedenen Bereichen des .Lebendigen* eine verschiedene inhaltliche Er­füllung. Darüber hinaus aber bezeichnen sie verschiedene Grundformen wirklichen Seins, denen als dritte die des,Geistes' an die Seite zu stellen ist.“345 Bei dieser Trias von Leib, Seele und Geist handelt sich um eine Transformation der in Potenz und Akt eingeführten und an Plessners Unterscheidung zwischen Innenwelt, Außen­welt und Mitwelt erinnernden Trias von Innenwelt (Seele), Außenwelt (Leib, Leibgebundenheit) und Überwelt (Gott).346 Der Geist bildet diejenige Grundform wirklichen Seins, welche die menschliche Natur in einen nicht epistemologisch zur Versöhnung zu bringenden Bruch stellt, gerade weil sie ihn mit Gott, der reiner Geist ist, verbindet und in dieser Verbindung von ihm trennt. Diese Verbindung ist

344 Vgl. EES: 218 f.345 Ebd.: 214.346 Vgl. PuA: 18 und 69.

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eine per hiatum, was im Ausdruck der analogia entis zum Ausdruck kommt, denn unter dem Oberbegriff des Geistes wird die Differenz zwischen dem Geist als einer „Gattung des Seienden“, welche den Menschen als einer der „geistigen Sub­stanzen“347 (neben den Engeln als einfachen, auf keine Verkörperung angewie­senen Geistern) kennzeichnet, und dem reinen Geist (Gott) versammelt. Der Geist ist - wie der Stoff348 - eine Gattung des Seienden, jedoch eine ausgezeichnete Gattung des Seienden:

Die Zuordnung zum Geist gehört nicht bloß zu einer Gattung des Seienden, sondern zu allem Seienden - zu jedem Einzelnen und zum Ganzen. [...],Geist“ aber bezeichnet eine Gattung des Seienden, denn nicht alles Seiende ist Geist. Indessen ist es eine ausgezeichnete Gattung, weil es dem Geist eigen ist, für alles Seiende geöffnet zu sein, davon erfüllt zu werden und in der Beschäftigung mit ihm sein Leben, d.i. Sein eigentlichstes (aktuelles) Sein zu haben.349

Die Differenz zwischen „Existenz“ und „Sein“ entsteht durch den Geist. Existenz definiert Stein als „Sein unabhängig von einem erkennenden (endlichen) Geist, als Sein auf sich selbst gestellter Gegenstände gefaßt. Den Gegensatz dazu bildet das gedankliche Sein, das denkende Geister voraussetzt.“350 Diese Passage lässt sich für sich genommen idealistisch deuten, als wäre Existenz schlicht noch nicht gedachtes Sein, doch diese Deutung lässt die anthropologische Fundamentalität des Geistes außer Acht, der den Unterschied zwischen dem Menschen und dem Tier ausmacht. Das Geöffnetsein des Geistes für alles Seiende macht das Exis­tierende, das für das Tier bloß Existierendes, also zu ihm als ein umweltliches Element in einem transzendenzlos instrumenteilen Verhältnis Stehendes ist, zu einem Seienden in dem Sinne, dass ein jegliches Existierendes in Relation zum Menschen aufgrund seines Geistes Sein ist. Stein definiert daher Sein als Offen­barsein für den Geist: „Sein ist (ohne daß damit sein voller Sinnbestand erschöpft wäre) Offenbarsein für den Geist.“351 Hinzuzufügen wäre: für den Geist, der auf­grund seines wesenhaften Geöffnetseins für Seiendes überhaupt erst Geist ist. Sein ist, um die an früherer Stelle angesprochene Bestimmung der drei Grundcha­rakteristika des Geistes hier wieder aufzunehmen, ein intelligibile, denn „ein in- telligibile sei: etwas, was in einen erkennenden Geist ,eingehen‘, von ihm ,umfaßt*

347 „So ist ein Sein des Ich nicht denkbar, ohne das dieses eine Substanz hatte, geistiges Sein erfordert geistige Substanz. Demnach dürfen wir unsere Frage dahin beantworten, das es zur Person gehört, geistige Substanz zu sein.“ (ebd.: 86)348 Vgl. EES: 236.349 Ebd.: 257.350 Ebd.: 282.351 Ebd.: 257f.

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werden kann. Beides scheint mir mit der transzendentalen Wahrheit gleichbe­deutend zu sein“.352

Die „transzendentale Wahrheit“, als welche Stein die Relation zwischen Sein und Geist fasst, ist zugleich eine ontologische Wahrheit, weil die Relation zwi­schen Geist und Sein als transzendentale selbst eine ontologische ist, d. h. der Rückgang hinter diese transzendentale und ontologische Wahrheit markiert notwendig einen Rückgang hinter bzw. eine Unterschreitung dessen, was der Begriff „Geist“ meint; übrig bleibt dann bestenfalls die Beziehung zwischen Existierendem und einem bloßen Verstand. Zugleich wird mit dem Rückgang hinter den Geist anthropologisch unter das Level des Menschen zurückgegangen, da ein „vor-geistiges“ Weltverhältnis gerade den Weltbezug vor-menschlicher Lebensformen kennzeichnet. Die transzendentale und die ontologische Wahrheit bilden das Fundament der logischen Wahrheit, denn es müsse „allem [Hervor­hebung, S.E.] Seienden - auch ontologische und transzendentale Wahrheit zu­kommen“;353 es gilt folglich für alles Seiende - für das Dingliche wie für die reinen Formen - dass „zu ihrem Sein [...] das Offenbarsein oder die Zuordnung zu einem erkennenden Geist, die für die logische Wahrheit Voraussetzung ist“,354 gehöre. Es ist daher nicht der kognitive Akt, welchen die herkömmlicherweise als adaequatio rei et intellectus aufgefasste logische Wahrheit zur Voraussetzung hat und durch den sie gestiftet wird, sondern das Seiende selbst steht transzendental und on­tologisch in einer adaequatio entis et mens: „Das Seiende als solches, wie es in sich ist, ist Bedingung der Möglichkeit für die Übereinstimmung oder Nichtüberein­stimmung mit dem erkennenden Geist, die ,logische* Wahrheit und Falschheit. Und als Grundlage der logischen Wahrheit wird das Seiende selbst - in tran­szendentalem Sinne - wahr genannt.“355 Sein und Seiendes bilden hier keine ontologische Differenz im Sinne Heideggers, sondern eine ontologisches Korrelat, das Sein des Seienden ist das Offenbarsein des Seienden für den Geist.

Mit der ontologischen Wahrheit verschwindet jedoch nicht die Diskrepanz zwischen meiner aktuellen und wirklichen Idee eines Gegenstandes und der idealen Wesenhaftigkeit dieses Gegenstandes. Die Übereinstimmung beider Ideen nennt Stein „Wesenswahrheit“:

Die Übereinstimmung eines Wirklichen mit der entsprechenden reinen Form wollen wir alsWesenswahrheit bezeichnen. Sie ist von der ontologischen Wahrheit [...] noch unterschieden,

352 Ebd.: 256.353 Ebd.: 263.354 Ebd.355 Ebd.: 256.

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aber für sie vorausgesetzt, weil ein Ding nur insoweit ,in Wahrheit“ etwas ist, als es mit einerreinen Form in Übereinstimmung ist.356

Diese Wesenswahrheit geht der logischen Wahrheit voraus, welche Stein als „Wahrheit des Urteils“357 bezeichnet, denn Urteile setzen Ideen voraus, die sie nicht erst logisch hervorbringen können. Was damit in die Wahrheitsrelation einbricht, ist das Divinatorische der Idee, das Angewiesensein auf eine prästa- bilierte Harmonie zwischen subjektiver Idee und reiner Form. Weil die Wesens­wahrheit für die ontologische Wahrheit vorausgesetzt, zugleich aber nicht epis- temologisch garantiert ist, behauptet die ontologische Wahrheit nicht trivialerweise die Identität von Erkennen und Sein schlechthin, sondern die Identität von Erkennen und Sein, sofern im aktualen Erkennen Sein für den Geist offenbar ist. Die prinzipielle Bestimmung des Seins als Offenbarsein für den Geist bedarf daher immer noch der Aktualisierung desselben durch den erkennenden Geist; damit wird aber der prinzipielle Charakter der Bestimmung nicht relativiert, weil eine Relativierung nur durch eine Aufhebung des transzendentalen und ontologischen Bandes möglich wäre, wie dies im Konstruktivismus dar Fall ist. Sowohl die transzendentale als auch die ontologische und die Wesenswahrheit haben einen gemeinsamen Grund: alle „drei Ausdrücke sprechen eine Zuordnung von ,Geist und ,Seiendem1 aus“.358

Erst in der logischen Wahrheit erhält das Subjekt (des Urteilens) als solches konstitutive Kraft und Bedeutung, denn in ihr wird das Verhältnis des Gründens-in umgekehrt, da in der logischen Wahrheit „ein Seiendes [...] in einem anderen Seienden (dem erkannten Seienden und der entsprechenden Erkenntnis) be­gründet ist“.359 Dieses Seiende ist ein Seiendes im Sinne eines Urteilselements und daher im Urteilsakt des Urteilenden begründet. Als Instanz des Urteilens fungiert das Erkennende, als dessen Gegenstand das Erkannte, d. h. die logische Wahrheit „setzt das Sein des erkannten Gegenstandes und das (mindestens mögliche) Sein eines erkennenden Geistes voraus“.360 Was damit benannt ist, ist die neuzeitliche, mit der Wende von der Ontologie zur Epistemologie in den Ruf der Unhinter- gehbarkeit als Ansatzpunkt gelangte Subjekt-Objekt-Relation. Dieser Ansatzpunkt bleibt hier zwar weiterhin unhintergehbar, wird aber dennoch entfundamentali- siert, indem die Relation zwischen Subjekt und Objekt nur noch zum Schauplatz

356 Ebd.357 „Die Wahrheitdes Urteils aber ist nichts anderes als logische Wahrheit: Übereinstimmung des Urteilssinnes mit einem bestehenden Sachverhalt.“ (ebd.: 259)358 Ebd.: 256.359 Ebd.: 256f.360 Ebd.: 259.

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von kognitiven Vorgängen a posteriori wird; die Relation bleibt als die die Sphäre der Intentionalität polar konstituierende aber insofern grundlegend, als die lo­gische Wahrheit sich ihrer nicht entschlagen kann, doch ist sie selbst in den drei angesprochenen Wahrheitsrelationen fundiert.

Nur der Vollständigkeit halber sei diejenige (genuin theologische) Wahr­heitsrelation erwähnt, die Stein als „göttliche Wahrheit“ fasst und in welcher die „Gesamtheit alles geschaffenen Seienden in ihrer Zuordnung zum göttlichen Geist“361 thematisiert wird. Eine genauere Betrachtung dieses Wahrheitstypus würde jedoch in theologische Spitzfindigkeiten hineinführen, welche vom hier verfolgten Gedanken ablenken und diesen auch nicht indirekt fördern würden. Stattdessen geht es im Folgenden um die „künstlerische Wahrheit“, die mit dem „Kern der Person“ auf intime Weise verbunden ist, wie sich zeigen wird.

3.8.6 Die künstlerische Wahrheit und der Kern der Personalität

Anthropologisch von zentraler Bedeutung ist die „künstlerische Wahrheit“, in deren Explikation Stein den darin in nuce enthaltenen Zusammenhang zwischen dem Geist und der Personalität entfaltet, weil die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen dem Künstler und Gott nicht allein in der (qualitativ abgründig ver­schiedenen) schöpferischen Potenz besteht, sondern auch darin, dass ein jegliches Schöpfertum Personalität voraussetze, denn ,,[n]ur eine Person kann erschaffen, d.h. kraft ihres Willens ins Dasein rufen“.362 Es geht dabei also mehr um den Künstler als Person denn um die Person als Künstler, mit dem Vorrang des Per­sonalen werden dann Strukturmerkmale des künstlerischen Handelns bzw. der künstlerischen Wahrheit generalisierbar, von der Hervorbringung von Kunst im engeren Sinne ablösbar und auf die Person als solche übertragbar, z. B. Vernunft und Freiheit: „Vernunft und Freiheit aber sind die Wesensmerkmale der Per­son.“363 Dass Vernunft hier inhaltlich gleichbedeutend mit Geist ist, steht außer Zweifel, und die gelegentlichen Äquivokationen Steins, die aus ihrer Entfaltung des Personbegriffs entlang der thomasischen Terminologie resultieren,364 sind bereits thematisiert worden. Dass Stein von „künstlerischer“ statt von „ästheti­scher“ Wahrheit spricht, dürfte über die Prägung durch Thomas von Aquin hinaus von einem Interesse daran herrühren, die Einwanderung ästhetischer Topoi ins

361 Ebd.: 267.362 Ebd.: 293.363 Ebd.: 294.364 Vgl. das Thomas-Zitat ebd.: 304f.

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Zentrum der Ontologie mittelalterlicher Prägung zu verhindern, was in der An­lehnung an aristotelische Beispiele,365 die in der ästhetischen Prägung der grie­chischen Antike wurzeln, leicht geschehen kann.

Die künstlerische Wahrheit bedarf der Personalität, weil sie in einem an­spruchsvolleren Sinn eines Zentrums bedarf, von welchem her eine Wahrheits­relation praktisch initiiert und theoretisch verstehbar wird, die mit jeglichem Widerspiegelungsparadigma inkompatibel ist und in der ein über jegliches Er­kennen hinausgehendes praktisch-schöpferisches Verhältnis zur Welt sich ma­nifestiert. Dieses Verhältnis ist nicht das Verhältnis des Geistes zur Welt, sondern das der Person zur Welt. Der Geist bildet das Organ des personalen Zugriffs auf die Welt, wie sie in der künstlerischen Produktion statthat; dieses Organ bildet, ob­wohl es mit Organen im Allgemeinen die Vermitteltheit seiner Existenz durch es Umgreifendes teilt, d. h. Organ von etwas ist (der darüber hinaus leiblich-seelisch verfassten Existenz der Person), den Ursprung der schöpferischen Tätigkeit, d. h. den Anfangs- und Endpunkt des Schöpferischen in seiner ideellen Reichweite: „Das Werk ist .geschaffen* und d. h. verursacht; es ist durch ein wirkliches Ge­schehen, die schöpferische Tätigkeit, zustande gebracht worden, und diese Tä­tigkeit hat ihren Ursprung im Geist des Künstlers.“366 Bevor und nachdem der Geist schöpferisch in das Verhältnis zwischen Person und Welt eingegriffen hat, ist künstlerisches Material bloße Materie, weshalb der Bildhauer „zuerst“ die Idee haben und dann das passende Material zur Realisierung derselben suchen könne oder „beim Anblick des Marmorblocks“ den Einfall zu einem Kunstwerk haben könne. Der Prozess der Materialbearbeitung ist nur dann und solange ein künstlerischer, wie alle Materialbearbeitung unter der „Anleitung“ des Geistes stattfinde, weshalb „der Name .praktische Erkenntnis* sich hier in einem ganz wörtlichen und eigentlichen Sinne erfüllt“.367 Das Ins-Werk-Setzen des Werkes, d. h. seine Realisierung in der physischen Bearbeitung von physischem Material, ist Sache der leiblich-seelisch-geistigen Person, die gerade als verkörperte Ganzheit ihrer Konstituentien368 Person ist.369

Das Kunstwerk steht in einem doppelten ideellen Bezug: zur Idee seines Schöpfers und zu reinen Formen bzw. Ideen. Die ideelle Axiologie gibt wenig

365 Das Beispiel des Künstlers ist in der Metaphysik zentral und wird unter den Namen der Baukunst und der Arztlcunst an einer Vielzahl von Stellen bemüht, vgl. z.B. Met. 1026a, 1047a, 1032n, 1034 b, 1046a+b, 1049a und 1050a.366 EES: 260.367 Ebd.: 261.368 Die stilistisch bessere Verwendung des Begriffs des Aspekts wird hier in den Wind ge­schlagen, um nicht die Differenzen zwischen Stein und Plessner zu verwischen.369 Vgl. ebd.: 261.

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3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen 197

Rätsel auf, welcher Idee der Vorrang zukomme, ist die Idee des Künstlers doch nur als mit der reinen Idee übereinstimmende Idee von Wert und damit ontologisch gesättigt: „Künstlerische Wahrheit ist Übereinstimmung des Werkes mit der reinen Idee, die ihm zu Grunde liegt. Darin liegt eine Verwandtschaft mit der .ontologi­schen* Wahrheit“.370 Die Subjektivität des Künstlers bleibt der Objektivität der reinen Idee verpflichtet, soll das Kunstwerk mehr als eine Ausgeburt von Hirn­gespinsten sein. Die Freiheit der „Einbildungskraft“ besteht daher nicht in der freien Erzeugung des ihr Beliebenden, sondern sie ist „an die Wesensgesetze gebunden und hat die Aufgabe, Wesensmöglichkeiten, nicht Wesensunmöglich­keiten herauszuarbeiten“,371 ihr schöpferisches Gesetz wird ihr von reinen Ideen und Wesenswahrheiten vorgegeben. Aufgrund ihrer ontologisch-metaphysischen Gesättigtheit ist die künstlerische Wahrheit, etwa die künstlerische Darstellung Napoleons, in welcher das Urbild Napoleons in der ästhetischen Abbildlichkeit zur Erscheinung gebracht wird, eine „höhere“ Wahrheit als die geschichtliche Wahrheit, um die sich der Geschichtsschreiber bemüht, der notgedrungen „an den äußeren Tatsachen hängen bleibt“.372 In der Unterscheidung zwischen künstle­rischer und geschichtlicher Wahrheit hält Stein der Aristotelischen Poetik die Treue, welcher der Vorrang des Ästhetischen vor dem Historischen entnommen ist.373

Dass der Geistbegriff bzw. die Vernunft als Geist den Grundbegriff der Per­sonalität bildet, spricht sich auch darin aus, dass das „Wohlgefallen“ die sub­jektiv-geistige Seite eines darauf nicht reduzierbaren objektiven Verhältnisses zwischen Geist und reiner Form bildet; das Wohlgefallen, welches notwendig als das Wohlgefallen am Schönen aufzufassen ist, ist dabei keine isolierte und vom Geist in seiner Ganzheitlichkeit isolierbare Regung, die psychologisch hinreichend erschließbar wäre, sondern es steht zusammen mit dem Wahren und dem Guten in einer intimen Beziehung zum Geist als solchem. Die Grundstruktur des Geistes kommt in der Beziehung zum Wahren, Guten und Schönen zum Ausdruck, weil es eine dreifache Grundtätigkeit des Geistes ist, welche diese Beziehungen stiftet: im Erkennen (der Wahrheit), dem Streben (nach dem Guten) und dem Wohlgefallen (am Schönen):

Mit Wahrheit und Gutheit hat die Schönheit gemeinsam, daß sie das Seiende zu einembestimmten Seienden in Beziehung setzt und zwar - wiederum wie die Wahrheit - in Be-

370 Ebd.: 261.371 Ebd.: 325.372 Ebd.: 262.373 Vgl. das 9. Kapitel der Aristotelischen Poetik.

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Ziehung zum Geist: denn sie ist das am Seienden, wodurch es geeignet ist, Wohlgefallen zu erwecken; Wohlgefallen aber ist ein geistiger Akt.374

Die „künstlerische Wahrheit“ gründet daher in der triadischen Grundstruktur des Geistes; in ihr akzentuiert sich aber stärker das schöpferische Moment, welches im Begriff der die „künstlerische Wahrheit“ ermöglichenden „praktischen Erkennt­nis“ seinen Ausdruck findet, nämlich das Moment des Strebens. Die Trias ist eine verwirklichte Einheit, das Streben ist nicht bloß ein Streben nach dem Guten und die Erkenntnis des Wahren nicht frei vom Streben nach dem Wahren, ebenso entspricht in der künstlerischen Wahrheit dem Wohlgefallen am Schönen das Streben nach dem Schönen, welches zugleich das Bestreben ist, das Schöne hervorzubringen. Auch dieses Streben fasst Stein gemäß der Relation von Potenz und Akt: „Die Vollendung eines Unvollendeten ist das eigentliche Ziel des Stre­bens, Übergang von der Potenz zum Akt seine Erfüllung.“375 Weil die Verwirkli­chung dieser Vollendung nicht mit der Verwirklichung von Potenzen koinzidieren muss und dies nicht tut, wo nicht Wesenswahrheiten und Wesensmöglichkeiten zum Ausdruck gelangen, ist das Gelingen nicht der Willkür anheimgestellt und die Potenz der künstlerischen Wahrheit selbst prinzipiell selbst potenzieller Natur, kurz: Die Aktualisierung der Potenz ruht auf dem schwankenden Grunde einer selbst prinzipiell potenziellen Potenz des Geistes.

Das Streben des Geistes ist also ein Streben nach Erfüllung, die in der Überführung einer Potenzialität in eine entsprechende Aktualität besteht; erst der Vollzug dieser Überführung stellt eine εντελέχεια dar. Durch die Bindung des schöpferischen Geistes an die Wesensmöglichkeiten wird der Begriff der ästhe­tischen Potenz ontologisch codiert: Potenz ist nur dann sachhaltig, wenn sie nicht beliebige Potenz ist, sondern Potenz zur Wahrheit, welche ihrer Erfüllung in der Aktualisierung bedarf. Diese Potenz zu aktualisieren, ist keine arbiträre Mög­lichkeit des Geistes, weil Stein den Geist dadurch definiert, dass Aktualität seine ursprüngliche Seinsweise sei: „Die ursprüngliche Existenzweise des Geistes ist Aktualität, ist Leben; zum Leben gehört Wirken; darum gehören Aktualität und Aktivität zusammen: Aktualität wirkt sich in Aktivität aus, Aktivität hat Aktualität zur Voraussetzung.“376 Die Aktualität verhält sich nicht derivativ zu einer gestal­tungskräftigen, gleichsam Aktualisierungsmöglichkeiten wählenden Potenz, die als solche existierte, sondern die Aktualität ist movens und Wesen des Geistes.377

374 EES.: 276.375 Ebd.: 273.376 PuA: 77.377 Sie entspricht damit auf der Ebene der Seinsmodi strukturlogisch der Form auf der Ebene der Konstituentien.

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3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen 199

Da dieses Wesen nicht jederzeit sich realisiert, der Geist also nicht beständig in actu ist und insofern sich nicht als Totalität gegeben sein kann,378 als er sich nur durch Potenzen hindurch aktualisieren kann in einer Art „ursprünglicher Ver­spätung“ (Derrida), die als „ursprüngliche Selbstverspätung“ zu präzisieren wäre, ist sein Wesen zugleich sein inneres τέλος und der Kern der Person: „Die volle Entfaltung ist als Telos in der Entelechie, dem ursprünglichen Kern der Person, vorgezeichnet.“379 Was wesenhaft ist, was es im Sein werden muss, ist genau dann nicht nur geschöpflicher, sondern personaler Natur, wenn die Selbstverwirkli­chung der Person mit der des Geistes koinzidiert und in dessen Struktur teleo­logisch beschlossen liegt. Diese innere Teleologie macht die Wirklichkeit der geistigen Person aus und unterscheidet sie zugleich von der allgemeinen Wirk­lichkeit des Lebendigen, die formal gesehen ebenfalls in Aktualität und Poten- zialität zerfällt.380

3.8.7 Anwendung der künstlerischen Wahrheit auf die Lebensführung

Was Stein über die künstlerische Wahrheit ausführt, ist generalisierbar und auf die Lebensführung der Person übertragbar, weil in der Lebensführung der Geist ebenfalls als schöpferisches Prinzip fungiert: „Das geistige Leben ist das eigent­lichste Gebiet der Freiheit: hier vermag das Ich wirklich aus sich heraus etwas zu erzeugen.“381 Dieses „etwas“ ist das Ich bzw. die Person selbst, indem sie ihr Leben führt und darin Freiheit praktisch realisiert. Die gleichwohl durch die leibliche Verfasstheit und die Zuständlichkeit des Leibes restringierte Möglichkeit, die Lebensführung zu bestimmen, spricht Stein in ihrer Vorlesung Der Aufbau der menschlichen Person an, wo sie vom „Leben aus und in der geistigen Welt“382 handelt. Aus der geistigen Welt und in die eigene leibkörperliche hinein lebt die Person in der Verwirklichung der Möglichkeit, „daß Kräfte, die aus der geistigen Welt geholt werden, für körperliche Leistungen verwendet werden“.383 Obwohl Stein auch die Möglichkeit des ,,Übergang[s] in die rein geistige Existenzweise“384

378 Darin spricht die Geschöpflichkeit des Menschen sich aus, die auch die Freiheit des Geistes zu einer bedingten macht: „Alle geschöpfliche Freiheit ist bedingte Freiheit.“ (EES: 316)379 PuA: 263.380 „Das, was wirklich ist oder werden kann, ist ,in actu‘ oder ,in potentia1, aktuell oder po­tenziell. Aktuelles und potenzielles Sein, wirkliches und mögliches Sein drücken also die Seinsweisen von etwas aus, das in sie eingehen kann.“ (EES: 47)381 Ebd.: 317.382 AmP: 178.383 Ebd.384 Ebd.

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200 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

anspricht, die zu ihrer Voraussetzung das Heraustreten der geistigen Seele aus der „natürlichen Einheit mit dem Leib“385 habe, gesteht sie die Unmöglichkeit ein, „dies Innere [der Seele, S. E.] nicht von dem Ganzen loszulösen, das empfindet, denkt und will und das den Körper zum lebendigen und personal gestalteten Menschenleib macht“.386 Dass die Lebensführung jedoch nur als geistig gestaltete eine sinnerfüllte sein könne, sagt Stein überaus klar, sie definiert gar den Geist als Sinn und Leben mit dem praktischen Fluchtpunkt der Lebensführung:

Geist ist Sinn und Leben - in voller Wirklichkeit: sinnerfülltes Leben. [...] Bei den Geschöpfen ist zu scheiden zwischen der Lebensfülle, die durch den Sinn gestaltet wird, und dem Sinn, der sich in der Lebensfülle verwirklicht. Stoff im Sinn der Lebensfülle ist nicht Ungeistiges, sondern gehört zum Geist selbst. Ungeformte Lebensfülle ist Kraft zu geistigem Sein (Potenz), die noch zur Seinsvollendung geführt werden muß. Sinn ohne Lebensfülle ist Idee, die erst in einem Lebendigen wirklich wird.387

Die Bedeutung des Geistes für die Lebensführung offenbart dessen ontologischen Doppelstatus als Aktualität und Potenzialität: Potenz ist der Geist ontologisch insofern, als die Idee erst im Lebendigen wirklich werden muss, die Verwirkli­chung derselben aber von der Person als leiblich-seelisch-geistiger Ganzheit vollzogen werden muss.388 Akt ist der Geist ontologisch insofern, als nur durch ihn Ideen „in einem Lebendigen wirklich“ werden können, das Lebendige, d. h. die Person als das geistige Lebendige, also nur durch ihn als Lebendiges Geistigkeit personal verkörpern kann;389 ebenso kann die Person nur durch den Geist und seine Regentschaft zu sich selbst kommen, bildet er doch ihr primäres Selbstge­staltungsmedium. Auch als Akt ist der Geist Potenz, weil das Verhältnis von Geistigem und lebendiger Verwirklichung nicht linearer Art ist, d. h. das Geistige ist Potenz aufgrund der Reflexivität seiner selbst in der Deliberation und dem Entwerfen von Möglichkeiten, die als Möglichkeiten selbst wiederum Aktuali­sierungen von Geistigkeit mit Möglichkeitscharakter sind. Diese operative Po- tenzialisierung des Geistes für ihn selbst, die zugleich eine Potenzierung dessel­

385 Ebd.386 Ebd.: 129. - Dass die anthropologische Differenz die elementarsten leiblichen Vollzüge be­reits betrifft, zeigt sich auch in Steins Bestimmung der menschlichen Wahrnehmung, die kein bloß sinnliches Geschehen mehr ist: „Die Wahrnehmung ist schon Erkenntnis, geistiges Tun.“ (EES: 316)387 Ebd.: 323.388 Vgl. auch die Bestimmung des Geistes als Potenzialität in Kapitel 3.8.2.389 Die Notwendigkeit der Verwirklichung zeugt von der Entäußerungsbedürftigkeit des Geistes, der in dieser Entäußerung seine Autonomie nicht aufgibt, sondern ins Werk setzt: „Im Schaffen und durch das Schaffen gelangt der Menschengeist und zugleich das Werk zu seiner vollen Wirklichkeit.“ (EES: 176)

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3.8 Der Mensch als lebendiges Geistwesen 201

ben darstellt, ist mit der Reflexivität des Geistes gegeben (der insofern Akt ist, als die Potenzialität nur als Aktualität der Potenzialität de facto gegeben ist), doch der Geist stellt als operative Potenzialität in dieser Reflexivität zugleich eine virtuelle Aktualität dar, die aktualitätsermöglichend und -bestimmend sein kann. Ent­scheidend an Steins phänomenologischem Zugriff ist, dass der Geist zwar onto­logisch als in den Leib eingesenkter und wie die gesamte Person aus dem „jen­seitigen“ Grund der Seele heraus Lebender kein Absolutum bilden kann, dennoch aber in seiner Autonomie insofern unantastbar und im uneigentlichen Sinne „reiner Geist“390 ist, als Leiblich-Seelisches den Geist allenfalls vermittelt affi- zieren, nicht aber inhaltlich determinieren könne: „Das Seiende gibt als Gehalt dem erkennenden Geist Vollkommenheit, ohne mit seinem Sein in ihn einzuge­hen; und das ist es, was ihm den Charakter des Wahren gibt.“391 Hinzuzufügen wäre: und was die Verbindung der Lebensführung mit dem Schönen und Guten ermöglicht.

Aber dass der Geist zur Verwirklichung seiner selbst des vollen Einsatzes der Person bedarf, die Allmacht des für sich genommen autonom operierenden Geistes an der leiblich-seelischen Verfasstheit des Menschen, seiner Lebendigkeit, gebrochen wird, macht Akt und Potenz zu Seinsmodi der lebendigen Person statt zu frei wählbaren Seinsweisen eines engelhaften Wesens. Lebensführung wird in eine Ambivalenz von Seinsmodi gestellt. Wollte man diese Ambivalenz klassisch­ontologisch gegen die Existenzialontologie Heideggers wenden, könnte man sa­gen: Die Geworfenheit ist die Geworfenheit in die Ambivalenz von Akt und Potenz, die der Person die Aufgabe stellt - eine Aufgabe, die problematisch genug ist und nicht noch der wenig produktiven Überfrachtung mit dem Tod und dem Ganz-sein- können des Daseins bedarf. Dieser Ambivalenz entspricht der ontologische Status des Menschen, der Stein zufolge weder Engel noch Tier, sondern beides in einem sei: „Der Mensch ist weder Tier noch Engel, weil er beides in einem ist. Seine Leib- Sinnenhaftigkeit ist anders als die des Tieres, und seine Geistigkeit ist anders als die des Engels.“392 Der Kreis schließt sich an dieser Stelle: Die Doppelnatur von Natur und Geist, von der am Anfang dieses Kapitels die Rede war, kehrt hier wieder, allerdings nicht unter dem Vorzeichen der Zerfallenheit, sondern dem des

390 Der reine Geist ist in Bezug auf den Menschen zu spezifizieren als „endlicher“ reiner Geist, er wäre sonst nicht Geist eines leiblich-seelisch Verfassten: „Ein Geistwesen ohne körperlichen Leib ist reiner Geist, nicht Seele.“ (ebd.: 313) Engel und Götter sind reine Geister, die menschliche Person aber verfügt lediglich über einen endlichen reinen Geist insofern, als „das reine Geistes­leben keine Leiblichkeit als Mittel seiner Verwirklichung“ (ebd.: 334) benötige.391 Ebd.: 253.392 EES: 316.

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202 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

Zugleichseins. Was Engel und Tier in einem ist, ist nicht beides und ist beides nicht, sondern ist ein Drittes: menschliche Person.

3.9 Sozialer Typus und Rolle: Eine sozialphilosophische Andeutung

Lange vor der Ausformulierung ihrer Anthropologie und Ontologie, aber kurz nach ihrer ersten dezidierten Auseinandersetzung mit dem Begriff der Person in Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik (1917), hat Edith Stein in ihrer 1919 erschienenen Abhandlung Individuum und Gemeinschaft den Begriff des sozialen Typus entwickelt, der den Keim einer von ihr jedoch nicht entwickelten Rollentheorie enthält. Der hier zu verfolgende Gedanke, wonach Steins Begriff des sozialen Typus eine unausgeführte Rollentheorie zumindest am denkerischen Entwicklungshorizont als Möglichkeit erscheinen lässt, findet sich, wie einem Hinweis von Beate Beckmann-Zöller zu entnehmen ist,393 bereits bei Alasdair MacIntyre, verdankt letzterem aber keinerlei maieutischen Beistand.

Die Entwicklung einer Rollentheorie hätte vorausgesetzt, dass Stein zu einer konsequent genetischen Betrachtung der Genesis der Person bereit gewesen wäre. Die Zuordnung der „Beschreibung der allgemeinen Typen des Kindes, des Jüng­lings, der Geschlechter, der Berufsgruppen“394 - allesamt auch Rollenbegriffe - zur „differentiellen Psychologie“395 zeigt, wie weit Stein davon entfernt ist, die Typenlehre rollentheoretisch zu verflüssigen. Das Verhältnis zwischen Individu­um und Typus wird gemäß der klassischen Relation von Einzelnem und Allge­meinem gedacht, welcher das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem allen Gemeinsamen korrespondiert:

Der einzelne Mensch ist als Glied einer Gemeinschaft Verkörperung eines Menschentypus, genauer: Er hat im Aufbau seines personalen Seins etwas, was ihm mit allen Gliedern dieser Gemeinschaft gemeinsam ist und ihn von den Angehörigen anderer Gemeinschaften un­terscheidet (er ist als Schwabe vom Bayern typisch verschieden) ; er hat aber außerdem etwas Typisches an sich, was seiner Gliedstellung in der Gemeinschaft entspricht und ihn von anderen Gliedern seiner Gemeinschaft unterscheidet (z. B. als Vater von den Kindern, als Herrscher von den Untertanen). Da jeder Mensch einer ganzen Reihe von Gemeinschaften angehört, verkörpert jede auch eine ganze Mannigfaltigkeit von Typen: Er ist Münsteraner, Westfale, Deutscher; er ist Familienvater, Arzt, Zentrumsmann, Vorsitzender der Alcademi-

393 Beckmann-Zöller 2010: LIV.394 luG: 251.395 Ebd.

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3.9 Sozialer Typus und Rolle: Eine sozialphilosophische Andeutung 203

lcerortsgruppe. Es ist öfters gesagt worden, das Individuum sei ein ,Schnittpunkt“ solcher Typen.396

Was heute Rollenbild genannt wird, heißt hier noch „Menschentypus“; wo in der Rollentheorie die Rollenbilder solche einer Gesellschaft sind, wird der Typus in­nerhalb der sozialen Gemeinschaft verödet und die Gemeinschaft dabei als „naturhafte, organische Verbindung von Individuen“397 verstanden (die Gesell­schaft hingegen als „die rationale und mechanische“398 Verbindung derselben).399

Mit dem Begriff des Typus400 verbleibt Stein damit auf der organischen Seite einer künstlichen Gegenüberstellung, was sie zwar davon dispensiert, die Genesis des Individuums als Entfremdungsprozess denken zu müssen, es ihr aber gleichwohl verwehrt, die Entäußerung des Individuums produktiv zu denken, wozu ein Gesellschaftsbegriff und ein Konzept der Vergesellschaftung nötig wä­ren, die nicht innerhalb einer typologisch fundierten Wesensdichotomie verödet sind. Wo heute die Genesis der Person in der Adaptation von Rollenbildern re­konstruiert wird, verkörpert die Person hier ein Sowohl-als-auch: sie verkörpert Typisches als Glied einer Gemeinschaft und verkörpert in ihrer Individualität ein substanzielles Jenseits eines jeden Typischen, d. h. ein intimes und wesenhaftes Seelisches. Das Desiderat einer Soziologie der Individuation scheint auf, aber die philosophische Orientierung an Thomas von Aquin verhindert, dass dieses De­siderat philosophische Dringlichkeit erlangen und als solches durchbrechen kann. Die Ontologie und die im Geist ihren Kern findende Person begrenzen also die Sozialphilosophie statt dass die letztere die ersteren verflüssigte, denn Stein zufolge „weist alles soziale Leben und alle sozialen Formen letztlich auf den allen Einflüssen des Wechselverkehrs entzogenen Kern der Person zurück“.401 Es gibt also den Keim einer Rollentheorie, die in der Ontologie ihre Ermöglichungsbe­

396 AmP: 138.397 IuG: 111.398 Ebd.399 Diese Gegenüberstellung des Organischen (Gemeinschaft) und des Mechanischen (Gesell­schaft) ist, wie Beckmann-Zöller betont, „zu unkritisch“ (Beclcmann-Zöller 2010: LUI) von Fer­dinand Tönnies übernommen: „Das Verhältnis selber, und also die Verbindung wird entweder als reales und organisches Leben begriffen - dies ist das Wesen der Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Bildung - dies ist der Begriff der Gesellschaft.“ (Tönnies 1887: 3)400 Die Auffassung dessen, was später rollentheoretisch thematisierbar wird, in der Gestalt von Typen rührt ebenfalls von Tönnies her, der die „äusseren Gestaltungen des Zusammenlebens, wie sie durch Wesenwillen und Gemeinschaft gegeben sind, [...] als Haus, Dorf und Stadt“ (Tönnies 1887:282) bezeichnet und von diesen als von den „bleibenden Typen des realen und historischen Lebens überhaupt“ (ebd.) spricht.401 IuG: 246.

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dingung und Grenze (doppeltes Entzogensein des Geistes und des „jenseitigen Grundes“ der Seele) findet. Die systematische Orientierung an Husserl in Indivi­duum und Gemeinschaft verhindert zudem, das Verhältnis zwischen beiden anders als vom Erleben des Individuums her zu begreifen und das „Sein des sozialen Gebildes“ Gemeinschaft zum primären Untersuchungsgegenstand zu machen.402

3.10 Ergebnisse

Synoptisch seien die Ergebnisse dieses Kapitels hier noch einmal versammelt:(1) Stein überschreitet den Horizont der klassischen Ontologie, welche sie wei­

terzuentwickeln beansprucht, durch ihre gleichzeitige Anknüpfung an Hus­serls Phänomenologie hin zu einer Bewusstseinsphilosophie, die gemeinhin als historische Nachfolgerin und systematische Überwindung der klassischen Ontologie aufgefasst wird. Ontologie und Phänomenologie werden jedoch nicht bruchlos zu einem neuartigen Ganzen integriert, sondern die Aneignung der klassischen Ontologie macht eine Durchbrechung des phänomenologi­schen bzw. des egologischen Rahmens nötig, was sich darin zeigt, dass das Verhältnis zwischen der „Menschenseele als Geist“ und der vegetativen Seele ambivalent bleibt. Die Seele fungiert in ihrer Lebendigkeit als jenseitiger Grund, gleichzeitig ist der Mensch mittels des Geistes „zu Gott erhoben“.403

(2) Steins Ontologie enthält den Ansatz zu einer Ontologie des Lebendigen mit ihrer Bestimmung des Leib-Seele-Verhältnisses, diese Ontologie des Leben­digen wird jedoch nicht konsequent naturphilosophisch durchgeführt, was eine naturphilosophische Elaboration des Personbegriffs erfordern würde, sondern dasjenige Lebendige, welches wir als menschliche Person anspre­chen, findet sein systematisches Zentrum in einem autonomen Geist, dessen Verhältnis zur Natur ambivalent und letztlich undurchschaubar bleibt. Die Ontologie des Lebendigen verdankt ihre unzureichenden naturphilosophi­schen Gehalte ihrer Verwurzelung im nicht genuin naturphilosophisch wei­terentwickelten aristotelischen Kategorienbestand, der in der Metaphysik, der Physik und in De anima seine klassisch-ontologische Fassung erhalten hat.

402 „Wir werden bei unserer Fragestellung nicht das objektive Sein des sozialen Gebildes un­tersuchen, wie es uns in der Welt gegenübertritt, sondern wir wollen es gleichsam von innen betrachten. Das Material, das uns zur Zergliederung vorliegt, ist das, was als Glieder der Ge­meinschaft erleben.“ (ebd.: 113)403 „Zum Geist erhoben“ heißt ,zu Gott erhoben“ und zu gottähnlichem Sein erhoben. Darum wird den reinen Geistern eine .geistige“ Seele zugesprochen und auch die Seele des Menschen, soweit sie solche Erhebung erfahren hat, .geistig“ genannt.“ (PuA: 163)

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3.10 Ergebnisse 205

(3) Warum eine Weiterentwicklung der Naturphilosophie durch Stein ausbleiben musste, lässt sich bereits an der Vorlesung Einführung in die Philosophie von 1920 ablesen: In den naturphilosophischen Horizont fällt eine allgemeine Dinganalyse, die an den Naturwissenschaften orientiert bleibt, während die Subjektivität ein phänomenologisch zu erforschendes Terrain bildet, das ei­ner naturphilosophischen Betrachtung entzogen bleibt. Die naturphiloso­phische Scheu Steins zeigt sich außerdem darin, dass sie an Conrad-Martius anknüpft, ohne Conrad-Martius’ Auseinandersetzung mit dem Vitalismus zu beachten und Conrad-Martius naturphilosophisch geprägte Termini über­haupt zu überprüfen.

(4) Die naturphilosophische Scheu führt auch dazu, dass der ontologische Status des Geistes ambivalent und unklar bleibt. Der Geist bildet den Kern der Person und ist seinem Wesen nach Aktualität, zugleich aber eine Potenzialität der Menschenseele und in die Lebendigkeit des Menschen eingesenkt, mehr noch: er wird teilweise mit der Vernunft gleichgesetzt und in eine Entwick­lungsperspektive gerückt. Stringent ist Stein jedoch in der Elaborierung des Geistes als eine in sich autonom verfahrende Entität. Der Geist ist vor allem das Medium, welches den Menschen in einen elementaren dreifachen Bezug zu etwas hin öffnet: (1) in der transzendentalontologischen Wahrheit zur Welt hin, (2) im verstehenden Mitvollzug zum Anderen hin (Ermöglichung der personalen Intersubjektivität), (3) im Verhältnis zu Gott, zu welchem der Mensch per hiatum erhoben und aufgrund dessen er Gott ebenbildlich ist.

(5) Die naturphilosophische Unelaboriertheit ist gleichwohl notwendig und ge­wollt, denn nicht die Naturphilosophie hat bei Stein das letzte Wort, sondern die Theologie. Die angesprochene Unterscheidung zwischen „durch Theolo­gie“ (als dem letzten Ratschluss, zu dem die Philosophie aus ihren eigenen, gleichwohl reichen Mitteln nicht fähig ist) und „als Theologie“,404 letztere verstanden als die Wissenschaft, die der Philosophie mit einer eigenen Identität und einem strikt konkurrenzlogisch zu verstehenden Herrschafts­statt einem Vollendungsanspruch entgegentritt, hat Stein von Thomas von Aquin übernommen.405 Stein bezweifelt das Privileg der Theologie, über die

404 Vgl. Kap. 3.4.3405 Bei Thomas bildet diese Bestimmung des Verhältnisses zwischen Philosophie als eigen­ständiger in sich wertvoller Wissenschaft und der sie vollendenden Theologie bereits den Grund dafür, dass Günther Mensching in Thomas einen Wegbereiter der Emanzipation der Philosophie von der Theologie sieht. Vgl. Mensching 1997: 63 f. - Vgl. dazu auch Paul Tillichs Unterscheidung des thomasischen Wegs der Religionsphilosophie im Unterschied vom augustmischen und franziskanischen in Tillich 1978:126 -129. - Ausgehend vom an Kondylis anknüpfenden histori­schen Exkurs zur Genesis der Ontologie müsste man sagen, dass Thomas ein Vordenker der

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letzten Gründe Aufschluss zu geben, nicht, vielmehr befinde sich die Philo­sophie „in ihrem jeweiligen Zustand - als geschichtliches Gebilde - in Ab­hängigkeit von Glauben und Theologie als von äußeren Bedingungen ihrer Verwirklichung“.406 Steins Ziel ist eine „eine christliche Philosophie, die den Glauben als Erkenntnisquelle benutzt“,407 wo die Philosophie mit ihren ei­genen Mitteln, den Mitteln der Vernunft, nicht weiter komme - und das, woran die Philosophie verzweifeln muss, bezeichnet Stein als das Unergründliche, dem Przywara den von Stein affirmativ aufgegriffenen Namen einer „reductio ad mysterium“ gegeben hat: „Weil der letzte Grund alles Seienden ein uner­gründlicher ist, darum rückt alles, was von ihm her gesehen wird, in das ,dunkle Licht* des Glaubens und des Geheimnisses, und alles Begreifliche bekommt einen unbegreiflichen Hintergrund. Das ist es, was P. Przywara als ,reductio ad mysterium* bezeichnet hat.“408 „Unergründlichkeit“ ist hier der Name für eine prinzipiell nur durch den Glauben und auch durch ihn nicht restlos aufhellbare Grenze der Philosophie.

(6) Die Unergründlichkeit spielt jedoch auch eine Rolle innerhalb der philoso­phischen Anthropologie Steins und verbindet auch diese gemäß der Be­stimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie wiederum mit der letzteren. Der „jenseitige Grund“, von dem die Rede war, ist nicht nur jenseits aller Natur, sondern verläuft durch die lebendige Natur hindurch, deren Zentrum die verschiedenen Seelenarten bilden. Die Seele begrenzt auch die Selbstdurchsichtigkeit des Menschen; die „Menschenseele als Geist“ ist nicht nur Geist, sondern, weil Stein zufolge jede Seinsform auf der jeweils höheren Stufe „das bewahrt, was der niederen eigen ist“,409 sie ist zugleich in das Reich des naturhaft Lebendigen eingesenkt. Paradoxerweise komme dem Menschen auch deshalb „etwas von der Unergründlichkeit des göttlichen Seins“ zu:

Die reinen Geister sind wie Strahlen, durch die das ewige Licht sich der Schöpfung mitteilt. Größer ist der Abstand und weiter zu den geistigen Wesen, die in eine stoffliche Hülle ein­gesenkt sind und wie ein Quell aus verborgener Tiefe emporsteigen. Aber gerade diese Verborgenheit und Quellhaftiglceit gibt ihnen etwas von der Unergründlichkeit des göttlichen Seins.410

Emanzipation der Ontologie (metaphysica generalis) qua Philosophie von der Theologie (meta- physica specialis) gewesen sei.406 EES: 31.407 Ebd.408 Ebd.: 32.409 AmP: 40.410 Ebd.: 394.

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3.10 Ergebnisse 207

„Unergründlichkeit“ wird also von Stein als theologische Denkfigur ausge­wiesen und bereits auf den Menschen übertragen. Zum deus absconditus tritt bereits der homo absconditus hinzu und ironischerweise wurzelt die Uner­gründlichkeit des Menschen bei Stein wie später bei Plessner in der Natur, allerdings in der entitär verstandenen Natur, die wiederum als „natura abs­conditus“ auftritt, d. h. der Mensch ist nicht unergründlich aufgrund seiner Natur, sondern aufgrund der ihn neben anderem (z. B. dem Geist) konstitu­ierenden Natur in ihm, die zuletzt wieder ein ens creatum im Menschen als einem ens creatum ist und auf den unergründlichen Schöpfer zurückweist. Der große Unterschied kann hier vorweggenommen werden: Der jenseitige Grund Steins ist die entitär zu verstehende Natur des Menschen, sofern sie ihn als Menschen konstituiert und begrenzt, die in der Begrenzung aber zugleich als das ihm Fremde und Unheimliche auftreten kann. Die durch einen jen­seitigen Grund bedingte Unergründlichkeit ist nicht zu verwechseln mit Plessners Unergründlichkeit, die den jenseitigen Grund nicht mehr entitär zu identifizieren können meint und insofern die Unergründlichkeit radikaler denkt. Bei Stein wurzelt die Unergründlichkeit von Seiendem letzten Endes in einer der göttlichen Schöpfung, d. h. die unergründliche Natur findet ihren letzten Grund in der wiederum unergründlichen „Natur“ Gottes. Dieser doppelte Boden, so wird sich zeigen, fehlt bei Plessner; sein Fehlen ermöglicht gerade eine Naturphilosophie im eigentlichen Sinne des Wortes, um die es im folgenden Kapitel gehen wird.

(7) Weil Stein Schelers Projekt der Wissenschaft von der menschlichen Person mit den begrifflichen Mitteln der klassischen Ontologie bearbeitet und in eins damit Philosophie und Theologie bzw. rationales Denken und Glauben zu versöhnen versucht hat, musste sie einen Personbegriff entwickeln, der mehrere, zumindest geistesgeschichtlich legitime, theoretische Ansprüche produktiv aufzunehmen versucht. Daraus resultieren komplexe Mehrfach­bestimmungen wie die doppelte Unergründlichkeit zeigt, welche sich vom Personbegriff her weiter schärfen lässt: Die menschliche Person ist ens creatum und als solches zugleich aufgrund seines Geistes per hiatum zur Teilhabe am göttlichen λόγος fähig. Im Begriff des ens creatum findet die differentia speciflca zu reinen Geistwesen wie Gott oder den Engeln ihren deutlichen Ausdruck, im Begriff des Geistes die differentia speciflca zur blo­ßen Natur, die den Menschen unaufhebbar, wenn auch nicht vorrangig be­stimmt.411 Der Mensch ist nach „oben“ und nach „unten“ unergründlich, aber er ist auch nicht die statische Mitte, weil bei Stein scholastische Momente in

411 Vgl. Kapitel 3.8.6.

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208 3 Edith Stein: Die moderne Transformation der klassischen Ontologie

den Strudel der Moderne hineingeraten. Vom Tier unterscheidet er sich un­aufhebbar dadurch, dass er nicht die Potenz seiner Umwelt werden kann, weil ihm ein Aktualitätskern zukommt, der Personalität als solche ausmacht. Wenn Stein sagt, dass die menschliche Person sich hingegen grundsätzlich „beständig wandelt, obwohl der Kern, der von innen her den ganzen Ge­staltungsprozess bestimmt, sich nicht in dieser Weise gestaltet und wan­delt“,412 könnte dies zunächst eher scholastisch klingen. Doch der Geist als Akt ist keine feste Aktualität, sondern auch als Akt ein Seinsmodus seiner eigenen Potenz, die zugleich das Konstituens seiner unaufhebbaren Reflexi- vität ist, welche als Signum der Moderne den Geist und damit die Person bei Stein „dynamisiert“. Dem entspricht auch, dass Stein der ästhetischen Prä­gung der Moderne gemäß den Künstler als den Typus anführt,413 anhand dessen sie den Personbegriff und einen für sie vorrangig konstitutiven Wahrheitstypus maßgeblich erläutert. Und obwohl Stein hier eine „innere Teleologie“, welche den „ursprünglichen Kern der Person“414 bilde, entwi­ckelt, bleibt der Geist zugleich eine Spezifikation der zwiefältig unergründ­lichen Seele - an mehreren Stellen wurde deshalb Bezug genommen auf Steins Bezeichnung der „Menschenseele als Geist“ - , die ihn zum Engel und Tier „in einem“415 oder: zur menschlichen Person macht.

412 PuA: 122 f.413 Vgl. Kapitel 3.8.6.414 PuA: 263.415 EES: 316.

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4.1 Prolegomena

4 Plessners Transformation der Ontologie

Die beiden vorigen Kapitel enthielten die Darstellung der Ontologien des Aristo­teles und Edith Steins, die Ontologien klassischen Schlags waren und als solche die Gestalt von Metaphysiken und Kosmologien annehmen. Die im Folgenden aufzuarbeitende und zu exponierende Ontologie Helmuth Plessners wird dem­gegenüber als eine nicht-metaphysische1 Ontologie sich erweisen. Der Unter­schied zwischen einer metaphysischen und einer nicht-metaphysischen Ontologie lässt sich unabhängig von der Aufweisung am Einzelfall grundsätzlich bestim­men: Eine nicht-metaphysische2 Ontologie wird (1) nicht als Metaphysik durch­geführt, d. h. sie bedient sich keiner jeglicher Erfahrung unzugänglichen Entitäten zur Begründung von Zusammenhängen (innerhalb der Theorie) und der Wirk­lichkeit (dem explanandum der Theorie) noch geht sie von solchen (also von ex- plananda) aus, sie ist also dem Inhalt nach keine Metaphysik. Plessners Ontologie des Organischen kann darüber hinaus (2) von der Metaphysik überlieferte Begriffe sich auf nichtmetaphysische Weise aneignen, ohne eine Metaphysik der Natur zu implizieren oder verdeckt mitzuführen. Gemäß der oben dargelegten Bestimmung der Ontologie durch Pererius,3 deren Anspruch sich die hier vorgelegte Interpre­tation Plessners im Geiste anschließt, darf die Ontologie als begriffliche Grund­lagenwissenschaft vor dem terminologischen Arsenal der Metaphysik nicht Halt machen. Sie muss es prüfen und kritisieren, und sie kann es sich aneignen, sie darf nur nicht selber Anspruch, Intention oder Gestalt nach Metaphysik werden. In dieser Bedeutung erfüllt die Ontologie ihren Anspruch erst, wenn sie die be­grifflichen Grundlagen der Metaphysik (historisch: der natürlichen Theologie) einholt, ohne sich selbst zu der Metaphysik zu machen, deren Grundlagen sie untersuchen soll.

Um eine solche Ontologie zu entwickeln, in welcher die Unterschiede, die den Menschen konstituieren und ihn von anderen Lebensformen wie von Unbelebtem unterscheiden, eingeholt statt eingeebnet oder substanzialistisch verdinglicht

1 Für die klassische Ontologie ist kennzeichnend, dass sie Metaphysik und Kosmologie zugleich ist. Daher wird im Folgenden der Kürze halber der Terminus Metaphysik inklusiv, die Kosmologie mitbezeichnend, verwendet.2 Es ist hier die Rede von einer „nicht-metaphysischen“ statt von einer „nachmetaphysischen“ Ontologie, weil der gleichermaßen geschichtsphilosophische und dem Nachgeborenen in frag­würdiger Weise schmeichelnde evolutionistische Unterton, der im Begriff des Nachmetaphysi­schen enthalten ist oder es jedenfalls sein kann, vermieden werden soll.3 Vgl. Kapitel 2.1. und 2.2.

D0I 10.1515/9783110459159-005

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210 4 Plessners Transformation der Ontologie

werden, reicht es nicht aus, die klassischen Ontotogien als Gestalten eines ver­bindlichen Typus von Philosophie aufzufassen, an dem nur wenige Stellschrau­ben neu zu justieren wären, sondern nötig wäre eine „Neuschöpfung der Philo­sophie“.4 Dieser „Neuschöpfung der Philosophie“ hat Plessner 1931 in Macht und menschliche Natur, seiner dem landläufigen Verständnis nach einer ontologischen Lesart seiner Gesamtphilosophie schreiend widersprechenden Schrift, den Namen einer „regionalen Ontologie des Organischen“5 gegeben, der scheinbar Heideggers 1929 formulierten Einwand nachträglich nicht nur legitimiert, sondern gar als prophetische Antezipation erscheinen lassen mag. Plessners Vorhaben wäre je­doch schlecht interpretiert, würde man den Ausdruck „regional“ von der Reich­weite des Ansatzes her verstehen; vielmehr ist die Ontologie des Organischen insofern regional orientiert im Ansatz am Erscheinen von Organischem, um von dort aus die verschiedenen Formen des Lebendigen in ihrer spezifischen Differenz voneinander sowie in ihrem Unterschied zum Nicht-Lebendigen zu bestimmen. Worum es dabei geht, ist die Bestimmung der Natur des Lebendigen und des Lebendigen als Natur.

Der regional ansetzenden Orientierung entspricht methodisch die phäno­menologische Deskription als erster Schritt in einem mehrstufigen methodischen Verfahren, das von der Phänomenologie des Lebendigen zu einer „Erforschung der Strukturgesetze des Ausdrucks“6 führe, die zu ihrer Durchführung wiederum einer philosophischen Hermeneutik bedürfe.7 8 Weil in Ausdrucksphänomenen, sofern sie naturphilosophisch verstanden und im Ausgang von phänomenologi­schen Beobachtungen expliziert werden, Ausdruck nicht in einem gegenständlich entbundenen Semantizismus des Ausdrucks auf einen „Ausdruck von“ (Freude, Trauer etc.) beschränkt werden kann, sondern unweigerlich auch „Ausdruck am bzw. im“ (Leib) bedeutet, womit der Ausdrucksbedeutung im primären Lebens­vollzug begegnende natürliche Elemente als mediale Träger zugewiesen werden, verbinden Phänomenologie und Hermeneutik sich in ihrer gegenständlichen Rückbindung zu einer die Gestalt einer Philosophischen Anthropologie anneh­menden Hermeneutik der Natur* Mit dem Ausdruck, der weder bei Plessner noch

4 SOM: 30.5 MmN: 227.6 SOM: 23.7 „Philosophische Hermeneutik als die systematische Beantwortung der Frage nach der Mög­lichkeit des Selbstverstehens des Lebens im Medium seiner Erfahrung durch die Geschichte läßt sich nur in Angriff nehmen - oder gar durchführen - auf Grund einer Erforschung der Struk­turgesetze des Ausdrucks.“ - Ebd.: 23.8 Davon zu unterscheiden ist Heideggers „Hermeneutik des Daseins“ (SuZ: 38), die inSet'n und Zeit ihre von der naturalen Verfasstheit des hermeneutisch auszuleuchtenden Daseins abstrahierende

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4.1 Prolegomena 211

in der einschlägigen Plessner-Forschung als Terminus kodifiziert zu sein scheint, soll hier keine philosophische Methode zur Philosophie stilisiert werden,9 sondern „Hermeneutik“ meint hier im schlichten Sinne der Bedeutung des Wortes eine Deutung der Natur, die zugleich eine Selbstdeutung der Natur durch den Men­schen als eines auf das Andere seiner selbst durchgegebenen ist, gleichwohl aber nicht darauf reduzierbaren Lebewesens, als welches Plessner den Menschen in Macht und menschliche Natur charakterisiert: „Auf das Andere seiner Macht und seines Selbst durchscheinend ist der Mensch in eine Ebene mit physischen Dingen durchgegeben und erscheint von ihm aus dem Reich eines besonderen Seins belebter Körper, der Pflanzen und Tiere, eingegliedert.“10 Der Ausdruck Herme­neutik der Natur verbindet im doppelten Genitiv die Fokussierung von Natur als solcher und im Ganzen mit der Akzentuierung des naturphilosophischen Primats in der systematischen Orientierung. Was mit dem Ausdruck „das Andere seiner

Darlegung findet. Dabei wird das Dasein von Heidegger als höherstufiger Referenzpunkt ange­setzt, auf den eine phänomenologische Ontologie zurückzugehen habe, ohne bis zu dessen le­bendiger Verfasstheit vorzudringen; „Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, dessen Analytik der Existenz das Ende des Leit­fadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.“ (SuZ: 436) - Das Entspringen wird nicht naturphilosophisch thematisiert und müsste sich in der naturphilosophischen Perspektivierung zeigen als ein Dem-Entspringen, was der Mensch zugleich ist; das Entsprungene wäre also von seinem Ursprung, dem es, ohne von ihm loszukommen, entspringt, nicht abzuschneiden. Insofern lässt sich gegen Heidegger einwenden, dass die Philosophische Anthropologie gerade mit einer „regionalen Ontologie des Organischen“ fundamentaler ansetze als die Fundamentalontologie, die ihr Fundament, das Dasein, bereits im Ansatz einer fundamentalen Betrachtung entzogen hat.9 Auf den methodischen Charakter der „Hermeneutik als Etappe für die Fundierung der Philo­sophischen Anthropologie“ (Krüger 2006: 197) hat Krüger nachdrücklich hingewiesen, ebenso aber auch auf Plessners Konzipierung der Philosophischen Anthropologie als Hermeneutik: „Das Besondere an Plessners Weg besteht darin, dass er die Hermeneutik als eine philosophische An­thropologie konzipiert.“ (ebd.: 198) Entscheidend ist hier die Wortstellung: die Hermeneutik wird als Philosophische Anthropologie konzipiert, nicht die Philosophische Anthropologie als Her­meneutik, d. h. die Erfüllung eines hermeneutischen Bedürfnisses bedarf der Ausgestaltung der über eine methodisch verstandene Hermeneutik hinausgehenden Philosophischen Anthropolo­gie. Umgekehrt: Eine methodisch verstandene Hermeneutik, welche die phänomenologische Deskription überspringt, überlässt sich als Interpretation der Beliebigkeit von Vorurteilen, die auch dadurch nicht zu retten sind, dass man sie in einer Gadamer-Reminiszenz als „Vor-Urteile“ bezeichnet. Es sind daher zwei Begriffe von Hermeneutik zu unterscheiden, die auch bei Krüger, den vermeintlichen Widerspruch nicht vollziehend, mitlaufen: Hermeneutik als Methode der Auslegung im engeren Sinne und Hermeneutik als systematisches Vorhaben der Auslegung eines Gegenstandsbereichs, ohne dass methodisch damit etwas vorentschieden wäre.10 MmN: 227.

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selbst“,11 den Plessner in Macht und menschliche Natur bezeichnenderweise dort verwendet, wo er auf die exzentrische Positionalität und damit auf die natur­philosophische Grundlegung seiner Geschichtsphilosophie Bezug nimmt, ge­meint ist, ist nicht ein schlechthin Anderes, sondern erfüllt gerade in der natur­philosophischen Rückbindung von Macht und menschliche Natur an die naturphilosophische Grundlegung in den Stufen den am Anfang der derselben formulierten Anspruch, „den Menschen als geistig-sittliche und als natürliche Existenz auf Grund einer Erfahrungsstellung zu begreifen“.12 Um nichts anderes geht es auch einer Hermeneutik der Natur, die ihrem Namen nicht gerecht werden kann, wenn sie nicht als Hermeneutik der Natur zugleich eine Hermeneutik des Ausdrucks(-verhaltens) darstellt. Die Philosophische Anthropologie wird dabei als Naturphilosophie und diese wiederum als Ontologie des Lebendigen in den Blick genommen; die Ontologie des Lebendigen kann dann nicht mehr zum Element der Philosophischen Anthropologie verharmlost werden.

Diese Ontologie des Lebendigen ist eine prinzipiell neuartige Ontologie. Es macht keinen Sinn, wie Beaufort zu fragen, „welche Ontologie die Stufen zugrunde legen“13 - sie legen keine bereits bekannte zugrunde, denn sie bedürfen einer neuen, um die „Neuschöpfung der Philosophie“ zu leisten, von welcher Plessner spricht. „Sie bedürfen einer“ bedeutet nicht: Sie brauchen eine Ontologie als Grundlage, sondern: Sie müssen selbst als Ontologie durchgeführt werden. Mit einer solchen Neuschöpfung würde eine Reproduktion typologisch bereits be­kannter Ontotogien sowie deren marginale Modifikation sich schlecht vertragen. Die Neuschöpfung der Philosophie im Ganzen und die der Ontologie sind nicht voneinander zu trennen, sondern tragen sich gegenseitig und kulminieren in ei­nem gemeinsamen Grundbegriff, nämlich dem der seienden Möglichkeit, um dessen grundlegende, zentrale Motive und Stränge der Philosophischen An­thropologie bündelnde Kraft es in diesem Teil gehen wird.

Das Fundament von Plessners Ansatz und der oben angesprochenen Her­meneutik der Natur bildet die phänomenologische Deskription, welche nicht ohne weiteres am von Husserl überlieferten phänomenologischen Erbe anschließt, sondern selbst eine Transformation der Husserl’sehen Phänomenologie sowohl

11 „Als exzentrische Position des In sich - Über sich ist er das Andere seiner selbst: Mensch, sich weder der Nächste noch der Fernste - und auch der Nächste mit seinen ihm einheimischen Weisen, auch der Fernste, das letzte Rätsel der Welt.“ (MmN: 230)12 SOM: 14.13 Beaufort (2000: 20) - An anderer Stelle konkretisiert Beaufort die Frage: „Ist jedoch von Ontologie die Rede, dann muß heute gleich weiter gefragt werden, welche Art von Ontologie - lcantianisch? idealistisch? realistisch? phänomenologisch? hermeneutisch? daseinsanalytisch?“ (ebd.: 15)

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4.2 Die generelle Erscheinungsweise von Dingen 213

enthält als auch darstellt. Plessners phänomenologische Deskription der An­schauung wird daher in ihren allgemeinsten Grundzügen dargestellt, um von ihr Husserls egologische Phänomenologie abzugrenzen.

4.2 Die generelle Erscheinungsweise von Dingen und die Transformation der Phänomenologie

Plessner trifft die Unterscheidung zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem im Ausgang von einer Phänomenologie der generellen Dingwahrnehmung. Le­bendiges und Nicht-Lebendiges zeigen sich in der Anschauung als lebendige und nicht-lebendige Dinge. Ihre Unterscheidung stellt somit eine Binnendifferenzie­rung der Erscheinungsweise von Dingen überhaupt dar. Für alle Dinge, belebte wie unbelebte, gilt, dass sie bestimmten Erscheinungsgesetzlichkeiten unterste­hen: „Frosch oder Palme unterliegen denselben Erscheinungsgesetzlichkeiten der Dinglichkeit (von der breiten Zone durchgehender physikalischer Gemeinsam­keiten zu schweigen) wie Stein oder Schuh.“14 Die elementarste Erscheinungs­gesetzlichkeit besteht darin, dass alle Wahrnehmungsdinge eigenschaftlich er­scheinen und nur deshalb als dieses bestimmte Ding erscheinen, weil sie als Einheit von Eigenschaften erscheinen: „Jedes in seinem vollen Dingcharakter wahrgenommene Ding erscheint seiner räumlichen Begrenzung entsprechend als kernhaft geordnete Einheit von Eigenschaften.“15 „Kernhaft geordnet“ sind die Eigenschaften als Eigenschaften „von etwas“. Plessner veranschaulicht das am Beispiel des Verhältnisses vom Blatt und seinem Grün: „Das Blatt hat das Grün an seiner Oberfläche, aber das Grün hat nicht auch umgekehrt das Blatt.“16 Ein „dinglich befreites“ Grün ist keine Eigenschaft mehr, sondern der Name einer Farbe, die an Gegenständen eigenschaftlich erscheinen muss.

Plessner unterscheidet das Ding im Ganzen, das nie vollständig anschaulich präsent sei, von den Seiten desselben, die er auch die „eigenschaftstragenden Seiten“17 nennt; anschaulich erscheinen Dinge seitenhaft und ausschnitthaft, weil sie perspektivisch erscheinen. Dingausschnitte seien jedoch keine Fragmente, von denen her ein Ganzes zu erschließen oder aus denen es gleichsam im Nachein­ander der Wahrnehmungsakte additiv zusammenzusetzen wäre, sondern ein Dingausschnitt ist für Plessner ein „Ausschnitt aus einer selbst nicht auf ein Mal erscheinenden, trotzdem als das seiende Ganze anschaulich mitgegebenen

14 SOM: 89.15 Ebd.: 82.16 Ebd.: 82.17 Ebd.: 84.

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Struktur“.18 Die Anschauung muss demnach das anschaulich Gegebene innerhalb ihrer selbst auf das Ganze desselben hin überschreiten. Ein grundsätzliches Problem der Phänomenologie, die Unüberführbarkeit des Aufzeigens in eine Er­klärung, die den phänomenologisch Blinden sehen macht, zwingt Plessner dazu, diese Überschreitung mit verschiedenen Begriffen zu umkreisen,19 bevor er, um die „sinnlich nicht belegbare Weise der Zugehörigkeit des reellen Phänomens zum ganzen Dinge“20 begrifflich einzuholen, den Begriff der „Transgredienz des Er­scheinungsgehalts“21 einführt.

Zwei Richtungen der Transgredienz unterscheidet Plessner: ,„in‘ das Ding .hinein“1,22 auf den „substantiellen Kern des Dinges“23 zielend, und ,„um‘ das Ding .herum1“,24 auf die „möglichen anderen Dingseiten“25 zielend. Die beiden Aus­drücke sind räumlichen Charakters26, meinen aber nicht nur die am Ding räumlich aufweisbaren Seiten und die räumlich bestimmbare Mitte, den geometrischen Zentralpunkt des Dinges, sondern zielen auf den dingkonstituierenden Charakter des Verhältnisses von Zentrum und Seiten: „Auf das Zentrum und die Seiten im räumlichen Sinne kann man den Finger legen. Auf Zentrum und Seiten als dingkonstituierende Charaktere kann man das aber nicht.“27 Es existiert also ein räumliches, d. h. als geometrischer Ort räumlich aufweisbares Zentrum, und ein unräumliches Zentrum, eine raumhafte bzw. „kernhafte“ Mitte,28 deren an­schauliches Korrelat nicht die räumlichen Seiten des Dinges, sondern die eigen­schaftstragenden Seiten des Dinges sind.

Bei Kern und Eigenschaft handele es sich um Innen (Kern) und Außen (Sei­ten), welche dingkonstituierende Charaktere universaler Natur sind, d. h. sie sind konstitutiv für die Wahrnehmung sowohl lebendiger als auch unbelebter Dinge, denen die gleichen Wesenscharaktere, wenn auch in verschiedener Weise, zu­

18 Ebd.: 82.19 „Das reelle (belegbare) Phänomen weist auf dieses tragende Ganze von sich aus hin, es überschreitet gewissermaßen seinen eigenen Rahmen, indem es als Durchbruch, Aspekt, Er­scheinung, Manifestation des Dinges selbst sich darbietet.“ (ebd.: 82)20 Ebd.: 82.21 Ebd.22 Ebd.: 82f.23 Ebd.: 83.24 Ebd.25 Ebd.26 Vgl. ebd.: 83f.27 Ebd.: 84.28 Vgl. ebd.: 82.

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4.2 Die generelle Erscheinungsweise von Dingen 215

kommen.29 Den elementaren Wesenscharakter sämtlicher Dinge, den Plessner in der Differenz von Kern (Innen) und Seiten (Außen) fasst, nennt er Doppelaspekt. Lebendiges erscheint „im Doppelaspekt“ und damit im „Zwiespalt eines nie er­scheinenden, d.h. nie Außen werdenden Innen und eines nie Kerngehalt wer­denden Außen“30 - dies wird weiter unten eine genauere Explikation erfahren -, nicht-lebendige Dinge erscheinen „kraft des Doppelaspekts“.31 Die Doppel- aspektivität ist jedoch prinzipiell dingkonstituierend im objektiven, nicht im subjektiven Sinne; die oben entfaltete Aspektdivergenz ist nicht Resultat der Anschauung als eines subjektiven Akts des Anschauenden, sondern Wesens­merkmal des Erscheinens des Gegenstands in der Anschauung. Darum bezeichnet der Doppelaspekt im Allgemeinen „prinzipiell divergente Gegenstandssphären, die nie, wesensmäßig nie in einander überführbar sind“32 statt Kategorien des Erscheinens von Gegenständen zu bezeichnen. Bei dem Verhältnis der beiden Gegenstandssphären zueinander handelt es sich Plessner zufolge um ein „ge­genseitiges Bedingungsverhältnis“.33 Dass es sich um ein reales Bedingungsver­hältnis handele, das die Wirklichkeit des Wirklichen unhintergehbar ausmache, zeigt sich für Plessner gerade in Wahrnehmungstäuschung und Halluzination, in welchen den Gegenständen „substantielle Kernigkeit“34 eigne, die den An­schauenden dazu verführe, „Wirklichkeit zu glauben, wo keine ist“.35 Plessner fasst Wirklichkeit damit in durchaus Aristotelischer Intention, aber mit dieser Intention adäquater gerecht werden könnenden methodischen Mitteln, als das Wirklichsein bzw. die Aktualität auf, welche das Ding im Fluss der Erfahrung mit einer Unhinterfragbarkeit ausstattet, welche die intellektuelle Erfassung der Realität und gegebenenfalls der Irrealität des Dinges überhaupt erst ermöglicht. Nur weil die substantielle Kernigkeit dem Ding real zukomme und ihm dadurch Wirklichkeitscharakter verleihe, kann das Subjekt von der scheinhaft-wirklichen Wirklichkeit des Nicht-Realen übertölpelt werden.

Die explikative Entfaltung des gegenseitigen Bedingungsverhältnisses von Substanzkern und Eigenschaft ist nicht Sache der Anschauung, sondern der „gedankliche[n] Überlegung“;36 Plessner spricht auch von einer „nachträgliche[n]

29 „Wesenscharaktere des Körperdings bleiben die gleichen, ob es sich um nichtbelebte oder belebte Dinge handelt.“ (ebd.: 89)30 Ebd.: 88.31 Zur Differenz von „im“ und „kraft des Doppelaspekts“ vgl. ebd.: 89.32 Ebd.33 Ebd.: 85.34 Ebd.: 87.35 Ebd.36 Ebd.: 84.

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216 4 Plessners Transformation der Ontologie

Besinnung“.37 Beide sind nicht von nachträglicher Art in dem Sinne, dass in ihnen eine Projektion vermeintlicher intellektueller Denknotwendigkeiten in die An­schauung stattfände, wie sie die Festschreibung von in der Anschauung er­scheinenden, fraglos existierenden Seinsbereichen leichter Hand vornimmt, sondern sie sind aufzufassen als die Explikation der „Voraussetzungen jenes Anspruches der Anschauung, der über die Fassungsgrenze der Sinne hinausgeht, ohne für die sinnliche Anschauung selbst bemerkbar zu werden“.38 Es ist deshalb zu unterscheiden zwischen dem „anschaulichen Sachverhalt von Substanzkern und Eigenschaft“39 [Hervorhebung, S. E.] und einem nicht anschaulichen, aber in der Anschauung selbst anschaubaren und diese ontologisch tragenden Sachver­halt von Substanzkern und Eigenschaft, dessen Existenz jenseits aller Anschau­ung liegt. Dieser „anschauliche Sachverhalt“ ist nicht anschaulich im Sinne der Sinnlichkeit, die nur die jeweiligen Gegenstände der Anschauung kennt, nicht aber sie konstituierende „Sachverhalte“. Gerade weil dies nicht der Fall ist, son­dern im Begriff des Transgredienzverhältnisses das die Anschauung konstituie­rende, aber nicht selbst sinnlich Anschaubare erfasst wird, kann Plessner behaupten, dass „das Kern-Eigenschaftsverhältnis eine dem angeschauten Dingbestand schon als Angeschautem eingelagerte Struktur ist“,40 anders gesagt: „Der Doppelaspekt konstituiert das Anschauungsgebilde des Dingkörpers, aber als echte Bedingung verliert er sich in dem von ihm Bedingten.“41

Was Plessner mit der „Transgredienz des Erscheinungsgehalts“ meint, ver­dient eine Abgrenzung von Husserls Begriffen der „Appräsentation“ und „Pro- tention“, da der Unterschied zwischen beiden Begriffen den Unterschied im Ganzen sichtbar werden lässt, der phänomenologisch zwischen Husserl und Plessner besteht. Diese Selbstüberschreitung der Anschauung auf das Ganze hin ist Husserls „Appräsentation“ nicht ganz unähnlich und doch fundamental davon verschieden, da Husserls Appräsentation eine „recht komplizierte intentionale Leistung“42 bezeichnet, deren Funktion in einer Überschreitung der Anschauung durch das Bewusstsein besteht, weshalb Husserl sie auch als ein „Als-mitge- genwärtig-bewusst-machen“43 bestimmt. Ihren kritischen Ort findet die Apprä­sentation in der Theorie der Intersubjektivität, wo sie die vom Ich ausgehende und an das Ich gebunden bleibende antezipatorische Erfassung des Anderen (nicht

37 Ebd.: 88.38 Ebd.39 Ebd.: 86.40 Ebd.: 87.41 Ebd.: 89.42 CM: 140.43 Ebd.: 139.

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4.2 Die generelle Erscheinungsweise von Dingen 217

dessen Erschließung, die eine rationale Bewusstseinsleistung wäre) als eines meiner Gleichen meint, zu dem mir allerdings ein direkter Zugang, d.h. eine unmittelbare Hineinversetzung in seine Erlebnisse, fehlt:

Eine gewisse Mittelbarkeit der Intentionalität muss hier vorliegen, und zwar von der je­denfalls beständig zugrundeliegenden Unterschicht der primordinalen Welt auslaufend, die ein Mit da vorstellig macht, das doch nicht selbst da ist, nie ein Selbst-da werden kann. Es handelt sich also um eine Art Mit-gegenwärtig-machens, eine Art Appräsentation.'1'1

Der Andere erscheint hier nicht als der Andere, wie er sich von sich aus zeigt, sondern als der Andere, wie er sich mir zeigt. Die Sphäre der Appräsentation ist also die des Bewusstseins, dessen synthetische Leistungen Husserl erforscht, um zu „transzendentalen Wesensstrukturen und Wesensgesetzen“44 45 zu gelangen, die notwendig solche eben dieses Bewusstseins bleiben.46 Die klassischen Aporien der Intersubjektivität, die in der Husserl’schen Phänomenologie den Anderen doch zuletzt zur Fußnote der Subjektivität degradiert, brechen hier deutlich auf. Der Andere bleibt Teil der Wesensstruktur der Intentionalität des Ego, die Husserl mit der „gesamten wirklichen und möglichen Intentionalität“ in eins setzt: „Die wesensmäßige Bezogenheit des ego auf eine Mannigfaltigkeit von vermeinten Gegenständen bezeichnet danach eine Wesensstruktur seiner gesamten wirkli­chen und möglichen Intentionalität.“47 Nicht besser steht es um den ebenso in den Erlebnisstrukturen des Bewusstseins verödeten Begriff der Protention, die ihre Verödung erhält im „intentionalen Horizont der Verweisung [des Erlebnisses, S. E.] auf ihm selbst zugehörige Potentialitäten des Bewußtseins“:48

Zu jeder äußeren Wahrnehmung gehört die Verweisung von den eigentlich wahrgenommenen Seiten des Wahmehmungsgegenstandes auf die mitgemeinten, noch nicht wahrgenomme­nen, sondern nur erwartungsmäßig und zunächst in unanschaulicher Leere antizipierten Seiten - als die nunmehr wahrnehmungsmäßg kommenden, eine stetige Protention, die mit jeder Wahrnehmungsphase neuen Sinn hat.49

44 CM: 139.45 Husserl (1992: 285)46 Konsequenterweise kann Husserl den Begriff der Appräsentation auch im Bereich der Ur­teilstheorie verwenden: „Mein Urteil - das ich soeben gefällt hatte, aber in der Explikation ver­werfen muß, das also von dem Moment an nicht mehr mein jetziges Urteil, sondern mein soeben gewesenes ist - hat jetzt gemäß der Explikation den und den expliziten Sinn, ebenso mein früher vergangenes Urteil und in ähnlicher Weise das appräsentierte Urteil des Anderen.“ (ebd.: 64)47 CM: 191. - Zur egologischen Gebundenheit von Wesensgesetzen im Allgemeinen vgl. auch ebd.: 28.48 Ebd.: 82.49 Ebd.

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218 4 Plessners Transformation der Ontologie

Hier wird der Unterschied zu Plessner überaus deutlich: Die Protentionen sind nicht nur Erlebnismodalitäten, sondern bleiben auf den Außen-Aspekt des Wahrnehmungsgegenstands beschränkt, d.h. auf die anschaulich gegebenen Seiten im Verhältnis zu den noch nicht zur Wahrnehmung gekommenen Seiten. Eine prinzipielle Aspektdivergenz existiert in Husserls Sichtweise nicht in der Sphäre der Gegenstandskonstitution, da es innerhalb der Gegenstandssphäre keine Innen-Außen-Differenz gibt, sondern nur Seiten, die auf weitere Seiten verweisen; vielmehr wird das Innen bei Husserl in Form der eigenen Erlebnis­sphäre einem jeglichen Außen in Gestalt der durch die Wahrnehmung zugängli­chen Gegenstandssphäre gegenübergestellt, wobei diese Gegenüberstellung durch eine Kluft zwischen Ego (Innen) und Gegenstandswelt (Außen) gekenn­zeichnet ist. Genau darauf zielt Plessner auch in seiner Husserl-Kritik, wie er sie in den Stufen formuliert:

Nicht weil wir unsere Sinne nicht überall haben und mit einem auf das Totalding konzen­trisch gerichteten Sinnensystem es nicht wahrnehmen können, gilt dieses Gesetz [der not­wendigen Einseitigkeit der Erscheinung, S. E.[, sondern weil im Wesen der Erscheinung eines Etwas, das mehr als nur Scheinendes ist, die Aspelctivität, das Von einer Seite Sein liegt [...] Aspelctivität als dem Objekt selbst zugehörige Begrenztheit, als die ihm im Erscheinen strukturell zugehörige Seitenhaftigkeit ist nicht mit dem Bilde zu verwechseln, das als Wahmehmungs- oder Vorstellungsbild im Bewußtsein bleibt.50

Der Unterschied zwischen Plessners und Husserls phänomenologischen Ansätzen lässt sich komprimiert benennen als der zwischen einer Phänomenologie der Erscheinungsweise von Dingen und einer Phänomenologie der Wesensstrukturen des Bewusstseins. Erst innerhalb der objektiven Transformation der Phänome­nologie, wie Plessner sie vornimmt, kommt das Ding als solches, als durch die Doppelaspektivität von Innen (Substanzkern) und Außen (Eigenschaften) in den Blick. In der Freilegung der Struktur, die Sinnliches zu Anschaulichem macht, ohne selbst anschaubar zu sein, wird eine Ontologie der Dinglichkeit antezi- pierbar, deren Durchführung eher eine Analyse des Erscheinens von Dingen als eine Kategorienlehre des Erscheinens der Dinge für einen Beobachter (ein ego, ein transzendentales Subjekt) erfordert. Allerdings wird hier noch keine als eine solche ansprechbare Ontologie sichtbar, da eine solche ein begriffliches Instru­mentarium erfordert, das eine differenzierte Dinganalyse, minimal also die ela- borierte Unterscheidung zwischen nichtlebendigen und lebendigen ermöglicht. Die Binnendifferenzierung der Dinganalyse, die es ermöglicht, zwischen leben­digen und nicht-lebendigen Dingen zu unterscheiden, soll nun genauer in den

50 SOM: 83.

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4.3 Doppelaspekt und Grenze 219

Blick genommen werden, um den Begriff der Ontologie an der Ontologie des Lebendigen zu präzisieren.

4.3 Doppelaspekt und Grenze

Das Kernstück der phänomenologischen Deskription bildet die Analyse der le­bendigen Dinge, „die nicht nur „kraft des Doppelaspekts“, sondern im Doppel­aspekt erscheinen, bei denen also die Divergenz der gegenstandsbedingenden Sphären selbst den Gegenstand der Anschauung bildet“.51 An anderer Stelle be­stimmt Plessner die Differenz zwischen „kraft des Doppelaspekts“ und „im Doppelaspekt“, indem er im Doppelaspekt erscheinende Dinge als solche be­stimmt, „an welchen eine prinzipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt“.52 Wenn ein Ding im Doppelaspekt erscheint, erscheint der Doppelaspekt zugleich gegenständlich am betreffenden Ding. „Im“ Doppelaspekt von Physischem und Psychischem erscheint ein Mensch grundsätzlich als Erscheinendes und „an“ ihm erscheint der Doppelaspekt, weil er den Doppelaspekt im Verhalten in konkrete Ausdrucksgestalten transformiert, z. B. in den ängstlichen Gesichtsausdruck. Das „am“ bringt den Bezug zu einem Anschauenden in der Anschauung ins Spiel, ist jedoch nicht das Resultat des Bewusstseins des Anschauenden, sondern Qualität des Erscheinens für ein jeg­liches Bewusstsein. Physisches und Psychisches bilden so eine anschauliche Bedeutungseinheit am Ding, das im Doppelaspekt von Psychischem und Physi­schem erscheint, aber sie können nicht in der Erscheinung des Dinges das jeweils Andere werden, sondern sie bilden in ihrer gleichzeitigen Differentialität und Untrennbarkeit die Erscheinung des lebendigen Dinges als solchem. „Im“ und „am“ bezeichnen in ihrer so gefassten strikten Komplementarität fundamental die Differenz zu einem jeglichen „durch“, das z. B. zum Einsatz käme, wenn das Er­scheinen durch das Bewusstsein vermittelt gedacht würde. Die das „im“ beibe­haltende (Zwangs-)Umsiedlung des Doppelaspekts vom Erscheinenden in das Bewusstsein würde die Komplementarität von „im“ und „am“ eliminieren, weil sie den Idealismus an die Stelle der phänomenologischen Deskription treten ließe; Erscheinung wäre dann Erscheinung im Medium des Bewusstseins und der Doppelaspekt würde allenfalls für das Bewusstsein am Ding auftreten.

Das „im“ und „am“ kennzeichnen in ihrer Gemeinsamkeit das lebendige Ding, das im Doppelaspekt prinzipiell divergenter Aspektrichtungen erscheint, die auch

51 Ebd.: 89.52 Ebd.

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an ihm erscheinen: „Körperliche Dinge der Anschauung, an welchen eine prin­zipiell divergente Außen-Innenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständ­lich auftritt, heißen lebendig.“53 Ineinander überführbar sind Innen und Außen dagegen bei bloß stofflichen Dingen wie einem umgestülpten Handschuh, den Plessner als Beispiel für einen Gegenstand anführt, bei dem Inneres und Äußeres konvertibel sind, da „die Umstülpung die Richtungspolarität .kongruenter Ge­genstücke“, wie Kant es nennt, von links und rechts überwindet“.54 Bei lebendigen Dingen müssen die eigenschaftstragenden Seiten (Außen) mit dem Substanzkern (Innen) zur Deckung gebracht werden können, damit beide ineinander über­führbar wären; die Eigenschaften müssten zu dem werden können bzw. funktional an die Stelle dessen treten können, dessen Eigenschaften sie sind, der Mensch und seine Hautfarbe etwa müssten „kongruente Gegenstücke“ bilden. Innen und Außen würden zur Deckung kommen, wenn es tatsächlich einen homunculus im Gehirn gäbe, also ein Physisches, das im räumlichen Innen des Körpers als dessen wiederum physisches Wesenhaftes existierte; auch die Seele, die einen Sitz im Gehirn hat, ist eine Vorstellung, welche den Doppelaspekt verdinglicht und das Wesen des Innen vom Außen innerhalb des „innersten Innen“ her imaginiert.55

Die Einheit des im Doppelaspekt erscheinenden lebendigen Dinges ergibt sich allerdings nicht aus einer Kongruenz von Gegenstücken, sondern daraus, dass „zwei Richtungen der Transgredienz [...] wesenhaft zusammengehören, obwohl nie zusammenfallen: die Transgredienz vom Phänomen ,in“ das Ding .hinein“ und ,um“ das Ding .herum“. Die erste zielt auf den substantiellen Kern des Dinges, die zweite Richtung zielt auf die möglichen anderen Seiten.“56 Beide Richtungen der Transgredienz konstituieren - wie die Aspekte des Innen und Außen im Falle des Wahrnehmungsdinges überhaupt - in unauflöslicher Gegensinnigkeit das le­bendige Ding in der Anschauung. Dessen Einheit in der Anschauung ist demzu­folge keine bruchlose Einheit, sondern eine Einheit, die sich aufgrund der Ge­gensinnigkeit der Aspekte von Innen und Außen darbietet als „Zwiespalt eines nie erscheinenden, d. h. nie Außen werdenden Innen und eines nie Kerngehalt wer­denden Außen“.57 Was nur „kraft des Doppelaspekts“ erscheint, erscheint nicht im

53 Ebd.54 Ebd.: 80.55 Die Beliebtheit solcher Vorstellungen zeugt davon, dass die Überlegung, von der Plessner in dem Zusammenhang spricht, Not tut: „Erst die Überlegung kann einen von der Sinnlosigkeit des Versuchs überzeugen, zu welchem trotzdem die Anschauung immer wieder verführt, durch reales Eindringen in das Ding, durch ein schichtmäßiges Entblättern seinem zentralen Kerngehalt nä­herzukommen.“ (ebd.: 85)56 Ebd.: 82f.57 Ebd.: 88.

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4.3 Doppelaspekt und Grenze 221

Zwiespalt, sondern in einer in sich indifferenten Differenz von Innen und Außen im räumlichen Sinne. Weil die Differenz von Innen und Außen bei Lebendigem als die von Psychischem und Physischem sich zeigt, erscheint sie als prinzipielle Aspektdivergenz und als Zwiespalt. Eine Präzisierung der prinzipiellen Aspekt­divergenz wird vom noch zu explizierenden Begriff der Grenze bzw. der „funk­tionalen Mitte“ (Krüger) her möglich sein; worauf es hier ankommt, ist der phä­nomenologische Unterschied zwischen der Relativdivergenz der Aspekte bei Nicht-Lebendigem und der prinzipiellen Aspektdivergenz als phänomenologi­schem Kennzeichen von Lebendigem, auf die Plessner dezidiert hinweist mit seiner Bemerkung, „daß das In ihm Hinein und das Über ihm Hinaus nicht als räumliche Gegensinnigkeit verstanden werden kann, weil die prinzipielle Diver­genz dadurch in eine Relativdivergenz verwandelt wäre“.58

In den Eigenschaften des Körpers als eines räumlichen und damit seitenhaft perspektivierten erscheinen auch Eigenschaften, die selbst nicht räumlicher Art, vom Räumlichen aber nicht abtrennbar sind; die Seiten sind somit doppelt ge­geben, als räumliche Seiten und in ihren Eigenschaften: „Dingkonstituierende Momente und räumliche Momente sind also, obzwar in der Anschauung von­einander untrennbar, nicht identisch.“59 Dingkonstituierend ist das Eigenschaft- liche der Anschauung, räumlich dessen materielles Substrat, das in der An­schauung nur eigenschaftlich zugänglich ist; Räumliches im Sinne des Materiellen begegnet z.B. durch Festigkeit und Widerstand, im analytisch-geometrischen Sinne von Räumlichkeit ist es kein Gegenstand der Anschauung, sondern der aus ihr heraustretenden Beobachtung und Analyse. Vom Innen-Aspekt her formuliert: Wiederum in seinen Eigenschaften, und zwar nur in seinen Eigenschaften,60 komme das unräumliche Innen, z. B. „das unräumlich Wirkliche seelischen Le­bens“61 oder die „kernhafte Mitte“,62 wie Plessner den notwendig unräumlichen Substanzkern auch nennt, zur Erscheinung. Der Begriff der Eigenschaft ist somit ein für die Analyse der Doppelaspektivität zentraler Begriff, weil die „eigen­schaftstragenden Seiten“ als Dingseiten räumlicher Art sind, ihr Eigenschafts­charakter (ihre Farbe oder ihre Festigkeit) ein dingkonstituierender Aspekt ist, dessen Richtungsgegensatz der ebenfalls eigenschaftlich erscheinende Innen- Aspekt (Substanzkern) ist. Im Doppelaspekt treten Innen (Substanzkern) und Außen (eigenschaftstragende Seiten) jeweils eigenschaftlich auf - sie „gewinnen“

58 Ebd.: 139.59 Ebd.: 84.60 Vgl. ebd.: 84.61 Ebd.: 84.62 Vgl. ebd.: 82.

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Eigenschaftsstellung, wie Plessner sagt63 - sowie das Ding im Ganzen als irre­duzibles Ineinander dieser Eigenschaften in Eigenschaftsstellung erscheint: „Ausdrücklich ist in der These festgelegt, daß die Doppelaspektivität gegen­ständlich am Ding, in Eigenschaftsstellung also, auftreten muß, damit das Ding den Namen eines lebendigen verdient.“64

Dem lebendigen Ding, das derart in Eigenschaftsstellung erscheint, kommt als Ganzem eine weitere Eigenschaft zu, die aus der hier entfalteten formalen Ver­änderung seiner Erscheinungsweise resultiert, nämlich die „rätselhafte Eigen­schaft des Lebens“: „Nur haben die belebten gegenüber den unbelebten das Plus jener rätselhaften Eigenschaft des Lebens, die trotz ihrem Eigenschaftscharakter nicht nur material die Erscheinung des betreffenden Dinges, sondern darüber hinaus formal seine Erscheinungsweise verändert.“65 Die Rätselhaftigkeit, die Plessner der „Eigenschaft des Lebens“ hier zuschreibt, indiziert eine Erklä­rungsbedürftigkeit, die nicht mit der phänomenologischen Deskription des Doppelaspekts allein abgegolten werden kann. Plessner spricht sowohl von der „Eigenschaft des Doppelaspekts“ als auch von der „Eigenschaft des Lebens“, doch beide sind, obwohl einander wesensnotwendig zugeordnet, nicht identisch. Soll diese Eigenschaft des Lebens nicht schlicht in ihrer Rätselhaftigkeit, als gleich­wohl eigenschaftlich erscheinende qualitas occulta des Doppelaspekts hinge­nommen werden, müssen zumindest Ermöglichungsbedingungen der dahinge­henden Erscheinungsweise des lebendigen Dinges im Doppelaspekt angegeben werden können, die sich dem methodischen Rahmen einfügen, innerhalb dessen die Doppelaspektivität freigelegt worden ist. Als diese Ermöglichungsbedingung macht Plessner die vom organischen Körper realisierte Grenze aus. Doch bevor wir uns der Einführung des Grenzbegriffs zuwenden, soll von der Analyse der Dop­pelaspektivität her Plessners Kritik der traditionellen Ontologie, welche den As­pekten Seinsbereiche zuordnet, entfaltet und damit die ontologische Motiviertheit der neu eingeführten Begrifflichkeit aufgezeigt werden.

63 „Dadurch daß ein Aspekt Eigenschaftsstellung gewinnt, wird, wie oben bereits gesagt, die Erscheinung eines lebendigen Dingkörpers gegen die eines unbelebten nicht material, sondern formal verändert.“ (ebd.: 104)64 Ebd.: 50.65 Ebd.: 90.

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4.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik 223

4.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik des cartesianischen Alternativprinzips, der mechanischen Reduktion der Natur und des methodischen Dualismus

4.4.1 Kritik der Naturwissenschaften

Plessner unterscheidet zwischen zwei typologischen Varianten einer fehlgehen­den Deutung der Erscheinungsweise des Lebendigen an den Beispielen der na­turwissenschaftlichen Betrachtungsweise und des cartesianischen Dualismus, die zwar keinen ontologischen Sinn mehr beanspruchten, aber auf einer ursprünglich ontologischen Unterscheidung basierten:

Ursprünglich zwar ist die Scheidung alles Seins in res extensa und res cogitans ontologisch gemeint. Sie erhält jedoch von selbst eine methodologisch fortwirkende Bedeutung, die sie in gewissem Sinne der ontologischen Kritik entzieht. Mit der Gleichsetzung von Körperlichkeit und Ausdehnung ist die Natur ausschließlich der messenden Erkenntnis zugänglich ge­macht. Alles, was an ihr zur intensiven Mannigfaltigkeit der Qualitäten gehört, muß als solches für cogitativ gehalten werden, da zur einzigen Gegensphäre der Ausdehnung die res cogitans bestimmt ist. Es gibt demnach nur die beiden Möglichkeiten, entweder die quali­tativen Daseins- und Erscheinungsweisen der Körper mechanisch aufzufassen, sie also in Quantitäten aufzulösen, oder aber bei Vermeidung dieser Analyse sie für Inhalte von Cogi- tationen, für Inhalte und Produkte unserer Innerlichkeit zu erklären.66

Die Naturwissenschaften stehen für die mechanische Reduktion, von der Plessner spricht, und werden strikt von der Naturphilosophie unterschieden, welche die Basis der Neuschöpfung der Philosophie bildet. Die Naturphilosophie habe eine „nicht empirisch restringierte Betrachtung der körperlichen Welt, aus der sich die geistig-menschliche Welt nun einmal aufbaut“,67 zu leisten. Nicht restringiert ist die Betrachtung der körperlichen Welt als Analyse der Erscheinungsweise der körperlichen Welt, wie sie im Ausgang von der phänomenologischen Deskription und in deren Entfaltung hin zu einer noch im einzelnen darzulegenden Katego­rienanalyse des Lebens zu leisten ist: „Eine derartige Betrachtung der Körperwelt und ihrer Erscheinungsweisen gibt die exakte Naturwissenschaft nicht.“68 Durch die Naturwissenschaften und deren Methode wird der Außen-Aspekt, die Kör­perlichkeit, in der „Identifikation von Körperlichkeit und Ausdehnung und Messbarkeit“69 Plessner zufolge fundamentalisiert und das im Doppelaspekt er­

66 Ebd.: 39 f.67 Ebd.: 26.68 Ebd.69 Ebd.: 39.

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scheinende Ding allein in seiner physischen Verfasstheit in den Blick genommen. Die Dominanz der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise geht einher mit der Dominanz einer Fundamentalisierung, welche die Reduktion des Lebendigen auf die Körperlichkeit zur Konsequenz hat. Diese Reduktion stellt in sich bereits eine doppelte Reduktion dar, da Plessner zwischen Substanzkern und eigenschafts­tragenden Seiten unterscheidet, die Eigenschaften der Seiten aber bereits in ihrem Eigenschaftscharakter der direkten empirischen Erforschung sich verschließen. Insofern bleiben von den eigenschaftstragenden Seiten nur noch die räumlichen „Seiten“ und damit das Körperliche in seiner räumlich-materiellen Gestalt übrig; die Eigenschaften derselben hingegen bilden ein Korrelat, das aber in seiner qualitativen Eigentümlichkeit ein Zuordnungsphänomen bleibt und nur indirekt, über die Erforschung des physikalischen Substrats des physikalisch nicht re­duzierbaren Gesamtphänomens, zum Forschungsgegenstand werden kann.

Die methodische Handhabung der Natur durch die Naturwissenschaften ist zwar nicht ontologischer Natur, die ihr zugrundeliegende Auffassung der Natur ist es jedoch durchaus, wie die Philosopheme philosophierender Naturwissen­schaftler zeigen.70 Der ontologische Sinn des der Forschung zugrundeliegenden Naturverständnisses ermöglicht erst, den empirischen Zugang zur Natur für ex- planativ zureichend zu halten; darüber hinaus hat die Auflösung des Körperlichen in messbare und technologisch handhabbare Quantitäten durch die Neurowis- senschaften längst die Gestalt einer durchaus ontologisch zu deutenden Reduk­tion der res cogitans auf die res externa angenommen. Zwar konnten die Aus­wüchse des Reduktionsbegehrens, dessen schlagendste Gestalt keimhaft im methodischen Monismus bereits vorhanden ist und den Namen des eliminativen Materialismus71 trägt, Plessner noch nicht bekannt sein, doch bereits in Die Einheit der Sinne hat Plessner sich mit dem Problem des Verhältnisses zwischen Quantität und Qualität und der Reduktionsmöglichkeit des Qualitativen aufs Quantitative grundsätzlich befasst. Das Problem, das Plessner in dem Zusammenhang umreißt, besteht in den Stufen unverändert fort; es ist das Problem der bloßen Korrelier- barkeit irreduzibler Gegebenheitsweisen: „Nach der Entdeckung des Weber-

70 Das schlagendste Beispiel stellt die von Charles Percy Snow losgetretene und in Kreuzer 1987 versammelte Debatte um die „zwei Kulturen“ dar.71 Paul Churchland spricht in Neurophilosophy at Work deutlich aus, dass die Lösung ontolo­gischer Probleme und die Beseitigung ontologischer Lücken in unserer Realitätsauffassung von den Naturwissenschaften zu leisten wären, die er den als aprioristisch bezeichneten philoso­phischen Argumenten gegenüberstellt: „But whether an apparent gap represents a mere gap in our current understanding and imaginative powers, or an objective gap in the ontological structure of reality, is always and ever an empirical question - to be decided by unfolding science, and not by preemptive and dubious arguments a priori.“ (Churchland 2007:194)

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4.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik 225

Fechnerschen Gesetzes über den Zusammenhang zwischen Reizstärke und Empfindungsstärke schien sich die Kluft zwischen physikalischer und psycho­logischer Betrachtung geschlossen zu haben. Aber für die Theorie der Qualitäten war damit nichts gewonnen.“72 Der Zusammenhang zwischen Reizstärke und Empfindungsstärke ist demzufolge eine bloße Zuordnung zweier Werte zueinan­der, ohne dass der qualitative Empfindungswert als solcher in physiologisch korrelierende Empfindungsintensitäten auflösbar wäre.73 An anderer Stelle iro­nisiert Plessner den Glauben an eine Auflösbarkeit des Qualitativen ins Quanti­tative, die zugleich als hinreichende Erklärung des ersteren durch die ihm zuge­ordneten quantitativen Werte fungieren könne, am Beispiel der Erregungen von Organen:

Ihre Erregungen haben nicht Abbild-, sondern Zeichenwert, so daß das qualitativ mannig­faltige Bewußtseinsbild nicht bloßer Schein, sondern echte erscheinende Wirklichkeit dar­stellt, die sich so gibt, wie sie an und für sich ist. Nur müßte, um solche Übereinstimmung zwischen dem subjektiven Phänomen und der objektiven Natur zu garantieren, eine prä- stabilierte Harmonie dank der Güte Gottes herrschen, die einen Glauben voraussetzt, den die Philosophie, wenn sie es vermeiden kann, nicht unter ihre Prinzipien wird aufnehmen wollen.74

Der methodische Monismus der Naturwissenschaften ist keineswegs ontologisch neutral: Er anerkennt in der von Plessner diskutierten Variante zweierlei, nämlich die ausschließliche ontologische Signifikanz bzw. die Priorität des nur naturwis­senschaftlich Bearbeitbaren einerseits, die Plessner im Begriff der Fundamenta- lisierung eines in bestimmten Theorien „verkörperten“ Erkenntnisprinzips fasst,75 und andererseits die Auffassung, dass naturwissenschaftlich zugängliche Enti­täten realiter einen Seinsbereich eigener Art bilden, der sonst gar nicht als Be­

72 EdS, 24.73 Die Vergeblichkeit des Versuchs, eine Zuordnung, innerhalb welcher auf einer von zwei Ebenen analytische Zerlegungen möglich sind, für vollständige Erklärungen auszugeben, spricht Plessner auch in den Stufen am Beispiel des Physikers auf: „Wenn der Physiker erklärt, „was“ die Farbe Rot „ist“, wenn der Physiologe die Stärke einer Schallempfindung mißt, wenn der Psy­chologe die Perseverationstendenz bestimmter Vorstellungen fixiert, - so stellt sich überall als eigentlicher Sinn die Herausarbeitung der quantitativ faßbaren Bedingungen dar, an welche das Auftreten der qualitativ nur für das Erleben aufgeschlossenen Phänomene gebunden ist.“ (SOM: 30)74 EdS: 62.75 „Kaum eine bedeutende Entdeckung oder Theorie, die nicht in diesem Sinne fundamentali- siert, d. h. zum Objektprinzip oder Erkenntnisprinzip der Dinge, wenigstens ansatzweise, gemacht worden wäre: Darwins Zuchtwahlgedanke, Marx’ Überbauidee, Einsteins Relativitätsprinzip, Plancks Quantentheorie, Freuds Verdrängungs- und Sublimierungsbegriff.“ (SOM: 38)

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zugseinheit klar definierter Forschungsmethoden zugänglich wäre.76 Im ersten Sinne sieht sich dieser Monismus darüber hinaus von einer ontologisch zu ver­stehenden Axiologie getragen, derzufolge das Qualitative ein bloßes Epiphäno­men oder schlicht forschungslogisch irrelevant sei statt nur forschungspraktisch nicht operationalisierbar zu sein; er behauptet damit, dass zumindest das We­sentliche dessen, was es über Qualitatives, Seelisches oder Geistiges zu wissen gebe, durch die Erforschung dessen zu leisten ist, was auf dem Wege naturwis­senschaftlicher Erkenntnisbildung zu finden ist. Die operative Kluft inauguriert eine damit einhergehende ontologische: Wäre das Psychische dem Physischen dem ontologischen Sein nach gleichartig, wäre es mit den gleichen Methoden erforschbar. Diese Annahme bildet auch die Prämisse des salomonisch der Pri­vilegierung des Physischen oder Psychischen sich enthaltenden „methodologi­schen Dualismus“, den Jürgen Habermas jüngst wieder zu Prominenz gebracht hat77 und dem er zugleich ein Ontologisierungsverbot mit auf den Weg gegeben hat, dessen Überflüssigkeit darin besteht, verbieten zu sollen, was es bereits voraussetzt, nämlich den fest verwurzelten Dualismus der Alltagsontologie.

Der Naturphilosophie, wie Plessner sie konzipiert, geht es nicht um das for­schungspraktisch handhabbare lebendige Ding, sondern um das lebendige Ding, wie es sich in der nicht theoretisch überformten, sogenannten „naiven“ Erfahrung als unreduziertes Wirkliches zeigt, und zwar ,„wirklich* nicht im Sinne der Kri­terien der empirischen Naturwissenschaft, sondern im Sinne der Anschauung“.78 Damit ist nicht eine Frontstellung gegen die Naturwissenschaften bezeichnet, sondern vielmehr zielt Plessner ab auf die „Grundanschauungen, in denen Le­bendigkeit im Unterschied zur Unbelebtheit erfaßt wird“.79 Diese Grundan­schauungen nehmen die Gestalt des Unterschieds zwischen Anschauungen an, denen die lebendigen Dinge im Doppelaspekt erscheinen, und solchen, welche kraft des Doppelaspekts erscheinen.80 Die Doppelaspektivität in der Theoriebil­dung auszublenden, ist für die Naturwissenschaften funktional notwendig, aber

76 Was diesen Methoden sich nicht restlos fügt, bleibt als „subjektiver Rest“ übrig: „So werden um der restlosen Quantifizierung der Körper willen alle Qualitäten subjektiviert und zu Nur-Er- scheinungen, weiterhin zu Empfindungen umgedeutet.“ (ebd.: 43)77 „Der methodologische Dualismus der Erklärungsperspektiven von Teilnehmern und Beob­achtern darf nicht zu einem Dualismus von Geist und Natur ontologisiert werden.“ (Habermas 2005:166)78 SOM: 114.79 Ebd.: 116.80 „Wesensmerkmale im Sinne der die biologische Erkenntnis möglich machenden Kategorien sind am gegenständlichen Sein in der Anschauung gewonnen und, wenn auch bei Gelegenheit der Erfahrung erst entdeckt, für die Erfahrung des Biologen bereits leitend in der Auswahl seiner Gegenstände, (ebd.: 113f.)

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4.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik 227

sie geraten damit ontologisch in eine Zwickmühle: Sie müssen ontologisch kei­neswegs neutrale Auffassungen dessen, was ein belebtes Ding sei, voraussetzen, ohne ihre Vorentscheidungen begründen zu können, sofern Forschung faktisch noch stattfinden soll.

In dieser Lage bieten sich zwei Strategien an: Erstens anzunehmen, dass die Dinge und ihre Behandlungsweise in der Forschungsart konvergieren und die Naturwissenschaften folglich die Dinge ihrer eigentlichen Seinsverfassung gemäß bearbeiteten (Reduktionismus); oder zweitens einzugestehen, worauf Plessner in der oben zitierten Passage rekurriert, nämlich, dass man ontologisch enthaltsam sein müsse und naturwissenschaftliche Aussagen über Gegenstände keinen ontologischen Sinn hätten. Letzteres würde darin resultieren, dass man eine Alltagsontologie unhinterfragt akzeptiert, an deren Zustandekommen die Natur­wissenschaften zwar nicht aktiv, aber passiv unweigerlich mitarbeiten (metho­discher Dualismus, der die dualistische Alltagsontologie voraussetzt und aner­kennt bzw. zementiert). Im ontologischen Neutralitätsbestreben wird zugegeben, was der Fall ist, nämlich, dass die Naturwissenschaften nicht Philosophie werden können, ohne aufzuhören, als Naturwissenschaften zu operieren. Dieses Einge­ständnis basiert jedoch wiederum auf der Auffassung der Doppelaspektivität des erscheinenden Dinges im Sinne der ontologischen Zwei-Reiche-Lehre des All­tagsdualismus, weil die auferlegte Bescheidenheit von naturwissenschaftlicher Seite wiederum daraus resultiert, dass sie mittels ihrer Methoden einen anders­artigen Seinsbereich nicht bearbeiten kann. Die naturwissenschaftliche Unmög­lichkeit, die Entfundamentalisierung der Alltagsontologie, die ihrem methodi­schen Verfahren zugrunde liegt, mit ihren eigenen Mitteln in die Hand zu nehmen, begünstigt somit indirekt die Fundamentalisierung in einer vermeintlich groß­zügigen arbeitsteiligen Geste gegenüber der Philosophie:

Die Empirie macht eben von dem cartesianischen Prinzip soweit Gebrauch, als ihr dadurch vollkommene Bewegungsfreiheit geschaffen wird. Sie überläßt die Diskussion aller jener sonderbaren Fragen von der Realität und Erkennbarkeit der Außenwelt, des fremden Ichs und des Verhältnisses von Körper und Seele, die erst aus der Immanenzsituation und dem ,Sprung“ zwischen zwei verschiedenen Seinsarten verständlich werden, den Philosophen, handelt jedoch der Immanenzsituation im Ganzen gemäß, indem sie die zwiefache Erfahrung von einer Körper- und einer Innenwelt fundamentalisiert.81

81 Ebd.: 51.

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4.4.2 Plessners Kritik des cartesianischen Alternativprinzips

Die umgekehrte Aspektreduktion, die ausschließliche oder privilegierte Fokus­sierung der Innerlichkeit mitsamt ihrer Erhebung zu einem für sich bestehenden und in sich geschlossenen oder mit höherer Dignität ausgestatteten Seinsbereich, terminiert in dem, was Plessner das „cartesianische Alternativprinzip“ nennt. Das Attribut „cartesianisch“ ist dabei paradigmatisch zu verstehen und strikt von ei­nem „cartesischen“ Alternativprinzip zu unterscheiden, mit dem in historisch­philologischer Orientierung die Philosophie Descartes’ bezeichnet werden würde. Dass eine philologische Analyse der cartesischen Philosophie zu einer konkre- tistischen Reduktion des typologisch Relevanten aufs historisch Ausweisbare führen würde, hat Plessner selbst - im doppelten Sinne des Wortes - bemerkt:

Das Äquivalenzprinzip von Ausdehnung und Meßbarkeit - diesen erläuterten Sinn darf man der Extension in dem Augenblick geben, in welchem es sich nicht mehr um Interpretation des historischen Descartes, sondern um das Prinzipielle seiner Weltteilung handelt - mußte allerdings zur Auflösung physischer in rein quantitative bzw. rechnerisch darstellbare Ver­hältnisse führen.82

Im Folgenden wird hier an Plessners Sprachgebrauch direkt angeknüpft und das cartesianische Alternativprinzip der Lesbarkeit wegen als das von Physischem (res extensa, Körperlichkeit) und Psychischem (res cogitans, Innerlichkeit) gefasst. Aus dieser maßgeblich von Descartes geprägten, über ihn aber weit hinausreichenden Bedeutung der Privilegierung des Psychischen ergibt sich die „Fundamentalität des cartesianischen Alternativprinzips“,83 das aufgrund seiner Fundamentalität für die gesamte Geschichte der neuzeitlichen Philosophie84 bestimmend gewesen sei und von Plessner daraufhin befragt wird, ob sein Fundamentalcharakter ihm auch sachlich zukomme oder „lediglich“ aufgrund seiner geistesgeschichtlichen Wirkung und Rolle:

82 Ebd.: 42. - Als weitere Belege mögen auch die folgenden Stellen dienen: „Sieht man zunächst einmal die Dinge in großen Umrissen, so darf man sich wohl dem allgemeinen Urteil anschließen, daß es Descartes gewesen ist, der die Unterscheidung von physisch und psychisch (in einer al­lerdings etwas anderen Fassung) fundamentalisiert hat.“ (ebd.: 39) Ebenso: „Der Satz, daß die res cogitans der res extensa vorgelagert sein muß, damit diese (immer natürlich im Geiste der cartesianischen Alternative und nicht nach dem historischen Descartestext gesprochen) gegeben sein kann, erfährt weitere Bestimmung. Gegeben sein heißt jetzt: mir selbst gegenwärtig sein.“ (ebd.: 46)83 Ebd.: 76.84 „In gewissem Sinne ist die gesamte Geschichte der neueren Philosophie in ihren theore­tischmetaphysischen Problemen eine große Auseinandersetzung mit dem Alternativprinzip des Descartes.“ (ebd.: 72).

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4.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik 229

Einer Sache Fundamentalcharakter zuerkennen bedeutet doch mehr und verlangt auch mehr. Etwas kann sehr wichtig für die Entwicklung unserer Einsichten sein, fundamental wichtig, wie man sagt, ohne gleich den Charakter eines echten Fundamentes zu haben. Echtes Fundament trägt, ohne selbst getragen zu sein.85

Diese Bestimmung des Fundamentalcharakters einer Sache enthält die überaus weitreichende Rückfrage an die neuzeitliche Philosophie, ob sie sich in ihrer theoretischen Grundkonfiguration nicht von einem die Form eines Alternativ­prinzips annehmenden Scheinfundament, und das heißt auch: von einem Scheinproblem getragen gewähnt hat. Plessners Verdikt über das cartesianische Alternativprinzip, mit ihm könne „niemand historische, soziale, kulturelle Größen fassen, die aus sinnlichen Stoffen, an Psychisches appellierend und mit Psychi­schem durchtränkt geistig-sinnhaft, wertvoll und wertlos sind und, an den Sphären der ausgedehnten Natur, der Innerlichkeit partizipierend, aus unwirkli­chem Sinngehalt bestehen“,86 stellt eine ebenso klare Antwort dar wie die ein­geforderte „Neuschöpfung der Philosophie“,87 die er mit seiner Philosophischen Anthropologie zu leisten bestrebt ist. Nachzugehen bleibt der Frage, wie es zur Ausbildung des cartesianischen Alternativprinzips gekommen ist und in welchem Verhältnis es zur Doppelaspektivität des lebendigen Dinges steht.

„Fundamentalisierung“ hat grammatikalisch, von der Bedeutung des Suffi- xum ,,-ung“ her gesehen, einen pragmatischen Sinn. Plessner rekonstruiert das cartesianische Alternativprinzip diesem Sinn gemäß, indem er zeigt, dass ein ontisches Vorgelagertsein zu einem ontologischen überhöht worden ist. „An­fänglich eine Zone des Seins von gleichem Rang wie die Zone der res extensa und ihr in jedem Sinne gleichgeordnet, zeigt sie sich ihr vorgelagert, um die Mög­lichkeit der Qualitäten sicherzustellen.“88 Wie die Finalsatzstruktur zeigt, resul­tiert die Hierarchisierung anfänglich gleichrangiger Seinszonen und die Trans­formation von deren Verhältnis in eins, in welchem dem Psychischen ein prioritärer Status zukommt, aus spezifischen Begründungszwängen und -Inten­tionen; dem Psychischen wird die Fähigkeit konzediert, Qualitäten real zu er­möglichen („sicherzustellen“), folglich fungiert es in der Theorie als Ermögli­chungsprinzip. Dieser Vorgang der Priorisierung stellt die Ontologisierung eines ontischen Vorgelagertseins dar: „Aus dem noch ontischen Vorgelagertsein als Vorgegebenheit der Innerlichkeit zu Zwecken der Ermöglichung der phänome­

85 Ebd.: 38.86 Ebd.: 73.87 Ebd.: 30.88 Ebd.: 50.

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nalen Welt ist ein Vorgelagertsein meiner selbst geworden.“89 Ontisch vorgelagert ist das Psychische als das ohne jegliche methodische Zurüstungen Zugängliche, als Medium der Selbsterfahrung und Ort, von dem aus wir zur Welt Zugang finden, ohne erst zu ihm Zugang finden zu müssen. Es ist als Psychisches immer präsent, weil in ihm für uns die Welt (und wir selbst) überhaupt erst Präsenz erlangt und in ihm erst in sogenannten „psychischen Vorgängen“ oder „Denkakten“ die me­thodischen Zurüstungen ersonnen werden. Weil die Welt uns notwendig in der psychischen Vermittlung präsent ist, wird sie kurzerhand zum Begründenden dessen, was in ihr zur Präsenz gelangt, erhoben. Der In-Charakter bzw. der mediale Charakter des Psychischen wird fundamentalisiert, wo das Psychische vom „on- tischen Vorgelagertsein“ zum „Vorgelagertsein meiner selbst“ geworden ist; es wird dann gleichermaßen zum Ort oder Seinsbereich wie zum Begründungs- und Erklärungsprinzip, in Plessners Worten: „zum Inbegriff möglicher Erfahrung“.90 Das Psychische, Funktion des Subjekts, übernehme damit „selbst die Funktion des Subjekts“.91

Mit dieser Fundamentalisierung gehen Probleme einher, die sich innerhalb eines Paradigmas, das von ihr erst hervorgebracht wird, logischerweise nicht lösen lassen. Das Psychische ist sich, obwohl es doch alle Erfahrung erst er­möglichen soll, seiner Abhängigkeit vom Körper bewusst, der eine nicht esk- amotierbare Rolle darin spielt, den Kontakt zwischen dem Psychischen und der Welt zu ermöglichen. Plessner spricht dieses Dilemma als die Frage nach dem „conjunctum“92 von Psychischem und Physischem an: „Mein Körper ist ein aus­gedehntes Ding und zugleich der Träger der Sinne, durch welche das Ich Kunde von einer ihm selbst transzendenten ,Außen‘welt erhält.“93 Müssen dann also nicht auch die Sinne in den „Inbegriff möglicher Erfahrung“ eingehen? Plessner spitzt diese Abhängigkeit als „Gesetz des Zerfalls“ zu: „Selbst die Erweiterung des Immanenzbereichs zum Inbegriff möglicher Erfahrung hebt dieses Gesetz des Zerfalls in eine ichmitbedingte Gegenstandssphäre und eine transobjektive, vom Ich abgekehrte Sphäre des Ansichseins nicht auf.“94 In diese Gegenstandssphäre fällt auch das andere Ich bzw. das Fremdpsychische hinein, wodurch das Faktum

89 Ebd.: 46.90 Ebd.: 50.91 Ebd.92 „Die ontologische Verhärtung dieses [des psychischen, S.E.] Aspekts führt jedoch, wie bei Descartes, zu einem Dualismus, der den Menschen als res cogitans von der res extensa absolut trennt und damit aus dem erfahrbaren Doppelaspekt von außen und innen ein rätselhaftes conjunctum macht.“ (Plessner 1985a: 326)93 SOM: 52.94 Ebd.: 50.

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4.4 Die Doppelaspektivität als Grundlage der Kritik 231

der Intersubjektivität theoretisch die Gestalt einer Aporie erhält: „Fremdwahr­nehmung von Psychischem bleibt ausgeschaltet, weil sie äußere Wahrnehmung ist, die nach dem Alternativprinzip nur auf Psychisches geht.“95 Unabhängig vom in Frage stehenden Fundamentalcharakter des cartesianischen Alternativprinzips tritt der Fundamentalcharakter der innerhalb seiner entstehenden Probleme zu­tage.

Das Psychische ist als fundamentalisierter Aspekt, als Aspekt also, der mehr als Aspekt sein will, dreierlei: (1) als vom Körper abgehobener Seinsbereich sui generis sowohl selbständiges, wenn auch nicht existentiell unabhängiges (vom Körper abtrennbares) Medium von Erfahrungen („Funktion des Subjekts“), (2) Grundlegung der Möglichkeit von Erfahrung („Inbegriff möglicher Erfahrung“ und etwas, das „selbst die Funktion des Subjekts“ übernommen hat) und darüber hinaus (3) selbst ein Erfahrungsbegriff insofern, als „das Psychische“ als Begriff und durch den Begriff bezeichneter Seinsbereich erst aus seiner Vergegenständ- lichung gewonnen werden kann. Die Fundamentalisierung des Psychischen stellt neben dem an die Naturwissenschaften anschließenden Lösungsversuch die zweite Variante des Versuchs dar, die Doppelaspektivität als von einem ihrer Aspekte her ermöglicht oder getragen zu denken. Wie im Fall der Naturwissen­schaften ist auch die Fundamentalisierung des Psychischen aufgrund der Ab­surditäten, zu denen ein starker, die Unabhängigkeit im Unterschied zur Selb­ständigkeit des Psychischen postulierender Dualismus führen würde, der Intention nach methodischer Natur: „Aus der ontologischen Konzeption einer res cogitans ist unter Beachtung des Weges, auf dem man zu ihr kommt, eine me­thodologische Konzeption geworden.“96 Die methodische Konzeption führt jedoch immer noch das Problem des Übergangs bzw. der Transformation des Außen ins Innen mit sich, da ihre Orientierung eine genuin erkenntnistheoretische ist, für die die Frage nach der Wirklichkeit keine Kategorialanalyse der Wirklichkeit, sondern eine Kategorialanalyse der Erkenntnis der Wirklichkeit erfordert. Das paradoxe Problem, das sich aus dieser erkenntnistheoretischen Orientierung ergibt, besteht in einer Ontologisierung des Psychischen, die laut Plessner durch eine die Dop­pelaspektivität nicht reduzierende Ontologie zu kurieren wäre: „Sobald man na­türlich die erkenntnistheoretische Orientierung der Kategorienlehre als einseitig und die wirkliche Weite der kategorialen Funktionen einengend erkannt hat, tritt [...] das Problem des Zusammenhangs der Kategorien als ontologisches Problem auf.“97 Eine solche Ontologie muss ein doppeltes Desiderat erfüllen: Sie ist als

95 Ebd.: 61.96 Ebd.: 40.97 Ebd.: 113.

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232 4 Plessners Transformation der Ontologie

Naturphilosophie durchzuführen und von einer unrestringierten Betrachtung der Natur in der ursprünglichen Anschauung, also frei von der Ontologisierung des psychischen Aspekts durchzuführen, der die Erfahrung des Psychischen - im Sinne des doppelten Genitivs - zum Ausgangspunkt der Theoriebildung macht:

Will die philosophische Hermeneutik die Möglichkeit der Lebenserfahrung begreifen, so kann sie natürlich nicht auf Grund von Erfahrungen und Erfahrungsbegriffen arbeiten. Deshalb greift an dieser Stelle die phänomenologische Deskription ein, die zur ursprüngli­chen Anschauung hinführt und in ihr verweilt (wobei sie sich allerdings von jeder Ontolo­gisierung des Erschauten freizuhalten hat).98

Nur so könne vermieden werden, dass die erkenntnistheoretische Orientierung, welche im Ausgang von Descartes die „gesamte Geschichte der neueren Philo­sophie“99 maßgeblich bestimmt habe, nicht die „Naturseite menschlicher Existenz [...] unter Zubilligung ihrer Auch-Wichtigkeit als das Nicht-Eigentliche bagatelli­siert“.100

Die vermeintliche Fundamentalität der Aspekte gründet in der Fundamen­talität des Doppelaspekts, letzterer allerdings als einheitliches Phänomen, nicht als exklusive Alternative aufgefasst. Die anscheinende Notwendigkeit, die Aspekte im Sinne der Alternative zu deuten, resultiert aus der sachlichen, anschaulich irreduziblen „fundamentalen Unmöglichkeit, von einer Erfahrungsstellung in die andere ohne absoluten Bruch zu gelangen“.101 Diese fundamentale Unmöglichkeit ist aber nicht gleichbedeutend mit der Unmöglichkeit, den anschaulich sich zeigenden Bruch in einer Erfahrungsstellung und von dem her zu begreifen, was dessen Einheit in der ursprünglichen, nicht theoretisch überformten Anschauung stiftet. Darauf zielen die folgenden Fragen, auf die Plessner mit dem Begriff und der Aufweisung des Phänomens der Grenze antwortet:

Haben diejenigen Gegenstände, welche im Doppelaspekt erscheinen, nur alternative Be­stimmtheiten, so daß die Einheit des Gegenstandes nicht bestimmt gegeben, sondern nur bestimmbar aufgegeben ist, oder sind bestimmte Einheitscharaktere dem Doppelaspekt immanent bzw. vorgegeben? Ist der Doppelaspekt vielleicht sogar von solchen vorgegebenen Einheitscharakteren bedingt und in ihrem Wesen mit angelegt?102

98 Ebd.: 23.99 Ebd.: 72.100 MmN, 228 f.101 SOM, 60.102 Ebd.: 78.

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4.5 Die Grenze und das Verhältnis von Substanz und Wirklichkeit 233

4.5 Die Grenze und das Verhältnis von Substanz und Wirklichkeit

Der Begriff der Grenze bildet die theoretische Antwort auf die Frage nach der Ermöglichung der Doppelaspektivität basierend darauf, dass die Grenze als a n ­weisbares Phänomen die Doppelaspektivität realiter ermöglicht. Plessner unter­scheidet zwischen der anschaulichen Grenze im Sinne der Begrenzung, der „Raumgrenze“103 also, die an jedem Dingkörper gegenständlich auftrete und die Differenz zwischen dem Körper und seiner Umgebung räumlich konstituiere, und der Grenze „als Eigenschaft“,104 deren phänomenologisches Korrelat die „kern­hafte Mitte“ bzw. der „Substanzkern“ bildet.105 Die Differenz ist keine absolute, denn die Grenze als Eigenschaft des Körpers ist Eigenschaft und Raumgrenze zugleich, als letztere den Körper im Raum begrenzend und von anderen Körpern oder einer Umgebung - Plessner spricht auch vom den Körper „umgebenden Medium“106 - abgrenzend. Die Grenze, die als Eigenschaft des lebendigen Körpers statt als Eigenschaft eines jeden Dingkörpers an diesem gegenständlich erscheint, ist Grenze als Raumgrenze und als Aspektgrenze:

Diese Grenze muß sowohl Raumgrenze oder Kontur sein, weil sie ja gegenständlich in der Erscheinung auftreten soll, als auch Aspektgrenze, in welcher der Umschlag zweier we­sensmäßig ineinander nicht überführbarer Richtungen erfolgt. Aus dieser Forderung geht hervor, daß die organische Formgrenze als Gestalt einen Übergestalthaften, mit Gestalt nicht erschöpften Charakter haben muß.107

Die Raumgrenze kommt jedem Dingkörper zu, und jeder Dingkörper ist als solcher zunächst Gestalt. Fraglich ist, wie der „Umschlag“, von dem Plessner spricht, zu denken sei, und was einen „Übergestalthaften“ Charakter eines lebendigen Dinges

103 Ebd.: 102.104 Ebd.: 102.105 Plessner berührt in der phänomenologischen Deskription mit der Mitte der Anschauung das Problem der funktionalen Mitte als dem Grenzübergang, ohne es in der Phänomenologie der Dingstruktur funktional explizieren zu können. Der Zusammenhang und damit die doppelte Bedeutung des Begriffs der „lcernhaften Mitte“ zeichnet sich in der Bestimmung des synonym verwendeten Begriffs des „Substanzkerns“ bereits ab: „So wenig die zentrale Bindung der ei­genschaftstragenden Seiten nur eine Metapher für das unräumliche Verhältnis von Substanzlcem und Eigenschaft ist, so wenig läßt sie sich im Raum aufweisen.“ - Der Substanzkern steht in keinem dualistischen Verhältnis zu den Eigenschaften, weil die unräumliche Mitte im funktio­nalen Sinn selbst eigenschaftlich erscheint, vgl. dazu auch den dreifachen Eigenschaftsbegriff Plessners am Anfang von Kapitel 4.6.2.106 Ebd.: 101.107 Ebd.: 102.

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234 4 Plessners Transformation der Ontologie

kennzeichnet. Eine Antwort auf diese Fragen wäre nicht unter konsequenter Beibehaltung der methodischen Vorgehensweise Plessners möglich, wenn eine solche nicht wiederum der phänomenologischen Deskription sich eröffnete, denn die Entfundamentalisierung würde sonst wieder von einem ontologisch zu ver­stehenden Fundament getragen werden. Die klassische phänomenologische De­skription muss jedoch an dem phänomenologischen Faktum verzweifeln, dass niemals „im anschaulichen Bilde der Erscheinung die organische Grenze manifest wird denn als Gestalt“.108 Plessner bestimmt die Grenze im „Übergestalthaften“ Sinne, wie oben gezeigt, als „Charakter“ des Dinges, an anderer Stelle als „au- ßergestalthafte[s] Moment“109 desselben. Gleichwohl heißt es in der oben zitierten Passage, dass die Grenze, welche Aspektgrenze sei, „gegenständlich in der Er­scheinung auftreten“110 solle.

Gegenständlich in der Erscheinung tritt die Grenze, welche Plessner zufolge als Aspektgrenze die richtungsneutrale Umschlagszone111 der nicht ineinander überführbaren Richtung ist, als Eigenschaft an Körpern auf, die eine Grenze nicht nur als räumliches Merkmal haben, sondern ihre Grenze realisieren (müssen). Ihre Grenze zu realisieren bedeutet wesentlich, zu dieser Grenze, da diese sich nicht von selbst, gleichsam automatisch, realisiert, in ein Verhältnis treten zu müs­sen.112 Über die Grenze, die Eigenschaft des lebendigen Körpers ist, sagt Plessner, dass sie „reell dem Körper“113 angehöre, d. h. dass nicht die räumliche Grenze den Übergang des Körpers zur Umgebung bilde, sondern der die Grenze realisierende Körper „dieser Übergang selbst ist“.114 Doch nicht nur der Körper „ist“ dieser Übergang, die Grenze selbst ist der Übergang zwischen den Aspekten, die gleichwohl nicht ineinander überführbar sind. Die Grenze als Übergang ist An­satzzone eines unaufhebbaren Richtungsgegensatzes, weshalb Plessner statt von einer Transgredienz der Aspekte von einer „doppelsinnigen Transzendierung“115 spricht. Aufgrund dieser doppelsinnigen Transzendierung gelangt im Ausdruck Psychisches im Physischen zum Ausdruck; umgekehrt schreibt Physisches sich in die Psyche ein, weil die doppelsinnige Transzendierung die Aspekte des Psychi­schen und Physischen über sich hinaus- und in den jeweils anderen hineintreibt,

108 Ebd.109 Ebd.110 Ebd.111 „Der Richtungsunterschied beider Gebiete gegeneinander bleibt dabei erhalten, wenn sich im Durchgang durch die neutrale Zone der Richtungssinn umkehrt.“ (ebd.: 100)112 Vgl. Ebd.: 103.113 Ebd.114 Ebd.115 Vgl. ebd.: 130, 139, 143.

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4.5 Die Grenze und das Verhältnis von Substanz und Wirklichkeit 235

was nur dadurch möglich ist, dass das Lebendige als seine Grenze Realisierendes die richtungsneutrale Umschlagszone116 und der „Grenzübergang“117 ist; deshalb erscheint Lebendiges im Doppelaspekt und nicht der von keinem internen dy­namischen Verhältnis bestimmte Doppelaspekt am bloßen Körperding. Die Grenze als Grenzübergang macht den Unterschied zwischen „von“ im Sinne des Genitivus possessivus118 (der Aspekte des in ihnen erscheinenden lebendigen Dinges) und „am“ (die am Ding beobachtbaren Aspekte).

Plessner spricht daher auch vom „Grenzübergang“,119 den der lebendige Körper „selbst als Eigenschaft hat“120 und der ihm „den Wert der Ganzheits­form“121 verleihe. Während die bloß räumliche Grenze sowohl gegen den Körper als auch gegen die Umgebung indifferent ist, ist die Grenze das, was die Differenz zwischen dem Lebendigen und dem es umgebenden Medium konstituiert und „das durch sie begrenzte Gebilde als solches von dem Anderen als Anderem prinzipiell unterscheidet“.122 Phänomenologisch kommt der Grenze ein Doppel­status zu: Se erscheint gegenständlich am Ding als ein differenzkonstituierendes Moment und als „ontisch zum belebten Ding selber gehörende, die Erschei­nungsweise vom Ding aus bestimmende Aspektgrenze“123 Die Aspektgrenze ist zu fassen als gegenüber den Aspekten und deren Richtungsgegensatz neutrale Zone, weil sie gegenständlich am Ding erscheint, an ihm aber anders erscheint als die Aspekte des Dinges, weil sie sonst innerhalb der Doppelaspektivität und damit als Aspekt erscheinen würde, der als erscheinender Aspekt die Doppelaspektivität aus einer ihrer Richtungen heraus ermöglichen würde. Als seine Grenze Realisierendes erscheint Lebendiges, weil es eben nicht als Anschauungsbild erscheint, sondern in der Anschauung von sich aus als ein sich Verhaltendes zeigt.

Als ontologischer Begriff ist der Begriff der Grenze von zentraler Bedeutung im Denken Plessners. Obzwar ontisch zum belebten Ding gehört, fundiert sie eine ontologische Differenz, nämlich die zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem,

116 Vgl. ebd.: 100 und 102. Plessner spricht an den genannten Stellen einmal (100) von der Richtungsneutralität der Ansatzzone, das andere Mal (102) von der „Umschlagszone“, verwendet aber nicht den Terminus „richtungsneutrale Umschlagszone“.117 Vgl. SOM: 103.118 Wenn Plessner das Wahrnehmungsding generell als „kernhaft geordnete Einheit von Ei­genschaften“ (SOM: 81) bestimmt, ist der Sinn des Genitivs ein anderer: Die Eigenschaften müssen in einer geordneten Einheit zusammentreten, sie fallen aber nicht in eine lebendige Einheit, die sich zu sich selbst vermitteln muss. Vgl. dazu Kapitel 4.2.119 Ebd.120 Ebd.121 Ebd.122 Ebd.: 103.123 Ebd.: 102.

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236 4 Plessners Transformation der Ontologie

welcher die Differenz zwischen Gestalt (dinglichem Körper) und Ganzheit (orga­nischem Körper) korrespondiert. Während also die Grenze sachlich ein ontisches Phänomen ist, ist der Begriff der Grenze ein ontologischer Grundbegriff, weil damit der sachliche Ermöglichungsgrund der Doppelaspektivität bezeichnet wird, nachdem er am Phänomen selbst aufgewiesen worden ist. Die Frage, ob es sich bei der Differenz zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem um eine ontologische handele, steht auch in Beauforts Plessner-Interpretation im Raum: „Zu fragen ist also, ob es berechtigt ist, die Unterscheidung belebt/unbelebt zu einer Unter­scheidung von ontologischem Rang zu erheben, zu einer ontologischen Diffe­renz?“12̂ Darauf wäre auf der Basis der hier entfalteten Analyse zu antworten: Um eine ontische Differenz handelt es sich nicht, weil nicht der Unterschied zwischen Belebtem und Unbelebtem an den Körpern erscheint, sondern vielmehr dasjenige ontisch an ihnen erscheint, was diesen Unterschied ausmacht. Die Differenz selbst ist als eine zwischen grundsätzlichen Seinsarten eine ontologische.124 125 Keinen Zweifel daran lässt Plessner dadurch, dass er die Differenz zwischen „Ganzheit“ und „physischem Ding“ als die Differenz zweier Wesenheiten formuliert: „Gefragt ist nach der Verwirklichung einer Wesenheit; gegeben sind (in formaler Charak­teristik) die Wesenheiten .Ganzheit* und .physisches Ding*.“126 Trotz der termi­nologischen Nachbarschaft zu Edith Stein ist hier mit „Verwirklichung der Wesenheit“ nicht die Überführung eines Urbildes in ein Abbild oder die Gestalt­werdung einer metaphysischen Essenz in der mundanen, körperleiblichen Exis­tenz gemeint, sondern lediglich die Annahme einer Gestalt gemäß einer „Reihe der Bedingungen [...], unter welchen allein eine Gestalt Ganzheit ist“127 - Ganzheit als Gestalt und im Unterschied zu bloßer Gestalt.

Dass es sich um verschiedene Wesenheiten und damit um eine ontologische Differenz handelt, zeigt sich auch in der Unterschiedlichkeit der Wesensmerk­male, welche die Gegenstände als an ihnen aufweisbare charakterisieren. Plessner unterscheidet zwischen indikatorischen und konstitutiven Wesensmerkmalen, wobei die empirischen Wesensmerkmale eine Spezies der indikatorischen sind. Über die empirischen Wesensmerkmale, die der empirische Forscher umstandslos für das Sein selbst nimmt, sagt Plessner, sie hätten „nur indikatorischen Wert für

124 Beaufort 2000: 61.125 Um eine empirische Differenz handelt es sich ebenfalls nicht, weil eine solche mit Erfah­rungsbegriffen operiert, die sie, um fundamentale Differenzen mittels ihrer erfassen zu können, rückwirkend apriorisieren und nachträglich in die phänomenologische Deskription vorprojizieren müsste.126 SOM: 121.127 Ebd.: 122.

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4.5 Die Grenze und das Verhältnis von Substanz und Wirklichkeit 237

eine andere Seinssphäre, deren Erscheinungen sie sind“.128 Die indikatorischen Wesensmerkmale im Allgemeinen bilden den Ansatzpunkt der phänomenologi­schen Untersuchung, weshalb alles, was in einer solchen Untersuchung erscheint, zunächst indikatorischer Natur sei: „Die phänomenologische Untersuchung muß ihrer Natur nach bei den indikatorischen Wesensmerkmalen einsetzen, wobei es noch zweifelhaft bleibt, ob sie in der Lage ist, darüber hinaus zu den konstitutiven vorzudringen.“129 Von den indikatorischen zu den konstitutiven bzw. apriorischen Wesensmerkmalen zu gelangen, ist phänomenologisch überhaupt nur möglich, weil beiden die „Eigenschaft der Anschaulichkeit“ zukomme: „Die Eigenschaft der Anschaulichkeit ist also den indikatorischen und den konstitutiven Wesens­merkmalen gemeinsam, weshalb auch die Zurückführung jener auf diese ge­lingt.“130

Das konstitutive Wesensmerkmal schlechthin ist also die Grenzrealisierung bzw. der Grenzübergang, der Plessner zufolge „als Fundament und Prinzip der konstitutiven Merkmale der organischen Natur“131 anzusehen sei. Sowohl die Differenz zwischen Organischem und Anorganischem als auch die zwischen Ganzheit und Gestalt wird durch die Grenze bestimmt. Der Sachverhalt der Grenzrealisierung unterscheidet sich von dem der Doppelaspektivität, die eine „eigenschaftlich an dem Körper auftretende Bestimmtheit seiner Erscheinung“132 bilde, dadurch, dass es sich bei ihm um eine „nur erschaubare, nicht feststellbare Eigenschaft [handelt], insofern das Grenzverhältnis im Unterschied zum Be­grenzungsverhältnis nicht demonstriert (dargestellt), sondern nur intuiert (er­schaut) werden kann“.133 Deshalb sagt Plessner über die Summe der feststellbaren Wesensmerkmale, dass diese „der Bestimmung einer letztlich nur erschaubaren Einheit dessen, was Leben und lebendig heißen darf, dient, nicht aber diese Einheit durch die Wesensmerkmale begrifflich festlegen soll“.134 Die darstellbaren Gehalte „erscheinen“,135 sie sind die „eigentlichen Gegenstände der Wahrneh­mung“; 136 die erschaubaren Gehalte „erscheinen selbst nicht, denn ihnen fehlt das, was erscheinen könnte“,137 da sie weder dinglich sind noch Eigenschaft eines Dinges im Sinne der Eigenschaften der Seiten des Dinges in der Doppelaspekti-

128 Ebd.: 117f. Dazu vgl. auch ebd.: 114.129 Ebd.: 115.130 Ebd.: 114.131 Ebd.: 106.132 Ebd.: 128.133 Ebd.134 Ebd.: 111.135 Ebd.: 120.136 Ebd..137 Ebd.

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238 4 Plessners Transformation der Ontologie

vität; ebenso fehle ihnen „jener in seinem Selbst nicht erscheinende gegeben­heitsüberlegene, in der oder jener Gegebenheitsweise faßbare, identifizierbare Kern“,138 der immer der Kern des jeweiligen Dinges, nicht aber der Kern eines Ordnungstypus ist. Entscheidend ist die Differenz zwischen „selbst erscheinen“ (darstellbare Gehalte) und „nicht selbst erscheinen“ (erschaubare Gehalte). „Der Ordnungstypus Ganzheit gehört zur Klasse der nur erschaubaren Gehalte“,139 die Evidenz, die ihm zukomme, sei „intuitive Evidenz“:

Alle nur anschauungsmäßig zu gewinnenden Gehalte zerfallen in die zwei Klassen der eine Gegebenheitsweise (unmittelbar) gebenden und der sie selbst nicht gebenden Gehalte. Die erste Klasse umfaßt die Empfindungen, an deren Gehalt die Gegebenheitsweise selbst aus­gesprochen, manifest ist. Die zweite Klasse umfaßt die Wesen, Ideen und Wesenheiten, welche einer sog. Wesensanschauung oder Schau entsprechen. In dieser Klasse bestehen zwei Möglichkeiten: entweder sind die Wesen an eine Gegebenheitsweise gebunden, wie die materialapriorischen Wesenscharaktere und -gesetze (etwa des optischen, akustischen, taktilen Sinneskreises), oder sie sind nicht derart gebunden und lassen sich an verschie­denen Gegebenheitsweisen d. h. gleichgültig gegen sie zur intuitiven Evidenz bringen.140

Von „aller intuitiv-ontologischen Lebensmetaphysik“141 wiederum, die Plessner in Gestalt der Philosophie Bergsons in den Stufen kritisiert, unterscheidet sein Ansatz sich darin, dass er konstitutive Wesensmerkmale von Lebendigem offenlegt statt, wie Bergson, das „Wesen des Lebens“142 inhaltlich durch ein vermeintlich er­schautes, den engen Kontakt zur Erscheinungsweise des Lebendigen aufgeben­des, weil letztlich begriffliches Prinzip zu begründen, hinter dem eine Differen­tialanalyse der Wesensphänomene des Lebens zurücktrete: Demgegenüber stützt sich die Theorie der konstitutiven Wesensmerkmale „doch nur auf echt intuitive Sachverhalte, nicht auf irgendwelche Begriffe, und sucht unter Vereinigung dieser Sachverhalte die Wesensphänomene des Lebens in ihrer Differenzierung zu be­greifen.“143

138 Ebd. - Dass Gehalte nicht erscheinen, bedeutet allerdings nicht, dass sie in keinem Ver­hältnis mehr zur Wahrnehmung stünden, denn dann wären sie auch nicht mehr erschaubar; Plessner spricht von einem Eingehen in die Wahrnehmung, das nicht mit einem sinnlichen Wahrnehmbarwerden in der Anschauung zu verwechseln sei: „Der Ordnungstypus Ganzheit gehört zur Klasse der nur erschaubaren Gehalte. Insofern geht er wohl in die Wahrnehmung des Organischen ein, darf aber den Fortgang der die Biologie bildenden Erfahrung nicht bestimmen, da er sich jeder Feststellung entzieht.“ (ebd.:130)139 Ebd.: 120.140 Ebd.: 119.141 Ebd.: 22.142 Ebd.143 Ebd.: 115.

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4.6 Substanz und Wirklichkeit 239

4.6 Substanz und Wirklichkeit

4.6.1 Das lebendige Ding als Substanz und die Substanzialität der Substanz

Die bisher entfaltete Analyse der Philosophischen Anthropologie Plessners ist gewiss noch nicht vollständig, sie ist jedoch bereits in den Stand gesetzt, die Begriffe der Substanz und der Wirklichkeit sowohl entgegen als auch im Einklang mit den Errungenschaften der klassischen Ontologie neu zu bestimmen.

Der traditionelle Substanzbegriff enthält eine doppelte Wesensbestimmung: die Bestimmung von Wesenheiten in ihrem Wesen und eine Bestimmung dieses Wesens im Rekurs auf das, was die Wesenheiten wesentlich und damit auch in ihrer Zusammengesetztheit ausmacht, also Form und Materie. Der Wirklich­keitscharakter der Substanz steht traditionell nicht in Frage, vielmehr antwortet die Analyse der Substanz darauf, was Wirklichkeit wesenhaft bestimmt, welches also ihre bestimmenden Momente (Form - Materie) sind und in welchem Ver­hältnis (akzidentell - nicht akzidentell) diese zueinanderstehen. In der darauf aufbauenden, traditionellen Analyse der Wirklichkeit wird dann der Mensch zwar als in der Doppelaspektivität Erscheinendes vorgefunden, die beiden Aspekte aber werden - darin besteht der entscheidende Unterschied zu Plessner - realistisch als ihn sowohl konstituierende als auch spaltende Seinsbereiche auf gefasst; mit dem Problem der Substanz verbindet sich daher immer das Problem der ontolo­gischen, im Sinne der an sich seienden Einheit der Substanz, ohne dass dieses Einheitsproblem im Lebensvollzug sich aufdrängen würde. Die Analyse der Substanz entfaltet wiederum, was dieses Wirkliche real bestimmt bzw. die Be­stimmung der Substantialität der Substanz. Der Realismus im Aristotelischen Sinne ist daher kein epistemologischer Realismus, der behauptet, dass das Wirkliche unabhängig von einem erkennenden Subjekt existiere, sondern ein methodischer Realismus, der die Wirklichkeit des Wirklichen nicht epistemolo- gisch einklammert, sondern dieses Wirkliche in seiner Realität ontologisch be­stimmt.

Aus diesem Grund werden Form und Materie als Substanz im klassischen Sinne Konstituierendes in Plessners Ansatz als indikatorische Wesensmerkmale in die Sphäre der phänomenologischen Deskription aufgehoben, da beide nicht als für sich bestehende Entitäten oder Seinsarten genommen werden, sondern ihren Ort in der Doppelaspektivität des lebendigen Dings, um welches es hier aus­schließlich gehen soll, finden:

Verfolgt man dieses eigentümliche, nach der These dem Leben spezifische Verhältnis vonMaterie und Form an den individuellen Dingen der Anschauung - Materie hier nur als diegeformte Fülle, als die mehr oder minder durchlässige, widerstandsfähige, gefärbte, weiche

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240 4 Plessners Transformation der Ontologie

oder harte Masse genommen - , so kommt man auf die indikatorischen Wesensmerkmale, von denen schon oben im allgemeinen gesprochen und deren Deduktion als notwendig be­zeichnet wurde.144

In der phänomenologischen Deskription, die sich weigert, den die Doppel- aspektivität konstituierenden Bruch umstandslos in eine ontologische Differenz zwischen verschiedenartigen Entitäten zu übersetzen, zeigen Materie und Form sich als ontischer Sachverhalt aspektiv am lebendigen Ding. Im Doppelaspekt als dem Verhältnis von Substanzkern (Innen) und eigenschaftstragenden Seiten (Außen) erscheint der Substanzkern des lebendigen Dinges eigenschaftlich an diesem, ohne es im klassischen Sinne ontologisch durch die Wesenhaftigkeit des Substanzkerns zu begründen, weshalb Plessner sagt, dass das „Innere - wohl­gemerkt - nicht die Substanz des Dinges ist, sondern mit zu seinen (sonst a n ­weisbaren) Eigenschaften gehört“.145 Das bedeutet aber nicht, dass der Sub­stanzbegriff von Plessner leichthin verworfen und die ontologische Frage nach dem Was-Sein des erscheinenden Lebendigen gänzlich dispensiert würde. Viel­mehr ist das Seiende, als dessen Eigenschaft der Suhstanzkern auftritt, das er­scheinende lebendige Ding selbst; dieses ist die eigentliche Substanz, während dem Substanzkern der Substanz innerhalb der Erscheinung ein Eigenschaftswert zu­kommt. Plessner setzt ontologisch an der problematischen Erscheinungsweise des Wirklichen an, nicht an einer Wirklichkeit, deren sie real bestimmende Prinzipien in den zu Seinsbereichen erklärten Aspekten gefunden werden.

Die Bestimmung des lebendigen Dinges in seiner Erscheinungsweise als Substanz fügt sich dem phänomenologischen Ansatz Plessners in einer doppelten Negation ein: Wie gesehen ist weder der Innen-Aspekt im klassischen Sinne als Substanz aufzufassen, weil er ontologisch gegenüber dem Außen-Aspekt nicht privilegiert wäre, noch ist der Außen-Aspekt als Substanz aufzufassen, wie es in der an die Naturwissenschaften anschließenden Fundamentalisierung der Fall wäre; dieser Auflösung der Substanz ins Physische eines materiellen Substrats erteilt Plessner allerdings eine klare Absage:

Die Unangemessenheit der rechnenden Methode zu diesem zunächst bloß anschaulichen Sachverhalt von Substanzkern und Eigenschaft kommt immer wieder dadurch zum Vor­schein, daß die Substanz des Dinges weder als Inbegriff ihrer Eigenschaften noch auch als Inbegriff dessen, worauf sie nach exakter Methode reduziert werden können, aufzufassen ist. [...] Substanz des Dinges ist nicht das, woraus es besteht.146

144 Ebd.: 123.145 Ebd.: 100.146 Ebd.: 86.

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4.6 Substanz und Wirklichkeit 241

Nicht nur kritisiert Plessner solche Ansätze inhaltlich,147 er hält ihnen vor, dass die in Theorieform gebrachten Angriffe auf den Substanzbegriff parasitär von dessen unleugbarem, durch die Anschauung verbürgten Sinngehalt lebten: „Keine dieser Theorien hätte auch nur Sinn, wenn sie nicht irgendwie das Phänomen einer als Substanz-Eigenschaft auftretenden anschaulichen Ordnung am sinnlichen Be­stand selbst vorfände und als anstößig empfände.“148 Dass die aspektiv erschei­nende Substanz-Eigenschaft von der Substanz, die in Gestalt des lebendigen Dinges die Anschauung erfüllt, abhänge, sagt Plessner hier freilich nicht, wiewohl diese Ergänzung von den obigen Ausführungen her naheliegt.

Offen bleibt die Frage, was die Substanzialität des lebendigen Dinges be­gründet, wenn nicht ein (seelischer) Substanzkern oder seine physische Ver- fasstheit? Gemäß der hier entfalteten Analyse fungiert funktional die Grenze als das Äquivalent der die Substanzialität der Substanz garantierenden form a substan- tialis. Die Grenze erfüllt ein Desiderat, das Plessner in Bezug auf die Substanz- haftigkeit des Kerns benennt, „braucht doch das im Kern substanzhaft ge­schlossene und gebundene physische Ding noch einen zweiten, ,noch tiefer innen* seienden Kern, um in ihm selbst gesetzt zu sein“.149 Die Grenze erfüllt die Kriterien, denen ein solcher „Kern unterhalb des Kerns“ zu genügen hätte: sie ist nicht dinglicher Natur und nicht sinnlich wahrnehmbar, ermöglicht aber als Grenz­übergang die Doppelaspektivität und die Übergestalthaftigkeit des Lebendigen, derentwegen es als Ganzheit erscheint, sowie die Verdoppelung* des syntheti­schen Zentrums“,150 von dem Plessner im Zusammenhang der zitierten Passage spricht.

4.6.2 Das erscheinende lebendige Ding als Substanz

Auch vom Erscheinen des lebendigen Dinges im Doppelaspekt her lässt die Dif­ferenz zwischen der traditionellen Auffassung von Substanz und der Auffassung des lebendigen Dings als Substanz sich veranschaulichen. Der Eigenschaftsbegriff übernimmt bei Plessner drei Rollen: (1) Eigenschaften kommen den räumlichen Seiten des Dinges in der Anschauung zu, (2) der Substanzkern tritt eigenschaftlich in Erscheinung, und (3) das Ding erscheint als lebendiges, wenn die Grenzreali­sierung als der Grenzübergang eigenschaftlich an ihm auftritt. Entscheidend ist hier, dass Eigenschaften bei Plessner generell dem Ding nicht zukommen, sondern

147 Vgl. auch ebd.: 86 f.148 Ebd.: 87.149 SOM: 160.150 Ebd.: 159.

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an ihm eigenschaftlich erscheinen, weshalb umgekehrt das Ding in Eigen­schaftsstellung erscheine.151

Von der traditionellen Ontologie lässt sich ebenfalls sagen, dass Eigen­schaften an Gegenständen erscheinen, doch in einem anderen Sinn, da Eigen­schaften den Substanzen, sofern sie nicht im Begriff derselben enthalten sind, in der Regel akzidentell zukommen. Die Kontingenz der Eigenschaften ist aber nicht Bestandteil der Anschauung, in welcher Lebendiges begegnet; in dieser An­schauung nämlich, deren phänomenologische Deskription Plessner gibt, kommen Eigenschaften dem lebendigen Ding qua Substanz selbst zu, d. h. sie kommen nicht als Eigenschaften zu einer ihnen vorgängigen Substanz hinzu, sondern konstitu­ieren es in der Anschauung:

Die sinnlichen Daten, eingebettet in die übergreifenden und dominierenden Gestaltcha­raktere, erschöpfen sich weder in der Bildung eines bunten Phantoms von dünner und gleichsam flächiger Ordnung noch erscheinen sie als einer Substanz äußerlich aufgeheftete und beliebig von ihr ablösbare, d. h. sie verkleidende Momente.152

Die Sichtweise, die Plessner hier angreift, ist mit der Art der Gegenstandsper- spektivierung, wie die klassische Ontologie sie vornimmt, durchaus kompatibel, wie der Begriff des Akzidentellen bei Aristoteles gezeigt hat.153 Im traditionellen Verständnis der Substanz wird deren realer Seinscharakter, ihre Realität be­hauptet, während Eigenschaften das an ihr Wechselnde und zu ihr Hinzukom­mende und deshalb das bloß Akzidentelle bilden. Demgegenüber artikulieren Sätze wie die von Plessner angeführten „die Rinde des Baumes ist rissig, sein Blatt ist grün“154 nicht ein kasuistisch variierbares, kontingentes Verhältnis zwischen konstellativ austauschbaren Entitäten, die in der im Satz benannten Relation stehen können oder nicht, sondern sie artikulieren einen anschaulich erfassten Sachverhalt in seinem irreduziblen „Wirklichkeitswert“;155ein solcher Sachverhalt

151 Vgl. ebd.: 81 und 104.152 Ebd.: 81.153 Vgl. Kapitel 2.2.4.154 Ebd.: 82.155 „Wenn der Physiker erklärt, ,was‘ die Farbe Rot ,ist‘, wenn der Physiologe die Stärke einer Schallempfindung mißt, wenn der Psychologe die Perseverationstendenz bestimmter Vorstel­lungen fixiert, - so stellt sich überall als eigentlicher Sinn die Herausarbeitung der quantitativ faßbaren Bedingungen dar, an welche das Auftreten der qualitativ nur für das Erleben aufge­schlossenen Phänomene gebunden ist. Natürlich liegt es nahe, diese Phänomene ihres Wirk­lichkeitswertes zu entkleiden und sie - eben weil sie in ihrem inneren qualitativen Was sich der empirischen Begriffsbildung entziehen - zu „bloßen“ Empfindungen des Subjekts, zu bloß subjektiv durch die Organisation des Menschen bedingtem Schein zu machen.“ (ebd.: 29f.) -

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4.6 Substanz und Wirklichkeit 243

kann nur sekundär und aus einer analytischen Distanz heraus als Verhältnis zwischen einem Ding und seinen Eigenschaften im aristotelischen Sinn charak­terisiert werden. Dieses Ding würde in der klassischen Sichtweise als Substanz bestimmt werden. Dabei tut sich jedoch eine Lücke zwischen zwei Substanzbe­griffen auf: Die klassische Benennung der Substanz (des begegnenden lebendigen Dinges) als Substanz setzt voraus, dass Substanz als solche und für sich, unab­hängig von ihren akzidentellen Eigenschaften, in der Realität besteht; die Sub­stanz im Plessner’sehen Denken hingegen gewinnt in der Realität ihren Sinn aus dem Sinn ihrer jeweiligen Wirklichkeit und damit der Art und Weise, wie dieses Ding in der „ursprünglichen“ Anschauung begegnet. Als Substanz im Pless- ner’schen Sinne begegnet es als Begegnendes; das bedeutet nun nicht, dass die Möglichkeit, über Lebendiges zu urteilen, an dessen situative Präsenz gebunden ist, sondern dass der Sinn eines solchen Satzes an den Sinn von Wirklichkeit vor ihrer Bearbeitung und Verarbeitung zur Realität gebunden bleibt. „Der Baum“ ist dann nicht primär ein Gegenstand einer bestimmten Art ist, sondern dieser Gegenstand mit diesen, seinen Eigenschaften ist ein lebendiges Ding und erst sekundär, nämlich auf dieser Grundlage, ein Gegenstand, dem bestimmte Ei­genschaften im Allgemeinen zukommen oder zukommen können. Weil die Ei­genschaften „zu diesem selbst daseienden Baum als seine Bestimmtheiten“156 gehören, bildet das Wahrnehmungsding Baum eine „kernhaft geordnete Einheit von Eigenschaften“157 vice versa. Diese Einheit gründet phänomenologisch in der Unzerreißbarkeit und Unauflöslichkeit des Doppelaspekts, der in der aristoteli­schen Logik bereits neutralisiert, d. h. konstitutionslogisch in Entitäten zerlegt ist. Der Plessner’sche Satz hat, mit Dewey gesprochen, dessen Konzept des „quali­tativen Denkens“ Plessner in den Stufen nahesteht, einen „direkten Sinn“158 - man könnte auch schlicht von einem pragmatischen Sinn sprechen, welcher der Si­tuation innewohnt, deren Einholung die phänomenologische Deskription anvi­siert. Dieser Sinn wird für Plessner durch die summative Zuordnung von Eigen­schaften zu einem Gegenstand in der aristotelischen Logik gerade verfälscht,159 da der Gegenstand nicht mehr als eine „kernhaft geordnete Einheit von Eigen-

Plessner verwendet diesen in der Auseinandersetzung mit den Stufen gerne unterschätzten Begriff an mehreren Stellen, abgesehen von der angeführten Stelle an ebd.: 35, 82,108 und 229.156 Ebd.: 82.157 Ebd.: 81.158 Vgl. Dewey 2003: 95.159 Probleme, wie Aristoteles sie in Met. Z 5 (Gibt es eine Definition kombinierter Dinge?) dis­kutiert, stellen sich in der Bestimmung des anschaulichen Verhältnisses zwischen dem Ding und seinen Eigenschaften nicht.

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244 4 Plessners Transformation der Ontologie

schäften“, sondern als ein bloßes Konglomerat von jeweils kontingenten Eigen­schaften erscheine:

Eine noch deutlicher hierher gehörige Erwägung ist die Tatsache, dass die Interpretation der klassischen Logik qualitative Bestimmungen als feste Eigenschaften von Objekten ansieht und sich folglich entweder einer attributiven oder einer klassifikatorischen Doktrin der Bedeutung von Aussagen verpflichtet fühlt. Nehmen wir den Satz: ,Der rothäutige Indianer ist stoisch.“ Dies wird entweder so interpretiert, als bedeute es, dass der fragliche Indianer außer durch die Eigenschaft der Röte auch noch durch die Eigenschaft des Stoizismus charakte­risiert ist oder zur Klasse der stoischen Gegenstände gehört.160

4.6.3 Der Begriff der Wirklichkeit

Worüber in der alltäglichen Lebenspraxis im direkten Sinn gesprochen wird, ist nicht die Realität, sondern die Wirklichkeit. Die Unterscheidung zwischen Wirk­lichkeit und Realität hat Plessner in mehreren Konstellationen ausbuchstabiert: phänomenologisch in der eigenen Theoriebildung, zweitens in der mit der ob­jektiven Transformation der Phänomenologie einhergehenden Abgrenzung von der Bewusstseinsphänomenologie sowie drittens in der Frontstellung gegen die naturwissenschaftlich inspirierte Fundamentalisierung, in welcher die Wirklich­keit in der den Gegenstand der Forschungspraxis bildenden empirischen Realität aufgehen solle.

Die Frontstellung gegen die Bewusstseinsphänomenologie verführt Plessner allerdings nicht dazu, den Begriff des Bewusstseins zu verwerfen. Vielmehr führt Plessner eine äußerst folgenreiche Differenzierung in die Phänomenologie ein, die von der im Schlusskapitel der Stufen entfalteten „vermittelten Unmittelbarkeit“ her einzuholen ist: „Ein Wirkliches kann als Wirkliches gar nicht anders mit einem Subjekt in Relation stehen, es sei denn von sich aus als das dem Subjekt Entge­gengeworfene, als Objekt, d.h. als Er-scheinung, Manifestation als vermittelte Unmittelbarkeit.“161 Die „Unmittelbarkeit“ bezeichnet hier die Erscheinungsweise des Wirklichen, seine Vermitteltheit bezieht sich sowohl auf die faktische Ver- mitteltheit des Erscheinens im Bewusstsein als auch auf die Einholbarkeit dieser Vermitteltheit, die für dieses Erscheinen als solches allerdings nicht immanent, d. h. im Erscheinen selber, konstitutiv ist. Die daran anschließende folgenreiche Differenzierung besteht in Plessners Unterscheidung zwischen der Bewusst­seinsimmanenz als dem situativen Verhältnis, in dem der Mensch natürlicherweise zur Wirklichkeit steht, und dem „Satz der Immanenz“, mittels desselben Plessner

160 Dewey 2003: 95.161 SOM: 329.

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4.6 Substanz und Wirklichkeit 245

das traditionelle, neuzeitliche Verständnis des Verhältnisses nicht des Lebendigen zur Wirklichkeit, sondern des Bewusstseins und der Wirklichkeit bezeichnet. Die Bewusstseinsimmanenz als Situation des Menschen definiert Plessner folgen­dermaßen: „Seine Situation ist die Bewußtseinsimmanenz. Ahes, was er erfährt, erfährt er als Bewußtseinsinhalt und deshalb nicht als etwas im Bewußtsein, sondern außerhalb des Bewußtseins Seiendes.“162 Die Anschauung ist also keine Anschauung jenseits des Bewusstseins oder unabhängig vom Bewusstsein, son­dern Anschauliches ist im Bewusstsein, aber nicht als Bewusstseinsinhalt, son­dern als „Sein in der Erscheinung“.163 Weil Bewusstseinsimmanenz die Situation des Menschen ist, in welcher „Sein in der Erscheinung“ ihm begegnet, fällt die Begegnung in das Medium des Bewusstseins als des Mediums der Anschauung, in welcher Mensch und wirkliches Sein sich direkt begegnen. Sie begegnen sich in der Anschauung aber nicht als zwei Entitäten in einem Bewusstseinsbehälter, sondern Anschauung und Bewusstsein als Medium bilden selbst eine ungegen- ständliche Wirklichkeit, innerhalb derer die Wirklichkeit der Begegnung sich ereignet;164 Bewusstseinsimmanenz als Situation bedeutet, dass die Wirklichkeit

162 Ebd.: 328.163 Den Begriff verwendet Plessner in der Analyse der Doppelaspelctivität an zwei Stellen: Ebd.: 160 und 242.164 Es wäre bereits eine epistemologische Verzerrung dieser Situation, würde man aus dem „Sein in der Erscheinung“ ein „Sein für die Anschauung“ machen, wie Beaufort dies tut, der an der­selben Stelle gleichwohl von einem „ontologischen“ Interesse von Plessners Naturphilosophie spricht: „Ihr Interesse ist ein ontologisches, wobei ,Sein‘ hier bedeutet: für die Anschauung konstituiert sein, oder, im Falle von Wahrnehmungsgegenständen:für die Wahrnehmung kon­stituiert sein.“ (Beaufort 2000:51) Dementsprechend lässt Beaufort den Stellenwert der Wirk­lichkeit in Plessners Denken gegenüber dem der Realität zurücktreten: „Plessners Welt ist zu­nächst eine reale, keine wirkliche Welt. Sie als gesellschaftlich konstituiert zu erkennen, bedarf er der konstitutionstheoretischen Anstrengung.“ (ebd.) Die Bedeutung der Wirklichkeit in den Stufen überspringt Beaufort, weil er phänomenologische Deskription (der Wirklichkeit) und Konstitu­tionsanalyse (der Realität) trennt und dadurch blind für die Pointe des gesamten phänomeno­logischen Ansatzes Plessners wird, dem es um eine Konstitutionsanalyse von Wirklichkeit auf der Basis phänomenologischer Deskription geht. Weil Beaufort vorschnell von der Wirklichkeit zur Realität übergeht, kann er die „vermittelte Unmittelbarkeit“ sozialkonstruktivistisch interpretie­ren und die Vermitteltheit der vermittelt-unmittelbaren Wirklichkeit als eine gesellschaftliche denken, um Plessners Ontologie der Wirklichkeit sozialkonstruktivistisch und -ontologisch zu­gleich zu deuten: „Wirklichkeit ist also für Plessner - und hier finden wir in einer ersten For­mulierung die endgültige Antwort auf die Frage, die uns schon lange bewegt hat, die Frage nach Plessners Ontologie - gesellschaftlich konstituierte Wirklichkeit, Sein ist gesellschaftlich konsti­tuiertes Sein.“ (Ebd: 213 f.) Auf dieser Deutungsgrundlage ist aber nicht mehr verstehbar, wie Wirklichkeit eine Ermöglichungsbedingung der naturwissenschaftlichen Realitätskonstruktion bilden kann; sollte sie es als gesellschaftlich konstituierte sein, würden Beaufort zufolge die Stufen

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in keinem Außerhalb ihrer selbst - d.i. der Situation - sich konstituiert. Das „Sein in der Erscheinung“ ist Bewusstseinsinhalt erst von der Realität her, die durch das Bewusstsein vergegenständlicht und deren Erscheinung in ihrer Vermitteltheit betrachtet wird. Genau dies ist in der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie der Fall, die aus der Möglichkeit, die Erscheinungsweise des Seins vom Bewusstsein her zu betrachten, die Vorgelagertheit des Bewusstseins und damit des Selbst als des Trägers von Bewusstsein folgert. So wird jedoch das „Sein in der Erscheinung“ zum Bewusstseinsinhalt verharmlost, womit die Wirklichkeit einem epistemolo- gischen Realitätsprinzip unterworfen wird, welches seinen Grund im ontischen Vorgelagertsein des Selbst findet: „Was also erscheint, ist Inhalt meines Selbst, Bewußtseinsinhalt, Vorstellung. Aus dem noch ontischen Vorgelagertsein als Vorgegebenheit der Innerlichkeit zu Zwecken der Ermöglichung der phänome­nalen Welt ist ein Vorgelagertsein meiner selbst geworden.“165 Erst von dieser Formulierung des Verhältnisses von Mensch und Wirklichkeit her können sich die klassischen Aporien ausbilden, denen zufolge die Wirklichkeit der Behälter des Bewusstseins ist, weil es in ihr auftritt, und umgekehrt das Bewusstsein der Be­hälter der Welt sein muss, die auf mysteriöse Weise „ins“ Bewusstsein gelangt.

Wirklichkeit im phänomenologischen Sinne ist das, was in der Anschauung begegnet, ohne durch das Bewusstsein gefiltert und „zugerichtet“ zu sein, weil die ursprüngliche Anschauung, von welcher Plessner phänomenologisch ausgeht und auf deren Einholung er mit seiner phänomenologischen Deskription zielt, noch nicht vergegenständlichtes Bewusstsein ist - im Unterschied zum Bewusstsein im herkömmlichen Verständnis, dessen Inhalt in Erfahrung übersetzte und somit vergegenständlichte Anschauung ist. So sagt Plessner über die Natur, deren Verständnis erklärtes Ziel seiner Philosophischen Anthropologie ist: „Sie ist darum nicht Erlebnis, sondern durchaus volle Wirklichkeit, die dem Menschen zum Erlebnis wird und ihn als Fundament und Rahmen seiner Existenz von der Geburt bis zum Tode trägt.“166 Die Abgrenzung der Natur vom Erlebnis der Natur enthält die Abgrenzung der objektiv transformierten Phänomenologie von der Ausgestaltung der Phänomenologie in der Form, in welcher Husserl sie seit der /deen-Schrift vorgenommen hat. Der Gegenstand der objektiv transformierten Phänomenologie Plessners ist das Erlebnis der Wirklichkeit, wohingegen es Hus­serl zuletzt um das Erlebnis der Wirklichkeit geht, weshalb Husserl von einem

indirekt eine Begründung der gesellschaftlichen Konstituiertheit der Naturwissenschaften - also etwas, was Plessner an keiner Stelle als Ziel ausgibt oder durchzuführen versucht.165 SOM: 46.166 Ebd.: 27.

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4.6 Substanz und Wirklichkeit 247

„noematischen Sinn“ von Erlebnissen als solchen spricht und die Wirklichkeit in die Intentionalität zurücknimmt.167

Solange Wirklichkeit nicht vergegenständlicht wird, tritt sie in kein Diffe­renzverhältnis zur Realität. Plessner exemplifiziert dies am oben bereits ange­sprochenen Beispiel von Halluzinationen und Wahrnehmungstäuschungen,168 die sich nicht als Unwirkliches von Wirklichem unterscheiden und demzufolge in­nerhalb der Wirklichkeit kein Differenzverhältnis der Wirklichkeit zu sich selbst manifestieren, sondern als Wirkliches im vollen Sinne des Wortes eine von ihnen unterscheidbare „eigentliche“ Wirklichkeit gerade überblenden: „Substantielle Kernigkeit zeigt gerade auch der Gegenstand der Wahrnehmungstäuschung und der Halluzination. Sonst wäre eben das Subjekt nicht verführt worden, Wirk­lichkeit zu glauben, wo keine ist.“169 Der Ort und das nicht-begriffliche tertium comparationis, von dem her beide Wirklichkeiten unterschieden und aufeinander bezogen werden können, bildet die Realität.

Die Realität, d. h. die vom lebensweltlichen Geltungshorizont und der in ihm situierten natürlichen Wahrnehmung überformte Wirklichkeit, kann als Aus­gangspunkt und methodischer Ansatzpunkt für eine Philosophische Anthropo­logie, wie Plessner sie vor Augen hat, nicht dienen, weil sie durch Unterschei­dungen konstituiert und strukturiert wird, in deren Rücken Plessner gerade zu gelangen versucht; sie wird in der nicht empirisch restringierten Betrachtung der Natur sogar explizit als Ausgangspunkt verworfen: „Die Theorie der Geisteswis­senschaften braucht Naturphilosophie d.h. eine nicht empirisch restringierte Betrachtung der körperlichen Welt, aus der sich die geistig-menschliche Welt nun einmal aufbaut, von der sie abhängt, mit der sie arbeitet, auf die sie zurück­wirkt.“170 Ein wirkungsmächtiger Bestandteil dieser Realität sind die empirischen Naturwissenschaften; diese gehen die Realität (qua Lebenspraxis im weitesten Sinne) auf der Basis der Wirklichkeit (als Grundlage der Unterscheidungen zwi­schen Lebendigem und Nicht-Lebendigem, auf denen elementare Vorentschei­dungen in der Realität beruhen) von der Realität (als der einen Teil der allge­meinen Lebenspraxis bildenden empirischen Forschungspraxis) aus an. Infolgedessen resultiert die Reduktion, die der empirische Forscher mit der Zu­rückführung der Anschauung auf deren organische Bedingungen vollzieht, in der Elimination des Wirklichkeitswertes der Anschauung und des hermeneutischen Bodens, auf welchem auch der Naturwissenschaftler steht:

167 Vgl. Husserl 1976: § 91.168 Vgl. Kap. 4.2.169 SOM: 87.170 Ebd.: 26.

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Eine heute mehr und mehr durchschaute Täuschung ging dahin, in den anorganischen Modalen wie Farben, Tönen usw., da sie als solche nur der sinnlichen Anschauung zu­gänglich sind, Eigenschaften der Sinne bzw. Sinnesorgane zu sehen und ihnen einen eigenen Wirklichkeitswert zu bestreiten. Der Kritik hält diese Ansicht nicht stand. Denn aus der Einsicht, daß zum Auftreten einer Qualität nicht nur auf der Objektseite, sondern ebensosehr auf der Seite des Wahmehmenden eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllt sein muß, kann man nicht schließen, daß die Existenz der Qualität lediglich in den Wahrnehmungsbedin­gungen aufgeht.171

Die Auflösung des Wirklichkeitswertes der Anschauung und damit der Wirk­lichkeit in der Anschauung gilt in der von Plessner kritisierten Auflösung der anschaulichen Wirklichkeit in der Überformungs- und Nachträglichkeitswirk- lichkeit der Realität als wissenschaftlicher Erfolg; die Wirklichkeit wird über­sprungen - und gleichwohl benötigt, um sie überspringen zu können - und zugleich von der Realität aus vermeintlich „erklärt“. Die Realität der Naturwis­senschaften ist nicht mehr „ursprüngliche Wirklichkeit in ihrem An sich. Sie ist schon unterworfene, dem Subjekt durch seine Beobachtungen, Erfahrungen und Berechnungen gefügig gemachte Wirklichkeit“.172 Das Ansehen der „eigentlichen“ Wirklichkeit bzw. des Wesens der Wirklichkeit erhält die Realität der Naturwis­senschaften dadurch, dass sie explanativ in Form von Reduktionen hergesteht wird: „Der Empiriker wird eines Tages erklären können, daß es keine .Anpassung* mehr gibt, sondern nur noch .Regulationen*, keine .Regulationen* mehr, sondern nur noch bestimmt geartete, chemisch zu definierende Vorgänge“.173 In dieser Gefügigmachung und methodisch-manipulativen Zurichtung der Wirklichkeit geht deren Erschließungskraft unter, während von der Wirklichkeit ihren Ausgang nehmende Unterscheidungen wie die zwischen dem Lebendigen und dem Nicht- Lebendigen gerade in die Realität hineinragen statt in der Realität erst gewonnen zu werden. Notwendig unelaborierbar werden dann die konstitutiven Wesens­merkmale, deren .vollständiges* Auftreten das wirkliche Vorhandensein eines Lebendigen (.wirklich* nicht im Sinne der Kriterien der empirischen Naturwis­senschaft, sondern im Sinne der Anschauung) phänomenal verbürgt“.174

Aber auch die andere Seite der Fundamentalisierung des Doppelaspekts hält eine Überformung von Wirklichkeit durch Realität parat. Wirklichkeit und Realität des Psychischen sind nicht im starken Sinne als Differenz aufzufassen, sondern gehen in jeweiligem Ausgriff aufeinander ineinander über. Über die anschaulich direkt wahrgenommene Wirklichkeit sagt Plessner, dass sie „nur dann Wirklich­

171 Ebd.: 108.172 Ebd.: 336.173 Ebd.: 118.174 Ebd.: 114.

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4.6 Substanz und Wirklichkeit 249

keit darstellt und ausmacht, wenn sie auch unabhängig von den Prinzipien ihrer Konstitution in einem Bewußtseinsaspekt für sich konstituiert bleibt“.175 Ein transzendentaler Idealismus kann in diesem Verständnis nicht Wirklichkeit be­gründen, sondern nur die Realität der Wirklichkeit, die trotz aller Analysen transzendentaler Konstitution sich als das gibt, was sie ist, nämlich „volle Wirklichkeit“.176 Psychische Wirklichkeit hört jedoch nicht auf zu existieren, so­bald sie zum Gegenstand der Reflexion wird bzw. in die Realität der Reflexion eingeht; sie bleibt auch als reflektierte Wirklichkeit Wirklichkeit: „Im Akt der Reflexion, des Aufmerkens, Beobachtens, Suchens, Erinnerns bringt das leben­dige Subjekt auch seelische Wirklichkeit zustande“.177

Das epistemologische Verhältnis zwischen der Wirklichkeit und der Realität verkompliziert sich im Schlusskapitel der Stufen, in welchem Plessner es von der exzentrischen Positionalität her grundlegend in Angriff nimmt. Über die Realität sagt Plessner dort, dass sie „die Innehaltung jener Distanz fordert, die das per­sonale Subjektzentrum allein dank seiner exzentrischen Position, seiner dop­pelten Abgehobenheit vom eigenen Leib besitzt“.178 Die exzentrische Positiona­lität ermöglicht gerade die vergegenständlichende Abstandnahme von der Wirklichkeit, die es ermöglicht, sie als Realität zu behandeln. Das Verhältnis von Wirklichkeit und Realität, wie es am Ende der Stufen eingeholt wird, ist für die bisher analysierte ontologische Grundlegung jedoch nicht entscheidend. Maß­geblich für diese ist vielmehr, dass Plessner Wirklichkeit gerade epistemisch freilegt durch den Verzicht auf eine Epistemologie, um von der Wirklichkeit her die ontologische Konstitution der Wirklichkeit aufzuschließen, denn die ontische Gegenständlichkeit der Grenze wird am Wirklichen als Reales aufgewiesen; Plessner spricht demgemäß von der „Realität der Grenze“,179 welche für das Le­bendige in seiner Wirklichkeit konstitutiv ist. Diese Ontologie hat somit einen doppelten Boden: sowohl der Doppelaspekt als auch die Grenze treten ontisch am Lebendigen auf - als irreduzibles Wirkliches (Doppelaspekt) und als die Realität des Wirklichen innerhalb der Wirklichkeit Konstituierendes, das am Wirklichen nicht sinnlich, sondern intuitiv sich zeigt (Grenze) - und fungieren daher in der Analyse des Lebendigen als ontologische, in der Analyse der Wirklichkeit ge­wonnene und in einer Bestimmung der Realität des lebendigen Seins in Anspruch

175 Ebd.: 304.176 Ebd.: 27.177 Ebd.: 297.178 Ebd.: 336.179 Ebd.: 133.

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zu nehmende Grundbegriffe.180 Die Philosophische Anthropologie ist nur möglich aufgrund ihrer Analyse der Wirklichkeit der Dinge, in welcher die Grundunter­scheidungen allein sich gewinnen lassen, welche zugleich die Realität ontologisch bestimmen.

Vom aristotelischen Wirklichkeitsbegriff weicht der Plessner’sche dabei be­deutend ab. Bei Plessner werden in der Wirklichkeit und vor allem an Wirklichem ontische Sachverhalte festgestellt und ontologische Differenzen und Bestim­mungen gewonnen. Bei Aristoteles ist die Wirklichkeit selbst als ενέργεια sowohl der Raum, innerhalb dessen ontologische Bestimmungen gewonnen werden, als auch selbst bereits ein ontologisches Prinzip, da Aristoteles es, wie Plessner sagt, „mit der Physis als einer in ihren Erscheinungen manifesten Wirklichkeit zu tun“181

180 Auch Volker Schürmann verkennt den ontologischen Status der phänomenologischen De­skription bei Plessner. Ähnlich wie Beaufort in seiner Zerklüftung von phänomenologischer De­skription und Konstitutionsanalyse zerreißt Schürmann das Band zwischen Phänomenologe und Ontologie, indem er Plessners forschungslogische Maxime, phänomenologisch Aufgewiesenes nicht umstandslos zu ontologisieren, in einer gegen Gutmann gerichteten Passage zum Anlass nimmt, ontische Sachverhalte zu phänomenologisch unzugänglichen zu erklären: „Es ist ganz offenkundig, dass Plessner phänomenologisch und nicht über Onta redet. Durchgehend ist von Körperdingen in der Anschauung die Rede; es geht nicht um ontisches Sein, sondern um das Sein in der Anschauung.“ (Schürmann 2011: 220) Schürmann kann diese disjunktive Unterscheidung zwischen Anschauung und Sein - beides in einer Ebene zu erfassen, ist der Sinn des Begriffs der Erscheinung, wie Plessner ihn verwendet - nur deshalb treffen, weil er mit dem merkwürdigen Begriff der „Onta“ Dinge außerhalb und unabhängig von aller Anschauung bezeichnet und alles Ontische, also auch das ontisch am Phänomen Aufweisbare, jenen „Onta“ subsumiert und ihrer der Anschauung externen Sphäre zuschlägt. Plessners Ausdruck „Sein in der Erscheinung“, mit dem er gerade eine solche Zwei-Reiche-Lehre von Anschauung und Sein zu überwinden trachtet, wird von Schürmann phänomenologisch vereindeutigt in einem epistemologischen Sinn, was dadurch erleichtert wird, dass Schürmann sich auf den ebenfalls bei Plessner vorkommenden Begriff der Anschauung konzentriert, die im Unterschied zum Begriff der Erscheinung immer den Anschauenden, das Subjekt der Anschauung, stärker fokussiert. „Epistemologisiert“ man die phänomenologische Deskription, versteht man sie also als dem Husserl’schen Gründungsakt notgedrungen verhaftet, so sieht man sich auch eher genötigt, Plessner im Rekurs auf Macht und menschliche Natur gegen sich selbst in Schutz nehmen zu wollen: „Plessners methodischer Zugriff redet nicht nur über Grenzen, sondern ist auch selbst eine (stets prekäre) Grenzoperation. Bereits in der Krisis-Schrift von 1918, und bestätigt dann in Macht und menschliche Natur von 1931, ist klar, dass Plessner kein Phänomenologe sein will.“ (ebd.: 199) Nicht erst Macht und menschliche Natur, sondern bereits die Stufen bestätigen dies. Liest man sie so, wie es hier vorgeschlagen wird, versteht man auch den Mittel-Charakter der phänomenologischen Deskription, die es ermöglichen soll, den ontischen Sachverhalt der Grenze am lebendigen Ding selbst aufzuweisen, dessen ontologischer Status nicht innerhalb dieser Aufweisung selbst liegt, sondern in ihrem Sinn: als dieser ontisch aufweisbare Sachverhalt die ontologische Unterscheidung zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem zu tragen.181 Ebd.: 350.

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4.7 Exkurs I: Zu den Begriffen des Ontischen und des Ontologischen 251

habe. Die Erscheinungen werden als Erscheinungen der ενέργεια - als erschei­nende ενέργεια - als Erscheinungen zugleich depotenziert und metaphysisch überformt. Die Wirklichkeit bleibt bei Plessner hingegen an die Anschauung ge­bunden, ohne jedoch idealistisch von dieser vereinnahmt zu werden; dies kommt in Plessners, der Anschauung des Erscheinenden und der angeschauten Er­scheinung gleichermaßen ihr Recht lassender Formulierung zum Ausdruck: „Was wirklich vorhanden ist, ist auf jeden Fall jetzt.“182 Was „jetzt“ ist, ist nicht „jetzt“ unabhängig von dem Beobachter, für den es „jetzt“ ist; es ist allerdings „jetzt“ gemäß seines Ansichseins, d. h. als das, was es an ihm selbst ist, wie Plessner an einer oben zitierten Stelle sagt.

4.7 Exkurs I:Zu den Begriffen des Ontischen und des Ontologischen

Die Doppelbestimmung der Grenze als ontischer Sachverhalt und als ontologi­scher Terminus bedarf einer grundsätzlichen Erläuterung, welche die oben for­mulierte Replik auf Volker Schürmann vertieft.183 Von „Ontischem“ lässt sich in mehrfacher Bedeutung sprechen. Wenn Plessner die Grenze als „ontisch zum belebten Ding selber gehörende, die Erscheinungsweise vom Ding aus bestim­mende Aspektgrenze“184 bezeichnet, wird ein eigenschaftlich am Lebendigen er­scheinender Sachverhalt, gleichwohl nicht eine sinnlich und damit empirisch gegebene Entität (eine solche wäre z.B. eine Hand) gemeint. Ein ontischer Sachverhalt kann auch ein empirisch feststellbarer Sachverhalt sein, wie dies für die Selektion als elementare Verhaltensweise des Lebendigen gilt. Empirisch feststellbar heißt hier jedoch ebenfalls nicht „direkt sinnlich beobachtbar“, son­dern es bedeutet, dass sich in der Wirklichkeit des Lebendigen - genauer: am Lebendigen selbst - ein Sachverhalt beobachten lässt, der Selektion genannt werden kann, aber die Selektion selbst lässt sich nicht als solche direkt beobachten. Das bleibt gegen alle konkretistischen Missdeutungen des Begriffs des Ontischen festzuhalten, die exemplarisch in Schürmanns Begriff der „Onta“ zum Ausdruck kommen, der im Unterschied zum Ontischen auf Einzeldinge zielt; aus dem Be­reich des Ontischen, worunter zumeist dasjenige verstanden wird, das kategorial als vom Bewusstsein unabhängig Existierendes anzusprechen ist, wird so die

182 Ebd.: 173.183 Vgl. Fußnote 180.184 SOM: 102.

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252 4 Plessners Transformation der Ontologie

Menge der bewusstseinsunabhängig existierenden Dinge (Onta).185 Die Doppel- aspektivität wird in der phänomenologischen Deskription als ontischer Sach­verhalt ausgewiesen und ist nicht in ein jeweiliges psychophysisches Konkretum, z. B. diesen Ausdruck der Freude, übersetzbar, weil ein solcher Ausdruck erst im Lebensvollzug situativ deutbar ist, nicht in einer Deskription, welche auf die Kategorien zielt, mittels deren dieser Lebensvollzug philosophisch expliziert werden kann.

Die Grenze bildet als phänomenologisch am Lebendigen aufgewiesene eine gleichermaßen raumhafte und raumbedingende ontische Eigenschaft des Le­bendigen, ist aber als Sachverhalt weder dinglich noch sinnlich zu verstehen und nicht im Raum vorfindbar. Als Aspektgrenze, also als gegen den Richtungsge­gensatz von Physischem und Psychischem indifferente, das nichträumliche und raumhafte Woher und Wohin der Aspekte Darstellende, bildet die Grenze darüber hinaus einen ontologischen Begriff. Sie erscheint nicht mehr nur eigenschaftlich, sondern ist selbst eigenschaftskonstitutiv und bildet nicht den Übergangsbereich zwischen Körper und Medium, sondern ist konstitutiv für den lebendigen Körper, der diesen Übergang „in seiner Begrenzung vollzieht und dieser Übergang selbst ist“.186 Aufgrund des Doppelcharakters der Grenze, ontisch am Ding aufweisbar zu sein und ontologisch dessen Sein zu bestimmen und vitale Vollzüge zu ermögli­chen, erfüllt die Grenze als ontologischer Begriff im vollen Sinne das, was phi­losophisch Kategorie genannt und von Plessner in einer dezidiert gegen Kant gewendeten Weise im spezifisch ontologischen statt im epistemologischen Sinne aufgefasst wird:

Kategorie heißt im philosophischen Sprachgebrauch eine Form, die sich der Erfahrung fügt,die aber nicht aus der Erfahrung stammt; eine Form, deren Bereich nicht mit der Aktsphäredes Subjekts zu Ende geht, sondern übergreift auf die Sphäre der Objekte, weshalb ihr nicht

185 Es ist hier an eine grundlegende Anmerkung Adornos zur Verwendung der Begriffe „ontisch“ und „ontologisch“ zu erinnern, die zwar auf Heidegger gemünzt und unter bewusstseinsphilo­sophischen Prämissen formuliert ist, sich aber trotzdem auf den hier behandelten Zusammenhang übertragen lässt, da es unabhängig von jeder philosophischen Methodik unsinnig ist, Einzeldinge als „ontisch“ oder „ontologisch“ zu bezeichnen: „Daß Dasein ontisch oder ontologisch ,sei‘, kann strikt überhaupt nicht geurteilt werden, denn das mit Dasein Gemeinte ist ein Substrat und in­sofern der Sinn des Begriffs Dasein ein nicht Begriffliches. Dagegen sind ,ontisch“ und .ontolo­gisch“ Ausdrücke für verschieden geartete Gestalten der Reflexion, anwendbar einzig auf Be­stimmungen von Dasein, oder auf deren Stellung in Theorie, nicht aufs gemeinte Substrat unmittelbar. [...] Nichts zwischen Himmel und Erde ist an sich ontisch oder ontologisch, sondern wird es erst vermöge der Konstellationen, in welche Philosophie es bringt.“ (Adorno 1998: 493)186 SOM: 104.

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4.7 Exkurs I: Zu den Begriffen des Ontischen und des Ontologischen 253

nur die Erfahrung, die man von den Gegenständen macht, sondern ebenso die Gegenstände selber unterstehen.187

Es ließe sich nun mit guten Gründen einwenden, dass diese Bestimmung des Kategorienbegriffs nicht notwendig als der Kantischen Transzendentalphiloso­phie zuwiderlaufend gedeutet werden müsse, da diese in keinem bloßen tran­szendentalen Idealismus versande, doch Plessner gibt an anderer Stelle deutlich zu verstehen, dass er - den subjektphilosophischen Rahmen gänzlich verlassend - seine Vitalkategorien bzw. organischen Modale gemäß dem Sinn des Katego­rienbegriffs, den dieser „vor Kant“ hatte, verstanden wissen will:

Man übertreibt wohl nicht, wenn man unter diesem Postulat einer Einsicht in die Notwen­digkeit der verschiedenen lebenswesentlichen Merkmale, d. h. der Mannigfaltigkeit der or­ganischen Modale, den gegenwärtigen Zustand der Lehre von den Wesensmerkmalen des Lebens mit dem der Kategorien vor Kant vergleicht.“188

Auf der Grundlage dieser Ausführungen lässt sich zusammenfassend und ver­deutlichend sagen: Der Begriff „ontisch“ ist vor allem eine Kategorie der Er­scheinung von Lebendigem (Lebendiges erscheint ontisch im Doppelaspekt und weist die Eigenschaft der Grenze auf), wohingegen der Begriff „ontologisch“ eine Kategorie des Seins von Erscheinendem als Erscheinendem ist (die Grenze bildet als ontisch dem Lebendigen angehörende Aspektgrenze die ontologische Er­möglichungsbedingung der Doppelaspektivität des Lebendigen, das deshalb im Doppelaspekt erscheint). „Ontologisch“ ist eine Kategorie des Erscheinenden als Erscheinenden nicht, weil dessen Sein „bloßes“ Erscheinen wäre, sondern weil dessen Sein als Wirkliches erscheint. Beide Begriffe gewinnen den Sinn, in wel­chem Plessner sie verwendet, aus seiner Transformation der Ontologie: Sie sind Kategorien des Erscheinens und damit auch der Anschauung, aber nicht des Er­scheinens für ein Subjekt und somit nicht des Anschauenden, sondern des Er­scheinens der „Gegenstände selber“189 in der Anschauung. Plessners Transfor­mation der Phänomenologie bildet die Grundlage der Explikation der Wesensmerkmale des Lebens, die zwar dem Kategorienbegriff „vor Kant“ eher entsprechen als dem Kantischen, aber deshalb noch lange nicht „hinter“ Kant zurückfallen.

Zur resümierenden Verdeutlichung: Die Grenze im indikatorischen Sinn ist ein ontischer Sachverhalt, im konstitutiven Sinn ist sie ein ontologischer. Wo Plessner

187 Ebd.: 66.188 Ebd.: 113.189 Ebd.: 65.

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254 4 Plessners Transformation der Ontologie

die Grenze als ontisch zum belebten Ding gehörend bezeichnet, wird innerhalb der phänomenologischen Deskription eine Aussage darüber getroffen, was zu be­lebten Dingen im Allgemeinen als für deren Sein in der Erscheinung konstitutiv gehört. Wo Plessner die Grenze ontologisch bestimmt, wird angegeben, was für das lebendige Sein in der Erscheinung im Sinne eines realen Bestimmungsgrundes konstitutiv ist. Der reale Bestimmungsgrund liegt daher nicht außerhalb oder „hinter“ der Wirklichkeit, sondern wird in der Wirklichkeit am Erscheinen von Wirklichem selbst freigelegt; das philosophische Verfahren dieser Freilegung bildet Plessners „Deduktion der Kategorien oder Modale des Organischen“.190

Vorausgreifend: Selektion ist ein ontischer Sachverhalt - ontisch deshalb, weil die Selektion sich nicht durch Selektion als solche selbst ermöglichen kann. Als ontologische Ermöglichungsbedingung der Selektion wird die Potenzialität des lebendigen Seins aufgezeigt werden, das seiende Möglichkeit-Sein des im Modus des Sich-vorweg existierenden lebendigen Seins. Ebenso ist die „harmo­nische Äquipotentialität“ ein ontologischer Begriff, mittels dessen allein eine spezifische Gestalt der Grenzrealisierung verständlich gemacht werden kann, die eine entscheidende Rolle in der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit spielt, wie sich noch zeigen wird.191

4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen

Kai Haucke hat mit seinem Buch Plessner zur Einführung, das aufgrund seines Erscheinens in der prominenten Einführungsreihe des Junius-Verlags vermutlich nach wie vor eine erste Orientierung für viele zu bieten verspricht, die sich mit Plessner auseinandersetzen wollen, eine Lesart vorgelegt, welche den Zugang zu den Stufen eher verstellt als ihn zu befördern. Haucke zufolge ist die Transfor­mation des klassischen Substanzbegriffs das Hauptanliegen, das Plessner mit den Stufen verfolge: „Bei aller naturwissenschaftlichen Materialfülle geht es in diesem Buch philosophisch um eine Transformation des Substanzbegriffs.“192 Diese Deutung resultiert daraus, dass Haucke Plessners Auseinandersetzung mit dem cartesianischen Alternativprinzip als die Frage auffasst, auf welche die Stufen mittels einer Transformation der Aristotelischen Substanz-Akzidens-Relation zu antworten versuchen:

190 Ebd.: 122.191 Vgl. Kapitel 4.10.192 Haucke 2000: 23.

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4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen 255

Will man Plessners großes und schwer zu lesendes Buch wenigstens im Ansatz verstehen lernen, dann ist die Vergegenwärtigung solcher Zusammenhänge, wie verkürzt sie auch sein mag, unabdingbar. Es ist, so kann man resümieren, letztlich das ontologische Problem, welches innerhalb der modernen Subjektivität verborgen ist, das den Prozess kopernilcani- scher Wenden nicht zur Ruhe kommen lässt, weil das bewegende Motiv dieses Prozesses, trotz des jeweiligen avantgardistischen Selbstverständnisses, das ganz Neue gefunden zu haben, in einer sehr traditionellen Vorstellung besteht. Gesucht wird immer eine feste Wirklichkeit, eine Substanz, die sich nicht mehr in Akzidenzien verflüchtigt.193

Formuliert man das Problem, dem Plessner sich zweifelsohne stellt, derart, er­zeugt man den irrtümlichen Eindruck, dass Plessners Philosophische Anthropo­logie auf die Philosophie der „modernen Subjektivität“ antworte und womöglich selbst eine neuartige Philosophie der Subjektivität darstelle. Darin zeigt sich das entscheidende Problem von Hauckes Lesart: Die Fokussierung auf den Sub­stanzbegriff, welcher die Antike mit der neuzeitlichen Erkenntnistheorie als sys­tematischen locus classicus verbindet, verdeckt gerade die Bedeutung der „Neu­schöpfung der Philosophie“.194 Diese „Neuschöpfung der Philosophie“ wird von Plessner gerade nicht als Reaktion auf die moderne Erkenntnistheorie verstanden, sondern in einem Konglomerat von Bemühungen (Kulturwissenschaft, Herme­neutik etc.) verödet, die allesamt aus der als aporetisch empfundenen neuzeit­lichen Erkenntnistheorie auszubrechen versuchen. Was Plessner und die von ihm genannten Bestrebungen mit der philosophischen Tradition über alle Differenzen hinweg verbindet - der Hauptunterschied besteht darin, dass die neuzeitliche Tradition eine Grundlegung von Erkenntnis und Wirklichkeit anstrebt, während es Plessner der angeführten programmatischen Passage zufolge um eine naturphi­losophisch-anthropologische Hermeneutik der Lebenserfahrung geht - , ist der Versuch, aus dem Sein des Lebendigen in der Erscheinung (diese bildet die Sphäre der Wirklichkeit) eine Naturphilosophie des Lebendigen als Philosophische An­thropologie zu gewinnen. Haucke trifft zwar ins Schwarze, wenn er die klassische Tradition als den Versuch beschreibt, durch Begründung eine „feste Wirklich­keit“195 philosophisch einzuholen, doch Plessners Versuch, die Wirklichkeit das

193 Ebd.: 22 f.194 Der Zweck heißt: Neuschöpfung der Philosophie unter dem Aspekt einer Begründung der Lebenserfahrung in Kulturwissenschaft und Weltgeschichte. Die Etappen auf diesem Wege sind: Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Hermeneutik, Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie, Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte; und ein wesentliches Mittel (nicht das einzige), auf ihm weiterzukommen, ist die phänomenologische Deskription.“ (SOM: 30)195 Haucke 2000: 23.

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256 4 Plessners Transformation der Ontologie

Lebendigen in Gestalt einer „Logik der lebendigen Form“196 zu denken, zielt nicht auf eine Transformation des Substanzbegriffs, sondern sie enthält eine solche „lediglich“.197

Die Transformation des Substanzbegriffs wird nicht umsonst in dem, was Plessner in der oben zitierten Passage als das „Mittel“ der phänomenologischen Deskription bezeichnet, bereits vollzogen - eine vollständig entwickelte „Philo­sophie des lebendigen Daseins“198 greift jedoch weit darüber hinaus und findet in dieser Transformation nicht ihren systematischen Gravitationspunkt. Die phä­nomenologische Deskription bildet ein Mittel zur Entfaltung der Analyse der Er­scheinungsweise sowohl lebendiger als auch nicht-lebendiger Dinge; mittels ihrer wird eine Formanalyse der Erscheinung durchgeführt, nicht Erscheinung durch ein ihr Zugrundeliegendes begründet. Ohne die oben dargelegte Rekapitulation dieser Analyse hier noch einmal zu wiederholen, mögen wenige Hinweise genü­gen: Plessner zufolge erscheint Lebendiges im Doppelaspekt von „Innen (sub­s ta n tia l Kern) und Außen (Mantel der eigenschaftstragenden Seiten)“;199 dabei handele es sich nicht um zwei Seinsbereiche, sondern um den „bloß anschauli­chen Sachverhalt von Substanzkern und Eigenschaft“.200 Der Substanzkern bildet also nicht das Innere des im Doppelaspekt von Substanzkern und Eigenschaft Erscheinenden,201 sondern findet seinen „Ort“ in der Doppelaspektivität selbst; er bildet somit auch keinen konstitutiven „Bestandteil“ des realen Dinges in dem Sinne, wie Form und Materie es in der Lehre von den zusammengesetzten Sub­stanzen tun.202 Wie ist es dann zu verstehen, dass Plessner von der „Abhängigkeit der Eigenschaft von der Kernsubstanz des Dinges“203 spricht, wo letztere selbst wiederum eigenschaftlich am Ding erscheint, da Plessner zufolge das, was er­scheint, „nur in Eigenschaften zur Erscheinung“204 komme? Plessner verwendet an dieser Stelle einen Begriff, den Haucke in seiner Analyse ebenso wie dessen terminologisches Korrelat überspringt, nämlich den Begriff des „Substanzwerts“, dessen Korrelat der Begriff des Wirklichkeitswerts ist:

196 Plessner 1985a: 327.197 Vgl. Kapitel 4.5 und 4.6.198 SOM: 30.199 SOM: 128.200 Ebd.: 86.201 Die Substanz bildet nicht das Innere des Dinges selbst, weil „die erscheinende Gesamtheit des Dinglcörpers als Außenseite eines unaufweisbaren Innern sich darbietet, welches Innere - wohlgemerkt - nicht die Substanz des Dinges ist, sondern mit zu seinen (sonst aufweisbaren) Eigenschaften gehört“, (ebd.: 100)202 Daher sagt Plessner: „Substanz des Dinges ist nicht, woraus es besteht.“ (Ebd.: 86)203 Ebd.: 82.204 Ebd.: 84.

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4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen 257

Für dieses Transgredienzverhältnis zwischen Phänomen und Kerngehalt einer seelischen Realität dürften räumliche Bilder nur einen metaphorischen Wert haben, obwohl die Be­ziehung zwischen dem Phänomen und dem realen Kerngehalt, welche den Bestimmtheiten des Phänomens Eigenschaftswert, dem realen Kerngehalt Substanzwert verleiht, im Falle des unräumlich Wirklichen wie im Falle des räumlich Wirklichen dieselbe ist.205

Der Kerngehalt konvergiert mit den Bestimmtheiten des Phänomens darin, dass ihm ein Eigenschaftswert zukommt und unterscheidet sich von ihnen durch den spezifischen Eigenschaftswert des Substanzwerts, der ontologisch im inkom­mensurablen ontischen Sachverhalt der Mitte gründet. Den Substanzwert von Dingen überhaupt macht es aus, dass „raumbedingten Charakteren raumbedin­gende, räumlichen Bestimmtheiten raumhafte in der Anschauung wesensnot­wendig zugeordnet“206 würden; den Substanzwert des Lebendigen macht es darüber hinaus aus, dass die unräumliche Mitte die Funktion der Grenzrealisie­rung übernimmt und die Lebendigkeit des Lebendigen durch dieselbe vermittelt ist bzw. sich durch sie hindurch antagonistisch vermittelt. In beiden Fällen, beim lebendigen wie beim nicht-lebendigen Ding, ist der Kerngehalt gerade kein sub­stanzieller Punkt; Haucke behauptet jedoch genau dies: „Ganz im Sinne der klassischen aristotelischen Ontologie ergibt sich die spezifische Einheit des Dinges durch den Bezug aller seiner Eigenschaften und Aspekte auf einen inneren, substanziellen Punkt, der selbst keine Eigenschaft und kein Aspekt ist, daher auch nicht räumlich anschaulich wird.“207 [Hervorhebung, S.E.] Für die phänomeno­logische Deskription, wie Plessner sie entwickelt, ist aber gerade die oben auf­gezeigte Mehrfältigkeit des Eigenschaftsbegriffs konstitutiv, aufgrund derer auch ein vermeintlicher „substanzieller Punkt“ eigenschaftlich erscheinen muss, auch wenn, wie Haucke wohl sagen würde, er kein Aspekt ist, denn bei Plessner tritt auch die Mitte als Grenzübergang der Aspekte eigenschaftlich in Erscheinung, ohne in der Doppelaspektivität aufzugehen.208

Lebendiges erscheint, wie gezeigt,209 „im Doppelaspekt“ der Richtungsge­gensätze Innen/Außen und ist „durch und durch verbunden“210 mit der „ontisch zum belebten Ding selber gehörende [n], die Erscheinungsweise vom Ding aus bestimmende[n] Aspektgrenze“,211 welche die raumhafte Mitte bildet. Ein Ding,

205 Ebd.206 Ebd.: 85.207 Haucke 2000: 36.208 Vgl. SOM: 103.209 Vgl. zum Folgenden auch Kapitel 4.3.210 Ebd.: 82.211 SOM: 102.

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das nur im Doppelaspekt erschiene, würde nicht als Einheit212 erscheinen, weil die Richtungsgegensätze von Innen und Außen bloß als räumliche ineinander überführbar wären wie beim umgestülpten Handschuh, wo das Innen Außen und das Außen Innen werden kann, und über solche, nicht-lebendige Gegenstände sagt Plessner, dass sie nicht „im“, sondern „kraft“ des Doppelaspekts erschei­nen.213 Von Psychischem zu sagen, dass es Physisches werden könne, ist nur im übertragenen Sinn möglich, nämlich in der Verkörperung von Psychischem im Physischen (und Verkörperung bedeutet logisch, dass Psychisches in Physischem zum Ausdruck kommt und nicht, dass es selbst Physisches werde), doch genau diese Verkörperung lässt sich nur von der positionalen Mitte als der psychophy­sisch neutralen „Ansatzzone“214 her verständlich machen, die mit keinem Rich­tungsgegensatz identisch werden kann. Was also als Lebendiges im Doppelaspekt erscheint, erscheint nicht allein im Doppelaspekt.

Hauckes Übersetzung des Doppelaspekts von Innen (Psychischem) und Au­ßen (Körperlichem) in Substanz und Akzidens verdinglicht den Doppelaspekt, indem Physisches und Psychisches substanzialisiert werden. Plessner hingegen verdinglicht die Doppelaspektivität nicht, sondern sagt über den Doppelaspekt: „Der Doppelaspekt konstituiert das Anschauungsgebilde des Dingkörpers, aber als echte Bedingung verliert er sich in dem von ihm Bedingten.“215 Haucke missversteht aber die Art der Bedingtheit des Dinges durch den Doppelaspekt, denn es handelt sich um eine Bedingtheit des Lebendigen in der Erscheinung, in welcher der Doppelaspekt sich verliert. Haucke deutet demgemäß das Bedin­gungsverhältnis umstandslos im Stil der realistischen Ontologie des Aristoteles und kann deshalb erst die Doppelaspektivität als Reprise der Substanz-Akzidens- Relation deuten: „Statt von Substanz und Akzidens, Bedeutung und Zeichen oder Subjekt-Objekt-Dualismus zu sprechen, nennt Plessner die absolute Unterschei­dung zwischen Innen und Außen schlicht Doppelaspekt.“216 [Hervorhebung, S. E.] Der Doppelaspekt als Ermöglichungsbedingung des Erscheinens von Lebendigem

212 Der Ausdruck „als Einheit“ kommt bei Plessner vor, wo er seine zentrale Bestimmung der positionalen Mitte formuliert: „Die Inexistenz der Mitte (des realen Kerns, des Subjekts des Ha­bens) ist also allein als die wirkliche Möglichkeit des Körpers oder sein Vermögen (Potenz) real. In diesem Vermögen sind alle Elemente des Körpers gleichmäßig zur Einheit gebunden und als Einheit gewährleistet.“ (SOM: 162) Das anschaulich Inexistente, was in der phänomenologischen Deskription schon als konstitutiv für das „Sein in der Erscheinung“ sich erweist, ist als positionale Mitte für die Anschauung konstitutiv. Darauf basiert der ontisch-ontologische Doppelcharakter der Mitte, vgl. Kapitel 4.6.213 Vgl. SOM: 89.214 SOM: 102.215 Ebd.: 89.216 Ebd.: 43.

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4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen 259

wird hier direkt übersetzt in die realistische Unterscheidung zwischen Innen (Seele) und Außen (Körper), die Plessner demzufolge bloß begrifflich neu an­streichen würde. Plessner spricht in den Stufen jedoch durchgängig davon, dass Lebendiges „im Doppelaspekt“217 erscheine; Haucke liest Plessner hingegen, als würde Lebendiges nur in der naiven Anschauung im Doppelaspekt erscheinen als etwas, das seinem eigentlichen Sein nach in Aspekte (Innen/Außen qua Substanz/ Akzidens) zerfalle; die phänomenologische Deskription aber ist gerade nicht die Abbildung der naiven Anschauung in Begriffen, sondern zielt auf deren Struk­tur.218 Mit der Übersetzung des Doppelaspekts in die Substanz-Akzidens-Relation und damit ins ontologisch Dyadische beraubt Haucke das Wirkliche als erschei­nendes Wirkliches genau der Substantialität, die den „Wirklichkeitswert“ des „Seins in der Erscheinung“ ausmacht.

Damit leugnet Haucke darüber hinaus indirekt, dass die Deutung des mimi­schen Ausdrucks, welche in den Stufen systematisch weiterentwickelt wird, sowohl innerhalb der Phänomenologie als auch innerhalb der Philosophie überhaupt irgendeinen neuartigen Sinn habe; Plessners „Neuschöpfung der Philosophie“ wird hier gar zu einer Neuauflage der Aristotelischen Ontologie dezimiert. Diese dem Plessner’sehen Projekt diametral entgegengesetzte Ontologisierung von Plessners phänomenologischer Deskription219 setzt Haucke fort, wenn er be­hauptet, dass die „Divergenz von Innen und Außen [...] zwar nicht identisch mit der Differenz von Geistseele und Körper, wohl aber ihr analog“220 sei. Den Innen- Aspekt, also die eigenschaftstragenden Seiten des erscheinenden Dinges, die Plessner auch als das Erscheinen von Psychischem bezeichnet, identifiziert Haucke kurzerhand mit der Substanz. Implizit ist in dieser Identifikation die Behauptung enthalten, dass das, was das Proprium des Lebendigen ausmache, innerhalb der Doppelaspektivität als Aspekt direkt erscheine. Dies läuft jedoch nicht nur den Stufen, sondern auch Hauckes eigener Deutung zuwider, in deren Zentrum die „sinnhafte Relation der Aspekte zu einer substanziellen Mitte“221 steht: „Gleichwohl bleibt sie Substanz, Mitte, von der die Aspekte abhängig bleiben, denn ohne Zusammenhang, ohne etwas, was sich in keinem der Aspekte erschöpft, was selbst nie Aspekt sein kann, [...] sind die Aspekte nichts.“222 Die Substanz findet also bei Haucke einen doppelten Ort: in den Aspekten und jenseits von Aspektivität überhaupt. Dieses Jenseits der Doppelaspektivität bildet aber bei

217 Ebd.: 70, 78, 80, 89, 128, 160.218 Zum Begriff der Struktur in diesem Kontext vgl. ebd.: 82.219 Vgl. ebd.: 23.220 Haucke 2000: 43.221 Ebd.: 75.222 Ebd.: 59.

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Plessner gerade die Mitte, die Haucke meist „substanzielle Mitte“ nennt223 und aufgrund ihrer Doppelverortung als Ermöglichungsbedingung der Doppelaspek- tivität wie auch als Aspekt und damit als Moment des Doppelaspekts auftreten lässt, was bedeutet, dass die Ermöglichungsbedingung der Doppelaspektivität innerhalb des durch sie Ermöglichten erscheinen müsste. Plessners Unterschei­dung zwischen indikatorischen224 und konstitutiven Wesensmerkmalen wird damit eingestampft, weil das konstitutive Wesensmerkmal der Grenzrealisierung in Hauckes Lesart nur von der „substanziellen Mitte“ her verstanden werden kann, die bei ihm aber auch als substanzieller Aspekt auftritt. Haucke liest in Plessner einen Dualismus hinein, den er zugleich - aporetischerweise mit dualistischen Mitteln - überwinden will, indem er die „substanzielle Mitte“ mit zwei inkom­mensurablen Funktionen ausstattet und damit mit einem doppelten Substanz­begriff (Innen/Mitte) arbeitet.225

Die Orientierung an Aristoteles verleitet Haucke dazu, den phänomenologi­schen Sinn der Doppelaspektivität zu verkennen und Plessners Freilegung der Wirklichkeit des Lebendigen, die als solche in sich substantialer Natur ist und nur vermöge des phänomenologischen Ansatzes in ihrem Wirklichkeitscharakter statt als Realität zugänglich wird, durch eine Begründung und Rettung der Wirklichkeit des Lebendigen durch die Substanz zu ersetzen. Denn Haucke zufolge bedürfe es einer

Neufassung der ontologischen Begrifflichkeit in der Weise, dass den Akzidenzien prinzipiell eine substanzielle Funktion zugestanden wird, gerade weil der Substanz nur dann jene sich selbst tragende Wirklichkeit zukommt, wenn sie in einer Fülle von Aspekten zur Erscheinung gelangt, die die substanzielle Unmittelbarkeit vermitteln. Gelingt eine solche Erneuerung ontologischer Konzepte, so erscheint Plessners These weit weniger aporetisch. Denn dann wird das substanzielle Innen, obgleich es selbst nicht erscheint, in der Erscheinung sichtbar gemacht durch die substanzielle Rolle, die die Aspekte oder Akzidenzien spielen.226

223 Vgl. Ebd.: 25, 36, 75 f., 82, 87,114,134 f., 147,150-152. Alternativ verwendet Fiaucke aber auch die Begriffe den Begriff der „vitalen Mitte“, so ebd.: 81,83,85,115 f., 122,125,128f., 147 f. Wo Fiaucke Plessners Explikation des menschlichen Seins behandelt, verwendet er auch öfter den Begriff der „absoluten Mitte“ (ebd.: 133f., 145 f., 150-152,160,163), den Plessner im letzten Kapitel der Stufen verwendet (SOM: 294, 303).224 Den indikatorischen Wesensmerkmalen ordnet Plessner gerade den Doppelaspekt im Un­terschied zur klassischen Form-Materie-Relation zu, vgl. ebd.: 123.225 An der Refundamentalisierung des Substanzbegriffs stößt sich auch Olivia Mitscherlich: „Anstatt den Wahrheitsbezug offenzuhalten, schießt Hauke [sic!] jedoch über das Ziel hinaus und hypostasieret die Substanz zum neuen Wahrheitsgrund der philosophischen Erkenntnis.“ (Mitscherlich 2006: 249, FN 256)226 Haucke 2000: 58.

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4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen 261

Dazu ist Mehreres anzumerken:(1) Die Wirklichkeit des Lebendigen, wie sie sich als „Sein in der Erscheinung“227

gibt und von Plessner vermittels der phänomenologischen Deskription frei­gelegt wird, muss Haucke zufolge auf eine „Substanz“ zurückgeführt werden, die diese Erscheinung von einem „Jenseits“ derselben her trägt. Diese Sub­stanz erscheint der oben angeführten Passage zufolge nicht selbst, obwohl Haucke an anderer Stelle, wie oben gesehen, die geist-seelische Substanz kurzerhand mit dem Innen-Aspekt identifiziert; vielmehr spricht Haucke hier von der „substanziellen Rolle“ von Aspekten, deren in der Gleichsetzung des Innen-Aspekts mit der Substanz behauptete Substanzialität hier verdunkelt statt erhellt wird. Es bleibt unklar, wie die akzidentellen Aspekte eine „sub­stanzielle Rohe“ spielen sollen, wenn die Substanzialität dieser Rohe nicht von der „substanziellen Mitte“ garantiert würde; eine solche „substanzielle Rolle“ könnten Akzidenzien allenfalls in Verkörperungen der „substanziellen Mitte“ spielen, die dann aber gerade in dem klassischen Sinn - als Inkor­poration der Form (Seele) in der Materie (Körper) - konzipiert würde, die Plessner explizit verwirft.228 Was bei Plessner de facto geschieht, stellt keine Begründung der Substantialität der Wirklichkeit durch eine sie grundierende Substanz dar, sondern Plessner elaboriert den Unterschied zwischen Leben­digem und Nicht-Lebendigem innerhalb der in sich substantialen Wirklichkeit, welcher als erscheinender Wirklichkeit ein Substanzwert zukommt und die daher zusätzlicher Begründung durch eine sie fundierende Substanz bedarf.

(2) Haucke liest Plessner nicht nur von vornherein von Aristoteles her, um Plessners Verhältnis zur klassischen Ontologie als hermeneutisch fruchtbare Kontrastfolie zu verwenden, sondern er reduziert Plessner zu einem neuen Aufguss von Aristoteles und behauptet hier implizit, dass Plessner so gelesen werden müsse. Dieser Eindruck entsteht aber erst, wenn man eine „sub­stanzielle Funktion“ der Aspekte in ein Verhältnis zu einer selbst „substan­ziellen Mitte“ setzt, Plessner also schon vorgreifend in ein Aristotelisches Schema gezwängt hat. Dann hat man das Verhältnis zwischen der Mitte und dem Doppelaspekt aus einer phänomenologischen Relation, die einen kom­plexen dreifachen Eigenschaftsbegriff enthält,229 der in der Unterscheidung zwischen sinnlich und nicht-sinnlich sich nicht erschöpft, in die zweistellige konventionelle Unterscheidung zwischen Sinnlichem (Aspekte) und Nicht-

227 Vgl. Kap. 4.6.3228 Vgl. DmA: 104 f.229 Vgl. Kapitel 4.6.2.

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262 4 Plessners Transformation der Ontologie

Sinnlichem (substanzielle Mitte) übersetzt. Die Aspekte bedürfen dann der doppelten Rettung, die Haucke in seinen Widersprüchen vollzieht:

(3) Die Aspekte bedürfen (a) der Rettung vor dem „Quasi-Nichtsein“ der die Substanz begleitenden und bloß sinnliche Eigenschaften derselben bilden­den Epiphänomenen. Die Substanzialität der Aspekte muss daher Haucke zufolge die „Substanz“ davor bewahren, aporetisch zu werden, d. h. nicht als wirklichkeitsbedingende zweite Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit der vor- wissenschaftlichen und vorreflexiven Erfahrung überflüssig gemacht zu werden, die in den selbst substanziellen Aspekten zur Erscheinung kommt. Was bei Plessner jedoch als substantial230 sich zeigt, ist gerade diese Wirk­lichkeit, die eigenschaftlich erscheint in der Doppelaspektivität und der Grenzrealisierung durch die Mitte, ohne ihre Substanzialität, d.h. ihren „Wirklichkeitswert“, entweder der Doppelaspektivität oder der Mitte zu ver­danken. Die Wirklichkeit wird von Haucke allerdings durch die Realität der Substanz abgesichert, ohne dass die Explikation des Erscheinens von Wirkli­chem - jedenfalls in Plessners Art und Weise der Durchführung - einer sol­chen bedürfte oder sie mit ihren methodischen Mitteln erbringen könnte. Diese Absicherung entspricht dem Bedürfnis des klassischen Epistemologen, dessen ontologisch codierte Sprache Haucke spricht, wenn er behauptet, dass „sich nur über die sinnhafte Relation zwischen Kern und Aspekten eine echte, d. h. unabhängige Realität von Dingen konstituiert“.231 Haucke hält hier am klassischen Entweder-Oder fest: Entweder gründet die Wirklichkeit der Wirklichkeit in einer Substanz, oder die Wirklichkeit verflüchtigt sich in Ak­zidenzien und ist folglich keine Wirklichkeit im eigentlichen Sinne.

(4) Die Aspekte bedürfen (b) der paradoxen Rettung vor einer übersteigerten Selbständigkeit, der gemäß sie keine „substanzielle Funktion“ mehr hätten, sondern selbst in der starken Lesart des Begriffs Substanzen wären und aus der Substanz-Akzidens-Relation der Widersinn einer Substanz-Substanz-Re­lation würde. Dieses Dilemma versucht Haucke dadurch zu lösen, dass er behauptet, die Beziehung der Substanz zu den Akzidenzien sei selbst sub­stanzieller Natur,232 mit Substanz also nicht nur die „substanzielle Mitte“ und

230 Das „Substantiale“ hat Substanzwert, ohne im Sinne der klassischen Ontologie verstanden werden zu müssen; das „Substanzielle“ verkörpert die Natur der Substanz im Unterschied zum bloß Akzidentellen und ist ontologischer Art.231 Haucke 2000: 91.232 „War Substanz traditionell dasjenige, was selbständig, unabhängig, daher ohne Vermittlung mit anderem einfach und unmittelbar zu existieren vermag, Akzidens hingegen das nur An­hängende, Abhängende, Unselbständige und Vermittelte, so wird durch die Bestimmung der

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4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen 263

die Aspekte,233 sondern sogar noch die Relation zwischen beiden bezeichnet. Die oben angesprochene, unter der Entweder-Oder-Alternative einer Fundie­rung der Wirklichkeit in einer Substanz oder einer Verflüchtigung von Wirk­lichkeit überhaupt vollzogene Substanzialisierung wird hier durch eine der oben angesprochenen Substanzialisierung widerstreitende, gleichwohl aber aufgrund der angesprochenen Probleme benötigte Sowohl-als-auch-Sub- stanzialisierung ergänzt, die noch durch die Substanzialisierung der Relation zwischen beiden ergänzt wird. Die Substanzialisierung der Aspekte treibt allerdings in beide Richtungen merkwürdige Blüten: Bei Plessner heißt es, dass „die Aspektdivergenz, welche als Vorbedingung jeder dingkörperlich erscheinenden Einheit aufgewiesen wurde, nicht selbst auch in Erscheinung tritt“.234 Bei Haucke tritt die Aspektdivergenz nicht nur in Erscheinung, weil das Erscheinende durch die konstitutiv fehlgedeuteten Aspekte definiert wird, sie wird darüber hinaus mit dem Antagonismus zwischen Mitte und Peripherie identifiziert,235 obwohl die Mitte phänomenologisch gar nicht selbst Be­standteil der Doppelaspektivität ist, sondern als Mitte der Anschauung die psychophysisch neutrale „Ansatzzone der absoluten Richtungsdivergenz“236 und als positionale Mitte237 konstitutives Moment (phänomenologisch ge­sprochen: Wesensmerkmal) einer lebendigen Ganzheit ist, ohne dass die Wirklichkeit des Lebendigen durch eine „Substanz“ im entitären Sinne (Hauckes „substanzielle Mitte“) begründet würde. Zudem setzt Haucke die Aspekte mit den Organen gleich,238 d. h. die bei Plessner phänomenologisch

Substanz als seiende Möglichkeit die Beziehung zu den Akzidenzien selbst substanziell.“ (ebd.: 24)233 „Plessners zentraler Begriff der Doppelaspektivität verweist auf die Substanzialität der As­pekte, insofern mit ihm der Kern oder die Substanz schon als Aspekt angesprochen wird.“ (ebd.: 58)234 SOM: 88.235 „Denn erst ein organischer Antagonismus verkörpert hinlänglich die absolute Divergenz des Doppelaspektes.“ (Haucke 2000:126) Was Haucke als „organischen Antagonismus“ bezeichnet, ist bei Plessner jedoch ein Spannungsverhältnis, das als Relation keine Verkörperung der rela­tionalen Momente sein kann, sondern das Medium von Verkörperungsleistungen eines sie Um­greifenden (Lebewesen, Person) ist, das sich durch den Antagonismus hindurch verkörpert, nicht als dyadischer Antagonismus.236 SOM: 102.237 Zur näheren Bestimmung des angesprochenen Verhältnisses von Mitte und Peripherie vgl. Kapitel 4.10.1.238 „Wenn die Organe sich als Aspekte unmittelbar auf die substanzielle Mitte beziehen und sich damit als Möglichkeiten eines inneren Wesens bekunden, zugleich aber in ihrer Eigenart als Aspekte mit anderen Aspekten vermittelt sind, dann können beide Verweisungsrichtungen in einen Ausgleich kommen, sofern die Organe nicht nur aspelctive Möglichkeiten des Wesens sind,

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aufgewiesene „Vorbedingung jeder dingkörperlich erscheinenden Einheit“ wird vom „Sein in der Erscheinung“ losgelöst und mit Elementen der Reali­tät239 identifiziert. Auch hier wird die Wirklichkeit, deren „Sein in der Er­scheinung“ Plessner gerade in einer Strukturanalyse des Erscheinens er­schließen möchte, von der ihr zugrundeliegenden Realität her bestimmt, welche die Seinsqualität des „Seins in der Erscheinung“ ontologisch b e ­gründet.

Was Haucke mit seiner Fixierung auf den Substanzbegriff verfehlt, ist Plessners Elaborierung des Verhältnisses des Lebendigen zur Wirklichkeit, genauer gesagt die von ihm weitläufig entfaltete Antwort auf die von Plessner nicht explizit ge­stellte Frage: Wie gestaltet sich die Wirklichkeit des Lebendigen in dessen le­bendigem Verhältnis zur Wirklichkeit, in welcher es lebt? Von einem „lebendigen“ Verhältnis des Lebendigen zur Wirklichkeit zu sprechen, ist deshalb nicht tau- tologisch, weil mit dem Ausdruck des „lebendigen Verhältnisses“ gerade die methodische Umstellung bezeichnet wird, die Plessner in der Deutung des mi­mischen Ausdrucks gegenüber aller klassischen Erkenntnistheorie vollzieht. Die Stufen bilden die auf dieser methodischen Grundlage vollzogene Analyse der Wirklichkeit des Lebendigen und des „Gegebenseins“ von Wirklichkeit überhaupt.

Haucke übersieht in diesen Punkten jedoch den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität und verkennt damit auch die Inkommensurabilität des Plessner’schen Ansatzes mit dem naturwissenschaftlichen Zugang zur Wirklich­keit. Weil Haucke von einer „naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassung“240 spricht und nicht sieht, dass Plessners Ontologie des Lebendigen eine Ontologie der Wirklichkeit des Lebendigen ist, die gerade die Ermöglichungsbedingungen des naturwissenschaftlichen Zugangs zur empirischen Realität freilegt, ordnet Haucke Plessners Philosophischer Anthropologie und den Naturwissenschaften denselben Gegenstand zu, ohne den unterschiedlichen Charakter des Zugangs beider zur Wirklichkeit hinreichend zu bedenken. Daher erscheint es Haucke „problemlos möglich, von der Ontologie zur Naturwissenschaft überzugehen“,241 während de facto Plessners Ontologie schlicht ein völlig anders gelagertes Projekt

sondern auch in ihren physischen Eigenschaften auf die Mitte bezogen werden.“ (Haucke 2000: 82)239 Organe können sowohl Elemente von Wirklichkeit als auch von Realität sein, je nach Ge­gebenheitsweise. Hier ist allerdings von Elementen der Realität die Rede, weil den Organen in Hauclces Redeweise eine Begründungsfunktion zukommt aufgrund der substanziellen Rolle der Aspekte.240 Ebd.: 42.241 Ebd.: 37.

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4.8 Exkurs II: Hauckes Fehldeutung der Stufen 265

darstellt, in dem die Ermöglichungsbedingungen des Übergangs von der Wirk­lichkeit zur Realität innerhalb der Wirklichkeit freigelegt werden. Für Haucke handelt es sich um eine asymmetrische Übergangsmöglichkeit: „Von der Natur­wissenschaft zur Ontologie gibt es keinen Weg: Die Substanz .verfehlt der exakte Wissenschaftler notwendig*.“242 Worauf die von Haucke zitierte Aussage Plessners allerdings zielt, ist nicht die Behauptung der Unmöglichkeit, von der Naturwis­senschaft zur Ontologie überzugehen oder naturwissenschaftlich das Wesen der Substanz zu erkennen, sondern die Unfähigkeit der Naturwissenschaften, von ihrer Festschreibung der Realität her das Verhältnis des Lebendigen zur Wirk­lichkeit, das die Voraussetzung ihrer Gegenstandsbestimmung in Form der Identifizierung von Lebendigem als solchem bildet, zu begründen. Wenn Haucke von der „naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassung“243 spricht, verödet er das Plessner’sche und das naturwissenschaftliche Projekt zunächst auf derselben Ebene und hebt diese Gleichverortung wiederum auf in der bloß einsinnigen Übergangsmöglichkeit, die er behauptet. De facto findet jedoch keinerlei Über­gang statt, weder von der Ontologie zu den Naturwissenschaften noch umgekehrt, da beiderseits keinerlei Bestreben zu einem Übergang besteht und es sich um gänzlich unterschiedliche theoretische Orientierungen handelt. Der Naturwis­senschaftler verfehlt daher nicht die „Substanz“, wie Haucke behauptet und Plessner zu behaupten unterstellt, sondern er nimmt die Wirklichkeit als Wirk­lichkeit überhaupt nicht in den Blick und verfehlt daher die „Substantialität“, die Plessner innerhalb der Sphäre des Wirklichen als das die Substantialität des Realen Fundierenden244 245 freilegt: „Insofern der naive Ansatz, durch Aufbrechen eines Dinges sein Inneres als sein Eigentliches, sein Wesen und seinen Kern zu bekommen, in der Richtung vorbildlich für die naturwissenschaftliche Elemen­taranalyse der Atomisierung ist, verfehlt der exakte Wissenschaftler notwendig die Substantialität.“2K [Hervorhebung, S.E.] Wer die Substantialität des Wirklichen verfehlt, kann überhaupt erst den Substanzbegriff von der Ontologie naiv in die Realitätsanalyse transponieren und die Zusammengesetztheit der Substanz in

242 Ebd.243 Ebd.: 42.244 Haucke verwischt diese Differenz der Ebenen, indem er die ontologisch erschlossene Wirklichkeit der Wahrnehmung als „fundierendes Apriori auch der naturwissenschaflichen Wirklichkeitsauffassung“ (Ebd:: 42) bezeichnet. Die Wirklichkeit fundiert jedoch die Realität samt ihrer Substantialität und bildet insofern eine Ermöglichungsbedingung von naturwissenschaft­licher Realitätserschließung, ihre Explikation fundiert jedoch keine Erschließungsleistungen innerhalb der Realität, die einer naturwissenschaftlichen Logik folgen, da sie sonst über ihre Ermöglichungsfunktion hinaus in diese Logik selbst Eingang finden müsste.245 SOM: 86.

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266 4 Plessners Transformation der Ontologie

eine Elementaranalyse übertragen und dabei noch meinen, philosophische Pro­bleme auf dem Wege der „Atomisierung“ lösen zu können.

4.9 Abgrenzung von anderen Lesarten (Beaufort, Holz)

Von wenigen, explizit ontologischen, Lesarten Plessners soll die hier dargelegte Lesart in gebotener Kürze abgegrenzt werden. Es handelt sich dabei um die In­terpretation, die Jan Beaufort in Die gesellschaftliche Konstitution der Natur. Hel- muth Plessners kritisch-phänomenologische Grundlegung einer hermeneutischen Naturphilosophie in Die Stufen des Organischen und der Mensch vorgelegt hat, und um die Lesart, die Hans Heinz Holz in Mensch-Natur. Helmuth Plessner und das Konzept einer dialektischen Anthropologie vorgelegt hat.246

Beaufort unterscheidet zwischen verschiedenen Ontologien in Plessners Werk, nämlich der Ontologie der Deutung und der Ontologie der Stufen, die „zwei ontologische Paradigmata“247 repräsentierten, nämlich das „Buytendijksche einer der Daseinsanalyse verwandten Ontologie der Leiblichkeit“248 und das „Plessn- ersche einer kritischen und systematischen Lebensphilosophie“.249 Beaufort zerreißt damit die methodische Kontinuität zwischen der Deutung des mimischen Ausdrucks und den Stufen, die darin besteht, dass Plessner in der Deutung das phänomenologische setting entwirft, welches in der phänomenologischen De­skription der Stufen zur Anwendung gebracht wird und die Unterwanderung einer naiv ontologisierenden Phänomenologie ermöglicht. Die diese Kontinuitäten übersehende Vorsichtigkeit Beauforts hat ihren Grund offenbar in der grund­sätzlichen Intention, Fehlontologisierungen zu vermeiden: „Plessners Ansatz wäre falsch verstanden, wenn man sie [sic!] als Lebensphilosophie im Sinne einer ontologischen Lebensphilosophie, die die schlichte Gleichsetzung von Leben und Sein erlaubte, betrachten würde.“250 So berechtigt Beauforts Skrupel in diesem Fall sind, so fatal sind deren Konsequenzen, denn unter der Hand führt Beaufort die Ontologie in die Epistemologie über, wenn er über Plessners Naturphilosophie sagt: „Ihr Interesse ist ein ontologisches, wobei ,Sein‘ hier bedeutet: für die An­schauung konstituiert sein, oder, im Falle von Wahrnehmungsgegenständen: für

246 Gottfried Schweiger schließt sich in seinem Buch Dialektische Naturphilosophie Holz in einem so weitreichenden Maß an, dass seine Ausführungen zu Plessner keiner gesonderten Kritik be­dürfen. Vgl. Schweiger 2011.247 Beaufort 2000: 26.248 Ebd.249 Ebd.: 26f.250 Ebd.: 33.

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4.9 Abgrenzung von anderen Lesarten (Beaufort, Holz) 267

die Wahrnehmung konstituiert sein.“251 Deshalb kann Beaufort überhaupt erst die Subjekt-Objekt-Relation in die Stufen hineinprojizieren und von einem „Primat des Objekts“ sprechen, worunter er subjektunabhängige, bereits konstituierte Gegenstände im Allgemeinen versteht: „Der Primat des Objekts war der Grund, weshalb ich das konstitutionstheoretische Verfahren der Stufen zunächst als Konstitutionsanalyse angesprochen habe. Denn es nimmt seinen Ausgang von bereits konstituierten Gegenständen“.252 Die so verstandene Konstitutionsanalyse zielt nicht auf eine Konstitution der Dinge in der Anschauung, sondern für den Anschauenden.253 Der Grund, weshalb Beauforts Lesart aus dem Ruder läuft, findet sich in der fichteanisierten254 Interpretation der Grenze, die Beaufort als „die vom Subjekt gesetzte Grenze“255 bezeichnet; an anderer Stelle sagt er, „daß für Plessner auch jene Grenze am Lebendigen das Ergebnis einer Setzung ist“.256 Was Beaufort hier fichteanisch verzerrt, ist Plessners These: ,,[W]enn ein Körper außer seiner Begrenzung den Grenzübergang selbst als Eigenschaft hat, dann ist die Begren­zung zugleich Raumgrenze und Aspektgrenze und gewinnt der Kontur unbe­schadet seines Gestaltcharakters den Wert der Ganzheitsform.“257 Dass der Ei­genschaftsbegriff auf die Erscheinungsweise von Wirklichem statt auf dessen Subjekt- und erscheinungsunabhängiges Sein zielt, verkennt Beaufort.

Dieser Fichteanisierung und Epistemologisierung Plessners gemäß macht Beaufort die „entscheidende, Plessners ontologischen Standpunkt berührende Frage“258 gar nicht in den grundlegenden Unterscheidungen der Stufen aus (be- lebt/unbelebt,259 indikatorische/konstitutive Wesensmerkmale des Lebendigen, zentrische/exzentrische Positionalität etc.), sondern in Fragen wie der folgenden:

251 Ebd.: 51.252 Ebd.: 214.253 Beauforts Beteuerung, Plessner sei „eben kein Idealist und die Stufen des Organischen [...] kein idealistisches Buch“ (ebd.: 195), verwundert angesichts dieser interpretatorischen Leitlinie, doch wenig später zeigt sich, dass Beaufort eine bei Plessner nicht zu findende Synthese im Auge hat: „Lebensphilosophie geht den Weg zwischen materialistisch-empiristischer und idealistisch­apriorischer Philosophie.“ (ebd.)254 Beaufort spricht unverhohlen vom „Fichteaner Plessner“. (ebd.: 203)255 Ebd.256 Ebd.: 194.257 SOM: 103.258 Beaufort 2006.: 109.259 Dabei wirft Beaufort die Frage auf, ob diese Differenz nicht den Status einer ontologischen habe: „Zu fragen ist also, ob es berechtigt ist, die Unterscheidung belebt/unbelebt zu einer Un­terscheidung von ontologischem Rang zu erheben, zu einer ontologischen Differenz?“ (ebd.: 61) - Fällt die Antwort positiv aus, so kann sie nur naturphilosophisch gegeben werden. Dabei spielt der Unterschied zwischen positional und nicht-positional eine tragende Rolle, nicht aber der zwi-

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268 4 Plessners Transformation der Ontologie

Wird exzentrische Positionalität so konzipiert, daß sie das Lebewesen mit geschlossener Organisationsform vom zentralistischen Typ, das der Mensch wie das höhere Tier nach wie vor ist, dergestalt über die zentrische Position hinaushebt, daß ihm eine nicht länger da­seinsrelative Realität, eine absolute Realität gegeben ist?260 [letztere Hervorhebung, S.E.]

Kaum eine Frage lässt sich so sehr als eine erkenntnistheoretische bezeichnen wie die Fragen danach, welche Realität oder wie „die“ Realität „gegeben“ sei. In der Frage nach einer absoluten Realität konvergieren Ontologie und Metaphysik im Medium der Erkenntnistheorie.

Abschließend soll noch eine Verdrehung Beauforts in Plessners Begrün­dungsgang angesprochen werden. Beaufort kehrt den Weg, den Plessner von der Naturphilosophie zum Politischen nimmt, kurzerhand um: „Denn der Ausgang von der Politik hat Folgen für Plessners Ontologie: Sie ist als kritische, vermittelte, politische Ontologie zu verstehen. Das Sein der Dinge ist gesellschaftlich konsti­tuiertes Sein.“261 Wie Beaufort vom Gesellschaftlichen kurzerhand zum Politi­schen gelangt, erfährt keine Erläuterung; die Gleichsetzung von beidem bedarf einer Begründung, um nicht völlig willkürlich und letzten Endes grundlos zu bleiben. Auch der „Ausgang von der Politik“ wird in den Stufen, in denen der Begriff der Mitwelt entwickelt wird, nirgends angesprochen. Was macht also Plessners Ontologie, als deren zentrale und durch die exzentrische Positionalität ermöglichte Frage Beaufort an anderer Stelle die Frage nach der „absoluten Realität“ angesprochen hat, zu einer politischen? Beauforts Antwort lautet, dass die „die personale Mitweltsphäre [...] als wirklichkeitskonstituierendes Subjekt erkannt und benannt“262 werde. Wie eine „Mitweltsphäre“, die Beaufort auch explizit als „Struktur“263 bezeichnet, als ein „wirklichkeitskonstituierendes Sub­jekt“ fungieren könne, erklärt Beaufort nicht; stattdessen verwendet er den Begriff der Mitwelt an anderer Stelle im sozialgeschichtlichen und konstitutionstheore­tischen Sinn, führt also eine geschichtliche Konstitutionsanalyse ein, die das letzte Wort in Plessners Ontologie haben soll: „Plessners Mitwelt ist die soziale Welt, in der sich Menschen als Personen begegnen und in der sich die Wirklichkeit des Ich und Du verschmelzenden Wir konstituiert.“264 Hier wird die Ontologie zu einer historischen Ontologie, welcher zugleich in der axiologischen Privilegierung derselben gegenüber Naturphilosophie - ganz entgegen dem Begründungsgang

sehen zentrischer und exzentrischer Positionalität, der die naturphilosophische Beantwortung der Frage voraussetzt und den Bereich des Lebendigen „bloß“ typologisch differenziert.260 Ebd.261 Ebd.: 237.262 Ebd.: 228.263 Ebd.264 Ebd.: 230.

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4.9 Abgrenzung von anderen Lesarten (Beaufort, Holz) 269

der Stufen - das letzte Wort erteilt wird: „Indem sich menschliches Leben ge­sellschaftlich konstituiert, konstituiert sich dem Menschen die Welt gesell­schaftlich - das ist das letzte Wort der Plessnerschen Ontologie. Eine Naturphi­losophie hat dem Rechnung zu tragen.“265

Weniger sprunghaft und daher konsistenter falsch ausformuliert ist die In­terpretation, die Hans Heinz Holz vorgelegt hat. Im Unterschied zu Beaufort lässt Holz Erkenntnistheorie und Ontologie systematisch und planmäßig ineinander- laufen: „Diese philosophische Wesensfrage, die eine zugleich ontologische und erkenntnistheoretische ist, leitet die anthropologischen Systemschriften Pless- ners.“266 Holz begründet diese These damit, dass Plessner seine „streng er­kenntniskritische“267 Frühschrift Die Krisis im transzendentalen Anfang „immer als die methodisch wissenschaftstheoretische Propädeutik und Grundlage seines weiteren Werks“268 betrachtet habe. Das Konzept der exzentrischen Positionalität bilde die Brücke zwischen der besagten Frühschrift und den Stufen, weil vermittels seiner „die konstitutive Funktion des Subjekts im gegenständlichen Verhältnis mitgedacht wird“.269 Holz verwechselt, wenn er in diesem Zusammenhang von „objektiver Transzendentalität“270 spricht, die humanspezifische Ermögli­chungskapazität der exzentrischen Positionalität, ein jegliches gegenständliches Verhältnis als subjektiv vermitteltes zu denken, mit einer notwendigen objekti­vitätsstiftenden Funktion überhaupt, die er der exzentrischen Positionalität konzediert, als wäre die Welt der zentrischen Positionalität eine objektivitätslose. Tieren wären dann gegenständliche Verhältnisse überhaupt fremd, nicht nur gegenständliche Verhältnisse, die aufgrund von Vergegenständlichungsleistun- gen gegenständlicher Art sind. Die exzentrische Positionalität fundiert in einer solchen Interpretation die Erscheinung von Wirklichkeit, welche die von Holz übersprungene phänomenologische Deskription strukturell einzuholen versucht. Holz vermeidet damit nicht die Ontologisierung des Erschauten, sondern onto- logisiert es, indem er es epistemologisiert, weil Ontologie und Epistemologie in seiner Lesart nicht voneinander trennbar sind.

265 Ebd.: 34.266 Holz 2006: 73.267 Ebd.268 Ebd.269 Ebd.: 75.270 Ebd. - Obwohl Holz die „konstitutive Funktion des Subjekts“ bereits ins Spiel gebracht hat, definiert er „Transzendentalität“ in vermeintlicher Übereinstimmung mit Plessner als „Fundie­rung eines Sachverhalts in den vorempirischen - das heißt [...] apriorischen - Bedingungen seiner Möglichkeit, aber er sucht dies nicht erkenntnistheoretisch in den Formbestimmtheiten der Verstandestätigkeit, sondern ontologisch in den jede Erkenntnismöglichkeit schon bedingenden allgemeinsten Formbestimmtheiten der Sache selbst“, (ebd.)

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An die Stelle der phänomenologischen Deskription, ohne deren methodolo­gisches Verständnis Plessners Grenzbegriff nicht verstanden werden kann, treten bei Holz apriorische und logische Bestimmungen der Grenze:

Jedes körperliche Seiende ist in seiner Einzelheit gegenüber seinem Umfeld begrenzt. Grenze ist eine materiale Bestimmtheit, weil in der Extensionalität des Körperseins begründet; und sie ist eine apriorische Bestimmtheit, weil sie ein logisches Erfordernis oder die Bedingung der Gegebenheit von körperlichen Seienden ist.271

Weil Holz Plessners Grenzbegriff nicht versteht, geht er auch in der Deutung des Begriffs der Positionalität fehl, indem er sie bezeichnet als „den Schlüssel [...], der ihm [Plessner, S.E.] die Konstruktion einer einheitlichen Theorie der Natur er­möglicht, die unabhängig von den wechselnden Hypothesen der empirischen Naturwissenschaften ein ontologisches Modell von Formtypen des materiellen Seins entwirft“.272 Bei Plessner fungiert Positionalität jedoch (1) als das gemein­same Merkmal alles Lebendigen, das es gerade dadurch von Unbelebtem unter­scheidet und somit gerade nicht bloß abstrakt als Grundlage einer Unterscheidung von „Formtypen des materiellen Seins“;273 Positionalität fungiert (2) als eine Spezifikation der Verhältnisse zwischen Typen von Lebewesen zu ihrem Positi­onsfeld, sie ermöglicht also gerade keine „einheitliche Theorie der Natur“, son­dern eine Differentialanalyse von Organismus-Umwelt-Verhältnissen und damit eine Typologie von Lebensformen.

Holz reduziert die Ontologie des Organischen, obwohl er den Begriff von Plessner expressis verbis übernimmt,274 auf eine „Regionalontologie des Materi­ellen“.275 Diese Regionalontologie sei die „philosophische Grundlage jeder mög­lichen empirischen Anthropologie“.276 Wie aber soll ein Weg von einer Ontologie des Materiellen zum Menschen führen, wenn Holz zufolge die Anthropologie „zum Zweig einer umfassenden Dialektik der Natur“277 werde, die den hier dargelegten Bestimmungen zufolge nur eine Dialektik der materiellen Natur sein kann? Die Antwort lautet: gar nicht, weil Holz den Weg von der exzentrischen Positionalität und der „konstitutive [n] Funktion des Subjekts in den gegenständlichen Ver­

271 Ebd.: 96.272 Ebd.273 Holz bestimmt an anderer Stelle Positionalität als „eine ontologische Kategorie der res ex- tensa oder der Materie“ (ebd.: 119) und als „die Kategorie, die die konstitutive Bedingung der Regionalontologie des Materiellen ausdrückt“. (Ebd.: 127)274 Ebd.: 133.275 Ebd.: 127.276 Ebd.: 105.277 Ebd.: 75.

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4.9 Abgrenzung von anderen Lesarten (Beaufort, Holz) 271

hältnissen“278 her bereits umgekehrt hat. Noch deutlicher zeigt diese Umkehrung sich in Verbindung des transzendentalen Ansetzens am Subjekt mit der Ästhe- siologie der Sinne: „Die transzendental auf das Subjekt als Moment und Glied natürlicher gegenständlicher Verhältnisse gerichtete Beschreibung des In-Seins führt auf die gründende (und begründende) Rolle der Sinne in einer Ontologie des Lebendigen.“279 Holz möchte Plessners Ansatz jedoch nicht mit „subjektividea­listischen“280 Ansätzen vermengen, von denen Plessner sich dadurch unter­scheide, dass er den Grund der Anthropologie „in der Form eines gegenständli­chen Verhältnisses, in dem sich das Lebewesen befindet“281 suche.

Was macht nun aber die Ontologie des Lebendigen zu einer dialektischen Ontologie? Laut Holz hat „jede entwickelte .höhere* Form [...] aber an den kate- gorialen Bestimmtheiten der .niederen* noch teil, weil sie sich aus dieser her­ausbildet“.282 Auf dieser Entwicklungsgesetzlichkeit beruht Holz zufolge ein bei Plessner vorhandenes „Modell der Einheit der organischen Natur, vom reizemp­findlichen Einzeller bis zum Menschen“.283 Beachtlich ist dies vor dem Hinter­grund, dass Holz, wie oben gezeigt, die Kategorie der Positionalität als Schlüs­selprinzip einer einheitlichen Theorie der Natur eingeführt hat. Und so wird dann auch die exzentrische Positionalität und mit ihr Positionalität überhaupt einer dialektisch bestimmten Naturgeschichte einverleibt: „In der exzentrischen Posi­tionalität erreicht die organische Natur ihre volle Entfaltung; damit sind ihre apriorischen Möglichkeiten ausgeschöpft.“284 Das letztlich die Einheit der Natur bei Plessner gewährleistende Prinzip ist Holz zufolge also eine Dialektik der Natur. Eine dialektische Interpretation legt Plessner selbst stellenweise nahe, z. B. wenn er über den Menschen sagt, er könne als Lebewesen „nur dialektisch begriffen werden mit Hilfe der die tierische Natur bewahrend-durchbrechenden exzentri­schen Position“.285 Damit ist aber eine an der erscheinenden Wirklichkeit ge­wonnene Differentialanalyse von Organisationsformen und Positionsformen in ihrer Beziehung zueinander gemeint, nicht bloß eine Freilegung der „materiellen Bedingungen [...], unter denen eine doch immer nur vom Menschen her zu kon­

278 Ebd.279 Ebd.: 79.280 Ebd.281 Ebd.: 78.282 Ebd.: 113.283 Ebd.: 114.284 Ebd.285 Plessner 1985a: 330.

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272 4 Plessners Transformation der Ontologie

struierende dialektische Einheit von Subjekt und Objekt, von Erleben und Ge­genstandswelt, von Denken und Sein als Welt begriffen werden kann“.286

4.10 Die Organisation des Lebendigen

4.10.1 Mitte und Peripherie: Die Selbstvermittlung des Lebewesens zur Einheit und die innere Teleologie

Eine Analyse der Organisation des Lebendigen, welche das Kernstück von Plessners Ontologie des Organischen und die Ergebnisse der phänomenologi­schen Deskription in einer Strukturanalyse der Lebendigkeit zur Anwendung bringt, erfordert eine vertiefende Explikation des Begriffs der Mitte, die oben als unräumliche und raumhafte Mitte des Erscheinens von Lebendigem und als Grenzübergang angesprochen, worden ist, ohne als Grenzübergang im funktio­nalen und damit vollgültigen ontologischen Sinn entfaltet worden zu sein. Eine solche Bestimmung der Mitte als Moment der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit ist im Folgenden vorzunehmen. Phänomenologisch hat Plessner den Begriff der Mitte in doppelter Weise bestimmt: als die räumliche Mitte eines Dinges in der Anschauung (den geometrischen Mittelpunkt des körperlichen Gebildes) und als kernhafte Mitte bzw. Substanzkern des lebendigen Dinges.287 Soweit bleibt die Mitte, wenngleich räumlich ortlos, innerhalb der Doppelaspektivität verödet. Ein dritter Begriff der Mitte - der positionalen Mitte - bzw. des Kerns dient der näheren Bestimmung der für die Doppelaspektivität konstitutiven Grenzrealisie­rung, welche lebendige Körper vollziehen:

Die Untersuchung hat gezeigt, daß der Dingkern, konstitutiv zwar für den Doppelaspekt, in welchem das lebendige Ding als Ding erscheint, mit der Eigenschaft der Doppelaspektivität an ihm unmittelbar nichts zu tun hat. Trotzdem wird er hineingezogen, weil die Doppel­aspektivität phänomenal das Über den seienden Körper hinaus bzw. In ihm hinein Sein bedeutet.288

Korrelat dieser nicht im Raum aufweisbaren289 positionalen bzw. funktionalen290 Mitte sind nicht die eigenschaftstragenden Seiten, sondern die Peripherie: der

286 Holz 2006: 86.287 „Die räumliche Mitte ist nicht die lcernhafte „Mitte“, als die sie trotzdem die Anschauung vermeint.“ (SOM: 85)288 Ebd.: 130.289 „Ist der Kern im Raum aufweisbar? Offenbar nicht, denn dann wäre er selbst zur Eigenschaft des von ihm getragenen, gehabten Seins geworden.“ (ebd.: 161)

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4.10 Die Organisation des Lebendigen 273

lebendige Körper „wird damit als Mitte und Peripherie in Einem bezeichnet“.290 291 Plessner spricht wechselweise von Mitte und Kern, doch dem Begriff der Mitte kommt insofern der Vorrang zu, als der Kern „seine Funktion nur als Mitte“292 entfalte.293 Mitte und Peripherie sind nicht für sich bestehende Entitäten, sondern im lebendigen Körper „zu einer Wirklichkeit verbunden, insofern er als Element der Peripherie zum Feld mitgehört, als Mitte dagegen sich dem Feld gegenüber befindet“.294 Der lebendige Körper ist daher in sich gebrochene Wirklichkeit, die sich in sich selbst zur Einheit vermitteln muss, in dieser zu leistenden Vermittlung aber kein gegen das Positionsfeld in sich abgeschlossenes und mit sich selbst identisches Ding ist, sondern als körperliche Wirklichkeit in sich selbst antago­nistisch verfasst ist. Die Vermittlung muss daher im eigentlichen Sinn geleistet werden und kann scheitern. Die Organe eines Lebewesens nehmen in dem Ver­hältnis des Organismus zum Positionsfeld, das in seiner antagonistischen Ge­brochenheit zu einer Einheit zu vermitteln ist, eine doppelte Rolle ein, da die Organe zwar Teile des Organismus, als solche aber auch gegen das Positionsfeld offen sind:

In seinen Organen geht der lebendige Körper aus ihm heraus und zu ihm zurück, sofern die Organe offen sind und einen Funktionskreis mit dem bilden, dem sie sich öffnen. Offen sind die Organe gegenüber dem Positionsfeld. So entsteht der Kreis des Lebens, dessen eine Hälfte vom Organismus, dessen andere vom Positionsfeld gebildet wird.295

290 Den Begriff der „funktionalen Mitte“, der bei Plessner nicht vorkommt, aber der Sache nach ins Schwarze trifft, verwendet Krüger systematisch. Vgl. Krüger 1999: 96,121.291 Ebd.: 203.292 Ebd.: 161.293 Heinrich Rombach hat in seiner Strukturanthropologie, den Begriff des Dinglcerns, begünstigt durch seine Fehldeutung desselben, zum Anlass genommen, Plessner als evolutionäre Vorstufe auf dem Weg zu seiner Strukturanthropologie anzusehen, denn Plessner denke den „Ichlcern“ - der Begriff taucht in den Stufen nicht auf - noch ontisch-verdinglichend statt strukturell: „Da er doch einen ontischen Ichlcern annimmt, bleibt seine Anthropologie im Verstehenshorizont des Substanzialismus, tut nur einen ersten, zaghaften Schritt in Richtung des strulcturalen Ansatzes.“ (Rombach 1987: 296) Der Begriff des Substanzlcems, den Plessner de facto in seiner Analyse des lebendigen Dinges verwendet, ist weiter gefasst als der des Ichlcems, den Rombach Plessner unterschieben möchte: „Körperliche Dinge erscheinen im Doppelaspekt eines nie Außen wer­denden Innen, des substanzialen Kerns, und eines nie Innen werdenden Außen, des Mantels eigenschaftstragender Seiten.“ (SOM: 160) Der Substanzialismus, den Rombach Plessner nach­sagt, würde aber voraussetzen, dass ein substanzialer Kern nicht an Lebendigem als solchem erscheint, sondern das Ich als solches substanziell konstituiert.294 Ebd.: 203.295 Ebd.: 191 f.

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274 4 Plessners Transformation der Ontologie

Das selbst weder räumliche noch physische „Organ“ der Vermittlung der Organe im Organismus und zum Positionsfeld ist die Mitte als der Grenzübergang der Aspekte.296 Die Mitte ist somit nicht mit ihren Mitteln, welche eben die physischen Organe bilden, zu verwechseln: „Im Zentrum, sei es Nervennetz oder Gehirn, steckt nicht die raumzeithafte Mitte der Positionalität. Der nervöse Apparat ist nur das Mittel der Unterbrechung zwischen dem Gesamtkörper und - dem Körper als sensorisch-motorischem Antagonismus, der die Fülle der Organe umspannt.“297 Weil die Organe den Organismus mit dem Positionsfeld verbinden, als Teile des Organismus jedoch in einem antagonistischen Verhältnis zum Positionsfeld dem Körper zugleich angehören, entzündet sich an diesen das dem Verhältnis zwi­schen dem lebendigen Körper und dem Positionsfeld eingelagerte Problem des Verhältnisses von Mitte und Peripherie und damit das Problem der (Selbst-)Or- ganisation oder „Einheit des Organismus, wie sie als Kern und Mitte der Man­nigfaltigkeit der Teile gegenübersteht“.298 Die Organe beziehen sich Plessner zu­folge auf den Körper „als Einheit, vermitteln seine Einheit in ihm selber und konstituieren damit eben jenes Ganze, von welchem sie als ,Teile* loslösbar, dem sie eigentlich* entbehrlich sind“.299 Doch sie tun dies nur im uneigentlichen Sinne, denn sie sind weder das materielle Substrat noch die materielle Manifestation der Mitte - ein antagonistisches Verhältnis zwischen Mitte und Peripherie könnte sich in diesen Fähen nicht ausbilden - , sondern indem sie sich auf den Körper als Einheit beziehen, sind sie selbst auf die Mitte als auf die den Körper zur Einheit organisierende Instanz bezogen: „Mitte schließt alle Elemente eines Gebietes zur Einheit zusammen, sie ist der Durchgangspunkt für alle die Einheit gegenüber ihren Elementen bildenden Beziehungen.“300 Diese Einheit zu stiften, ist die „Funktion der Mitte“,301 die in dieser Funktion zugleich die „Funktion der Gren­ze“,302 „gegen d as,Außen* ebensosehr abzuschließen als aufzuschließen, d.h. in das Außen hineinzuführen (das Außen hereinzuführen)“,303 auf der Ebene der Selbstvermittlung des Organismus zum Positionsfeld realisiert. Diese Integrati­ons- bzw. Vermittlungsleistung kann sie als zugleich in ihren Teilen vertretene Mitte vollziehen: „Ein physisches Ding von positionalem Charakter ist in ihm selber oder seine Einheit ist nicht nur funktional in allen seinen Teilen und mit ihnen wirklich,

296 Vgl. dazu Kapitel 4.5.297 SOM.: 244.298 Ebd.: 186.299 Ebd.: 166.300 Ebd.: 161.301 Ebd.302 Ebd.: 155.303 Ebd.

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4.10 Die Organisation des Lebendigen 275

sondern - obzwar nur potentia - als Einheit (Mitte, Kern) in jedem Teile vertre­ten.“304 Den positionalen Charakter des lebendigen Dinges, der hier angesprochen wird, bestimmt Plessner aufgrund der ihm immanenten Richtungsgegensinnigkeit der vermittelnden „Träger der Einheit“305 näher als das Zugleich von Über-ihm- hinaus-Sein und In-ihm-Hinein-Sein: „Zum positionalen Charakter gehört, daß das Ding über ihm hinaus, in ihm hinein ist.“306 Es ist „über ihm hinaus“, weil es als Lebendiges in Ausdruck und Verhalten zur Umwelt offen und auf Umweltliches gerichtet ist, und es ist „in ihm hinein“, weil es im Ausdruck und Verhalten sich zugleich gegen die Umwelt stellt und seine Grenze realisiert, indem es sie im „Über ihm hinaus Sein“ gegen Anderes zugleich zieht. Indem es beides zugleich ist und dieses Beides-Zugleichsein strukturell im lebendigen Sein begründet ist, ist das lebendige Ding, obgleich es in sich und zu sich selbst vermittelte Einheit ist, unmöglich im starken Sinne mit sich identisch; anders gesagt: Selbst „als Einheit (Mitte, Kern) in jedem Teile vertreten“307 kann das Lebewesen den Antagonismus der Organe nicht zur endgültigen Versöhnung bringen und damit aufheben, denn es müsste, um dies zu vollbringen, den Organismus aus seinem gegensinnigen Verhältnis zum Positionsfeld und damit aus diesem selbst herauslösen. Überdies setzt eine Identität im starken Sinne voraus, dass der Begriff der Mitte anders gefasst wird denn als „funktionale Mitte“ (Krüger), nämlich - wie Haucke dies tut - als Substanz; das genaue Gegenteil hat Plessner jedoch im Sinn, wenn er die Mitte als das „leere Hindurch der Vermittlung“308 bezeichnet.

Plessner fasst die durch die Mitte hindurch hergestellte Einheit des lebendigen Körpers als dreifache Einheit, nämlich als „Einheit für sich (Kern, Subjekt des Habens), Einheit in der Mannigfaltigkeit der Teile (Wirkeinheit, Gestalt, über- summenhafte Gesamtfunktion, Objekt des Habens), Einheit in jedem Teil (har­monisch äquipotentielles System)“.309 Die den Antagonismus zwischen Mitte und Peripherie im Körper entfachende Geöffnetheit der Organe gegenüber dem Posi­tionsfeld macht dabei den Körper zum Subjekt wie auch Objekt des Habens. Dieses Zugleichsein von beidem fasst Plessner als eine synthetische Eigenschaft des Körpers, die in einem Dritten gründet, nämlich darin, dass der Körper zu einem

304 Ebd.: 167.305 „Es dürfen nämlich in der Einheit des organischen Körpers nur die in Wirkeinheit begriffenen Organe als Träger der Einheit, welche sie zum Ganzen vermitteln, voneinander bzw. vom Ganzen abgehoben werden“ (ebd.: 191)306 Ebd.: 132.307 Ebd.: 167.308 Ebd.: 292. Vgl. auch ebd.: 290: „Eine positionale Mitte gibt es nur im Vollzug. Sie ist das, wodurch ein Ding zur Einheit einer Gestalt vermittelt wird: durch das Hindurch der Vermittlung.“309 Ebd.: 187.

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276 4 Plessners Transformation der Ontologie

„Mittel des Habens“ werde: „Der Körper vereinigt dann synthetisch die Eigen­schaft, Subjekt des Habens zu sein, mit der Eigenschaft, Objekt des Habens (sein Körper) zu sein, dadurch, daß er zum Mittel des Habens wird.“310 „Mittel des Habens“ ist der Körper als „Einheit von Haben und Gehabtsein“;311 das Haben ist stets das Haben des Körpers - und d.h. seiner selbst, er ist dann Subjekt des Habens; das Gehabtsein ist ebenfalls das Gehabtsein des Körpers - d. h. durch ihn selbst, er ist dann Objekt des Habens. Was in dieser Unterscheidung bereits durchscheint, aber erst 1936 in Lachen und Weinen seine systematische Entfaltung innerhalb der Verhaltenssphäre des Menschen findet, ist die Unterscheidung zwischen Leibsein und Körperhaben. Das Subjekt des Habens hat den Leib als Leibkörper und wird umgekehrt vom Körper gehabt, wo der Körper im Lachen und Weinen die prekäre und fragile Regentschaft der Person durchbricht.

Das ineinander verschränkte Verhältnis von Subjekt des Habens und Objekt des Habens entspricht dem Verhältnis von Mitte und Peripherie, in welches die antagonistische Verfasstheit des Lebendigen fällt. Das dritte Moment der dreifa­chen Einheit des Organismus, die harmonische Äquipotentialität, erweitert den Antagonismus um die Vertretung des Ganzen in den Teilen, ohne den Antago­nismus dabei aufzuheben. Zugleich wird mit dem Konzept der harmonischen Äquipotentialität ein teleologisches Terrain betreten, das vor dem Hintergrund einer Teleologie-Kritik steht, die nun kurz dargestellt werden soll.

4.10.2 Plessners „immanente Teleologie“ und die metaphysische Teleologie

Das Problem der Selbstorganisation des Organismus, dessen Explikation hier in den Begriffen der Mitte, der Peripherie und der Organe als Diener zweier Herren ihren begrifflichen Leitfaden findet, ist klassisch und zugleich teleologisch als entelechiales Verhältnis von Potenz und Akt konzipiert worden. Entelechie im dargelegten Wortsinn, verstanden als Sein-Ziel-in-sich-Enthalten, bedeutet im klassischen Sinn, dass jegliches Werden unter einem Gesetz der Zukunft steht, vermittelt durch die in ihr zu realisierende Idee, die in Gestalt von Zweckursachen das Gesetz der Zukunft in der Gegenwart von der zukunftsbezogenen Vergangen­heit her zur Geltung bringt. Verwirklichung bedeutet Übergang einer selbst schon Akt seienden und als dieser Akt von der zu realisierenden Idee her bestimmten Potenz zu einer weiteren, herzustellenden Aktualität.

310 Ebd.: 188 f.311 Ebd.: 189.

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4.10 Die Organisation des Lebendigen 277

In der kosmologischen Lesart, wie sie für die gesamte klassische Ontologie durch die hier behandelten Entwürfe von Aristoteles und Edith Stein hindurch kennzeichnend ist, wohnt das τέλος dem Organismus nicht im starken Sinne inne, sondern verwirklicht sich in ihm und durch ihn hindurch. Edith Steins Unter­scheidung zwischen ενέργεια und ενέργεια ον unterwandert den Primat der ενέργεια nicht, sondern konkretisiert die ενέργεια durch den Begriff der We­sensform des Organismus, ohne allerdings den Organismus in seiner funktionalen und organisatorischen Eigengesetzlichkeit in den Blick zu nehmen, was die Vor­aussetzung einer immanenten Teleologie des Lebendigen bilden würde, die Plessner entfaltet; vielmehr gerät bei Stein die Organisation des Organismus ge­genüber der aristotelischen Philosophie gar stärker aus dem Fokus, da bei Ari­stoteles naturphilosophisch (aber nicht metaphysisch) dem Begriff der έντελέχεια der Vorrang zukommt. Steins gesamte Metaphysik und Teleologie kann als die Entfaltung des folgenden Satzes angesehen werden, der daher noch einmal vollständig zitiert zu werden verdient: „Endliches Sein ist Entfaltung eines Sinnes; wesenhaftes Sein ist zeitlose Entfaltung jenseits des Gegensatzes von Potenz und Akt; wirkliches Sein Entfaltung aus einer Wesensform heraus, von der Potenz zum Akt, in Zeit und Raum.“312 Die zeitliche Entfaltung ist Abbild eines wesenhaftes Seins, das sich in der mundanen Sphäre als Übergang von der Potenz zum Akt realisiert, wobei die Potenz als solche bereits Widerschein eines actus purus oder Manifestation einer ενέργεια ist, d. h. aktbedingt und selbst im bloß dispositio­neilen Sinn aktbedingend ist (wobei der actus purus die Sphäre des Lebendigen extramundan bestimmt, die ενέργεια dies zwar auch tut, aber gegenüber dem Schöpfungscharakter des Seins dessen Was-Gehalt stärker akzentuiert, indem dieser als Manifestation der ενέργεια aufgefasst wird). Aufgrund des Vorrangs der ενέργεια vor der δύναμις bzw. des Aktes vor der Potenz ist die zeitliche Entfaltung auch verstehbar als Selbstentfaltung der ενέργεια, die in dieser Selbstentfaltung Zustände durchläuft, welche im Verhältnis zu ihnen nachfolgenden als solche der bloßen Potenz, eine kommende Aktualität ermöglichende sich darstellen. Der hier herrschende ontologische Vorrang des Akts spricht sich am klarsten darin aus, dass der Organismus bei Stein eine Manifestation der ενέργεια darstellt (die ενέργεια verkörpert sich im bzw. lokal als Organismus), wohingegen bei Plessner umgekehrt der Organismus einen Ordnungstypus verkörpert, der sich bestenfalls im übertragenen Sinne (nicht in Form einer Manifestation) im Organismus, kei­nesfalls sich aber als Organismus verkörpern kann. Diese Form von Teleologie

312 EES: 284.

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278 4 Plessners Transformation der Ontologie

bildet den in den Stufen nicht explizit aufgenommenen Hintergrund dessen, was Plessner grundsätzlich unter Teleologie versteht.313

Die expliziten Bezugspunkte Plessners in den Stufen bilden jedoch nicht die in den ersten beiden Teilen dieser Studie entfalteten kosmologisch-metaphysischen Varianten teleologischen Denkens, sondern zwei naturalistische Varianten te­leologischen Denkens, die aufgrund ihrer metaphysischen Gehalte als Derivate der klassischen Variante aufgefasst werden können: Die eine macht Plessner in der Evolutionstheorie aus, welcher er vorhält, mit „teleologischen Perspektiven“314 zu operieren, indem sie die „übergreifende Einheit der Art“315 zur Begründung sämtlicher Vorgänger auf der Individualebene heranziehe und womöglich gar in sozialpolitisch-ideologischer Absicht den Vorrang des Kollektivs vor dem Indivi­duum annehme.316 Die andere naturalistische Variante, die Plessner kritisiert, findet sich im Streit zwischen den Epigenetikern und den Präformationisten über die Entwicklungslogik und -gesetzlichkeit des Lebendigen. Die Präformationisten bezeichnet Plessner als die „Partei der Teleologen“,317 die aufgrund der Annahme einer Präsenz des noch nicht existierenden Späteren im Früheren (z. B. des In­dividuums in der Keimzelle) der klassischen Teleologie insofern nahestehen, als sie das Urbild in Form der Keimzelle „naturalisieren“ und Entwicklung als Ver­wirklichung eines virtuell in seinen Vorformen bereits Realen auffassen. Eine Nähe sowohl zur klassischen als auch zur präformationistischen Teleologie deutet sich allerdings in Plessners Begriff der „Formidee“ zumindest an.

Mit dem Begriff der Formidee begibt Plessner sich jedoch keineswegs auf teleologischen Boden. Zwar sei jede organische Form „wesensnotwendig Gestalt von einem bestimmten Typus, Ausprägung einer konkret in individueller Gestalt anschaubaren Formidee“,318 doch die Formidee ist als individuative Ausprägung eines Typus zu verstehen,319 dessen Realisierung das Einzelding in seiner indi­vidualen Selbstorganisation und nicht im Sinne einer Manifestation des Typus selbst im Individuum vollzieht; weil die Selbstorganisation keine Manifestation, sondern eine Volllzugsleistung von organismischen Individuen ist, kann Plessner die Formidee mit der Individualität, welche Individualität jedoch nur in Bezug auf einen Typus ist, in einen Zusammenhang bringen: „Das bloße Einzelding muß, falls es lebt, Ausprägung einer Formidee sein oder den Charakter der Individua­

313 Vgl. SOM.: 113 und 354, des weiteren: EdS: 29, LuW: 265 und 361, CH: 138 und 154.314 SOM: 214.315 Ebd.: 214.316 Vgl. Ebd.: 214.317 Ebd.: 143.318 Ebd.: 136.319 Plessner spricht daher von der „Formidee des Typus“. (SOM: 139)

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4.10 Die Organisation des Lebendigen 279

lität haben“.320 Das Verhältnis von Individuum, Formidee und Typus lässt sich am ehesten am Beispiel des klassischen Verhältnisses von Individuum (Exemplar), Spezies und Gattung begreifen, wo das logische Verhältnis zwischen den In- stantiierungsweisen von Lebendigkeit eines der Darstellung und nicht der Kau­salität ist; dies deckt sich auch mit Plessners Bestimmung des Darstellens als „Übersetzbarkeit eines Sachverhalts von einer Gegebenheitsweise in eine ande­re“.321 Individuen lassen sich eher als Übersetzungen der Gegebenheitsweise der Formidee und diese wiederum als Übersetzungen der Gegebenheitsweise des Typus verstehen denn als kausale Resultate der untereinander wiederum in Kausalrelation stehenden Formidee und des Typus. Der Typus ist, wie die Form­idee, „kein empirisch zu erklärendes Faktum“;322 umgekehrt erklärt der Typus aber auch nicht empirische Fakten, sondern erlaubt lediglich die Zuordnung eines Einzeldings oder einer Individualität zu einem es übergreifenden Formengefüge, das die Identifikation des Dings als Ding der Art von ... gestattet.

Die besondere Art von Typus, die Plessner im Auge hat, ist der Ordnungstypus der Ganzheit. Die Analyse des „Ordnungstypus“ Ganzheit ermöglicht die Be­nennung der Kriterien, denen gemäß etwas als Ganzheit im Unterschied zu einer bloßen Gestalt zu benennen ist. Ganzheit ist die Gestalt, an welcher in der An­schauung „eine gegenständliche aufweisbare Grenze [erscheint], welche zugleich Ansatzzone der absoluten Richtungsdivergenz“323 ist. Der Typus der Ganzheit ist so weit analytisch entfaltbar, fungiert aber auch unabhängig von einer solchen Entfaltung als unauslöschbarer Hintergrund des intuitiven Verstehens von etwas als etwas dieser oder jener Art. Jene analytische Entfaltung ist aber Plessner zu­folge intuitiv fundiert, weil die Ganzheit prinzipiell nur erschaubar sei und im Lebensvollzug de facto als solche erschaut werden müsse, um nicht mit einer unbelebten Gestalt verwechselt zu werden; eine solche unbelebte Gestalt erscheint nicht im Doppelaspekt und weist in der Anschauung keine unräumliche Mitte auf, welche als „funktionale Mitte“ (Krüger) fungiert. Eine unräumliche Mitte er­schauen heißt, etwas als lebendige Einheit, im Grenzübergang der nicht inein­ander überführbaren Aspekte sich Darstellendes wahrzunehmen. Wo jemandem etwa aufgrund einer pathologischen Verzerrung der Wahrnehmung eine Ganzheit (ein Lebendiges) als Gestalt sich zeigt, ein Lebendiges also als bloßes Ding wahrgenommen wird, lässt die Wahrnehmung sich durch keine kriterienbasierte Anleitung korrigieren, weil die Ganzheit, d. h. das Lebendige als Lebendiges, nur

320 Ebd.: 137.321 Ebd.: 119.322 Ebd.323 Ebd.: 102.

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280 4 Plessners Transformation der Ontologie

erschaut, nicht aber seine Lebendigkeit anhand des bloßen Wahrnehmungsdings aus gewissen Bewegungsmustern .errechnet* werden kann.

Anders als mit den Begriffen der „Formidee“ und des „Ordnungstypus“ begibt Plessner sich mit der Bestimmung des Verhältnisses von Mitte und Peripherie und der in diesem Verhältnis sich vollziehenden „Selbstvermittlung der Einheit des belebten Körpers durch ihre Teile“324 auf teleologisches Terrain. Plessner spricht dabei von einer „inneren“ bzw. „immanenten Teleologie“325 und von der „Entel- echie als Seinsmodus“,326 die er Drieschs „Entelechie als Naturfaktor“ gegen­überstellt. Diese Formulierung, die Plessner nur an einer Stelle verwendet, ist von fundamentaler Bedeutung innerhalb seines naturphilosophischen Ansatzes, weil die „Entelechie als Seinsmodus“ und die dreifache Einheit des Organismus zwei Seiten einer Medaille darstellen. Die „Entelechie als Seinsmodus“ geht zudem nicht in der Vermittlung des Antagonismus zur Einheit auf, da die Entelechie sonst in den Herrschaftsbereich der Mitte qua Subjekt des Habens fallen und der Ant­agonismus als Schein-Antagonismus entlarvt würde. In der klassischen Ontologie kommt in der Entelechie die Energeia zu sich selbst; die Mitte wäre daher als Subjekt des Habens real, der Antagonismus wäre bloß das temporäre oder fatale, also gänzliche, Hindernis des Zu-sich-selbst-Kommens der Mitte in der Selbst­vermittlung. Plessner hingegen bestimmt die Mitte als das den Organismus in seiner Gebrochenheit zur Einheit Vermittelnde, aber zugleich als ein solches - nicht autarkes - Vermittelndes, das nicht in neo-klassischer Weise als Aktzentrum aufzufassen ist, sondern wesentlich als Potenz:

Die Inexistenz der Mitte (des realen Kerns, des Subjekts des Habens) ist also allein als diewirkliche Möglichkeit des Körpers oder sein Vermögen (Potenz) real.327

Der Begriff der Potenz ist hier in strikter Komplementarität zum Begriff der Ganzheit zu verstehen: Als Potenz ist die unräumlich-raumhafte Mitte inexistent und real, weil sie einerseits in ihrer Erschaubarkeit das Lebendige in der An­schauung konstituiert, also für das Lebendige als solches in spezifischer Weise dingkonstituierend ist,328 und weil andererseits in der das Ding als Lebendiges konstituierenden Mitte der Anschauung der Grenzübergang eigenschaftlich zur Erscheinung gelangt, welcher in Gestalt der „funktionalen Mitte“ (Krüger) in der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit als Subjekt des Habens fungiert.

324 Ebd.: 185325 Vgl. ebd.: 170, 177 und 190.326 Vgl. ebd.: 146.327 Ebd.: 162.328 Zum generellen Begriff der dingkonstituierenden Charaktere vgl. ebd.: 84.

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4.10 Die Organisation des Lebendigen 281

Diese doppelte Mitte ist real, aber nicht existent im Sinne der räumlich-geome­trischen Realität, sondern real insofern, als es nicht für bloße Körperdinge, son­dern für die Wirklichkeit des lebendigen Dinges konstitutiv ist. Als „Vermögen (Potenz) real“ ist die Mitte, weil sie das Lebendige in der Anschauung als solches konstituiert, indem sie es als etwas konstituiert, was anschaulich keine blanke Positivität oder Gestalt ist, mit Plessner: was als Lebendiges der Anschauung den doppelten Charakter des „In ihm hinein“ und „Über ihm hinaus“ trägt. Dieser doppelte Charakter des Lebendigen ist es, der es in der Anschauung zu einem seinem Erscheinen nach „Über-sie-hinaus“ macht; Lebendiges erscheint als Le­bendiges im Überschuss der Erscheinung gegenüber der Anschauung und ist deshalb anschaulich als „ Vermögen (Potenz)“ des Körpers real als seine „wirkliche Möglichkeit“.

Eine wichtige begriffliche Unterscheidung ist hier zu treffen: Potenz als Ver­mögen ist nicht Vermögen zu diesem oder jenem Akt; demnach ist der lebendige Körper, der als solcher Potenz ist, auch nicht Potenz, weil er über Optionen ein­zelner Verkörperungen verfügt, sondern er verfügt über Verkörperungsmöglich­keiten als Möglichkeiten, weil er wesentlich Potenz ist329 oder, wie Plessner auch sagt, weil er „seiende Möglichkeit ist: „Man kommt nicht darum herum, lebendiges Sein als seiende Möglichkeit und in seiner Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vorhandenen greifbaren Körpers näher zu bestimmen.“330

Warum die Immanenz der Plessner’schen Teleologie eines Primats der Potenz auch bedürfe statt ihn nur zu behaupten, wird erst im Rekurs auf die noch zu entfaltende „Zeithaftigkeit des lebendigen Seins“ und die damit zusammenhän­gende Bestimmung desselben als „seiende Möglichkeit“ klarwerden. „Seiende Möglichkeit“, „immanente Teleologie“ und „Entelechie als Seinsmodus“ bilden eine naturphilosophische Begriffstrias, die im dritten Moment der dreifachen Einheit des Organismus, der harmonischen Äquipotentialität, ihren gemeinsamen Kristallisationspunkt finden. Die harmonische Äquipotentialität, die Plessner nominell von Driesch übernimmt, aber systematisch gerade in gegensätzlicher Weise auffasst, soll im Folgenden von Drieschs Fassung abgegrenzt werden und eine positive Fassung erhalten, um zunächst die Begriffe der „immanenten Te­leologie“ und der „Entelechie als Seinsmodus“ adäquat erhellen zu können.

329 Plessner hat auf die Inklination zum Missverstehen antezipatorisch reagiert: „Gewiß heißt es in der Sprechweise der Empirie, der lebendige Körper ,habe‘ Potenzen, er sei befähigt, Schäden auszugleichen, er besitze formbildende Vermögen, so daß man zunächst zu der Annahme be­rechtigt scheint, die Potenz als anhängende Bestimmtheit des (aktuellen) Seins des Körpers zu betrachten.“ (ebd.: 173)330 Ebd.

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282 4 Plessners Transformation der Ontologie

4.10.3 Die harmonische Äquipotentialität als Kernstück der Ontologie des Organischen

Driesch entwickelt den Begriff der harmonischen Äquipotentialität in seiner Philosophie des Organischen in der Auseinandersetzung mit vergleichsweise pri­mitiven Organismen. So sagt Driesch, dass Tubularia, ein Genus der Seerosen, „in der Tat den Typus des harmonisch-äquipotentiellen Systems in vollendeter Weise darstellt“,331 und begründet dies folgendermaßen: „Man kann ihren Stamm durchschneiden, wo immer man will: ein bestimmter Distrikt des Stammes wird stets einen neuen Kopf bilden, und zwar durch das Zusammenwirken aller seiner Teile.“332 Harmonische Äquipotentialität bezeichnet in diesem Sinne den Primat der organismischen Funktion vor den Teilen des Organismus, die im Fall schwerwiegender Pathologien sich funktional zusammenschließen, um die in­takte Einheit des Organismus zu restituieren. Eine solche Restitution setzt eine durch die Einheit des Gesamtorganismus zweckmäßig bestimmte Potenz der Elemente des Organismus voraus. Solche Anpassungsleistungen der Elemente zugunsten des Ganzen beruhen Driesch zufolge darauf, dass „die Potenz jedes Elements [...] in der Möglichkeit vieler, ja unbestimmt vieler einzelner Akte“333 bestehe. Diese multiple Potenz der Elemente und ihre unter mechanistischen Prämissen unbegreifliche Fähigkeit, in den Dienst der Intaktheit des Ganzen zu treten, führt Driesch zu seiner Variante des Entelechie-Begriffs und zur Einführung des bereits angesprochenen Faktors E. Hier ist nun eine Differenz zu Plessner zu beachten, die in Drieschs 1939 erschienenem Essay Entelechie und Seele deutlich hervortritt.

Driesch vermeidet die affirmative Verwendung des Begriffs der Teleologie334 und bedarf seiner doch: „Der Begriff des Vitalismus ist nicht identisch mit dem der .Teleologie* oder .Zielstrebigkeit*. Er ist enger, denn der bloße Begriff der Teleo­logie wäre auch mit einer Maschinentheorie vereinbar. Der Vitalismus proklamiert eine dynamische Teleologie im Unterschied von einer .statischen*“.335 Drieschs Gegenüberstellung von dynamischer und statischer Teleologie entspricht der Gegenüberstellung des Lebendigen und des Maschinellen; als phänomenologi­schen Grund dieser grundsätzlichen Unterscheidung führt Driesch die - je nach

331 Driesch 1909:130.332 Ebd.333 Ebd.: 122.334 In der Philosophie des Organischen grenzt Driesch den Vitalismus an einer Stelle vom te­leologischen Denken ab, ohne aber ausführlicher auf den Begriff der Teleologie einzugehen. Vgl. ebd.: 147.335 Driesch 1939: 267.

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4.10 Die Organisation des Lebendigen 283

Organismus und Störung graduell verschiedene - Regenerationsfähigkeit von Organismen durch Übernahme gestörter Funktionen durch organismische Ele­mente von multipler Potenz an. Diese dynamische Teleologie ist aber bei Driesch keine „innere Teleologie“, weil die Dynamik durch einen Naturfaktor (die Entel- echie) erklärt wird, der als solcher ortlos bleibt und auf erklärungsbedürftige, aber durch Driesch nicht erklärte336 Weise den Organismus zu einem Natürlichen im Unterschied zu einem bloß Materiellen oder Maschinellen macht, dies aber nur kann, insofern der Naturfaktor als Natur im Organismus wirkt. Der Begriff des Naturfaktors ist hier gerade deshalb wörtlich zu nehmen, weil der Begriff der Natur ein wesentlich weiterer Begriff ist als der des Organismus, wodurch die „dyna­mische Teleologie“ eine dynamische Naturteleologie ist, welche die Differenz zwischen Organischem und Nicht-Organischem begründet, aber die „innere Te­leologie“ in einer Teleologie der Natur im Ganzen aufhöbe, die sich durch die Individuen hindurch verwirklichte.

Plessner greift den Begriff der harmonischen Äquipotentialität in der Be­handlung von Restitutions- und Adaptationsphänomenen auf, also in scheinbarer Treue zu Drieschs Anwendungsfeld des Begriffs, beansprucht dabei aber, die

336 In Entelechie und Seele konzediert Driesch, dass „das grosse [sic!] Problem, wie denn ei­gentlich Entelechie auf Materie wirkt und von ihr Wirkungen empfängt, wie sie ,mit‘ der Materie arbeitet“ (ebd.: 275), bestehen bleibe. Dass Driesch denkerisch noch der Metaphysik verhaftet ist, zeigt sich auch darin, dass er die Form-Materie-Relation beibehält und dabei lediglich den Formbegriff durch den Entelechie-Begriff ersetzt; den Organismus definiert er folglich als aus Materie und Entelechie zusammengesetztes Wesen: „Die naturtheoretische Betrachtung führt zum Entelechiebegriff, insonderheit zum Begriff der Handlungsentelechie meines Leibes, die psy­chologische zum Seelenbegriff; und hier muss nun wieder das Bewusste vom Unbewussten ge­schieden werden. Der Mensch und jeder Organismus ist bei dieser Auffassung der Dinge ein duales, aus Materie und Entelechie bestehendes Wesen.“ (Driesch 1939:272) Driesch bleibt freilich bei der angesprochenen Auffassung, die er auch den „Satz von der dualen Natur des Organismus“ (ebd.: 276) nennt, nicht stehen, sondern führt dem phänomenologisch geprägten Zeitgeist gemäß den Begriff des Ego ein, mit dem Driesch zwar auf das Problem des Suizids reagieren kann, der von einem Ego verübt wird, welches in dem Akt des Suizids die organismische Entelechie verneint. Doch die Verlegenheit, in die Driesch sich selbst terminologisch zugleich bringt, spiegelt sich in der Frage wider, „was denn nun eigentlich das von uns als ,Ich‘ oder ,Ego‘ bezeichnete dritte die tierische organische Person zusammensetzende Gebilde sei“, (ebd.: 277) Der Frage kann und soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Sinn und Zweck dieses Exkurses ist vielmehr, am Beispiel von Drieschs Sprachgebrauch die Unklarheiten hervortreten zu lassen („tierische organische Person“), die sich daraus ergeben, dass Driesch mit phänomenologischen Begriffen („Ego“) auf eine anthropologische Zwangslage (Was macht den Menschen zum Menschen und damit zu einem die Entelechie verneinen könnenden Wesen?) vor dem Hintergrund der in der Zwischenzeit ent­wickelten Philosophischen Anthropologie Plessners antwortet, der bei Driesch habilitierte und im Anschluss an Scheler den von Driesch unglücklich aufgegriffenen Begriff der Person zum phi­losophischen Grundbegriff erhoben hat.

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284 4 Plessners Transformation der Ontologie

Ergebnisse der Analyse Drieschs „auf synthetischem Wege“337 zu bestätigen. Die Phänomene der Restitution, die Driesch ins Auge fasst, sind Plessner zufolge „ontisch begründet“338 und als derart begründete prinzipiell einer empirischen Betrachtung zugänglich. Was Plessner jedoch vorschwebt, ist die Ergänzung der ontischen Begründung, die durch naturwissenschaftliche Beobachtung erreich­bar ist, durch eine ontologische

Analyse, die „synthetisch“ bestätigt und nur synthetisch bestätigen kann, was empirisch sich zeigt, weil sie am lebendigen Körper nicht Beobachtbares, sondern lediglich Erschaubares freilegt: „Ihre [der Restitution, S. E.] Auffassung im Sinne einer Potenzmanifestation aber ist nur einer Kategorialanalyse, wenn man will, einer ontologischen Analyse in der für die erschaubare Washeit ,Leben* und .Lebendigkeit* spezifischen Seinsschicht erlaubt und keiner empirischen Analy­se.“339 Die Äquivokation von Kategorialanalyse und ontologischer Analyse bestätigt an dieser Stelle den ontologischen Grundcharakter von Plessners Na­turphilosophie, die den programmatischen Ausführungen in der methodischen Propädeutik der Stufen gemäß auf eine „Lehre von den Wesensgesetzen oder Kategorien des Lebens“340 ziele, die bereits in den Stufen auf den Namen einer „Ontologie des Organischen“ hätte getauft werden können, den sie erst - und beiläufig - in Macht und menschliche Natur erhalten hat.

Für das Verständnis der harmonischen Äquipotentialität von entscheidender Bedeutung ist dabei das Verhältnis zwischen dem Erschaubaren (als Grundlage ontologischer Einsicht) und dem Beobachtbaren (als Gegenstand der empirischen Analyse). Beide sind trotz ihrer Inkommensurabilität nicht gegeneinander aus­spielbar, denn Plessner zufolge bildet ein am lebendigen Körper feststellbares Beobachtungsphänomen eine „Voraussetzung“341 bzw. eine empirische Ermögli­chungsbedingung der harmonischen Äquipotentialität, nämlich die „qualitative Differenzierung des Körpers“.342 Diese qualitative Differenzierung fasst Plessner als die „Differenzierung des Körpers in ihm gegenüber unabhängige, obwohl für ihn notwendige Organe“.343 Notwendig sind die Organe schlicht als Hilfswerk­zeuge, deren der Körper zur Selbstvermittlung zur Einheit und zur Aufrechter­haltung der organischen Gesamtfunktionen bedarf, da der Körper „nur in der

337 SOM: 163.338 Ebd.339 Ebd.: 164.340 Ebd.: 76.341 Vgl. ebd.: 165.342 Ebd.343 Ebd.: 167.

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4.10 Die Organisation des Lebendigen 285

Vermittlung durch die Organe, ohne die er nicht ,mehr‘ zu leben vermag“,344 überhaupt sei. Dass Plessner die Organe als gegenüber dem Körper „unabhängig“ bezeichnet, erzeugt zwangsläufig Missverständnisse, solange man „unabhängig“ mit „unentbehrlich“ gleichsetzt. Plessner geht es nicht um die Frage nach der Entbehrlichkeit oder Unentbehrlichkeit von Organen, welche er als empirische Frage ansieht,345 sondern um „die einheitsbildende Funktion der Organe“,346 die von der Frage der Entbehrlichkeit „ganz unabhängig ist“.347 Zu unterscheiden sei zwischen Einheitsbildung und Gestaltbildung: Gestaltbildend seien Organe un­mittelbar als beobachtbare physische Teile des Organismus und als solche „in bezug auf seine Gesamtheit einfache Teile“.348 Als am lebendigen Körper beob­achtbare und der naturwissenschaftlichen Erforschung zugängliche Teile seien sie darüber hinaus „in bezug auf ihn als Selbst Glieder [...], welche er hat (und die ihm entbehrlich oder nicht entbehrlich sind)“.349 Einheitsbildend hingegen und nicht der naturwissenschaftlichen Erforschung zugänglich seien Organe als Mittel des lebendigen Körpers, „durch deren Vermittlung seiner Ganzheit zur Ganzheit er in seinen Teilen vertreten wird“;350 in dieser einheitsbildenden Funktion beziehen sie „sich überdies auf ihn als Einheit, vermitteln seine Einheit in ihm selber und konstituieren damit eben jenes Ganze, von welchem sie als ,Teile* loslösbar, dem sie eigentlich* entbehrlich sind“.351 Diese Vertretung des Ganzen und der Mitte als Subjekt des Habens in den Teilen als Objekt des Habens fasst Plessner als har­monische Äquipotentialität, in welcher „die Vereinigung der beiden ersten Be­stimmungen“,352 des Subjekts und des Objekts des Habens, liegen müsse, „so daß man sagen kann, der lebendige Körper sei als Einheit in jedem Teil Einheit für sich und Einheit in der Mannigfaltigkeit“.353

Der Antagonismus der Organe wird in der harmonischen Äquipotentialität allerdings keineswegs aufgehoben und der Antagonismus nicht in der Versöh­nung zum Verschwinden gebracht, weil die harmonische Äquipotentialität nicht ohne ihre Rückseite, die „harmonische Divergenz“ der spezialisierten Organe, gedacht werden kann:

344 Ebd.: 171.345 Vgl. ebd.: 166.346 Ebd.: 166.347 Ebd.348 Ebd.: 168.349 Ebd.350 Ebd.351 Ebd.: 166.352 Ebd.: 187.353 Ebd.

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286 4 Plessners Transformation der Ontologie

Das Ganze des lebendigen Körpers ist unmittelbar selbst in seinen Teilen potentiell vor­handen. Diese seine Form der Vertretung heißt das harmonisch äquipotentielle System. Das Ganze ist jedoch selbst auch vermittelt in seinen Teilen aktuell vorhanden. Diese seine Form der Vertretung liegt vor in der harmonischen Divergenz spezialisierter Organe.354

Der Antagonismus zwischen der Mitte und den Organen begrenzt die harmonische Äquipotentialität, die total wäre, wenn die Mitte die Spezialisierung rückgängig machen und in der völligen Dienstbarkeit aller organismischen Elemente zum Verschwinden bringen könnte. Die Mitte wäre dann selbst total und eine Art deus in machina; ihre Allmacht machte sie gleichsam zu einem Gott, der aufgrund seiner Allmacht über eine nicht potenziell dysfunktionale Maschine verfügte.355

Der Begriff der „harmonischen Divergenz spezialisierter Organe“ findet sich bei Driesch nicht. Mittels seiner setzt Plessner die harmonische Äquipotentialität zu dem Antagonismus der Organe in Beziehung als eine erschaubare „Kann- qualität“356 des lebendigen Dinges, das deswegen Potenz bzw. „seiende Mög­lichkeit“ ist. Diese Kannqualität ist keineswegs empirischer, sondern ontologi­scher Art: Die harmonische Äquipotentialität bildet die nicht auf empirischem Wege erforschbare oder ermittelbare Ermöglichungsbedingung, den Antagonis­mus der Organe auszuhalten und zur Einheit zu vermitteln. Damit wird die har­monische Äquipotentialität wesentlich fundamentaler gefasst als bei Driesch, nämlich als irreduzibles Moment der Gesamteinheit des Organismus statt bloß als analytisch an Restitutionsphänomenen ablesbare Eigenschaft. Dies sei am aktu­ellen Beispiel der Transplantationsmedizin veranschaulicht.

Die Spezialisierung der Organe und ihre Entbehrlichkeit finden aufgrund der modernen Transplantationsmedizin357 leicht eine irreführende Bestätigung, wel­che sich in dem im Feuilleton florierenden Begriff des Körpers als „Ersatzteillager“

354 Ebd.: 168.355 Dieser Überschätzung der Mitte nähert Haucke sich an, wenn seine Substanzialisierung der Mitte ihn dazu verführt, den für die harmonische Äquipotentialität konstitutiven Antagonismus zwischen Mitte und Peripherie in den „Verkörperungen der Mitte“ in den Organen aufzulösen: „Erst diese Äquipotenzialität, durch die sich alle körperlichen Teile auf eine substanzielle Mitte beziehen und damit nicht nur durch die Mitte vertreten, sondern selbst Verkörperungen der Mitte sind, erst diese Form von Einheit lässt den physischen Wirkzusammenhang lebendig werden.“ (Fiaucke 2000: 75) Der Antagonismus wird hier nicht nur einer linearisierenden Glättung unter­zogen, sondern gemäß einer Logik der Manifestation zum Verschwinden gebracht.356 „Denn es handelt sich ja nicht um ein anhängendes Können, um Können oder Nichtkönnen eines in sich außerdem schon Bestehenden, sondern um die Kannqualität als solche.“ (SOM: 172)357 Andere Beispiele, gerade aus der Stammzellforschung, ließen sich hier auch diskutieren, doch damit würde der Fokus auf die Organe, welche eine zentrale Rolle spielen in der harmo­nischen Äquipotentialität, aufgegeben und ein allzu weites Feld betreten werden, das nur mit Zeit und Mühen bestellt werden kann, die hier nicht aufgebracht werden können.

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4.10 Die Organisation des Lebendigen 287

widerspiegelt - eine Formulierung, die suggeriert, dass Teile der Körpermaschine schlicht durch andere Teile ersetzt würden und problemlos ersetzbar wären. Die prinzipielle, wenngleich keineswegs unproblematische und nur in einem äußerst geringen Zeitfenster gegebene Konservierbarkeit eines vom Körper losgelösten Organs zeugt von dessen Spezialisiertheit und ermöglicht es, vom Leben des Or­gans selbst als eines Organismus im Organismus zu reden, der anders keine noch so kurze Zeitspanne außerhalb eines ihn tragenden Körpers „überleben“ könnte. Die grundsätzliche Fähigkeit, ein transplantiertes und somit fremdes Organ „einzuverleiben“ und zu einem eigenen zu machen, bestätigt die harmonische Äquipotentialität des lebendigen Körpers im Prinzipiellen, da ansonsten ein Körper transplantierte Organe grundsätzlich nicht integrieren können dürfte. Mehr noch: Sie lässt sich ohne die harmonische Äquipotentialität und die Potenz des Ganzen, „vermittelt in seinen Teilen aktuell vorhanden“358 zu sein, nicht verstehen. Sie lässt sich auch nicht aus der Restitutionslogik Drieschs verstehen, da hier keine Funktionsübernahme im eigentlichen Sinne stattfindet, denn eine solche würde beispielsweise erfordern, dass das Herz die Funktion der Niere übernehmen könnte (was aufgrund der Spezialisiertheit der Organe unmöglich ist), sondern vielmehr eine fremde Niere vom Körper einverleibt, angeeignet und zu einem Organ desselben gemacht wird.

Die harmonische Äquipotentialität bildet also eine Restitution, Adaptation und Organintegration übergreifende und den Antagonismus von Subjekt und Objekt des Habens vermittelnde Eigenschaft des Lebens, die „in ihrer Potential­qualität der erschaubaren, nicht der darstellbaren Seinsschicht des Körpers an­gehört“359 und die als solche in den Bereich der Ontologie bzw. „Kategorialana- lyse“ des Lebendigen fällt. Restitution, Adaptation und Organintegration konvergieren in der harmonischen Äquipotentialität als ihrer spezifischen Er­möglichungsbedingung. Das ontisch Bedingte, z.B. die Adaptation, setzt onto­logisch harmonische Äquipotentialität voraus, die selbst wiederum ontologisch die Vereinigung zwischen Mitte (Subjekt des Habens) und Organen (Objekt des Habens) ermöglicht und durch die Mitte als das ontologisch fundamentale Or­ganon der Grenzrealisierung bestimmt ist. Anders gesagt: Harmonische Äquipo­tentialität bildet die ontologische Spezifikation der ontologisch basalen antago­nistischen Selbstvermittlung sowie die ontologische Bedingung der Möglichkeit, den Antagonismus in der Vertretung teilweise im Dienste der Einheitsbildung zu zähmen. Auch für sie gilt daher, was Plessner über die Grenzrealisierung durch die Mitte sagt: „Wesensnotwendig für das Leben heißt, für es möglichkeitsbedingend

358 Ebd.: 168.359 Ebd.: 163.

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zu sein.“360 Umgekehrt fungiert die harmonische Äquipotentialität gerade in „ihrem allmählichen Zurücktreten hinter die reale Spezialisierung im Lauf der normalen Entwicklung [...] als Möglichkeitsbedingung des Lebens“;361 dieses Zurücktreten, das Plessner als ,,einsichtige[n] Wesenssachverhalt“362 bezeichnet, bilde das Altern. Die harmonische Äquipotentialität bildet also in gegenläufiger Sicht eine doppelte ontologische Ermöglichungsbedingung: in der Zustande­bringung der organischen Selbstvermittlung und im (graduellen) Zurücktreten im Alterungsprozess, wodurch die organische Selbstvermittlung gerade zunehmend fragiler wird und das Lebewesen auf der ontischen Ebene Kapazitäten der Selbstregulation verliert.

Die harmonische Äquipotentialität ist bisher rein immanent betrachtet wor­den. In der Gleichsinnigkeit und Gegensinnigkeit zum Positionsfeld, von welcher in dem angeführten Zitat die Rede ist, differenziert sich mit dem Verhältnis von Organismus und Positionsfeld auch die antagonistische Selbstvermittlung des Lebewesens positionalen Charakters aus. Plessner bestimmt die Gleichsinnigkeit dadurch, dass der Organismus in ihr einen Inhalt im Feld bilde, d. h. „sich in Allem in die durchgehende Kette von Ursachen und Wirkungen“363 eingliedernd, „in umkehrbar gegensinnigen (physikalisch-chemischen) Beziehungen“364 zu ihm steht, wohingegen die Gegensinnigkeit darin bestehe, dass er, „dem Feld zuge­ordnet, [..] in nichtumkehrbar gegensinnigen Beziehungen von Reiz und Reaktion, Beziehungen des Zueinanderpassens, aufeinander Einspielens, individueller Entsprechung, spezifizierter Harmonie“365 stehe.

4.10.4 „Immanente Teleologie“ und „Entelechie als Seinsmodus“.Eine resümierende Betrachtung

An der harmonischen Äquipotentialität lässt sich die Transformation der Onto­logie, die Plessner vornimmt, besonders genau ablesen, weil sie nicht nur eine zentrale ontologische Kategorie in der Analyse des Lebendigen bildet, sondern darüber hinaus den Kristallisationspunkt dessen, was Plessner „immanente Te­leologie“ und „Entelechie als Seinsmodus“ in Abgrenzung von aller metaphysi­schen Teleologie und Drieschs „Entelechie als Naturfaktor“ nennt. „Immanente

360 Ebd.: 122.361 Ebd.: 169.362 Ebd.363 Ebd.: 204.364 Ebd.365 Ebd.

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4.10 Die Organisation des Lebendigen 289

Teleologie“ ist schlicht eine teleologische Ausbuchstabierung der Selbstvermitt­lung des Lebewesens zu einer Ganzheit und der harmonischen Äquipotentitalität. Beide Begriffe besagen genau das, was Plessner der „immanenten Teleologie“ als Leistung konzediert, nämlich dass sie „die Einheit der Glieder im Ganzen des organischen Körpers manifestiert“.366 Die dreifache Einheit des Organismus, wie sie hier entfaltet worden ist, bildet die Antwort auf Plessners Frage, wie es dem Organismus möglich sei, „ein Mittel seiner selbst zu sein, ohne damit seine im­manente teleologische Selbstgenügsamkeit preiszugeben?“367 Der Begriff der te­leologischen Selbstgenügsamkeit steht somit in einem gleichermaßen ironischen wie subversiven Verhältnis zum klassischen Begriff der Teleologie, deren be­griffliches Gravitationszentrum der Begriff der Entelechie bildet, demzufolge ein als ουσία aufgefasstes είδος sich in einer Zielgestalt verwirklicht bzw. erfüllt. Die Gegenwart des lebendigen Seins ist in dieser Auffassung eingespannt zwischen eine Vorstufe und eine Zielgestalt, die kosmologisch oder theologisch über das Lebewesen hinausweist. In der ενέργεια bei Aristoteles und im Urbild bei Edith Stein findet die klassische Teleologie den Einheitspunkt des Lebewesens als Le­bewesen (anders steht es z. B. um den Kern der Person, welchen bei Stein der Geist bildet) gerade außerhalb des Lebewesens bzw. - um die verräumlichende Rede­weise zu vermeiden - nicht innerhalb des Lebewesens selbst, nämlich im kos- mologisch-metaphysischen (Aristoteles) oder theologischen Wesen des Lebens (Stein). Mit der „teleologischen Selbstgenügsamkeit“ und der „Entelechie als Seinsmodus“ gibt Plessner diese spezifische ontologische Struktur der meta­physischen Entelechie aber gerade preis; diese metaphysische Struktur steht noch im Hintergrund von Plessners späterer Ablehnung der Teleologie, die in seinem 1965 verfassten Nachtrag zu den Stufen in der Formulierung zum Ausdruck ge­langt, eine Philosophie des Lebendigen habe sich „bei sorgfältiger Ausschaltung jeder Art von teleologischer Deutung [...] auf die Analyse der Möglichkeitsbe­dingungen“368 des faktisch existierenden Lebendigen zu beschränken, ohne sich Spekulationen über extraterrestrische Formen von Lebendigkeit hinzugeben.

Größere Verstehensprobleme als der Begriff der „immanenten Teleologie“ bereitet der Begriff der „Entelechie als Seinsmodus“, denn der logischen Struktur des Begriffs Entelechie (εντελέχεια)369 scheint unauslöschlich eine finalistische

366 Ebd.: 177.367 Ebd.: 189f. - Vgl. dazu den Begriff „Mittel des Habens“ in Kapitel 4.10.1.368 Ebd.: 354.369 Hier noch einmal die bereits andernorts angeführte Stelle Pichts: „Das είδος ist nach Ari­stoteles nicht etwas Übersinnliches außerhalb des Wirklichen, sondern es ist im Wirklichen selbst als das Ziel, dem dieses zustrebt, enthalten. ,Ziel‘ heißt auf griechisch τέλος, ,enthalten“ heißt

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und deterministische Bedeutung eingeschrieben zu sein, der gemäß in der klas­sischen Ontologie Verwirklichung stets die Verwirklichung einer vorherbe­stimmten Möglichkeit bzw. Aktualisierung einer Potenz bedeutet. Die „Entelechie als Seinsmodus“ wäre eine Entelechie dem Namen nach, die sachlich etwas meint, was ihren Namen aber gerade nicht mehr tragen kann, und insofern terminolo­gisch irreführend. Ein Seinsmodus ist die Entelechie im Plessner’sehen Sinne, weil das τέλος nicht schlicht zum Verschwinden gebracht oder weggekürzt wird, sondern weil hier eine Transformation der metaphysisch-teleologischen Struktur im doppelten Sinne stattfindet;(1) In der harmonischen Äquipotentialität wird das Lebewesen sich selbst zum

τέλος und die Teleologie wird insofern reflexiv, als die Mitte in ihrer Selbst­vertretung in den Teilen (Organen) einheitsbildend wirkt. Weil an die Stelle des τέλος als Zielgestalt die Selbstvermittlung des Lebewesens zur Ganzheit tritt, agiert das Lebewesen selbst innerhalb der seiner Lebendigkeit selbst inhärierenden Grenzen. Die „Entelechie als Seinsmodus“ erweist sich in der harmonischen Äquipotentialität gleichermaßen als immanent und reflexiv teleologisch.

(2) In der „Entelechie als Seinsmodus“ findet eine Transformation der exem­plarisch in der Urbild-Abbild-Relation fassbaren klassisch-ontologischen Struktur in eine der Lebendigkeit des Lebewesens immanenten Offenheit statt, die Plessner als Zukunftsfundiertheit fasst. Die Selbstvermittlung behält die zeitliche Zukunftsgerichtetheit der Entelechie bei,370 transformiert aber die noch nicht seiende, aber in potentia bereits in der Gegenwart enthaltene Zukunft in die Zukunftsfundiertheit des lebendigen Seins.371 Die Zukunfts­fundiertheit unterscheidet Plessner explizit von der Zukunftsbezogenheit, in welcher die Zukunft noch als etwas vom Lebendigen Unterschiedenes auf­gefasst wird, zu dem es als einem von ihm Unterschiedenen in einer äußer-

εχειν. Deshalb hat Aristoteles die Weise, wie das Wirkliche die Idee in sich enthält, als έν-τελ-έχεια bezeichnet.“ (Picht 1992: 40)370 Von einer „Zukunftsgerichtetheit“ statt von einer „zeitlichen Struktur“ ist hier zu reden, weil die zeitliche Struktur der Entelechie im Ganzen genommen auch die Aktualität der Potenzialität enthält, die rekursiv zum unbewegten Beweger oder zum actus purus führt. Bei Plessner hingegen führt die Aktualität der Potenzialität zum Begriff der Mitte statt über den Bereich der Lebenser­scheinungen hinauszuführen.371 „Lebendiges Sein beharrt im Werden, indem es ihm selbst vorweg ist. Es ist gegenwärtig, insofern es kommt, die Basis seiner Fundierung in der Zukunft liegt, aus der Zukunft her, ,im Vorgriff lebt.“ (SOM: 279)

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4.10 Die Organisation des Lebendigen 291

liehen Relation steht.372 Das lebendige Sein ist zukunftsfundiert, aber nicht zukunftsdeterminiert, sondern es ist als zukunftsfundiertes Sein potenzielles Sein: „Bedingt die Erfüllung des Bezugs zum Modus der Zukunft die Erfüllung des Bezugs zum Modus der Gegenwart, so ist eine reale Möglichkeit gegeben: unter dieser Bedingung einer Zukunftsfundierung steht potentielles Sein.“373 Die reale Möglichkeit wird hier von Plessner kontraintuitiv bestimmt, da der landläufigen Intention nach die reale Möglichkeit entweder von der souve­ränen Substanzialität eines über Möglichkeiten verfügenden Wesens oder von der die Gegenwart von der Vergangenheit her bestimmenden Aktualität her gedacht wird, welcher die reale Möglichkeit ihr fundamentum in re verdankt. Die reale Möglichkeit des lebendigen (= potentiellen) Seins gründet jedoch nicht in seinem Gewordensein und darin erworbenen Vermögen (Potenzen), sondern in der Zeithaftigkeit seines Potenz-Seins, das als solches zukunfts­fundiert ist. Hier schließt sich ein Kreis, und Plessners Bestimmung der Mitte als Potenz muss hier wiederaufgenommen werden: „Die Inexistenz der Mitte (des realen Kerns, des Subjekts des Habens) ist also allein als die wirkliche Möglichkeit des Körpers oder sein Vermögen (Potenz) real.“374 Diese Bestim­mung ist allerdings unter dem Aspekt der Zeithaftigkeit des lebendigen Seins wieder aufzunehmen, unter welchem das Lebendige seine Spezifikation als seiende Möglichkeit erfährt.

4.10.5 Zeithaftigkeit und Vorwegsein

An einer Stelle in den Stufen verbindet Plessner die harmonische Äquipotentialität direkt mit der Zeithaftigkeit des lebendigen Seins, ohne dass ihm diese Funktion von Plessner an der betreffenden Stehe zugedacht gewesen wäre: „Sein im Modus der Potenz hat eben noch jene spezifische Schwere und Fülle, die in Potentialität als reinem Nochnichtsein nicht zum Ausdruck kommt. Kannqualität als Seins- qualität, seiende Möglichkeit gilt es zu begreifen.“375 (Hervorhebung, S.E.] „Kannqualität als Seinsqualität“ wird in der harmonischen Äquipotentialität und der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Mitte und Peripherie begriffen, doch die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit wird nicht primär unter dem

372 „Lebendiges Sein ist zukunfsfundiert, nicht auf Zukunft bezogen. Aber in seiner Zukunfts- fundiertheit ein Werden, ein Etwas Werden, eine Entwicklung durchlebend geht das Individuum seinem Tode entgegen.“ (Ebd: 212)373 Ebd.: 177.374 Ebd.: 162.375 Ebd.: 172.

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Aspekt der Zeithaftigkeit als einer Wesensgesetzlichkeit des Lebens, sondern - gemäß der Hervorbringung und Erhaltung von Einheit als dem Ziel der Selbst­vermittlung - unter dem Aspekt der Simultaneität376 in der Vertretung erfasst: „Indem in jedem Element des lebendigen Raumdinges und zugleich [Hervorhe­bung, S. E.] gegenüber jedem Element die Einheit als Vermögen vertreten ist, sind die Elemente äquipotentiell und bilden als Insgesamt ein harmonisch äquipo­tentielles System.“377 Die Vertretung der „Einheit als Vermögen“ „in“ und „ge­genüber“ jedem Element des lebendigen Dinges zugleich scheint Plessners Grundbestimmung des Lebens als in der Gestalt des Lebensvollzugs stattfindender „Übergang [...] von unentfalteten Potenzen zu Aktualitäten“378 wie mit einem Zauberschlag sich zu entwinden. Dafür scheint zu sprechen, dass das Lebewesen Plessner zufolge sich ontologisch dadurch auszeichnet, dass es „die Bedingungen des Übergangs in das Sein an ihm hat“.379 Es hat diese Bedingungen nicht in purer Beliebigkeit, sondern es hat sie als Mitte, die Plessner auch als „Subjekt des Habens“380 bestimmt. Wäre die Mitte der alleinige Bestimmungsgrund der Selbstvermittlung des Lebendigen, so würden der Organismus im Ganzen und die Organe ihrer Allmacht unterstehen, doch die Vertretung der Mitte in den Organen schwebt nicht im luftleeren Raum einer dem Übergang von Potenzen zu Aktua­litäten entzogenen Einheit, sondern untersteht ebenfalls dem Gesetz der Selek­tion.

Die Definition des Lebens als Übergang von unentfalteten Potenzen zu Ak­tualitäten findet ihren Ort in der Bestimmung der Selektion, derentwegen die Entfaltung von Potenzen gerade eine „Einengung von Möglichkeiten“381 darstelle.

376 Plessner expliziert die Vertretung auch mittels des Repräsentationsbegriffs: „Zum Tatbestand der Vertretung gehören Zwei, der Vertretene, das Objekt der Repräsentation, und der Vertreter, das Subjekt. Im vorliegenden Fall soll der physische Körper, wie er da ist, in ihm selber diese Ver­doppelung durchmachen. Objekt und Subjekt der Repräsentation wirklich in Einem sein. Er muß Eigenschaften zeigen, die keine andere Auffassung als diese der Selbstvertretung zulassen. Die Untersuchung hat dargetan, wie zunächst die Verdoppelung überhaupt in der Form des Subjektes, welches seinen physischen Körper ,hat‘, durchgeführt wird.“ (ebd.: 167) - Subjekt und Objekt „in Einem“ ist das Lebewesen, indem es beides zugleich ist. Diese Formulierung verführt dazu, eine temporäre Identität beider anzunehmen, doch vielmehr basiert die grundsätzliche Identität auf der Möglichkeit der temporären und in sich fragilen Repräsentation; Identität im starken Sinne würde eine absolute Repräsentation, also eine Vollmacht des Vertreters über das Vertretene voraussetzen.377 Ebd: 162.378 Ebd.: 215.379 Ebd.: 172.380 „Die raumhafte Mitte, der Kern bedeutet das Subjekt des Fiabens oder das Selbst.“ (ebd.: 237) Vgl. auch ebd.: 160f., 187 und - in spezifischem Zuschnitt auf den Menschen - 243.381 Ebd.: 215.

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4.10 Die Organisation des Lebendigen 293

Die andere Seite der Bestimmung des Lebens lautet daher: „Leben ist Selektion“,382 und in der Selektion, also dem Zugleich der irreversiblen Realisierung von Po­tenzen, deren Rückseite die irreversible Auslassung anderer Möglichkeiten bildet, vollzieht sich das Leben. In der Selektion macht Plessner einen Widerspruch zur Potenzialität aus, da Selektion den Spielraum von Potenzialität einschränke: „Die Abnahme der Chance mit steigendem Alter, Potenzen noch zur Entfaltung zu bringen, steht in Widerspruch zu der (im konstanten Verhältnis von Ganzem und Teil begründeten) konstanten Potentialität des Individuums.“383 Auch die mit dem Alterungsprozess einhergehende Verringerung der Vertretungsmöglichkeiten des Ganzen in den Teilen, d.h. die Abnahme der Restitutions- und Adaptionsmög­lichkeiten, welche gerade durch die harmonische Äquipotentialität begründet werden, scheint im Widerspruch zur „konstanten Potentialität des Individuums“ zu stehen. Was hier zueinander ins Verhältnis tritt, sind das Ontische des Alte­rungsprozesses und die ontologische Bestimmung des Lebens als seiende Mög­lichkeit, denn die „Kannqualität als Seinsqualität“ verschwindet nicht in den Selektionen, die durch sie ermöglicht werden.384 Die Selektion schafft eine Realität in Form einer Gegenwart, die damit aufgehört hat, zukünftige Gegenwart zu sein. Weil die Zukunftsfundiertheit aber nicht auf Zukunft bezogen ist, tritt die Ge­genwart gewordene Zukunft zu derselben in kein ironisches Verhältnis. Auch hier gilt wieder: der ontische Sachverhalt der Selektion385 als Einrückung von zu­künftigen Möglichkeiten in eine entstehende und gestaltete Gegenwart ficht den ontologischen Sachverhalt der Zukunftsfundiertheit nicht an.

Die Bestimmung des Lebens als Übergang von unentfalteten Potenzen zu Aktualitäten kann also für eine Bestimmung der Lebendigkeitsstruktur des L ebe­wesens nicht hinreichen. Solange man das Leben bloß als einen solchen Übergang fasst, tritt es in ein unauflösliches Spannungsverhältnis zur harmonischen Äquipotentialität und der in ihr stattfindenden Vertretung des Ganzen in seinen Teilen. Plessner sieht deutlich, dass die harmonische Äquipotentialität und die in der Zeit sich entfaltende Potenzialität lebendigen Seins eines Konvergenzpunkts bedürfen, was in der von ihm mit Blick auf die Vertretung der Mitte in den Organen gestellte und als notwendig zu beantwortenden Frage sich zeigt, „ob die an­klingende Differenz im Zeitbezug der Wirkungsgemeinschaft der Organe und des

382 Ebd.383 Ebd.384 Erst in einem Zustand, in dem Leben nicht gelebt, sondern nur noch künstlich erhalten wird, tritt an die Stelle des Nochnichtseins, das als solches auch ein Nichtsein sei („Sein in purer Kannqualität ist Nochnichtsein, ein Nichtsein, das die Bedingungen des Übergangs in das Sein an ihm hat.“, Ebd.: 172), das bloße Nicht(mehr)sein von Kannqualität.385 Vgl. hierzu auch Exkurs 4.7.

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294 4 Plessners Transformation der Ontologie

in ihnen manifesten Plans auf eine besondere Stellung des lebendigen Seins zur Zeit hinweist“.386 Was zur Lösung des Problems nötig sei, ist keine Philosophie der Zeit und kein Denken von Zeitlichkeit, sondern die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem lebendigen Sein als seiender Möglichkeit und der seienden Wirk­lichkeit des Körpers: „Man kommt nicht darum herum, lebendiges Sein als seiende Möglichkeit und in seiner Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vorhandenen greifbaren Körpers näher zu bestimmen.“387 Statt die zeitliche Entfaltung von Potenzen, die in Akte übergehen, ins Auge zu fassen, gilt es dann, die zeithafte Entfaltung388 des lebendigen Seins als seiende Möglichkeit im Verhältnis zur Ak­tualität bzw. Wirklichkeit als korrelativem Konstitutionsmodus zu thematisieren.

Plessner zufolge ist der Organismus „zeithaft aus seinem eigenen Wesen heraus“.389 Zeithaft „aus seinem eigenen Wesen heraus“ ist der lebendige Körper nicht, weil die Grenzrealisierung Zeithaftigkeit hervorbrächte, denn dann wäre die Mitte der Grund der Zeithaftigkeit, welche die Mitte jedoch als Moment der Selbstvermittlung des Organismus zu einer Ganzheit wiederum betrifft. Die Mitte steht also nicht als kausale Instanz außerhalb der Zeithaftigkeit, ist aber als in sich aktives Moment der Zeithaftigkeit und als „Subjekt des Habens“ nicht lediglich ein Tropfen im Strom der Zeithaftigkeit. Die bereits angesprochene antagonistische „Selbstvermittlung der Einheit des belebten Körpers durch ihre Teile“390 ist die zeitliche Entfaltung des Lebendigen als eines in sich Zeithaften, dem als solchem Zeitmodi (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) nicht einfach nur wesenhaft zu­kommen, sondern ihn gleichsam als Formideen der Zeitlichkeit real konstituieren. Die Antwort auf die Frage, wie die Mitte selbst ein Moment der Zeithaftigkeit im doppelten Sinne des Genitivs -Zeithaftigkeit Konstituierendes / von Zeithaftigkeit Konstituiertes - darstellen kann, findet sich daher im Begriff des Vorwegseins.

386 Ebd. - Bei Plessner kann von seiner Konzeption der harmonischen Äquipotentialität her die bei Driesch als naturphilosophische Kategorie nicht existierende Zeithaftigkeit als fundamentales und erklärungsbedürftiges Problem des lebendigen Seins in den Blick genommen werden, und dies auch, weil der Unterschied zwischen dem Lebendigen und dem Nicht-Lebendigen bereits in der (bei Driesch ebenfalls nicht vorhandenen) Konzeption der Grenzrealisierung gefasst worden ist.387 Ebd.: 173.388 Weil die Zeithaftigkeit weder beobachtbar noch darstellbar, aber dennoch den Organismus in der Anschauung differentiell, d.h. im Unterschied zu Nicht-Lebendigem als lebendigen konsti­tuiert, ist die Einheit des lebendigen Körpers erschaubare Ganzheit und nicht darstellbare Gestalt. Zeithaftigkeit und Erschaubarlceit bilden genauso wie eine Zeitlichkeit (der manifesten physischen Entfaltung) und Darstellbarlceit eine Einheit, wenngleich eine gegensätzliche.389 Ebd.: 177. - Diese Stelle hat in der Plessner-Forschung offenbar wenig Beachtung gefunden. Explizit zitiert gefunden hat der Autor dieser Studie sie lediglich bei Meyer-Hansen 2013: 184.390 SOM: 185

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4.10 Die Organisation des Lebendigen 295

Der Begriff des Vorwegseins spielt in den Stufen eine Doppelrolle: mit ihm wird zum einen der Prozessbegriff von seiner verengten, bloß physikalischen Auffassung befreit und Prozesshaftigkeit als immanente Entwicklung von Lebe­wesen als solchen expliziert,391 zum anderen wird der Potenzbegriff durch das Vorwegsein bestimmt. In der Bestimmung von Prozessualität nimmt Plessner die Begriffe der Formidee und der Zweckursache in einer gegen Driesch und die Metaphysik gewandten Variante auf. Wenn Plessner sagt, dass der Körper „im Prozeß begriffen, [...] ,sich‘ zum Resultat“392 habe, wird in einer scheinbar klas­sisch teleologischen Form lediglich die Selbstbezüglichkeit der Vermittlung des Körpers zur Einheit gefasst, die nur von ihm selbst geleistet werden kann aufgrund des Fehlens äußerer, in diese Vermittlung eingreifender Faktoren.393 Was dem Prozess als Ziel vorweg sei, nennt Plessner die „Formidee“,394 die er als „We­senszugehörigkeit des Vorwegseienden zu dem Ding, dem es vorweg ist“,395 be­zeichnet. Die Formidee fasst Plessner also nicht als im physikalischen Sinne Ursache sein könnende Ursache auf, weshalb er ihr die „Charaktere der Zweck­ursache“ zuschreibt: „Die Formidee als das dem im Prozeß begriffenen Dinge Vorwegseiende nimmt notwendig die Charaktere der Zweckursache an, als deren motivierte Wirkung die Entwicklung des Dinges zutage tritt.“396 Die „Charaktere der Zweckursache“ unterscheiden sich von der Zweckursache selbst durch ihren Als-ob-Charakter; nicht die klassische Metaphysik steht hier Pate, sondern Kants „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“, deren Anverwandlung in der Bestimmung der bloß erschaubaren Ganzheit Plessner phänomenologisch nicht weniger geprägt haben dürfte als die Phänomenologie selber. Doch wesentlicher als der Kant- Bezug ist an dieser Stelle, dass die Bestimmung des Sich-Vorwegseins des Lebe­wesens, das seiende Möglichkeit ist, vom Vorweg als Moment des Lebensprozesses in einer entscheidenden Hinsicht sich unterscheidet: Wo Plessner Prozess und Entwicklung definiert, bleiben seine Bestimmungen irreflexiv: das Ding ist im Werden „dem Prozeß als Ziel vorweg“,397 die Formidee hingegen ist „dem Ding selber vorweg“,398 und Plessner spricht, wie gezeigt, von der „Wesenszugehörig­

391 Vgl. ebd.: 141-145.392 Ebd.: 140.393 „Dieser Prozeß hat sein Gefälle lediglich aus ihm selber, d. h. aus den Bedingungen, denen er selbst sein Dasein dankt. Er bedarf keines ihn von außen lenkenden Faktors, sondern er lenkt sich selbst.“ (ebd.: 142)394 Vgl. ebd.395 Ebd.396 Ebd.: 143.397 Ebd.: 141.398 Ebd.

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keit des Vorwegseienden zu dem Ding, dem es vorweg ist“,399 obwohl das Lebe­wesen - und hier wird die Bestimmung reflexiv - „sich zum Resultat“400 [Her­vorhebung, S. E.] habe. Es hat nicht „sich“ zum Resultat in Gestalt einer noch nicht wirklichen, aber vorherbestimmten und nur noch zur Wirklichkeit zu bringenden Zielgestalt, sondern es hat sich im Sinne der bestimmten, aber nicht determi­nierten Offenheit zum Resultat, nämlich als unbestimmt-bestimmter Fluchtpunkt der hier explizierten Selbstverhältnisstruktur. Bei dieser Divergenz der Bestim­mungen handelt es sich um keinen Widerspruch, sondern um das Verhältnis von allgemeiner (Wesenszugehörigkeit zum im Prozess begriffenen Ding als solchem) und spezifischer Bestimmung des Lebendigen. Die spezifische Bestimmung fasst das Vorwegsein nicht als Vorwegsein des lebendigen Dinges im Lebensprozess, sondern als Sichvorwegsein401 des lebendigen Dinges in der Selbstvermittlung zur Ganzheit.

Die Bestimmung des Vorwegseins des Lebewesens, das Plessner als Potenz bestimmt, wird entlang des Verhältnisses von Potenz (Möglichkeit) und Akt (Wirklichkeit) formuliert, in denen die Zeithaftigkeit ihre materiale Bestimmung erfährt, weil das, was „aus seinem eigenen Wesen heraus“402 zeithaft ist und seine grundlegendste Wesensbestimmung als Lebendiges in der Grenzrealisierung findet, nicht in ein bloß zeitliches Verhältnis von Jetzt und Nochnicht gestellt sein kann. Die Bestimmung der seienden Möglichkeit entlang des Verhältnisses von Potenz und Akt müsse dabei unter dem forschungsleitenden Aspekt der Zu- kunftsfundiertheit vollzogen werden: „Es wird nämlich der Charakter der Potenz nicht getroffen, solange man nicht imstande ist, sie als ein vom Nochnicht a b ­hängiges Jetzt zu erfassen.“403 „Jetzt“ und „Nochnicht“ bilden Plessner zufolge „erfüllte Modi“ der seienden Möglichkeit: „Seiende Möglichkeit, reale Potenz, ist auf jeden Fall, steht also im Modus des Jetzt. Der Bezug zum Modus Jetzt ist erfüllt. Möglichkeit bedeutet ein sein Können, steht also im Modus Nochnicht. Der Bezug zum Modus Nochnicht ist ebenfalls erfüllt.“404 Für die Aktualität gilt hier, dass sie „nicht mehr im unversöhnlichen Gegensatz zur Potentialität gedacht werden

399 Ebd.: 142.400 Ebd.: 140.401 Obwohl Plessner nur den Begriff des „Vorwegseins“ in der nominalisierten Version ver­wendet, wird hier, um Plessners oben angeführte Unterscheidung zwischen Prozess und Ent­wicklung konsequent durchzuhalten und durchzuführen, im Folgenden vom Sich-Vorwegsein bzw. später vom Sich-Vorwegsein- zu die Rede sein.402 Ebd.: 177.403 Ebd.: 174404 Ebd.: 176.

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muss, sondern Potentialität zur Voraussetzung hat: erfüllte Potentialität.“405 Aufgrund der erfüllten Potenzialität ist das Nochnicht mehr als die Bezeichnung einer Zeitdifferenz zwischen Vorstufe und Zielgestalt. Das „Nochnicht“ ist im doppelten Sinne zu verstehen: Es ist ein erstens Modus der seienden Möglichkeit insbesondere in dem Sinne eines selbst Erfüllbaren, eines Nichtseins also, das vom Lebewesen aus ihm selbst heraus in Sein übergeführt werden kann: „Mög­lichsein ist ein Nichtsein, das - wie es oben hieß - die Bedingungen des Übergangs an ihm selbst hat.“406 Diese empirische Erfüllbarkeit von Potenzen setzt die erfüllte Potenzialität der seienden Möglichkeit voraus. Es ist zweitens eine modale Be­stimmung des Vorwegverhältnisses, das die Gegenwart der seienden Möglichkeit zu einer zukunftsfundierten macht und den Richtungssinn von der Gegenwart zur Zukunft hin umkehrt: „Möglichkeit faßt also eine Richtungseinheit, die gegen die Bestimmtheitsrichtung des Seienden in der Zeit Vergangenheit Gegenwart Zukunft gekehrt ist. Im Können des Seins wird letztlich nichts anderes als ein Vorweg­verhältnis statuiert, in welchem die Abhängigkeitsrichtung von der Zukunft zur Gegenwart läuft.“407 Dieses zeithafte Vorwegverhältnis bestimmt Plessner auch als ein „reales Bedingungsverhältnis“, das „in die Zeit“ komme: „Es kommt ein reales Bedingungsverhältnis in die Zeit, wobei das Bedingende nicht das zeitlich Vor­hergegangene ist, da sonst ihre Ordnung der Abhängigkeit umgedreht werden würde.“408 Die Zeithaftigkeit bildet somit den ontologischen Bestimmungsgrund nicht nur des Seins in der Zeit, sondern auch der Zeitlichkeit. Auch Heidegger, in dessen Sein und Zeit Zeitlichkeit einen grundbegrifflichen Status innehat, kennt die Vorweg-Struktur, begründet sie aber von der Sorge her, insbesondere der Sorge um sich, die er als „Sein zum eigensten Sein können“ fasst: „Das Sein zum ei­gensten Sein können besagt aber ontologisch: das Dasein ist ihm selbst in seinem Sein je schon vorweg.“409 Das von Plessner in der „Zeithaftigkeit“ des lebendigen Seins gefasste Vorwegsein des Lebendigen als eines Lebendigen dagegen ist auf keinen besseren Begriff zu bringen als den der „Entelechie als Seinsmodus“; von dieser Entelechie her wird das Vorweg gemäß der dem lebendigen Sein selbst

405 Ebd. : 180. - Die gewaltigste Form der Unversöhnlichkeit, auf die Plessner hier anspielt, findet sich in der mittelalterlichen Ontologie, an die Edith Stein affirmativ anschließt, in der Unter­scheidung zwischen Gott als dem reinen Akt und allem übrigen, in verschiedenen Graden der Potenzialität unterworfenen Wesen. Aber auch schon bei Aristoteles wird die Aktualität in Form der Entelechie von der Potenzialität als ihrer bloßen Vorstufe abgeschnitten.406 Ebd.407 Ebd. - Die ontologische Differenz Heideggers wird hier übrigens naturphilosophisch vor­weggenommen, weil das Sein, von dem Plessner spricht, das Sein des lebendigen Dinges ist, das als Ding Seiendes ist, dem es aber als Lebendigem in diesem Sein um dieses selbst geht.408 Ebd.409 SuZ: 191.

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immanenten Zweckhaftigkeit aufgefasst, statt von einem äußeren oder zeitlich vorgelagerten manifesten Zweck her auf gefasst zu werden.

4.10.6 Die Zeithaftigkeit von der Akt-Potenz-Relation her gelesen

Das Vorwegverhältnis, welches die Zeithaftigkeit wesentlich bestimmt, lässt sich, so soll hier über Plessners Entfaltung der Zeithaftigkeit hinausgehend behauptet werden, genauer und feingliedriger bestimmen als Plessner dies getan hat, indem das Vorwegsein von Akt (Wirklichkeit) und Potenz (Möglichkeit) als ontologischen Strukturmomenten her ausbuchstabiert wird. Die seiende Möglichkeit wird dann nämlich fokussierbar als Potenz, die in sich dem Vorrang der Potenz vor dem Akt, der sie gleichwohl als Kehrseite der Potenz mitkonstituiert, manifestiert. Als Konstitutionsmomente sind Akt und Potenz410 nicht identitär bestimmbar, son­dern jeweils das Andere ihrer selbst; sie in ihrer positiven Bestimmung zugleich als das negative Moment ihrer jeweiligen Bestimmung aufzufassen, erfüllt Plessners Direktive, sie nicht gegeneinander aufzurechnen,411 sondern als Bestimmungen zu entfalten.

Zunächst zur Erinnerung: Bei Stein sind Potenz(ialität) und Akt(ualität) Seinsmodi und als solche abbildliche Verwirklichungen eines göttlichen (ur- bildlichen) Seins, das reiner Akt und Schöpfer des in Potenz und Akt als Modi zerfallenden Seins ist. Die Unterscheidung von Akt und Potenz bildet daher ein ontologisches Strukturierungsprinzip:412 Gott als reiner Akt ist das erste Seiende, alles andere Sein zerfällt in Akt und Potenz. Vorstufe und Erfüllung sind die Namen der konkreten Zustände des Lebendigen, in denen die Modi von Akt und Potenz sich materialisieren. Ein Vorwegsein lässt sich unter diesen Prämissen nur als Erfüllung eines Ziels (τέλος) in einer Zielgestalt (εντελέχεια) im klassisch te­leologischen Sinne fassen. Akt und Potenz gehen nicht als Momente in den of­

410 Akt und Potenz werden im Folgenden der Kürze halber auch als Chiffern für Aktualität und Potenzialität verwendet.411 „Auch dürfen in einer echten Synthesis die Bestimmungen der Potentialität und Aktualität nicht gegeneinander aufgerechnet werden, sondern müssen in voller Schwere des Sinnes erhalten bleiben.“ (ebd.: 172)412 „So wie Aktualität und Potentialität hier gefaßt sind, sind es Seinsmodi: reine Aktualität der göttliche Seinsmodus, die geschöpflichen Seinsmodi, verschiedene abgestufte Mischungen von Aktualität und Potentialität (das besagt - äquivalent, nicht identisch - von Sein und Nichtsein); reine Potentialität ist der Seinsmodus der bloßen Materie, kommt daher, wie diese selbst, faktisch nicht vor.“ (PuA: 9)

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fenen413 Selbstvermittlungsprozess eines Lebewesens ein, sondern sie sind stattdessen auf ein Vorweg im Sinne eines definiten, noch nicht realisierten Zu­stands bezogen, der als Verwirklichung eines vorherbestimmten und daher de­terminierten Zustands aufgefasst wird. In dieser Determination kommt eine Zu- kunftsbezogenheit zum Vorschein, die sowohl durch die Vergangenheit (aufgrund des Vorrangs des Akts und des Aktcharakters der Potenz) als durch ein Absolutes (ενέργεια, actus punis) bestimmt ist. Das Bestimmtsein durch die Vergangenheit kann wiederum einen doppelten Sinn haben: ontologisch als Bestimmtsein durch eine immanent depotenzierte Potenz, deren eigentlicher Charakter ein Akt-Cha­rakter ist, wie Nicolai Hartmann Aristoteles vorhält;414 physikalisch und im strikt zeitlichen Sinne, wenn die Potenz in eine Disposition übersetzt wird, von welcher her in der Zukunft stattfindendes gemäß Kausalitätsgesetzen idealiter errechnet und prognostiziert werden kann.

Wie lassen sich nun demgegenüber Akt und Potenz als Bestimmungsmo­mente des zeithaft Lebendigen darlegen? Mit dem Vorwegsein wird implizit der Überschuss-Charakter des Lebendigen gegenüber seiner gegenwärtigen Zu- ständlichkeit freigelegt; ein Lebendiges kann sich nicht vorweg sein, wenn es nicht mehr ist als sein gegenwärtiges Sosein. Dieses Mehr-Sein stellt keine metaphysi­sche Behauptung dar, sondern bildet eine formale Bedingung von Entwicklung, die in ihrer Materialisierung im Vorwegsein gefasst wird und nicht in einer „reinen Immanenz“ des Organismus verödet wird, da die Selbstvermittlung des Orga­nismus zur Ganzheit innerhalb eines ihn damit limitierenden, zugleich ihm aber auch Selbstvermittlungsmöglichkeiten bietenden Positionsfeldes stattfindet. Akt und Potenz lassen sich unter dem Vorrang der Potenz als gleichermaßen modale und konstitutive Bestimmungen dieses Vorwegseins fassen, wenn man sie so versteht, dass(1) Akt als Akt Potenz und Nicht-Akt ist, nämlich im Vorwegsein; dass(2) zugleich die im Modus des Vorwegseins existierende gegenwärtige Wirk­

lichkeit als Aktualität zugleich Potenz (im konstitutiven Vorwegsein) und Nicht-Potenz (in ihrer Gegenwärtigkeit) ist; dass

(3) Potenz als Potenz Akt und Nicht-Potenz ist (im Sinne der Nicht-Beliebigkeit von Potenz, in welcher der traditionelle Akt-Charakter des Seins als Moment erhalten bleibt); dass

(4) zugleich Potenz Akt und Nicht-Akt ist, wodurch das Können allererst ein wirkliches Können ist, das als solches nicht zwangsläufig in einer bestimmten

413 Offen heißt hier: offen zur Potenzialität, nicht aber unbeschränkt, als könnte ein Jedes alles werden.414 Vgl. Kapitel 2.3.5.2.

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Gestalt realisiert sein muss. Diese Offenheit ermöglicht den Unterschied zwischen Selektion und vollständiger, bloß zu errechnender Determination. Dieser ontologische Doppelcharakter der Potenz ist es, der „jene spezifische Schwere und Fülle, die in Potentialität als reinem Nochnichtsein [Hervorhe­bung, S.E.] nicht zum Ausdruck kommt“,415 bewahrt.

Was in diesen Unterscheidungen zur Darstellung gebracht werden soll, ist keine arithmetische Symmetrie zweier gleichwertiger Variablen, sondern eine dialekti­sche Dynamik lebendiger Entwicklung, innerhalb welcher Akt und Potenz nicht einfach nur die Rückseite voneinander, sondern jeweils das Andere ihrer selbst bilden, weil sie konstitutiv für ein lebendiges Ding sind, das sich entwickelt und als sich Entwickelndes in keinem seiner Momente zum Stillstand gelangen kann. Akt und Potenz sind in diesem Verständnis keine Zustände, die ineinander übergehen, sondern Momente eines durch seine Zustände hindurch sich selbst vermittelnden Lebewesens. Als solche Strukturmomente der Lebendigkeit kon­stituieren sie als nicht weiter auflösbare dialektisch-ontologische Struktur noch die Zustände, in denen Lebendiges sich befindet, ohne in ihnen aufzugehen, die es also durchlebt. Was in dieser Sichtweise aufgehoben wird, ist die disjunktive Fassung von δύναμις und ενέργεια, wie Nicolai Hartmann sie treffend darstellt:

Das potentiell Seiende kann nicht zugleich aktuell sein, und das aktuell Seiende nicht po­tentiell; alles Seiende kann nur entweder den einen oder den anderen Seinszustand haben, aber nicht beide zugleich. Dynamis und Energeia stehen disjunktiv zueinander; sie schließen einander aus. Und da eine von beiden doch einem jeden Seienden zukommen muß, so bewirkt ihr Verhältnis, daß die ganze Welt des Realen in potentiell Seiendes und aktuell Seiendes gespalten dasteht.416

An die Stelle der Spaltung tritt in der dialektisch-ontologischen Auffassung die wechselseitige Durchdringung von Durcheinander und Ineinander von Potenz und Akt. Die dialektische Verfasstheit ergibt sich aus der Zeithaftigkeit, während die Disjunktion auf der Innerzeitlichkeit von Zuständen basiert, die aufeinander und auseinander im kausalen Sinne folgen.

Weil Lebendiges seiende Möglichkeit (Potenz) ist, ist es verkörperte Wirk­lichkeit der Möglichkeit. Die Möglichkeit der Wirklichkeit, die in der Ontologie des Organischen immer die Möglichkeit der seienden Möglichkeit meint, welche Plessners Bestimmung zufolge als „Vermögen (Potenz) real“417 sei, beruht onto­

415 SOM: 172.416 Hartmann 1966a: 4.417 Ebd: 162.

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logisch auf der Wirklichkeit der Möglichkeit, die gerade im Sich-Vorwegsein der seienden Möglichkeit „Wirklichkeitswert“ gewinnt. Die Wirklichkeit der Mög­lichkeit könnte nur dann auf der Möglichkeit der Wirklichkeit beruhen, wenn sie bloß eine Wirkung innerhalb einer kausal verstandenen Reihe von Wirklich­keitszuständen oder -ereignissen bildete; sie wäre dann bloß eine kausale Dis­position. Im ontologischen Sinn kann die Wirklichkeit der Möglichkeit nicht kausal erklärt werden, da auch sie methodisch an die Differenz zwischen dem Beobachtbaren (der räumlichen Mitte) und dem nur Erschaubaren (der raum­haften Mitte, die als Potenz real ist) gebunden bleibt: Die Wirklichkeit der Mög­lichkeit ist nur erschaubar am wirklichen Lebendigen, das seiende Möglichkeit ist.

Damit lässt sich Hartmanns Aristoteles-Kritik418 auf Plessner nicht übertragen. Hartmann hat Aristoteles vorgehalten, alle δύναμις unter dem Primat der ενέργεια zu betrachten und die δύναμις somit zu einer Disposition zu degradieren, die δύναμις also als durch die ενέργεια bestimmte δύναμις zu einer konkreten Wirk­lichkeit419 zu denken, wobei die Wirklichkeit durch δύναμις und ενέργεια sowohl in ihrem Sein, ihrem Verursachtsein und ihrer teleologischen Bestimmung defi­niert wird. Bei Plessner zerfällt die Wirklichkeit des Lebendigen allerdings nicht in δύναμις und ενέργεια als einander bedingende (die Möglichkeit bildet die Vorstufe der Wirklichkeit, die Wirklichkeit die Verwirklichung der Möglichkeit und konkret bestimmende Ermöglichung der zukünftigen Wirklichkeit) Momente eines aktu­ellen Jetzt, das von δύναμις und ενέργεια als von seinen Bestimmungsmomenten her gedacht wird, welche die gegenwärtige Wirklichkeit des Lebendigen von der Vergangenheit her in Richtung auf eine bestimmte zukünftige Wirklichkeit hin bestimmen. Die zukünftige Wirklichkeit des Lebendigen wird vielmehr gerade aufgrund der Zukunftsfundiertheit offengehalten, die Plessner von einem Bezo­gensein auf Zukunft unterscheidet.420 In dem Bezogensein auf Zukunft ist Zukunft konkrete Gestalt von Zukünftigem, das Lebendige in seiner wirklichen Gegen­wärtigkeit wäre nicht Wirklichkeit der (als solche zukunftsfundierten und offenen) Möglichkeit, sondern die bestimmte verwirklichte Möglichkeit (im Sinne der Vorstufe) späterer Wirklichkeit. Die Bestimmung einer jeglichen Wirklichkeit als Möglichkeit späterer Wirklichkeit setzt aber ein in die Wirklichkeit vorprojiziertes ontologisches Schema voraus, das ein Lebendiges grundsätzlich, und damit im­plizit im Voraus, als das Noch-Nicht dessen bestimmen kann, von welchem her es

418 Vgl. Kap. 23.5.2419 Die „Wirklichkeit“, die hier gemeint ist, meint mehr als ihr ontologisches Bestimmungs­moment der ένέργεια.420 Vgl. SOM: 212.

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das Noch-Nicht421 retrospektiv als sein Vorher-Schon bestimmen kann. Hartmanns Kritik an Aristoteles bezieht ihre Legitimität aus Aristoteles Privilegierung der zweiten Substanz, also der ουσία, die zugleich das είδος und damit das Wesen des aus είδος und μορφή zusammengesetzten Lebendigen ist. Plessner hingegen, wollte man die ontologische Terminologie des Aristoteles auf ihn übertragen, geht es in den Stufen gerade um die erste Substanz (πρώτη ουσία), um das lebendige Ding selbst und damit um die seiende Möglichkeit in ihrem Wirklichkeitswert, der weder von einer zweiten Substanz422 noch von den Naturwissenschaften her ad­äquat erhellt werden kann. Die erste Substanz als Wirkliches zu entfalten statt sie nur als das konkrete Ding selbst zu benennen, erfordert die methodische Durcharbeitung der Wirklichkeit, wie Plessner sie in den Stufen umfangreich entfaltet und die ihn zum Begriff der seienden Möglichkeit führt.

Überdies unterscheidet sich Plessner hinsichtlich des Verhältnisses zwischen δύναμις und ενέργεια darin maßgeblich von Aristoteles, dass δύναμις und ενέρ­γεια bei Plessner keine distinkten ontologischen und/oder analytisch feststell­baren Zustände bilden (können), die als Übergänge von der Potenz zum Akt be­schreibbar wären. Vielmehr bilden δύναμις und ενέργεια bei Plessner Momente, die nicht zuständlich ineinander übergehen, sondern immanente Momente eines Dritten, das selbst der Übergang zwischen beiden ist. Das meint Plessner, wenn er sagt, dass der lebendige Körper, der eben darum ein lebendiger ist, „außer seiner Begrenzung den Grenzübergang selbst als Eigenschaft hat“.423 Der Ausdruck der Furcht ist allenfalls psychologisch nach dem Schema von δύναμις und ενέργεια zu begreifen, im Rahmen von Plessners Ansatz geht es sowohl um den Sinn (in der Deutung) und die Strukturgesetze der Ausdrücklichkeit (Stufen). Was Aus­drucksgestalt (die konkrete lebendige Erscheinung im Doppelaspekt) und Struk­turgesetz des Ausdrucks (das grundsätzliche Erscheinen von Lebendigem im Doppelaspekt) miteinander verbindet, ist der Grenzübergang als das Grundcha­rakteristikum von Lebendigkeit.424 Der Wirklichkeitswert des lebendigen Aus­drucks beruht auf diesem Grenzübergang, der als Potenz real ist, weil sonst Le­bendiges nicht mehr lebendig wäre. Würde Hartmanns Kritik an Aristoteles sich auf Plessner übertragen lassen, müsste nicht nur das Aristotelische Schema als gültig vorausgesetzt werden, sondern mit der Voraussetzung von dessen Gültigkeit

421 Das Aristotelische Noch-Nicht ist, von einer Vergangenheit her bestimmt, auf eine Zukunft bezogen, das Plessner’sche „Nochnicht“ Moment der Zukunftsfundiertheit und gerade nicht „auf Zukunft bezogen“.422 Der Rekurs auf eine zweite Substanz steht hier auch stellvertretend für Edith Steins Begriff der Wesensform.423 Ebd.: 103.424 Vgl. Kapitel 4.5.

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der Grenzübergang (die Mitte) nicht als Potenz, sondern als Aktualität real sein. Eine solche Bestimmung des Wirklichen bringt das Lebendige um seine Leben­digkeit, indem es zugleich dessen metaphysischer Überhöhung die Bahn ebnet: das Wirkliche konvergiert dann mit dem Realen, weil eine höhere Realität in ihm sich manifestiert. Das Wirkliche in seinem Wirklichkeitswert ernstzunehmen heißt, die Aristotelische Intention, Wirklichkeit zu denken, von der Aristotelischen Metaphysik freizuhalten.

4.10.7 Das Sich-Vorwegsein und die Konstitution des Positionsfeldes

Die so durchgeführte Betrachtung könnte den Eindruck erwecken, als sollte hier suggeriert werden, dass das Lebendige in seiner reinen Immanenz als seiende Möglichkeit zu betrachten wäre. Dieses Lebewesen ist aber als Ding positionalen Charakters nicht unabhängig und außerhalb eines Positionsfeldes zu denken, und dies nicht nur, weil es real nicht unabhängig und außerhalb eines Positionsfeldes existieren kann, sondern auch weil das Positionsfeld in die Selbstvermittlung des Organismus hineinreicht:

In seinen Organen geht der lebendige Körper aus ihm heraus und zu ihm zurück, sofern die Organe offen sind und einen Funktionskreis mit ihm bilden, dem sie sich öffnen. Offen sind die Organe gegenüber dem Positionsfeld. So entsteht der Kreis des Lebens, dessen eine Hälfte vom Organismus, dessen andere vom Positionsfeld gebildet wird.425

Das Positionsfeld bildet daher keine zunächst indifferente und erst innerhalb der praktisch realisierten Vollzüge des Organismus zum Positionsfeld Signifikanz gewinnende Umwelt, sondern es steht in einem immanenten Bezug zum Sich- Vorwegsein und damit zu Akt und Potenz als Konstitutionsmomenten des Le­bendigen:

Diese Struktur des Vorweg lebt der Organismus, es bedarf also keines besonderes von ihm ausgehenden antezipatorischen Aktes. Kraft dieses Vorwegseins konstituiert sich das Posi­tionsfeld, dem der Organismus als Inhalt und Mittelpunkt, gleichsinnig und gegensinnig zu ihm gestellt, angehört.426

Mit anderen Akzentuierungen: „Kraft dieses Vorwegseins konstituiert sich das Positionsfeld“ bedeutet gerade nicht, dass das Sich-Vorwegsein das Positionsfeld

425 SOM: 191 f.426 Ebd.: 208.

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konstituierte; würde Plessner dies behaupten, so würde er eine naturphiloso­phische Variante eines im Solipsismus endenden Idealismus ausformulieren, in welchem dem Organismus eine geradezu demiurgische Dignität zukäme. Auch dem Konzept einer Autopoiesis, das die strikte immanente Operationslogik eines Organismus in empirischer Sicht und gemäß dem Paradigma der Anpassung betrachtet,427 entspricht das Sich-Vorwegsein des Lebendigen nicht, das den Be­zug zum Positionsfeld nicht ausklammert und auch dem Positionsfeld nichts von seiner Realität nimmt. Das Positionsfeld konstituiert sich kraft des Vorwegseins, weil das Positionsfeld keine Umwelt ist,428 die erst zu einem Positionsfeld durch eine konstituierende Tätigkeit seitens des Organismus zu machen wäre (mittels einer solchen Tätigkeit wird das Positionsfeld „bearbeitet“, aber nicht konstitu­iert), sondern es bildet als ein429 Fluchtpunkt des Überschuss-Charakters der auf ein Außerhalb des Körpers hingeordneten Organe einen wesenhaften, für die Lebendigkeitsstruktur selbst konstitutiven Bezugspunkt lebendiger Entwicklung; aufgrund seiner ist das Lebewesen in seine Umwelt qua Positionsfeld eingepasst und Teil des nicht empirisch hervorgebrachten Lebenskreises. Der Überschuss- Charakter erklärt sich aus dem In-ihm-hinein- und Über-ihm-hinaus-Sein, welches als das Sein eines positionalen Körpers immer noch ein (wenn auch in sich ge­gensinniges) Sein zu einem Positionsfeld hin ist:

Man versteht die Lagerung des Positionsfeldes aus dem Wesen der Positionalität, wonach der lebendige Körper ebensosehr er selbst (in seinen Grenzen wie jeder begrenzte Körper) als auch über ihm hinaus - in ihm hinein ist. Infolgedessen rechnete er selbst mit zum Inhalt des Positionsfeldes, auch wenn er als dessen Mittelpunkt aus ihm herausgehoben ist.430

Die Zusammengehörigkeit des Sich-Vorwegseins mit der Positionalität des le­bendigen Körpers stellt die Selbstvermittlung des Organismus zur Einheit in ihrer Zeithaftigkeit in einen konstitutiven Bezug zur Umwelt. Die „immanente Teleo­logie“ bedarf damit nicht einer Erweiterung über den Organismus hinaus,431

427 Exemplarisch Maturana/Varela: „Therefore, all that is unique with respect to adaptation in living systems is that in them the autopoietic organization constitutes the invariant configuration of relations around which the selection of their structural changes takes place during their history of interactions.“ (Maturana/Varela 1980: xxi)428 Vgl. SOM: 208.429 Aufgrund der immanenten Teleologie des Organismus bildet der letztendliche Fluchtpunkt seiner Organtätigkeit seine Selbstvermittlung zur Einheit.430 Ebd.: 202 f.431 Das Sich-Vorwegsein bildet die Alternative zu einer Teleologie, welche die Entwicklung des Organismus im Verhältnis zu einer Umwelt betrachtet, welcher jener sich in nachträglicher

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sondern die „immanente Teleologie“ enthält in sich, genauer: im Antagonismus der auf die Umgebung des Organismus hingeordneten Organe, den konstitutiven Bezug auf das Positionsfeld, weil der Organismus „Mitte und Peripherie in Ei­nem“432 ist. Für den Organismus gilt daher, dass er, „insofern er als Element der Peripherie zum Feld mitgehört, als Mitte dagegen sich dem Feld gegenüber be­findet“.433 Er befindet sich also nicht indifferent in einer Umwelt, sondern befindet sich im Positionsfeld als zum Feld geöffnet und gegen das Feld gestellt.434 Diese Ambivalenz fasst Plessner auch in der Unterscheidung zwischen Gleichsinnigkeit und Gegensinnigkeit der Stellung zum Positionsfeld.435 Weil der Organismus „Mitte und Peripherie in Einem“ ist, bedeutet Sich-Vorwegsein zugleich Über-ihm- hinaus-Sein; weil das Über-ihm-hinaus-Sein im für die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit konstitutiven Antagonismus der Organe angelegt ist, bedeutet Sich-Vorwegsein als Über-ihm-hinaus-Sein zugleich Sich-Vorwegsein-zu; dieses Sich-Vorwegsein-zu fasst Plessner als „Vorbemächtigung“:

Gerade daß die Existenz des Positionsfeldes eine Vorbemächtigung der Welt durch den Or­ganismus ist, welcher in sich selbst ein ihm Vorwegsein bedeutet, macht die Annahme be­sonderer lenkender Instinkte, Urteilsvermögen und ähnlicher anpassungsschaffender see­lischer oder physischer Faktoren unnötig. Das Vorgriffelement ruht auf der Vorwegstruktur des lebendigen Seins.436

Zweckmäßigkeit immer wieder anzupassen hätte, womit metaphysisch nicht weniger behauptet würde als mit einer prästabilierten Harmonie.432 Ebd.: 203.433 Ebd.434 Das Faktum, dass das Im-Feld-Sein zugleich ein Im-Feld-gegen-das-Feld-Sein ist, fasst Plessner in der Negation zweier Aporien, nämlich denen der „absoluten Immanenz“ und der „absoluten Transzendenz“. In „absoluter Immanenz“ bewegte der Organismus sich „in seinem Positionsfeld wie die Monade in ihrer Welt, wie ein Solipsist, zwar in einem Umfeld, doch nicht in der von ihm unabhängigen, wirklichen Welt“ (ebd.); in „absoluter Transzendenz“ hingegen bil­dete „das Positionsfeld bloß die Gegensphäre zum natürlichen Ort des Organismus, ohne ihn zugleich mit zu enthalten, gewissermaßen nur d as,Drüben“, aus dem ihn Gegenwirkungen treffen und auf das er mit Gegenwirkungen zurücktrifft“, (ebd.) Anders gesagt: In absoluter Immanenz wäre der Organismus eine monadisch geschlossene Substanz in einer ihr notwendig fremd bleibenden Umwelt, wohingegen in absoluter Transzendenz der Lebenskreis physilcalistisch eingeebnet würde, wodurch der Organismus überhaupt erst in eine Ebene mit der in Kausalre­lationen aufgehenden Umwelt gerückt werden kann.435 Vgl. Ebd.: 204. - Die Vermittlung von Gleichsinnigkeit und Gegensinnigkeit fasst Plessner auch als die „synthetische Vereinigung gleichsinniger und gegensinniger Stellung zum Positi­onsfeld“. (ebd.: 205). Mit der synthetischen Vereinigung ist kein Drittes jenseits von Gleich- und Gegensinnigkeit gemeint, sondern vielmehr ihre Zugleich-Verwirklichung.436 Ebd.: 211.

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Aufgrund der „Vorbemächtigung“, welche eine Spezifikation des in der Zeithaf- tigkeit gründenden Sich-Vorwegseins ist, ist das Sich-Vorwegsein kein Sich-Vor- wegsein des Lebewesens zu einer Umwelt, sondern zu seinem Positionsfeld. Darauf basiert die oben vorgenommene Akzentuierung („Kraft dieses Vorwegseins konstituiert sich das Positionsfeld“) innerhalb des Plessner’schen Zitats. Die Ak­zentuierung des Ausgangszitats umkehrend: Das Positionsfeld konstituiert sich kraft des Vorwegseins, weil es nicht vom Organismus erschaffen wird, sondern, obzwar es in eine Selbstvermittlungsstruktur des Organismus eingeht, deren anwesend-abwesender Bestandteil qua Fluchtpunkt es aufgrund des Sich-Vor- wegseins bereits ist, seine Selbständigkeit gegen die Selbständigkeit des Orga­nismus behauptet:

Nur in diesem Sinne der Vermittlung eines bereits unmittelbar Bestehenden halten sich die Organe in ihren Wesensgrenzen und ,öffnen“ den Organismus gegen das Medium, gliedern ihn in das Positionsfeld ein und nehmen ihm damit seine Selbständigkeit. Denn jetzt muß der Organismus Teil eines umfassenden Ganzen werden, dessen Ausmaße und Artung wohl insofern in seiner Macht liegen, als seine Organe diesem Ganzen streng eingepaßt sind und das Ganze also mit nichts kommen kann, worauf der Organismus nicht antworten könnte, wie auch das Ganze das Zwecksystem seines Körpers nur ergänzt und ganz eigentlich mit ihm zusammenfällt, - aber er ist eben Teil, ergänzungsbedürftig, seine Autarkie ist dahin.437

Seine Selbständigkeit behauptet der Organismus darin, dass die Organe ihn „gegen“ das Medium öffnen. Was Plessner als Hinfälligkeit der „Autarkie“ des Organismus bezeichnet, läuft dem Sich-Vorwegsein der seienden Möglichkeit nicht zuwider, sondern macht gerade das Sich-Vorwegsein zu einem Sich-Vor- wegsein-zu statt zu einem bloßen und aufgrund seiner Autarkie in sich leeren Selbstsein. Seiende Möglichkeit ist der Organismus gerade dadurch, dass seine Potenzialität von der „immanenten Teleologie“ her ihre Begrenzung erhält, wo­durch sie überhaupt erst „erfüllte Potentialität“438 sein kann. „Erfüllbare Poten- tialität“ ist abhängige Potenzialität, erfüllbar durch und in der gleich- und ge­gensinnig auf das Positionsfeld bezogenen Selbstvermittlung, aber nicht erfüllbar durch ihr gegen ein Positionsfeld abgeschlossenes Selbstsein als reine Potenzia­lität. Als reine oder absolute Möglichkeit müsste sie ihre eigene Erfüllung dar­stellen, die sie als (bloße) Möglichkeit gar nicht sein kann.

Was in den bisherigen Ausführungen mitgeschwungen ist, ohne explizit thematisiert worden zu sein, ist die Eingepasstheit des Organismus in das Posi­tionsfeld. Von dem Sich-Vorwegsein der seienden Möglichkeit her wird dessen Eingepasstheit in die als Positionsfeld aufzufassende Umwelt auf neue Weise

437 Ebd.: 193.438 Ebd.: 180.

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4.10 Die Organisation des Lebendigen 307

verstehbar, weil es eine systematische Einbettung erfährt, die Plessner selbst nicht vorgenommen hat. Die markantesten Passagen Plessners zur Eingepasstheit fin­den sich auffälligerweise nicht in den Abschnitten über die harmonische Äqui- potentialität und die „Zeithaftigkeit des lebendigen Seins“, sondern in der Bestimmung der Vitalkategorien439 und des Lebenskreises,440 obwohl die har­monische Äquipotentialität die Einheit durch den Antagonismus der Organe hindurch vermittelt, in ihr also die Mitte sich der Organe und mittels der Organe, welche der Umwelt strikt eingepasst und zu ihr hingeordnet seien, der Umwelt bemächtigt.

Die strenge Eingepasstheit der Organe ist die Eingepasstheit in eine Umwelt, die gerade deswegen Positionsfeld ist und die Positionsfeld statt Umwelt ist aufgrund des Sich-Vorwegseins der seienden Möglichkeit. Die Eingepasstheit ist die Eingepasstheit einer seienden Möglichkeit. Eingepasstsein und Vorwegsein sind, obwohl Plessner die Begriffe in verschiedenen Zusammenhängen einführt und abhandelt, untrennbar miteinander verbunden; wären sie es nicht, so müsste die Eingepasstheit durch die Selektion hergestellt werden, sie wäre dann aller­dings Anpassung, und zwar eine Anpassung, die wiederum ohne die Einge­passtheit441 des sich Anpassenden gar nicht möglich wäre. Die Selektion kann ihre eigene Ermöglichungsbedingung nicht hervorbringen. Kurzum: Die Eingepasst­heit gründet im Sich-Vorwegsein des Lebendigen, in seiner Bestimmtheit von der - gleichwohl nicht unbeschränkt442 - offenen Zukunft her, denn was sich nicht vorweg ist, müsste sein Eingepasstsein nachträglich, also in Ermangelung des­selben auf der Basis seiner eigenen Unmöglichkeit, etablieren.

Von einem Eingepasstsein des Organismus zu sprechen, ist auch allemal glücklicher als von einer Adaptiertheit zu sprechen, wie Plessner dies an einer Stelle tut,443 wo er die Adaptiertheit als Voraussetzung der Adaption anführt. Damit unterbietet Plessner aber das theoretische Potenzial seiner eigenen na­turphilosophischen Konzeption, weil die Adaptiertheit als Voraussetzung der Adaption das Paradigma der Adaption nicht verlässt, sondern dieses nur über die

439 Vgl. SOM: 64 f.440 Vgl. ebd.: 193.441 Plessner verwendet zwar auch den Begriff der „Adaptiertheit“ (ebd: 205 f.), der jedoch im Unterschied zum Begriff des Eingepasstseins die Differenz zur Adaption nicht stark genug mar­kiert. Da Plessner aber auch dort, wo er von „Adaptiertheit“ spricht, nicht auf das Sich-Vorwegsein des Lebendigen Bezug nimmt, bleiben seine Ausführungen ontologisch ungesättigt und formaler Art.442 Denn sonst müsste jeder Organismus in jede mögliche Umwelt eingepasst sein, womit somit sowohl die Spezialisiertheit der Organe aufgehoben wäre als auch empirisch Unsinniges be­hauptet würde.443 Ebd.: 205f.

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im Lebensvollzug geleistete Adaption hinaus transzendentalistisch formalisiert. Dies zeigt sich darin, dass Plessner zufolge die Adaptiertheit auf „übergreifende, Lebenssubjekt und Welt gleichmäßig beherrschende Gesetzmäßigkeiten“444 hin- weise. Plessner verfährt hier allerdings insofern theoretisch stringent, als das Eingepasstsein sich nicht auf derselben logischen und ontologischen Ebene wie die harmonische Äquipotentialität und die Zeithaftigkeit des lebendigen Seins befindet, die innerhalb der Deduktion der Wesensmerkmale des Lebens aufge­wiesen werden. Die Eingepasstheit fällt deshalb nicht in die Deduktion, weil sie nicht zur Klasse erschaubarer Gehalte gehört. Sie fällt also nicht selbst in die immanente Logik des Lebendigen, sie ist aber - und deshalb ist oben gesagt worden, dass sie im Sich-Vorwegsein gründe - vom in die Deduktion der We­sensmerkmale fallenden Sich-Vorwegsein her verstehbar und erhellbar. Sie bildet eine apriorische, d. h. notwendige Präsupposition, die einen realen Sachverhalt erfasst, der ontologisch erhellbar, aber nicht ontologisch deduzierbar ist.

4.11 Zwischenfazit

Mit diesem Durchgang durch eine Reihe von Grundbegriffen und denkerischen Motiven ist Plessners naturphilosophische Transformation der Ontologie in ihren wesentlichen Zügen skizziert worden. Als zentral in dieser Transformation haben sich vor allem vier Begriffe erwiesen:(1) Plessners Transformation der Phänomenologie, die nicht im Husserl’schen

Sinne als eine Fortführung des erkenntnistheoretischen Projekts der neu­zeitlichen Philosophie von Descartes bis zum Neukantianismus zu verstehen ist - seine gewiss problematische Einheit hier vorausgesetzt - , entfaltet die Bedingungen, gemäß denen Wirkliches als „Sein in der Erscheinung“ sich zeigt. Der Erscheinungsbegriff überspringt weder das Bewusstsein, weil Er­scheinung nicht außerhalb der Anschauung erscheint, er reduziert aber auch das Erscheinende nicht darauf, Erscheinendes für das Bewusstsein zu sein, sondern zielt auf das präreflexive Erscheinen von Sein und dessen Struktur, für die vor allem kennzeichnend ist, dass Sein im Doppelaspekt von Psy­chischem und Physischem erscheint. Weil Plessner die Ontologisierung der doppelaspektiven Erscheinung und ihre vorschnelle Aufspaltung in zwei Seinsgebiete vermeidet, kann er innerhalb der phänomenologischen De­skription neben der bloß räumlichen Mitte eines geometrischen Dinges eine raumhafte, gegen den Richtungsgegensatz von Psychischem und Physischem

444 Ebd.: 65.

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4.11 Zwischenfazit 309

neutrale raumhafte Mitte exponieren, die phänomenologisch als „kernhafte Mitte“ sich zeigt und konstitutiv die „Funktion der Grenze“445 bildet,446 die dem Körper nicht nur als dinglichem Gebilde angehört, sondern von ihm - und damit in ihm hinein und über ihm hinaus447 - vollzogen wird.

(2) Lebendige Körper, die außer einer räumlichen noch eine raumhafte positio- nale bzw. funktionale Mitte „besitzen“, sind nicht nur physische Gestalten, sondern darüber hinaus durch die Mitte als das psychophysisch neutrale „Hindurch der Vermittlung“448 beider zur nur erschaubaren Ganzheit ver­mittelt. Die ausschließliche Erschaubarkeit des Ganzheitscharakters der Ge­stalt, die lebendig ist und sich entwickelt, verbindet die phänomenologische Deskription, die formale Analyse der Struktur des Erscheinens von Leben­digem, mit der Bestimmung der „Daseinsweisen der Lebendigkeit“ als ihrem pragmatisch-funktionalen Komplement, der materialen Analyse der Leben­digkeitsstruktur des Lebendigen. Das Verbindungsglied zwischen beiden bildet der phänomenologisch-funktionale Doppelcharakter der Mitte.

(3) Die Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit findet im Medium des unaufhebbaren Antagonismus von Mitte (Subjekt des Habens) und Peripherie (Objekt des Habens, materialisiert in den Organen) statt. Obwohl der Ant­agonismus für die Daseinsweise des Lebewesens konstitutiv und unaufhebbar ist, ist die jeweilige Einheit fragil und nicht abschließbar herzustellen, gleichwohl aber gleichermaßen konstitutiv für die Daseinsweise des Leben­digen. Plessner zufolge ist eine „dreifache Einheit“ konstitutiv für den Le­bensvollzug: die „Einheit für sich (Kern, Subjekt des Habens), Einheit in der Mannigfaltigkeit der Teile (Wirkeinheit, Gestalt, übersummenhafte Gesamt­funktion, Objekt des Habens), Einheit in jedem Teil (harmonisch äquipoten­tielles System)“.449 Während die ersten beiden Elemente der Einheitsbildung des lebendigen Ganzen den Polen des Antagonismus zugeordnet werden können, bildet die harmonische Äquipotentialität, die Plessner in einer we­sentlich fundamentaleren, über die bei Driesch auf Phänomene der Restitu­tion und Adaptation hinausreichende Weise auffasst, den Schlüssel zu seiner Ontologie des Organischen. Die beiden klassischen ontologischen Denkfi­guren, die Plessner sich in einer neuartigen Weise aneignet, um die harmo­

445 Ebd.: 155.446 Vgl. zur „funktionalen Mitte“ Krüger 1999: 96.447 „Das Über ihm Hinaussein, das In ihm Hineinsein, konstitutive Merkmale eines Körpers, der ,in‘ seinen Grenzen ist, macht ihn zu einem in den Kaum hinein, in die Zeit hinein Seienden.“ (SOM: 183)448 Vgl. ebd.: 290, 292.449 Ebd.: 187.

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310 4 Plessners Transformation der Ontologie

nische Äquipotentialität, also die über den Antagonismus hinausreichende Vertretung der funktionalen Mitte in den Teilen (Organen), zu explizieren, sind die „immanente Teleologie“ (an einer Stelle auch „innere Teleologie“ ge­nannt) und die „Entelechie als Seinsmodus“, die er Drieschs „Entelechie als Naturfaktor“ gegenüberstellt. Was Plessner mit diesen beiden ontologischen Denkfiguren begründet, ist die Möglichkeit der harmonischen Äquipoten­tialität, die selbst wiederum eine Ermöglichungsbedingung der dreifachen Einheit bildet. Was die Betrachtungen in dieser Untersuchung erbracht haben, ist, dass die harmonische Äquipotentialität systematisch erst dann vollstän­dig entfaltet und in ihrer Tragweite verstanden werden kann, wenn man die ontologische Transformation, die Plessner hier vollzieht, im Auge behält.

(4) Sowohl der „immanenten Teleologie“ als auch der „Entelechie als Seinsmo­dus“ wohnt der Begriff des τέλος und damit dessen immanenter Bezug auf Zukünftigkeit inne. In der klassischen Ontologie bildet die zu realisierende zukünftige Gestalt das eidologische deteminans für das gegenwärtig Seiende; das Sein von x ist das Werden zu y. Bei Plessner hingegen tritt an die Stelle der über das Sein des Organismus hinausgreifenden teleologischen Bestimmtheit die immanente strukturelle Bestimmtheit des Organismus, die er im Begriff des Vorwegseins fasst. Weil Plessner mittels des Begriffs des Vorwegseins den Prozessbegriff im Allgemeinen bestimmt wie auch die Entwicklung von Le­bendigem im Besonderen, haben wir das Vorwegsein des Lebendigen gemäß der reflexiven Verwendung durch Plessner an einer zentralen Stelle als Sich- Vorwegsein bestimmt. Mit dem Sich-Vorwegsein wird weder ein Resultat der Selbstvermittlung des Lebendigen zur Ganzheit noch eine Voraussetzung derselben im zeitlichen Sinne bezeichnet, sondern die Zeithaftigkeit des le­bendigen Seins selber, das als in sich Zeithaftes zukunftsfundiert und daher sich vorweg ist statt auf Zukunft als ihm äußerlicher Zeithorizont bezogen zu sein, d. h. formal im Bezug zu einem Noch-nicht zu stehen. Das dieser Kon­zeption entgegengesetzte klassische Modell bildet die Auffassung von Le­bendigkeit als stetigem, zeitlich sich entfaltendem Übergang von der Poten- zialität zur Aktualität, welche letztere die Zukunft bildet, auf welche Potenzialität bezogen ist. Sich vorweg hingegen ist das Lebendige nicht als factum brutum, sondern als seiende Möglichkeit, die aufgrund ihrer Zu- kunftsfundiertheit nicht auf Zukunft bezogen ist, sondern in ihrer lebendigen Gegenwärtigkeit strukturell auf Zukünftigkeit hin organisiert ist. Das besagt auch, dass Lebendiges seine lebendige Gegenwart nicht als eine in sich ab­geschlossene, sondern nur als eine offene, in ihrer internen Organisation über sich hinausreichende realisieren kann.

(5) Das Sich-Vorwegsein realisiert sich in der physischen Organisation des Le­bendigen im Ganzen (im Verhältnis von Mitte und Peripherie) und in den

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4.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung von Personalität 311

Organen als der verkörperten Peripherie, die gegenüber dem Positionsfeld offen ist. Das qua Konstitution auf-das-Positionsfeld-Hingeordnetsein er­möglicht es, das Sich-Vorwegsein als - der Terminus kommt ebenfalls bei Plessner nicht vor - Sich-Vorwegsein-zu zu bestimmen. Das Sich-Vorwegsein- zu bildet dabei eine sowohl systematisch stringentere, die holistische Tran­szendenz des Organismus als Ganzem gegenüber seiner bloß körperlichen Faktizität aufnehmende und ontologische Fassung des „Tendenzcharak­ters“450 des Lebens - mit dem Unterschied allerdings, dass das Sich-Vor- wegsein-zu die Zeithaftigkeit der seienden Möglichkeit über die Offenheit der Organe mit dem Positionsfeld in einer ontologischen Weise verbindet, statt das Positionsfeld in empiristischer Manier als Umwelt zu konzeptualisieren, die durch das in ihr existierende Lebewesen erst auf der Basis und im Medium empirischer Vollzüge zum Positionsfeld gemacht wird.

4.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung von Personalität

4.12.1 Vermittelte Unmittelbarkeit als Grundcharakter des Lebens und als Charakteristikum vormenschlicher Lebensformen

Bisher war vom Lebendigen die Rede, nicht aber spezifisch vom Menschen. Dies soll nun auf der Grundlage des Begriffs der seienden Möglichkeit nachgeholt werden. Der Begriff der seienden Möglichkeit, so die These dieses Abschnitts, kann nämlich wie der Begriff der vermittelten Unmittelbarkeit auf zwei Ebenen in Anschlag gebracht werden: in der ontologischen Bestimmung von Lebendigem überhaupt und als ontologische Bestimmung des Menschseins. Die These mag zunächst überaus problematisch erscheinen, sie wird jedoch im Anschluss an die Explikation der vermittelten Unmittelbarkeit, deren strukturelle Analogie mit der seienden Möglichkeit sichtbar gemacht werden soll, ihre Begründung erhalten.

Vermittelte Unmittelbarkeit ist bei Plessner zunächst der Name für struktu­rellen Grundsachverhalt von Leben überhaupt als „vermittelte Unmittelbarkeit des Ganzen“: „Mittel seiner selbst und Zweck seiner selbst ist nur das Leben: ein in ihm selbst vermitteltes Sein; über ihm hinausgehoben und damit Zweck, ihm selbst aber in seinen Mitteln, die das Hinausgehobensein als Organisation von ihm absetzt, verfallen: vermittelte Unmittelbarkeit des Ganzen.450 Als vermittelte ist Unmittelbarkeit immer mehr als Unmittelbarkeit, sie trägt das Gepräge eines

450 Ebd.: 190.

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Woher und des Sichvorweg-Seins, welches sich „aus der real gesetzten Grenze“451 ergebe, aufgrund derer „das Lebendige als solches die Struktur der vermittelten Unmittelbarkeit besitzt“.452 Grenzrealisierung und Selbstvermittlung des Orga­nismus zur Einheit sind zwei Aspekte des basalen Sachverhalts, lebendig zu sein, d. h. als Organismus in Beziehung zu einem Medium (ob dieses nun umweltlicher oder weltlicher Natur ist) zu stehen und sich selbst gegen- und gleichsinnig in und durch dieses Verhältnis hindurch zu konstituieren und zu realisieren.

Vermittelte Unmittelbarkeit ist überdies der Name eines anthropologischen Strukturgesetzes, das auf der exzentrischen Positionalität als dem spezifischen Positionalitätsmodus des Menschen basiert. Das Gepräge des Woher und des Sichvorweg-Seins nimmt beim Menschen - anders als bei Pflanzen und Tieren - aufgrund der exzentrischen Positionalität einen gänzlich anderen Charakter an, da an die Stelle des Verhältnisses zum Medium eine Beziehung453 zur Welt tritt, die dadurch eine Beziehung ist, dass sie sich selbst als solche wiederum potentiell gegeben ist. Die angedeutete Differenz zu den Pflanzen und Tieren soll hier kursorisch Umrissen werden.

Bei Pflanzen gibt es nur ein Verhältnis zur Umwelt, aber keine Beziehung: „Bei der Pflanze tritt eine positional begründete Beziehung zwischen Lebenssubjekt und Medium nicht auf. Eine (direkte) Beziehung spricht sich am Organismus zwar aus, aber sie ist nicht als Beziehung da.“454 Diese positionale Bezogenheit au f die Umwelt ohne Beziehung zur Umwelt gründe in der offenen Organisationsform der Pflanze: „Offen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Le­bensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum un­selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.“455 Mor­phologisch gründe die offene Organisationsform im Fehlen jeglicher „Zentralorgane, in denen der ganze Körper gebunden bzw. repräsentiert wäre“,456 in Zentralorganen also, welche die Unmittelbarkeit des Verhältnisses in einer Unterbrechung und Brechung durch ein Zentrum aufheben würden. Erst wo ein solches nervöses Zentrum auftrete, seien Empfindung und Handlung überhaupt möglich: „Empfindung und Handlung (d. h. durch Assoziationen modifizierbare,

451 Ebd.: 324.452 Ebd.453 Diese Differenz ist insofern nicht unwichtig als Plessner explizit darauf verweist, dass Pflanzen in keiner Beziehung zum sie umgebenden Medium stünden: „Bei der Pflanze tritt eine positional begründete Beziehung zwischen Lebenssubjekt und Medium nicht auf. Eine (direkte) Beziehung spricht sich am Organismus zwar aus, aber sie ist nicht nicht als Beziehung da.“ (ebd.: 324 f.)454 Ebd.: 324f.455 Ebd.: 219.456 Ebd.: 220.

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4.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung von Personalität 313

zentral vermittelte Bewegungen) widersprechen dem Wesen offener Form.“457 Plessner verweist explizit darauf, dass Reizleitungsvorgänge nicht als nervöse Prozesse missverstanden werden dürfen.458 Diese Reizleitungsvorgänge stellen ein bloßes Hindurch dar, die Pflanzen bilden daher einen unselbständigen Teil des Lebenskreises und markieren keinen Bruch innerhalb desselben. Was ihnen fehlt, ist nicht nur das morphologische Zentrum, sondern mit einem solchen Zentrum die „Sphäre zentral geschlossener Lebendigkeit“.459

Das Tier verfügt hingegen nicht nur über eine zentrische Schließung, sondern es steht aufgrund ihrer in einer eigenen Sphäre der Lebendigkeit. Die geschlossene Organisationsform des Tieres definiert Plessner wie folgt: „Geschlossen ist die­jenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm ent­sprechenden Lebenskreises macht.“460 Die Organisationsform ist eine geschlos­sene, aber keine abgeschlossene, sie ist also als geschlossene offen gegenüber der Umgebung, aber im Unterschied zur pflanzlichen Organisation gekennzeichnet durch den „Gegensatz der sensorischen und motorischen Organisation, [...] wie er durch Zentren, ganz überwiegend also durch solche nervöser Art, vermittelt ist“.461 Plessner unterscheidet zwei Weisen, in der die zentrisch-geschlossene Organi­sation sich realisieren könne:

(1) „unter Verzicht auf zentrale Zusammenfassung einzelner Zentren [...], die im losen Verband miteinander stehen und in weitgehender Dezentralisierung den Vollzug der einzelnen Funktionen vom Ganzen unabhängig machen“,462 oder (2) „streng zentralistisch unter der Herrschaft eines Zentralnervensystems“;463 der ersteren Variante ordnet Plessner die „Umgehung des Bewußtseins“,464 der letz­teren die „Einschaltung des Bewußtseins“465 zu. Ob mono- oder polyzentrisch organisiert, in beiden Fällen wird der Kontakt zwischen Organismus und Umwelt

457 Ebd.: 225.458 Vgl. ebd.: 224.459 Ebd.: 225.460 Ebd.: 226.461 Ebd.: 230.462 Ebd.: 241.463 Ebd.464 Ebd. - An anderer Stelle spricht Plessner allerdings vom Bewusstsein „der dezentralistisch organisierten Tiere“ (ebd.: 274) als der „niedrigsten Stufe des Bewußtseins“ (ebd.). Diese Dis­krepanz der Bestimmungen soll hier nicht weiter verfolgt werden; sachlich wäre sie in unserem Rahmen ohnehin nur von Belang, wenn die Gesamtbestimmung des Tieres uneinheitlich wäre und eine Sphärenverschiebung nach unten (zur Pflanze hin) oder nach oben (zum Menschen hin) stattfinden würde, was nicht der Fall ist.465 Ebd.: 241.

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im Organismus gebrochen und dadurch ein mittelbarer. Wo die Organisationsform zentrisch geschlossen ist, besteht zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt eine Beziehung: „Der zentrale Kern, Bezugspunkt des von ihm zentrisch gebun­denen Lebewesens, wird aktueller Durchgangspunkt einer von ihm ausgehenden und zu ihm zurückgehenden Beziehung, deren Vollzug durch den Organismus erst das Leben des Organismus ausmacht.“466 Diese auf der Ebene der Organisati­onsform existierende Beziehung ist dem Tier jedoch nicht positional gegeben, d. h. die Organisationsform konstituiert eine Mittelbarkeit, die positional für das Tier nicht einholbar ist, weil „die zwischen dem Tier und dem Umfeld gegebene ver­mittelte Beziehung für es selber nicht den Charakter der Mittelbarkeit haben“467 könne. Es kann den Charakter der Mittelbarkeit nicht haben, weil das Tier „zen­trisch in dieser Vermittlung restlos aufgeht und ,sich‘ noch verborgen ist“;468 die vermittelte Unmittelbarkeit wird sich hier selbst nicht gegenständlich oder durchsichtig, weil „das Ding im Umfeld Korrelat des sensomotorischen Funkti­onskreises, Ausgangspunkt der Reize und Angriffspunkt der Aktionen“469 bleibt und Objekt nur ist als „Aktionsobjekt“.470 Dingcharaktere, konstante, der situa­tiven Aktionsrelevanz enthobene Eigenschaften von Dingen sowie ihr Dinglich­keitscharakter überhaupt sind dem tierischen Bewusstsein nur insoweit zu­gänglich, „als sie motorische Äquivalente sind“.471 Dem Tier fehlt der „Sinn für’s Negative“,472 weshalb ihm „das Bewußtsein des Gegenstandes als einer Sache versagt“473 bleibt. Tierische Aktionen können im Wesentlichen nur zwei Motiva­tionsarten entspringen: Trieben474 oder Empfindungen. Bei niederen Tieren bleibt die Motivation triebhafter Natur, bei höheren Tieren, bei denen „die individuelle Zuordnung von Reiz und Reaktion den Weg über das Bewußtsein“475 nimmt, er­folgen Aktionen „auf Grund von Empfindungen“.476 Plessner spricht auch davon, dass die „Aktionen unter die Kontrolle der Empfindung kommen“477, doch auch in dieser „Situation des Bewußtseins, in welcher das Lebewesen aus einem Im­

466 Ebd.: 280.467 Ebd.: 326.468 Ebd.: 327.469 Ebd.: 270.470 Ebd.: 271.471 Ebd.: 275.472 Ebd.: 272.473 Ebd.474 „Triebe, Signale und Trieberfüllungen sind die Inhalte des Positionsfeldes niederer Tiere.“ (ebd.: 249)475 Ebd.476 Ebd.477 Ebd.

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4.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung von Personalität 315

pulszentrum heraus agiert“,478 verlässt es dieses Zentrum nicht, seine Positio- nalität bleibt zentrisch.479 In Bezug auf die vermittelte Unmittelbarkeit ist die Pointe der zentrischen Positionalität, dass die Vermittlung zur Unmittelbarkeit kein Element der Wahrnehmungs- oder Lebenswirklichkeit des Tieres bildet und auch keins bilden kann. Zwischen dem Tier und der Welt können praktische Hindernisse (motorische Äquivalente) stehen, nicht aber das Tier selbst aufgrund einer Gegebenheit für sich selbst.

4.12.2 Vermittelte Unmittelbarkeit und exzentrische Positionalität

Die vermittelte Unmittelbarkeit ist ein Grundzug des Lebens, der sich bei höheren Tieren durch die Ausbildung eines Zentralnervensystems und Bewusstseins ver­kompliziert und verfeinert, aber nicht selbst durchsichtig wird, und auch für den Menschen, der „wie das Tier dem Gesetz der geschlossenen Lebensform und ihrer Positionalität unterworfen“480 ist, nimmt „die durch ihn vermittelte Beziehung zum Umfeld den Charakter der Unmittelbarkeit an“.481 Dass auch beim Menschen die Unmittelbarkeit in der vermittelten Unmittelbarkeit nicht aufgehoben wird, sichert der Wirklichkeit ihren Wirklichkeitscharakter:

Ein Wirkliches kann als Wirkliches gar nicht anders mit einem Subjekt in Relation sein, es sei denn von sich aus das dem Subjekt Entgegengeworfene, als Objekt, d. h. als Er-scheinung,

478 Ebd.479 Der Begriff der „zentrischen Positionalität“ wird von Plessner in den S tu fen nicht geprägt, sondern wird erst 1973 in D er A u ssa gew ert e in e r P hiloso p h isch en A n thropo logie verwendet, wo Plessner vom „zentrischen Typus der Positionalität“ (Plessner 2003b: 391) spricht. In L a ch en u n d

W einen (vgl. LuW: 249) spricht Plessner in Abgrenzung von der „exzentrischen Position“ des Menschen von einer „zentrischen Position“ und bezeichnet die exzentrische Positionalität als Überformung der zentrischen: „Insoweit auch der Mensch auf tierischem Niveau lebt - und die exzentrische Position schließt die zentrische Position der Tiere in sich, indem sie diese über­formt - , gebärdet er sich ausdruckshaft grundsätzlich nicht anders als die Tiere.“ (ebd.) In den S tu fen hingegen spricht Plessner von der „Positionalität der geschlossenen Form“, vgl. SOM: 240 und 281. „Geschlossene Form“ ist hier gleichzeitig der Name der Organisations- wie der Positi­onsform, die beim Tier noch zusammenfallen, vgl. SOM: 289, wo Plessner von der „geschlossenen Form tierischer Organisation“ spricht, oder SOM: 252, wo vom „Organisationsprinzip der ge­schlossenen Form“ die Rede ist. Auch in seiner späten Selbstdarstellung spricht Plessner noch von der geschlossenen statt von der zentrischen Positionalität: „Offene Form der pflanzlichen Posi­tionalität steht der geschlossenen der tierischen gegenüber“, (Plessner 1985a: 326) allerdings mit dem Zusatz: „Und diese zentrisch der exzentrischen des Menschen.“ (Ebd.)480 SOM: 325.481 Ebd.: 328.

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Manifestation von als vermittelte Unmittelbarkeit. Sonst verliert sich der Wirklichkeits­charakter, die Objektivität, wie es auch für das Tier der Fall ist.482

Vermittelte Unmittelbarkeit bezeichnet zunächst generell und speziesübergreifend die Struktur des Bewusstseins von Wirklichkeit; sie bezeichnet aber auch im Besonderen die Situation des menschlichen Bewusstseins, welchem die Vermitt­lung zur Unmittelbarkeit selbst thematisch werden kann und welches selber in die Situation der Bewusstseinsimmanenz483 fällt. In dieser humanspezifischen Form vermittelter Unmittelbarkeit wird die Vermitteltheit der Unmittelbarkeit durch­schaut, indem die Vermittlung zur Unmittelbarkeit erfasst wird, es wird aber noch nicht von der vermittelten Unmittelbarkeit selbst Abstand genommen. Die ver­mittelte Unmittelbarkeit ermöglicht es, die Wirklichkeit des Wirklichen im Un­terschied zu einem bloßen Wirklichen (des Tieres) zu erfassen, aufgrund der ex­zentrischen Positionalität aber entsteht darüber hinaus die Differenz zwischen Wirklichkeit und Realität: „Darum ist die Exzentrizität, auch wenn sie sich im Vollzug des Wissens (der Vermittlung) vergißt, nicht getilgt. Kraft ihrer faßt das Wissen unmittelbar etwas Mittelbares: die Realität in der Erscheinung, das Phä­nomen in der Wirklichkeit.“484 Das Wissen fasst die Realität in der Erscheinung, weil es die Realität der Erscheinung aufgrund der Exzentrizität zu fassen vermag; erst wo die Realität der Erscheinung feststellbar ist, ist die Realität in der Er­scheinung als Realität statt als Wirklichkeit erfassbar. Um aber die Wirklichkeit von der Realität objektivieren zu können, bedarf es der exzentrischen Positionalität. Diese Ermöglichungsreihe lässt sich schematisch wie folgt darstellen:

Vermittelte Unmittelbarkeit (Tier) -> bloße Immanenz (Wirklichkeit) Vermittelte Unmittelbarkeit (Mensch) -> immanente Transzendenz (Wirklich­

keit als Wirklichkeit)Exzentrische Positionalität -> Transzendenz gegenüber der imma­

nenten Transzendenz (Wirklichkeit als Realität und in der Realität; Wirklich­keit der Realität als Realität und Wirklichkeit)

Die Transzendenz gegenüber der immanenten Transzendenz lässt sich in An­lehnung an Plessners Bestimmung der Exzentrizität „als der uneinholbaren Ab-

482 Ebd.: 329. - Vgl. auch ebd.: 332.483 „Seine Situation ist die Bewußtseinsimmanenz.“ (Ebd.: 328)484 SOM: 328 f.

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4.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung von Personalität 317

ständigkeit des Menschen zu sich selbst“485 auch fassen als Abständigkeit zu der vermittelten Unmittelbarkeit in der vermittelten Unmittelbarkeit; sie muss eine Abständigkeit in der vermittelten Unmittelbarkeit sein, weil in der exzentrischen Positionalität die Bewusstseinsimmanenz nicht verschwindet, sondern eine durch sie bestimmte neue Qualität annimmt.486 Exzentrische Positionalität bedeutet dann nicht einfach nur Potenzierung der vermittelten Unmittelbarkeit, also Ver­mittlung und Objektivierung ihrer selbst auf einer höheren Stufe, sondern ein Heraustreten aus der vermittelten Unmittelbarkeit innerhalb ihrer.487

Obwohl Plessner anhand der vermittelten Unmittelbarkeit die Situation der Bewusstseinsimmanenz expliziert, ist die strukturlogische Bedeutung der ver­mittelten Unmittelbarkeit nicht auf die Erschließung dieses Gegenstandsfeldes zu beschränken, denn in seiner Selbstdarstellung sagt Plessner, dass sie „für den ganzen Bereich der exzentrischen Position gilt“.488 Sie gilt für den ganzen Bereich, sie konstituiert ihn jedoch nicht, denn eine solche Konstituierung ist nur natur- philosophisch-anthropologisch, d.h. mittels der exzentrischen Positionalität, nicht aber strukturlogisch zu leisten: „Der Zerfall in die beiden Ansichten der Unmittelbarkeit und Vermitteltheit ist mit der exzentrischen Positionalität des Menschen gegeben.“489 Die humanspezifische vermittelte Unmittelbarkeit bildet daher zum einen eine die Situation der Bewusstseinsimmanenz strukturlogisch erschließende Spezifikation der exzentrischen Positionalität, welche letztere zu­nächst und allgemein die „globale“ Beziehungsstruktur des menschlichen Or­ganismus zu seinem Positionsfeld bezeichnet, welche für das Bewusstsein und die

485 LuW: 206.486 Mit diesem Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität, der eine bahnbrechende Er­rungenschaft innerhalb der Natur darstellt, entstehen übrigens auf der Grundlage der exzentri­schen Positionalität sämtliche Probleme der Epistemologie, z.B. die Probleme der Realität der Außenwelt oder der Objektivität der Erkenntnis, weil die Realität verdächtigt werden kann, die Wirklichkeit zu verklären und entstellend zu überformen oder umgekehrt die Wirklichkeit ver­dächtigt werden kann, uns über die Welt zu täuschen, die von der Realität aus zu beurteilen wäre. Die Situation der Bewusstseinsimmanenz wird aporetisch mit dem Begriff des „Bewusstseins­inhalts“, in dem Realität und Wirklichkeit sich unentwirrbar verschlingen, weil Wirklichkeit in dem Begriff in ihrer objektivierten Form gefasst wird, ohne in ihrer ursprünglichen Bedeutung zum Verschwinden gebracht zu werden. - Zum Begriff des „Bewusstseinsinhalts“ in den Stufen, vgl. SOM: 328.487 Hier wird die Simultaneität des Innerhalb- und außerhalb-Stehens antezipiert, die Plessner in Macht und menschliche Natur als den Bruch der ihrer Exzentrizität im geschichtlichen Horizont sich bewusst gewordenen Lebensphilosophie zur Entfaltung bringt: „Innerhalb ihrer Perspektive steht Lebensphilosophie außerhalb ihrer Perspektive.“ (MmN: 222) Zur Entfaltung dieser Simul­taneität vgl. ebd.: 223 f.488 Plessner 1985a: 331.489 SOM: 331.

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318 4 Plessners Transformation der Ontologie

Situation der Bewusstseinsimmanenz bestimmend ist. Als für den „ganzen Be­reich“ der exzentrischen Positionalität gültige strukturlogische Figur kann sie jedoch nicht bloß von zentraler Bedeutung für die Erschließung eines nebenge­ordneten Teilbereichs innerhalb der Sphäre exzentrischer Positionalität sein, wie die Benennung ihrer als eines von drei anthropologischen Grundgesetzen in den Stufen dem Augenschein nach suggeriert. Von der exzentrischen Positionalität her verstanden, spezifiziert sich die vermittelte Unmittelbarkeit daher zum anderen von einem Grundzug von Leben überhaupt zu einem Grundzug des menschlichen Lebens und fungiert deshalb nicht nur als ein anderen anthropologischen Grundgesetzen nebengeordnetes Gesetz, sondern als ein diesen gegenüber pri­vilegiertes, da die natürliche Künstlichkeit und der utopische Standort ebenfalls Gestalten vermittelter Unmittelbarkeit sind,490 als solche aber nicht erschöpfend aus dem „Grundgesetz“ erklärt werden können, das sie zugleich verkörpern, weshalb Plessner die exzentrische Positionalität als Explikationskategorie ein­führt.

Die vermittelte Unmittelbarkeit nicht nur als eine Qualität des Bewusstseins, sondern als einen Grundzug der menschlichen Existenz und daher als eine über das Bewusstsein hinausreichende, strukturlogische Spezifikation der exzentri­schen Positionalität aufzufassen, lässt sich kaum bestreiten, wenn man Plessners oben zitiertes Diktum, die vermittelte Unmittelbarkeit sei „mit der exzentrischen Positionalität“ gegeben, weiterverfolgt. Eine aufschlussreiche Stelle dazu findet sich in Lachen und Weinen: „Im Rahmen der vermittelten Unmittelbarkeit, d. h. der exzentrischen Position, wie sie sich als Verhältnis von Ich und Körper darstellt, lassen sich Probleme schärfer fassen und einer künftigen Lösung entgegenführen, bei denen man im alten Rahmen mit seinen groben Alternativen gleich an die Grenzen alles Erkennens stieß.“491 Das Miteinander-Gegebensein von vermittelter Unmittelbarkeit und exzentrischer Positionalität drückt Plessner hier in einem „das heißt“ aus und nennt wenige Zeilen später die vermittelte Unmittelbarkeit und die exzentrische Positionalität „elementar-ursprüngliche Seinsweisen“.492 Bleibt man hier beim Wortlaut stehen, so hat man es mit bloß nebengeordneten Seinsweisen zu tun, die man in inflationär veralltäglichtem „Heideggerisch“ als

490 Wenn Plessner sagt, dass die vermittelte Unmittelbarkeit für den „ganzen Bereich“ der ex­zentrischen Positionalität gelte, schließt dies die beiden anderen anthropologischen Grundge­setze mit ein und ist auch genau so gemeint: ,„Die Stufen des Organischen“ schließen mit der Benennung von drei anthropologischen Grundgesetzen, deren erstes, das der vermittelten ,Un­mittelbarkeit“, für den ganzen Bereich der exzentrischen Position gilt, wie die beiden anderen der natürlichen ,Künstlichkeit“ und des ,utopischen Standortes“.“ (Plessner 1985a: 331)491 LuW: 248.492 Ebd.

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4.12 Seiende Möglichkeit als ontologische Bestimmung von Personalität 319

„gleichursprünglich“ bezeichnen kann, um einen Haken unter das vermeintlich durchdrungene Problem zu setzen. Doch die Auffassung beider als „gleichur­sprünglich“ würde die Spezifikation der exzentrischen Positionalität in der ver­mittelten Unmittelbarkeit bloß verwischen und die Differenz zwischen beiden in einer Indifferenz der Gleichursprünglichkeit zugleich bestehen und verschwinden lassen. Hierarchisiert man hingegen die Differenz in quasi-deduktiver Weise zu­gunsten der exzentrischen Positionalität, so gerät man in den Zirkel der Zurück­führung einer elementar-ursprünglichen Seinsweise auf eine andere, die wie­derum als Fundament oder gar Ursache jener, ihr subordinierten, angesetzt werden müsste. Der Zerfall in die Unmittelbarkeit und die Vermitteltheit wäre dann nicht „mit der exzentrischen Positionalität des Menschen gegeben“,493 sondern durch sie als ihre Ursache. Statt beide in einem Ursache-Wirkungs-Ver- hältnis zu sehen, ist die exzentrische Positionalität als eine elementar-ur­sprüngliche Seinsweise naturphilosophisch-anthropologischer Art zu verstehen, die vermittelte Unmittelbarkeit hingegen als eine elementar-ursprüngliche Seinsweise strukturlogischer Art; die Ebenendifferenz begründet keine Rangfolge, sondern gerade die Intransgredienz der Kategorien, d. h. die Unmöglichkeit, sie ineinander überzuführen oder durch einander zu ersetzen. Es kann daher auch nur auf den ersten Blick paradox erscheinen, dass von zwei „elementar-ur­sprünglichen Seinsweisen“ eine, nämlich die exzentrische Positionalität, eine größere Fundierungsreichweite, nämlich eine naturphilosophisch-anthropologi- sche, hat als die andere. Als explosiv und aporetisch kann diese Differenz sich erst darstellen, wenn man die verschiedenen Fundierungen durch ein Fundament ersetzen will, aus dem alles andere abzuleiten sei.

Spezifikation bedeutet nicht Aufhebung von Differenz oder Nivellierung, sondern Materialisierung in einer konkreten - ob physischen oder nicht-physi­schen - Gestalt. In freier Anverwandlung einer semiotischen Grundunterschei­dung ausgedrückt: Der Spezifikant (vermittelte Unmittelbarkeit) kann nicht die Begründung des Spezifikats (exzentrische Positionalität) leisten; umgekehrt kann das Spezifikat den Spezifikanten nicht hervorbringen; zudem können beide voneinander unterschieden, aber nicht voneinander getrennt werden, da sie konstitutiv für die semiotische Grundrelation sind, die nicht aufgehoben werden kann, ohne dass Gegenstand und Bedeutung in eins aufgehoben werden. Die Spezifikation bezeichnet daher eine interne Relation zwischen Spezifikant und Spezifikat im Unterschied zur metaphysischen Realisierung des Urbilds im Abbild, wo die Relation nur insofern eine interne ist, als sie vom Urbild gestiftet wird. Der Begriff der Spezifikation enthält logisch - da die Spezifikation eine solche nur sein

493 SOM: 331.

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320 4 Plessners Transformation der Ontologie

kann, weil sie nicht mit dem, was sie spezifiziert, identisch ist - , was diese Pa­radoxie zum Verschwinden bringt, nämlich dass beide Konzepte, die als „ele­mentar-ursprüngliche Seinsweisen“ weder koextensionaler Natur noch durch­einander substituierbar sind, Unterschiedliches leisten sollen: Die vermittelte Unmittelbarkeit muss daher nur zur Explikation eines Sachverhalts dienen, der mit der exzentrischen Positionalität gegeben ist, weil er unaufhebbar in das Dasein von Lebewesen eingebettet ist, denen die exzentrische Positionalität zukommt; dies ist in der Explikation der Bewusstseinsimmanenz der Fall. Die vermittelte Unmittelbarkeit muss und kann hingegen nicht als Explikationsbasis ihrer eige­nen Vermittlung fungieren; sie wäre dann nicht mehr Bestimmung des spezifi­schen Charakters der Unmittelbarkeit als einer ihrer selbst als vermittelt ansich­tigen, sondern ein Prinzip der Transzendierung dessen, was der Begriff besagt und was in der exzentrischen Positionalität als der Möglichkeit der Transzendenz noch gegenüber der Erfassung der Vermitteltheit der Unmittelbarkeit in einer höher- stufigen Vermittlung fassbar wird. Wäre die vermittelte Unmittelbarkeit selbst­begründungsfähig, so könnte Plessner den Begriff der Mitwelt genauso gut an­hand der vermittelten Unmittelbarkeit wie anhand der exzentrischen Positionalität explizieren, doch die Bestimmung der Mitwelt bleibt an die in der exzentrischen Positionalität strukturell angelegte Transzendenz gegenüber der vermittelten Unmittelbarkeit gebunden und bildet selbst kein Konkretum, das sich als Unmittelbarkeit fassen lässt:

Das spezifische Substrat der Mitwelt beruht also doch nur auf ihrer eigenen Struktur. Mitwelt ist die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfaßte Form der eigenen Position. Man muß infolgedessen sagen, daß durch die exzentrische Positionsform die Mitwelt gebildet und zugleich ihre Realität gewährleistet wird.494

Als „Substrat“ und „Form der eigenen Position“ kann die Mitwelt kein Konkretum und folglich keine Unmittelbarkeit überhaupt bilden; sie bildet keinen empiri­schen Bestandteil der Bewusstseinsimmanenz, sondern primär den Rahmen der sozialen Welt, die nur sekundär als „Mitwelt“ bezeichnet werden kann.495 Eine weitere Vertiefung dieser Problematik ist hier nicht möglich. Die Ausführungen zum Verhältnis der vermittelten Unmittelbarkeit und der exzentrischen Positio­nalität sollten lediglich der Schärfung der mehrfältigen Rolle der vermittelten Unmittelbarkeit dienen, um die doppelte Rolle des Begriffs der seienden Mög­

494 Ebd.: 302.495 Er fasst sich dann als „Glied der Mitwelt“ auf: „Die Existenz der Mitwelt ist die Bedingung der Möglichkeit, daß ein Lebewesen sich in seiner Stellung erfassen kann, nämlich als ein Glied dieser Mitwelt.“ (ebd.: 302f.)

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4.13 Seiende Möglichkeit als ontologischer Grundbegriff 321

lichkeit vorzubereiten, der ebenfalls eine grundbegriffliche Rolle in der Explika­tion von Leben überhaupt und der Daseinsweise des Menschen spielen könnte - und sollte.

4.13 Seiende Möglichkeit als ontologischer Grundbegriff und die Ontologie der menschlichen Person

Indem Plessner sagt, man komme „nicht darum herum, lebendiges Sein als sei­ende Möglichkeit und in seiner Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vor­handenen greifbaren Körpers näher zu bestimmen“,496 führt er diesen Begriff als einen unumgehbaren Begriff der Bestimmung des lebendigen Seins ein. Wo Plessner vom Lebendigen als seiender Möglichkeit handelt, geht es um Modali­täten des lebendigen Seins, um „Sein im Modus der Potenz“,497 das gleichwohl unterschätzt und verkannt werde, wo von seiner Potenzialität als einer „Poten- tialität als reinem Nochnichtsein“498 gesprochen werde. Plessner ist hier gerecht zu werden versucht worden mittels der Analyse des lebendigen Seins als eines ma­terial-modalen, kurz: als eines dialektisch-ontologischen Ineinander von Potenz und Akt. Vom klassischen Akt-Potenz-Denken unterscheidet Plessners Entwurf sich - und zwar entscheidend - darin, dass die Relation von Potenz und Akt nicht mehr als eine des Übergangs von der Potenz in den Akt gedacht wird. Edith Stein hat zwar bereits, wie gezeigt, von Potenz und Akt als Seinsmodi gesprochen, zu­gleich aber die klassische Auffassung beider als Modalitäten distinkter entitärer Zustände beibehalten. Die Auffassung von Potenz und Akt als eine Relation des Übergangs eines distinkten Zustandes der Potenz in einen distinkten Zustand des Aktes hat Plessner hinter sich gelassen, indem er Akt und Potenz nicht mehr als „das Verhältnis zwischen seienden Elementen“,499 sondern sie konsequent als „eine Seinsweise“500 und demzufolge „das Vermögen, die Potenz als eine Art des Seins“501 aufgefasst und entfaltet hat. Die im Folgenden zu begründende These besagt - Plessners Ontologie des Organischen über sich selbst hinaustreibend und die Potenz als Art des Seins wie die vermittelte Unmittelbarkeit auf die Explikation der menschlichen Daseinsweise übertragend und ausweitend - , dass über die Bestimmung des lebendigen Seins als Potenz und seiende Möglichkeit hinaus

496 Ebd.: 173.497 Ebd.: 172.498 Ebd.499 Ebd.: 175.500 Ebd.501 Ebd.

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322 4 Plessners Transformation der Ontologie

auch das lebendige Sein des Menschen ontologisch als seiende Möglichkeit zu bestimmen wäre.502

Die ontologische Bestimmung des Menschen als seiende Möglichkeit führt nominell keine Neuerung gegenüber der Bestimmung des Lebendigen überhaupt als seiende Möglichkeit ein; der Terminus „seiende Möglichkeit“ gewinnt daher kontextuell, je nach dem in Rede stehenden Gegenstand, seinen Sinn, d.h. ein Grundbegriff der Ontologie des Organischen erfährt eine Transposition, ohne einen neuen und dem spezifischen Gegenstand allein geltenden Namen zu er­halten. Die ontologische und die naturphilosophische Bestimmung konvergieren darin, dass sie beide einander von verschiedenen Warten aus beleuchtende an­thropologische Bestimmungen sind. Damit wird zugleich behauptet: Die ontolo­gische Bestimmung des Menschen ist ein wesentliches Moment seiner anthro­pologischen Bestimmung, die ohne diese ontologische Bestimmung insuffizient bleiben muss. „Seiende Möglichkeit“ ist eine ontologische Bestimmung, weil sie eine Was-Bestimmung ist; sie antwortet auf die Frage, was der Mensch sei, ohne in dieser Beantwortung eine entitär zu verstehende Substanz wie Geist, Wille, Seele etc. in Anspruch zu nehmen, d. h. sie bestimmt den Menschen nicht durch etwas im Menschen und erst recht nicht durch ein höheres, in sein Sein von außen eingreifendes Sein. Sie bestimmt das Wesen des Menschen deshalb auch nicht von Partikularpotenzen oder substanzialisierten Eigenschaften her, sondern sie be­stimmt das Wesen der menschlichen Person strukturgesetzlich. In der Übertragung auf den Menschen nimmt die Ontologie des Organischen daher die Gestalt einer Ontologie der menschlichen Person an:

Wiederum unter diesem Aspekt einer universellen Wissenschaft vom Ausdruck erweist es sich als notwendig, die Probleme einer philosophischen Anthropologie, einer Lehre vom Menschen und von den Aufbaugesetzen seiner Lebensexistenz aufzusuchen und zu verfol­gen. Hierher gehören die Fragen der Wesensstruktur der Persönlichkeit und der Personalität

502 Erste Schritte in diese Richtung deuten sich bei Haucke (Haucke 2002) an, werden aber keineswegs konsequent gedacht, sondern das Sein der seienden Möglichkeit wird durch einen Ausdrucksüberschuss gegenüber der bloßen Erscheinung bestimmt; Kants Erscheinungsbegriff und Plessners Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen gehen dabei eine konfuse Liaison ein: „Eine seiende Möglichkeit ist nichts anderes als ein Wirkliches, das erscheint und zum Ausdruck bringt, daß es mehr ist, als was es in der Erscheinung ist [...] Es ist in der Erscheinung präsent als etwas, das sich in keiner Erscheinung erschöpft.“ (Haucke 2002:118) Doch nicht nur Plessner und Kant werden über die methodisch bedingten Abgründe ihrer Erscheinungsbegriffe hinweg vermischt, der klassische Substanzbegriff, von dem Haucke sich (und über sich vermittelt auch Plessner) lösen kann, wird mit dem Ding an sich identifiziert, muss letztlich herhalten, um die seiende Möglichkeit eine seiende Möglichkeit sein zu lassen: „Die Substanz, das Ding an sich ist in der Erscheinung präsent, je schon vermittelt mit seinen Akzidenzien, nicht pure Wirklichkeit, sondern seiende Möglichkeit - Spiel, Irrealität, Ambivalenz.“ (ebd.: 127)

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4.13 Seiende Möglichkeit als ontologischer Grundbegriff 323

überhaupt, ihrer Ausdrucksfähigkeit und Ausdrucksgrenzen, der Bedeutung des Leibes für Art und Reichweite des Ausdrucks, die Fragen der Wesensformen der Koexistenz von Per­sonen in sozialen Bindungen und der Koexistenz von Person und ,Welt‘, also die bedeu­tungsvolle Frage des menschlichen Lebenshorizontes und seiner Variierungsfähigkeit, die Frage der möglichen Weltbilder.503

Die Reihe von Fragen, die Plessner anspricht, können eine elaborierte Beant­wortung einzig in der Fortsetzung von Schelers Projekt einer „Wissenschaft von der menschlichen Person“ erfahren, an welches Plessner hier504 in der Vertiefung von Motiven aus seinen Frühschriften505 anknüpft, um dieser Vertiefung in den Stufen die Gestalt einer Philosophischen Anthropologie zu verleihen. Die struk­turgesetzliche Antwort auf die aufgeworfenen Fragen sucht Plessner in der Ex­plikation der exzentrischen Positionalität. Die exzentrische Positionalität findet, wie nun gezeigt werden soll, ihre komplementäre ontologische Bestimmung im Begriff der seienden Möglichkeit bzw. der realen Potenz.

Statt einander widerstreitende Bestimmungen des Menschen darzustellen, bilden die seiende Möglichkeit und die exzentrische Positionalität im strikten Sinne komplementäre Bestimmungen. Die exzentrische Positionalität bestimmt nicht das Wesen des Menschen, sondern sie bestimmt naturphilosophisch die Qualität des Verhältnisses des natürlichen Lebewesens Mensch zu seiner sich für ihn als Welt spezifizierenden Umwelt in dessen struktureller Bedingtheit; die seiende Möglichkeit bestimmt das Wesen des Menschen, d.h. sein Was-Sein, ontologisch. Plessner sagt in Lachen und Weinen, mit der exzentrischen Positio­nalität sei „die formale Bedingung angegeben, unter der die menschlichen We­sensmerkmale und Monopole in ihrer (dem Sinne nach) unauflöslichen Verbun­denheit erscheinen“.506 Hier ist Plessner gegen sich selbst zu verteidigen. Würde die exzentrische Positionalität tatsächlich nur eine formale Bedingung personaler Existenz angeben, so könnte sie keine „Ermöglichungsbedingung“ im strikten Sinne darstellen, als welche sie sowohl konsequent von Krüger als auch hier im Anschluss an Krüger aufgefasst wird. Eine Ermöglichungsbedingung im strikten Sinne des Ausdrucks muss eine materiale Bedingung sein, sie lässt sich nicht zur bloßen Denkvoraussetzung oder nomologischen Notwendigkeit verkürzen, wel­che letztere als „formale Bedingung“ angesprochen werden kann. Von einer bloß formalen Bedingung lässt sich nicht sinnvoll aussagen, dass das Bewusstsein der

503 SOM: 24.504 Vgl. ebd., wenige Zeilen weiter.505 Vgl. Kapitel 1.1.506 LuW: 245.

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324 4 Plessners Transformation der Ontologie

durch sie „bedingte Aspekt“507 sei oder dass der Andere „als Glied einer sozialen Umgebung, als Mitmensch [...] in der besonderen Struktur der personalen Sphäre seinen Grund“508 habe. Was oben „materiale Bedingung“ genannt wird, nennt Krüger „die strukturfunktionale Ermöglichung der Spezifik menschlicher Lebe­wesen“,509 womit mehr angegeben wird als eine bloß „formale“ Bedingung, ohne dass der Rückgriff auf inhaltliche Bestimmungen wie den Geist erfolgte. Die ex­zentrische Positionalität mit Krüger (und sachlich, wenn auch nicht durchgängig im Wortlaut, mit Plessner) im strukturfunktionalen Sinn aufzufassen - der Begriff steht in keinerlei Widerspruch zu Plessners Bestimmung der exzentrischen Po­sitionalität, sondern bringt diese terminologisch „zu sich“ - , ermöglicht es erst, seiende Möglichkeit und exzentrische Positionalität als komplementäre Bestim­mungen aufzufassen.

Das Sein der seienden Möglichkeit bzw. der Person ist theoriestrukturell in ihrer Doppelrolle mit der vermittelten Unmittelbarkeit verglichen worden, doch eine engere Verwandtschaft dieser ontologischen Bestimmung besteht sachlich zum Gesetz der natürlichen Künstlichkeit. Die seiende Möglichkeit, die als reale Potenz nicht selbstgenügsam, sondern darauf angewiesen ist, sich als Potenz durch Lebensvollzüge bzw. durch Verwirklichungen in der personalen Lebens­führung zu realisieren, um reale Potenz statt bloße leere Möglichkeit (eine solche kann nicht im Modus der Lebendigkeit, sondern nur als deren artifizieller Null­punkt existieren) zu sein, ist temporär heimatschaffend (auch wenn die Ferne abenteuerlich als Heimat fungieren soll) unter der Voraussetzung konstitutiver Heimatlosigkeit:

Weil dem Menschen durch seinen Existenztyp aufgezwungen ist, das Leben zu führen, welches er lebt, d. h. zu machen, was er ist - eben weil er nur ist, wenn er vollzieht - braucht er ein Komplement nichtnatürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Existenzform künstlich. Als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, muß er „etwas werden“ und sich das Gleichgewicht - schaffen.510

Besteht das Ideal der Lebensführung darin, eine endgültige Heimat zu erschaffen, die Heimaterschaffung also zu finalisieren, so jagt eine Person permanent Sur­rogaten der Vollendung in der unantastbaren Idylle hinterher. Besteht das Ideal der Lebensführung hingegen darin, unter der Anerkennung der natürlichen Künstlichkeit und der Unabschließbarkeit des (geführten und zu führenden) Le­

507 SOM: 303.508 Ebd.: 306.509 Krüger 2001:10. Vgl. auch ebd.: 249.510 SOM: 310.

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4.13 Seiende Möglichkeit als ontologischer Grundbegriff 325

bens im Leben die konstitutive Heimatlosigkeit als Rückseite der Potenzialität zu begreifen statt die Hinfälligkeit eines jeden, vor allem eines bejahbaren, status quo existenzialistisch als Verfallenheit ans Nichts aufzufassen, tritt an die Stelle der unerreichbaren Vollendung die prinzipiell erreichbare Erfüllung in der Lebens­führung, die in der Orientierung an konkreten Vollzügen im aristotelischen Sinne als Entelechie bezeichnet werden kann. Entelechie als Erfüllung, die keine Voll­endung darstellen soll, wäre gerade die nicht im Ganzen abschließende und ab­schließbare Aktualisierung nicht im Ganzen aufhebbarer Potenzialität.

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5.1 Überblick über die Forschungsliteratur

5 Das Politische in der Ontologie der Person

Das Politische, wie es Plessner als Problem in den Grenzen der Gemeinschaft und in Macht und menschliche Natur sich vorgesetzt hat, ist in der Plessner-Forschung häufig konventionell behandelt worden, weshalb zwar teilweise ein systemati­scher Zusammenhang mit den Stufen konzediert wird, das Politische als Ermög- lichungsbedingung von Politik aber nicht naturphilosophisch gedacht wird; andere Studien changieren zwischen historischer Rekonstruktion und systema­tischer Erschließung, ohne dass eine klare Entscheidung sie prägte.

Ein treffliches Beispiel für die Konfusion von historischer und systematischer Deutung bildet Rüdiger Krammes Buch Helmuth Plessner und Carl Schmitt. Eine historische Fallstudie zum Verhältnis von Anthropologie und Politik in der deutschen Philosophie der zwanziger Jahre, dessen Titel suggeriert, dass es sich um eine Studie über einen bestimmten Zeitabschnitt handele, dessen zentrale These al­lerdings in der Behauptung „einer theoretischen Wahlverwandtschaft“1 Plessners und Schmitts besteht. Eine solche Wahlverwandtschaft übersteigt nicht nur not­wendig historische Koinzidenzen, sie wird zugleich von Kramme aufgehoben, indem er sie, von einer von Plessner ,,angestrebte[n] Wahlverwandtschaft“2 sprechend, zu einer strategischen Leistung Plessners verklärt. Der historischen Intention Krammes entspricht seine zweifelhafte Behauptung, dass „Plessner und Schmitt in der Analyse der Gegenwart übereinstimmen“3 und dass beider „Theoriekonzepte in ihrem politischen Kontext als Argumentationskontinuum gelesen werden können“.4 Kramme erweitert diese historische These allerdings um die Behauptung einer grundlegenden systematischen Übereinstimmung und Gleichsinnigkeit der Philosophien Plessners und Schmitts: „Plessners Ausfüh­rungen lassen sich als notwendige anthropologische Erläuterungen der Schlüs­seltheoreme Schmitts lesen und umgekehrt“,5 Schmitts Theorie des Politischen könne gar „als Operationalisierung der von Plessner anthropologisch übersetzten Gegenwartsdiagnose gelesen werden“.6 Indem Kramme von einer „anthropolo­gisch übersetzten Gegenwartsdiagnose“ spricht, muss er mindestens zwei Über-

1 Kramme 1989: 9.2 Ebd.: 221.3 Ebd.: 208.4 Ebd.: 217.5 Ebd.: 22.6 Ebd.: 208.

D0I 10.1515/9783110459159-006

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5.1 Überblick über die Forschungsliteratur 327

Setzungsleistungen selbst vollziehen und in Plessner hineinprojizieren: Die na­turphilosophische Systematik der Stufen muss eine Reaktion auf die politische Situation der 1920er darstellen und anthropologisch Plessners „Versuch, die Identitätssicherung und Selbstbehauptung des Bürgertums theoretisch zu fun­dieren“7 beinhalten; wie die exzentrische Positionalität, die natürliche Künst­lichkeit8 und das Gesetz des utopischen Standorts ein ihnen derart fremdes Be­dürfnis erfüllen sollen, erläutert Kramme nicht. Umgekehrt muss eine bereits vorhandene Zeitdiagnose, damit sie anthropologisch übersetzt werden kann, vor der Entwicklung der Stufen bereits ausgebildet gewesen sein. Als Kandidat kommen lediglich die Grenzen der Gemeinschaft in Betracht, da Macht und menschliche Natur drei Jahre nach den Stufen erschienen ist, d. h. die Stufen hätten eine (die Gegenwartsdiagnose womöglich dabei modifizierende) Übersetzung der Grenzschrift ins Anthropologische zu bilden, welche These durchaus abenteuer­lich anmutet. Auf der Linie dieser genetischen Epiphänomenalität der Stufen liegt Krammes These, wonach „Funktion und Stellenwert“9 der Philosophischen An­thropologie sich „einer besonderen Auffassung von Politik“10 zuordne, die Krammes Ausgangsthese zufolge mit Schmitts Auffassung von Politik zu koinzi- dieren hätte. Auf diese These und ihre Falschheit11 kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden, worauf es hier ankam, war zu zeigen, dass Kramme das Politische bei Plessner als philosophische Grundlegung einer bestimmten und an die historische Situation der 1920er Jahre gebundenen Politik auffasst. Eine Theorie des Politischen kann daraus keine Impulse beziehen.

Anders als Kramme hat Bielefeldt, wie sein Buch Kampf und Entscheidung. Politischer Existentialismus bei Carl Schmitt, Helmuth Plessner und Karl Jaspers

7 Ebd.: 224.8 Kramme nimmt sich die Freiheit, die natürliche Künstlichkeit „natürliche Kulturbedürftigkeit“ (ebd. : 110) zu nennen; der Weg zu einer Kompensationstheorie, deren Motiv die Sicherung statt die Entsicherung ist, ist damit geebnet.9 Ebd.: 229.10 Ebd. - Zugleich wird Politik allgemein als Mittel zur Durchsetzung partikularer Sicherheits­und Identitätsbedürfnisse, also in Ablösbarkeit von konkreten historischen Bedürfnissen, be­stimmt: Die Mittel zur Erfüllung des Bedürfnisses „nach Sicherheit und Identität“ (ebd.: 134) seien „Entscheidung“ und „Haltung“, der sie um- und übergreifende Begriff: Politik, (ebd.)11 Honneth hat eine ausführliche Kritik der Position Krammes vorgelegt, welche die „ent­scheidende Differenz“ (Honneth 2002: 24) gegenüber der prima facie-Wahlverwandtschaft arti­kuliert. - Auch Norbert Axel Richter (Richter 2005: 187 ff.) sieht klar, dass die Schmitt-Bezug­nahmen Plessners eher äußerlicher als identifikatorischer Natur waren und spricht deshalb bei Plessners Bezugnahmen von einer „Kategorientransformation“ im Unterschied zu einem „Kate­gorientransfer“ (ebd.: 188). Eine explizite Kritik von Krammes formuliert Richter in Richter 2001: 788 ff.

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328 5 Das Politische in der Ontologie der Person

(1994) zeigt, einen klaren Blick für die gegensätzlichen Intentionen Plessners und Schmitts,12 als deren beider Gemeinsamkeit mit Jaspers Bielefeldt, alle drei An­sätze als „existentialistisch“ qualifizierend, zurecht das Anliegen ausmacht, der „Politik gegen [...] harmlos-harmonisierenden Idealismus ihren inneren Ernst zu wahren“.13 Seinem politikwissenschaftlich geprägten Zugang zum Werk Plessners entsprechend, hält Bielefeldt Plessner vor, er löse in Macht und menschliche Natur „den Staatsbegriff tendenziell dadurch auf, daß er Staatlichkeit als bloßen Modus der allgemeinen existentiellen Ungesichertheit und Konflikthaftigkeit im menschlichen Zusammenleben überhaupt versteht“.14 Trotz dieser komparatisti- schen Orientierung am Staatsbegriff, der in Bielefeldts Analysen eine tragende Rolle spielt, hat Bielefeldt einen klaren, nicht von der Führung durch Signalwörter abhängigen Blick für den Zusammenhang zwischen der Naturphilosophie und der Theorie des Politischen bei Plessner:

Weil Plessner in den .Stufen des Organischen“ den Weg zur radikalen Frage des Menschen nach sich selbst bereitet, kommt diesem Buch eine Schlüsselstellung für die Entwicklung der philosophischen Anthropologie zu. Dies hat auch Auswirkungen auf seine politische Phi­losophie, obwohl das Politische hier praktisch nirgendwo direkt thematisiert wird.15

Doch Bielefeldts oben angesprochene Explikationsintention erlegt ihm nicht als Desiderat auf, den Zusammenhang zwischen naturphilosophischer Grundlegung und der Reflexion des Politischen weitreichend zu verfolgen, weshalb Bielefeldt sich darauf beschränkt, das Politische mit der Mitwelt und der exzentrischen Positionalität für gegeben zu halten,16 es aber zugleich als den aus der funda­mentalen Ambivalenz der menschlichen Natur, der Gespaltenheit in Innen und Außen, in Eigenes und Fremdes hervorgehenden „Kampf zwischen zwei Gegen­sätzen“17 aufzufassen. Der Sprung von der Ambivalenz zwischen Umwehgebun­denheit und Wehoffenheit, auf den Bielefeldt sich im Ausgang von den Stufen bezieht, verkürzt den Zusammenhang zwischen beiden Werken um die Rolle des Bruchs von Leibsein und Körperhaben in der Personalisierung, den Krüger als unhintergehbar herausgearbeitet hat und von dem wir auch hier ausgehen. Weil Bielefeldt den Bruch nicht im Rückgriff auf Lachen und Weinen ausformuliert und an die naturphilosophische Grundlegung in den Stufen rückbindet, ist das Poli­

12 Bielefeldt 1994: 69 f.13 Ebd.: 115.14 Ebd.: 97.15 Ebd.: 76.16 „Er ist daher notwendig das politische Lebewesen: „Die exzentrische Positionsform bedingt die Mitweltlichkeit oder Sozialität des Menschen, macht ihn zum zôon politikön...““ (ebd.: 81)17 Ebd.: 90.

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5.1 Überblick über die Forschungsliteratur 329

tische sowohl im abstrakt bleibenden Sinne der strukturell-anthropologischen Notwendigkeit die in der menschlichen Natur gründende Schicksalhaftigkeit wie auch Politik im empirischen Sinne, kurz: Transzendentale Begründung und em­pirische Realität fallen zusammen, da beide als Kampf bestimmt werden, der politische Existentialismus wird in die Philosophische Anthropologie projiziert.

Gerhard Arlts Buch mit dem vielversprechenden Titel Anthropologie und Po­litik. Ein Schlüssel zum Werk Helmuth Plessners (1996) enthält eine Deutung, die sich auf den Zusammenhang zwischen den Grenzen der Gemeinschaft, den Stufen und Macht und menschliche Natur beschränkt und die Bedeutung von Lachen und Weinen verkennt, weshalb die Unterscheidung zwischen Leibsein und Körper­haben in Arlts Überlegungen keine Rolle spielt. Anders als Kramme sieht Arlt, dass es Plessner in Macht und menschliche Natur um die philosophische Emanzipation vom „kursierende [n] (Un-)Begriff der Politik in seiner verkürzten, rein instru­menteilen Bedeutung“18 geht. Arlt sieht den sachlichen Zusammenhang zwischen den Stufen und Macht und menschliche Natur,19 psychologisiert aber Plessners „anthropologische Bestimmung des Politischen“20 unter der Hand, indem er Plessners Konzeptualisierung der Verschränkungsnotwendigkeit von Eigenem und Fremdem dahingehend charakterisiert, dass Plessner „das Fremde selbst zu benennen und im psychodynamischen Motivationsgefüge des Menschen zu fundieren“21 suche. Abgesehen davon, dass Plessners Bestimmung des Fremden in Macht und menschliche Natur weder der Intention nach noch der Formulierung nach psychologischer Art ist, hätte es sich genau umgekehrt zu verhalten: Theorie muss ein Fundierungsverhältnis einholen statt es zu leisten, sie kann nichts fundieren, was nicht sachlich fundiert wäre, ohne in Ideologie abzudriften. Eine solche Fundierungsleistung wäre allenfalls ein Desiderat geschichtlicher Praxis, nicht aber der Theorie. Insofern schleicht sich in Arlts Betrachtung eine Bevor­zugung von Macht und menschliche Natur bei gleichzeitigem Hinwegsehen über Lachen und Weinen ein. Die „naturphilosophische Frage wird abgelöst durch die Perspektive auf Geschichte und Gesellschaft als die den Menschen übergreifenden und prägenden Mächte“,22 ohne dass die Gültigkeit der naturphilosophischen Perspektive suspendiert würde; diese wird aber auch nicht wieder als Begrenzung bzw. Brechung der Geschichtlichkeit in die Betrachtung des Politischen hinein­geholt, sondern mit resignativem Pathos als bloß kreatürlicher Rest stehenge­lassen: „Die schwerfällige Anatomie des Menschen, seine Leiblichkeit, an der er

18 Arlt 1996:106.19 Vgl. ebd.: 84 f.20 Ebd.: 122.21 Ebd.: 123.22 Ebd.: 83.

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330 5 Das Politische in der Ontologie der Person

seine Grenze erfährt, widersteht allem geschichtlichen Wandel. Trotz der Ge­schichtlichkeit, die ihm eignet, kann er sich nicht nach seinem Bilde formen. Es bleibt ein Erdenrest zu tragen peinlich.“23

Nele Schneidereit versucht in Die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe einer kritischen Sozi alp hi losop hie (2010), „mit Plessner den Begriff sozialer Wirklichkeit zu konkretisieren, den ich mit Tönnies begriffslogisch ent­wickelt habe“.24 Die Engführung Tönnies’ mit Hegel bestimmt auch Schneidereits Begriff der Dialektik, für den kennzeichnend ist, dass Begriffslogik und Reallogik zusammenfallen :

Mit Dialektik bezeichne ich hier die Entfaltung der Idee des Sozialen in ihre begrifflichen und realen Widersprüche Gemeinschaft und Gesellschaft bzw. die Standpunkte eines sozialen Ganzen und des Individuums sowie deren Aufhebung im Begriff sozialer Wirklichkeit unter Beibehaltung seiner sich widersprechenden grundlegenden sozialen Aspekte.25

Die Identifikation von begrifflichen und realen Widersprüchen führt dazu, dass die Unmöglichkeit von Versöhnung, welche Schneidereit für ein Charakteristikum einer sich selbst ernstnehmenden Dialektik hält, die unmögliche Versöhnung gleichwohl begriffslogisch implementiert, weil das Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft unter dem Primat des Begriffs jegliches explosives Potenzial einbüßt. Die Unmöglichkeit der Versöhnung ist erst dann nicht mehr trivial, wenn der Antagonismus von Gemeinschaft und Gesellschaft ernstgenommen wird und nicht lediglich unhintergehbare begriffliche Koordinaten festlegt, innerhalb derer Praxis sich bewegt, ohne sie sprengen zu können. Um diesen Antagonismus geht es Plessner in den Grenzen der Gemeinschaft wie auch die von Schneidereit zitierte Formulierung aus Plessners Nachwort zu Ferdinand Tönnies zeigt, wo Plessner von der „unverbrüchliche [n] dialektische [n] Verbindung von Gemeinschaft und Ge­sellschaft als Verwirklichungsweisen sozialen Daseins“26 spricht, diese aber in einen Finalsatz einbettet, in welchem es um Gemeinschaft als Ideal und als in ihrer Einseitigkeit und Überhöhtheit zu bekämpfendes Ideal geht, nicht um Gemein­schaft als begriffliches und reales Konstitutionsmoment sozialer Wirklichkeit:

Mir ging es um die unverbrüchliche dialektische Verbindung von Gemeinschaft und Ge­sellschaft als Verwirklichungsweisen sozialen Daseins, um die Bestreitung möglicher Ver­einseitigung des Gemeinschaftsideals, den Nachweis also der Unaufhebbarkeit der Öffent­

23 Ebd.: 55.24 Schneidereit 2010.25 Ebd.: 20.26 Plessner 2001a: 177. - Zitiert in Schneidereit 2010:138.

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5.1 Überblick über die Forschungsliteratur 331

lichkeit, der Distanzen, der Diplomatie, von Gewalt und Macht im zwischenmenschlichen Verkehr.27

Übergeht man die antagonistische Gegensätzlichkeit von Gemeinschaft und Ge­sellschaft und ihren Ethos-Charakter, so kann man in der entkernten Interpretation der Grenzen der Gemeinschaft eine „Sozialontologie des alltäglichen Daseins“28 entwickelt sehen. Eine solche Ontologie ist dann aber im strikten Wortsinn eine des Sozialen und keine des Politischen, und sie kann auch keine des Politischen sein, weil das Politische nur als konkreter Fall innerhalb des durch die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft bestimmten Sozialen denkbar bleibt. Die Naturphilosophie gerät in dieser Lesart in eine Randposition, weil die begriffli­chen Koordinaten der Sozialphilosophie bereits feststehen und die Stufen ledig­lich ein anthropologisches Supplement der am Hegel’sehen Modell der bürgerli­chen Gesellschaft geschulten Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft bilden: „Plessners philosophische Anthropologie hellt das moralische, reflexive Subjekt der Hegelschen bürgerlichen Gesellschaft als (stets historisch bedingte) menschliche Grundsituation auf und weist es als strukturnotwendiges Moment einer kritischen Sozialphilosophie aus.“29

Volker Schürmann hat in seinem Aufsatz Unergründlichkeit und Kritik-Begriff Plessners Politische Anthropologie als Absage an die Schulphilosophie (1997) das Politische durch dessen Überführung ins Diskursive entschärft. Schürmann zu­folge sei eine Anthropologie, da sie sich „schon im Ansatz ihrer Frage für eine bestimmte Auffassung entschieden“30 habe, „in diesem Sinne politisch rele­vant“.31 Dass Schürmann eine an Plessner orientierte Diskurspolitik im Auge hat, geht auch aus der programmatischen Deutung in seinem Buch Die Unergründ­lichkeit des Lebens. Lebens-Politik zwischen Biomacht und Kulturkritik (2011) her­vor, wo Schürmann hervorhebt, dass mit Plessner „gegen angewandte Ethiken eine Artikulationstheorie des Politischen formulierbar“32 werde, welcher Schür­manns im Untertitel angeführter Begriff der Lebens-Politik im Wesentlichen ent­spricht:

Lebens-Politik wäre dann der Artikulations-Prozess jenes gesellschaftlichen ,Grenzregimes‘, der sich - gleichsam täglich umkämpft und umstritten - je epochal in der Auszeichnung bestimmter Naturkörper als Personen manifestiert. Bei emanzipatorischer Absicht wäre

27 Plessner 2001a: 177f.28 Schneidereit 2010:157.29 Ebd.: 133.30 MmN: 221, auch von Schürmann zitiert in: Schürmann 1997: 358.31 Ebd.32 Schürmann 2011: 232.

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332 5 Das Politische in der Ontologie der Person

dabei die Errungenschaft der Moderne zu bewahren, dass die deklarierte und verbindlich gemachte Staatsbürgerschaft diejenige Form von Personalität ist, die eine Schutzfunktion der Unergründlichkeit des und der Einzelnen ist. Die ,Unantastbarkeit der Würde“ ist der ver­briefte Schutz der Einmaligkeit der Person.33

Die staatsbürgerschaftliche Frömmigkeit Schürmanns öffnet gerade der Ver­harmlosung des Politischen Tür und Tor,34 gegen die Bielefeldt sich mit seiner Deutung Plessners gewandt hatte. Auf der Linie dieser liegt Schürmanns sich auseinander ergebende Aufweichung und Fundamentalisierung der Unergründ­lichkeit als verselbständigtes Prinzip. Um eine Aufweichung handelt es sich, weil die Unergründlichkeit in der (symbol-)politischen Überschätzung diskursiver Praktiken zu einer diskurspolitischen Maxime verharmlost wird; um eine Fun­damentalisierung handelt es sich, weil Schürmann, die naturphilosophische Grundlegung in den Stufen in die systematische Nachrangigkeit manövrierend, das Prinzip der Unergründlichkeit trotz der anderweitig behaupteten Isosthenie von Unergründlichkeit und Exzentrizität35 zum Ermöglichungsgrund letzterer erklärt: „Das Theorem der Unergründlichkeit expliziert nicht nur ein wesentliches Moment dessen, was Exzentrizität meint, sondern ist darüber hinaus in sehr ei­gentümlicher Weise selbst Ermöglichungsgrund von Exzentrizität.“36

Auch in Norbert Axel Richters Grenzen der Ordnung. Bausteine zu einer Theorie des politischen Handelns nach Plessner und Foucault (2005) spielt der Begriff der Artikulation eine zentrale Rolle, allerdings wird er von Richter weitläufig entfaltet und in einem Spannungsfeld verschiedener Entwürfe der politischen Philosophie verortet. Richter geht es in seinem Buch darum, entgegen der „Reduktion des Politischen auf politische Ordnung“37 in im weitesten Sinne korporatistischen Theorien „das Feld des Politischen als Feld von Artikulations- und Handlungs­möglichkeiten angemessen zu beschreiben“,38 doch anders als Schürmann hat Richter dabei durch und durch agonale Praxis im Visier. Richters systematische

33 Ebd.34 Das Nötige hierzu findet sich mit adäquater Schärfe bei Tamponi 2012.35 „Die einen Dezisionismus verhindernde Isosthenie der beiden Prinzipien der Unergründ­lichkeit und Exzentrizität ist der für Plessners Konzept alles entscheidende Punkt: Die Nicht- Entscheidbarlceit eines Primats eines dieser beiden Prinzipien ist der methodologische Ausdruck der Verbindlichkeit des Prinzips der Unergründlichkeit.“ (ebd.: 357)36 Schürmann 1997: 347, Fußnote 2.37 Richter 2005: 231. - Richters diesbezügliche begrüßenswerte Grundthese, in welche die Er­kenntnis, dass politische Ordnung ein Resultat und keine die Möglichkeit und Unterminierung von Ordnung gleichermaßen ermöglichende Bedingung empirischer Politik ist, lautet: „Als Theorie über die Bedingungen der Möglichkeit politischer Ordnung oder als Theorie politischer Institu­tionen ist sie eine unzureichende Theorie des Politischen.“ (ebd.)38 Ebd.

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5.1 Überblick über die Forschungsliteratur 333

Betrachtung der Agonalität des Politischen setzt im späteren, auf Analysen von Schmitt, Habermas und Foucault folgenden Plessner-Kapitel ein, in dem Richter in der Auseinandersetzung mit Macht und menschliche Natur den Begriff der „strukturellen Agonalität“ einführt.39 Begriffe wie der der strukturellen Agonalität verleiten gern zum Konstatierungspositivismus des „Es ist eben so“, doch Richter hat mit seiner Bezugnahme auf Plessner mehr im Sinn, nämlich die Agonalität in der reflexiven Wendung gegen das Subjekt von zunächst bloß ausdrücklichen Artikulationen40 als politisches agens in Anschlag zu bringen, indem er das Prinzip der Unergründlichkeit in der sinngemäßen Transformationsfigur der Ironizität in einer „Dialektik der Artikulation“41 gegen die bloß zustandsexpressive und primitive politische Artikulation in Anschlag bringt:

Das politische Handeln scheint in dieser Polarität [von Authentizität und Ironizität, S. E.[ zunächst ganz auf die Seite der Identität und ihres authentischen Ausdrucks zu gehören, wenn mit Plessner Politik als derjenige, Zustand des menschlichen Lebens“ gesehen wird, ,in dem es sich nicht nur äußerlich und juristisch, sondern von Grund und Wesen aus seine Verfassung gibt und sich gegen und in der Welt behauptet“. Das politische Verhalten ist dann nämlich in erster Linie Artikulation dieser Verfassung. Aber schon bei Plessner war die Dialektik von Unbestimmtheit und Selbstbehauptung, die auf der Ebene der Artikulation als Dialektik von Authentizität und Ironizität wiederkehrt, weder zur einen noch zur anderen Seite hin aufgelöst worden.42

Die Brechung der eindimensionalen Direktheit eines bloß selbstexpressiven und selbstbehauptenden Ausdrucksverhaltens denkt Richter also vom in der zitierten Passage nicht namentlich angeführten Prinzip der Unergründlichkeit als von ei­

39 Vgl. ebd.: 174.40 „Der Begriff Artikulation akzentuiert gerade dieses undialektische Moment in der Form des subjektiven Ausdrucks: In der Artikulation wird,deutlich ausgesprochen“, wer das artikulierende Subjekt jeweils sei.“ (ebd.: 214) In ihrer undialektischen, nicht reflexiv gewordenen Gestalt erzeugt Artikulation Identität in genau dem schlechten Sinne: „Das undialektische, ein Abbildungsver­hältnis suggerierende Form der Artikulation ist nicht so sehr eine ideologische Subjektivitätsform als vielmehr Ausdruck dessen, daß sich das Subjekt empirisch als homogene Einheit konstituiert hat: und zugleich die Form, in der das möglich war.“ (ebd.: 215) Die von Richter nicht explizierte Nähe zu Adorno und dessen gleichwohl eher logisch als ausdruckstheoretisch formuliertem Begriff der Hybris - verstanden als subjelctivistische, die Identität mit sich selbst behauptende Form von Artikulation im weitesten, auf Sprachliches wie auf Selbstbehauptung im Ganzen zie­lenden Sinne - liegt auf der Hand: „Hybris ist, daß Identität sei, daß die Sache an sich ihrem Begriff entspreche.“ (Adorno 1966: 150) Die weitreichende, keineswegs triviale und eine alles andere als aporetische, von Plessner zu Adorno und umgekehrt verlaufende Übersetzungsarbeit, kann hier nicht geleistet werden.41 Vgl. Richter 2005: 215-217.42 Ebd.: 220.

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334 5 Das Politische in der Ontologie der Person

nem ironischen43 Prinzip her. Das Prinzip der Unergründlichkeit fasst Richter einerseits in Komplementarität mit dem der exzentrischen Positionalität44 und folglich Macht und menschliche Natur als systematisch mit den Stufen komple­mentäres Werk,45 unterscheidet aber zugleich zwischen der Philosophischen Anthropologie als einer Naturphilosophie des Lebendigen und einer für seine Zwecke relevanten „Anthropologie des Politischen“, die er in Macht und menschliche Natur ausformuliert sieht:

Während das Konzept der exzentrischen Positionalität und die daraus abgeleiteten an­thropologischen Grundgesetze dazu bestimmt waren, das gesamte Gegenstandsfeld der philosophischen Anthropologie auszuleuchten, zielt die Schrift von 1931 [..] auf eine An­thropologie des Politischen. Die neue Formel der verbindlichen Unergründlichkeit wird dabei zum Scharnier zwischen Anthropologie und Politiktheorie.46

Die Verbindung, die Richter zwischen der Philosophischen Anthropologie und der „Anthropologie des Politischen“ aufmacht, ist interessant, weil sie in Richters Auslegung von einer Verschiebung getragen wird, die sich als die Differenz zwi­schen der oben bereits erwähnten strukturellen Unbestimmtheit des Menschseins (aufgewiesen in der Philosophischen Anthropologie) und der die „Anthropologie des Politischen“ spezifisch charakterisierenden „Dezentrierung“ zeigt; den Stufen gegenüber „wird in Macht und menschliche Natur (1931) eine Dezentrierung vor­genommen, ohne daß zugleich der Erkenntnisgehalt der früheren Arbeiten ver­worfen werden müßte“.47 „Dezentrierung“ und „Ironizität“ machen in Richters Augen also das die „Anthropologie des Politischen“ auszeichnende Spezifikum aus, welches in den Stufen seine gleichwohl weiterhin gültige Grundlegung er­fahren habe.48 Dieses Ermöglichungsverhältnis bleibt aber abstrakt, weil die Gültigkeit der Stufen zwar anerkannt wird, das Prinzip der Unergründlichkeit als Motor der Agonalität und Ironizität aber letztlich zum tragenden Prinzip einer

43 Auf den romantischen Ironie-Begriff, wie Friedrich Schlegel ihn formuliert hat, kommt Richter zwar nicht zu sprechen, doch dessen untergründige Wirkmächtigkeit lässt sich von Schlegels Bestimmung der Ironie als „permanente Parelcbase“ (Schlegel 1988: 28) her leicht begreifen.44 Vgl. Richter 2005:148 f.45 „Die verbindliche Annahme des Prinzips der Unergründlichkeit stellt den Menschen ungefähr in dieselbe bestimmte Unbestimmtheit, in der er gemäß den Stufen des Organischen durch die Geltung der drei anthropologischen Grundgesetze seiner Natur nach stehen sollte.“ (ebd.: 168)46 Ebd.47 Ebd.: 166.48 „Die exzentrische Position verschafft dem Menschen sowohl zu sich selbst als auch zu den Gegenständen seiner Umwelt eine Distanz, die es ihm ermöglicht (und ihn zugleich dazu zwingt), sich selbst als jemanden zum Ausdruck zu bringen und mit Gegenständen als begrenzt verfüg­baren Objekten zu hantieren.“ (ebd.: 180)

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5.2 Von Plessners Ontologie des Ausgleichs 335

„Anthropologie des Politischen“ erklärt wird, die das Politische letztlich mit dem politischen Handeln, das Richter mit seiner Dialektik der Artikulation im Auge hat, zusammenschmelzen lässt. Aufgrund dieser Orientierung kann Richter mit den späteren Schriften Plessners nicht viel anfangen und marginalisiert diese mittels der Unterscheidung zwischen einer eigentlich politischen und einer späteren soziologischen Phase: „Die sozialphilosophische Öffnung der anthropologischen Spieltheorie erfolgt seinerzeit in Richtung auf die soziologische Rollentheorie und nicht mehr, wie in den politischen Schriften der Zwischenkriegszeit, in Richtung auf ein Konzept politischer Agonalität.“49 Die Ermöglichungsbedingungen des Politischen im weiteren Sinne, die Körperleiblichkeit als tragendes Medium der Personalisierung und die Person als nicht in sich politisch verfasste, sondern als politisch zur ihrer Verfassung gelangende aufzufassen, ist auf der Grundlage dieser Marginalisierung nicht mehr möglich. Darum soll es nun aber im Folgenden gehen.

5.2 Von Plessners Ontologie des Ausgleichs als der Grundlage einer Theorie des Politischen

Überschrift und Vorhaben dieses Kapitels können leicht Missverständnisse evo­zieren, die ich in dem Maße, in dem es einem Autor möglich ist, verunmöglichen möchte. Wenn hier von der Ontologie Plessners als der Grundlage einer Theorie des Politischen die Rede ist, geht es nicht um eine auf der Ontologie als ihrer Grundlage entwickelten Theorie des Politischen. Eine Theorie des Politischen wird hier nicht entwickelt, vielmehr wird eine bereits entwickelte, nämlich die bei Plessner angelegte und von Hans-Peter Krüger in Zwischen Lachen und Weinen durch Zusammenführung der verschiedenen Fäden und Motive von Plessners Gesamtwerk ausformulierte Theorie, vorausgesetzt. Worum es hier geht, sind Verbindungslinien zwischen Plessners ontologischer Systematik, der hier auf die Beschreibung des Menschen übertragenen Begriffe der seienden Möglichkeit bzw. der realen Potenz sowie der Theorie des Politischen, die Krüger auf der Basis der Philosophischen Anthropologie Plessners entwickelt hat. Die Ontologie soll als die begriffliche und systematische Schnittstelle zwischen der Naturphilosophie und dem Grundbegriff einer Theorie des Politischen, dem privat-öffentlichen Doppelgängertum, exponiert werden, und sie soll, obwohl die Naturphilosophie oben als Ontologie expliziert worden ist, insofern als scheinbar zur Naturphilo­sophie eine Differenz bildende Schnittstelle bilden, als der transformierte, auf den

49 Ebd.: 195 f.

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336 5 Das Politische in der Ontologie der Person

Menschen angewandte Begriff der realen Potenz einen Terminus darstellt, der in seiner humanspezifischen Fassung bisher weder Teil der Naturphilosophie noch der Theorie des Politischen war. Die Explikation der Naturphilosophie als Onto­logie wird andererseits im strengen Sinne beibehalten, weil der Begriff der realen Potenz auf grundlegende ontologische Begriffe wie den der „Entelechie als Seinsmodus“ zurückbezogen wird.

5.2.1 Verschränkung und Ausgleich

Indem der Mensch ontologisch als seiende Möglichkeit bestimmt wird, wird er - gemäß Plessners Bestimmung alles Lebendigen in der Naturphilosophie als „Sich- Vorweg“ und doch in seiner Inkommensurabilität als exzentrische Lebensform - bestimmt als eine Potenz-zu, genauer: als eine Potenz zu sich selbst, die ihrer selbst nicht abschließend gewiss sein kann, ohne aufzuhören, Potenz zu sein. Die Realität des Menschen als seiender Möglichkeit ist die Realität einer Potenz, die sich nur durch und in Aktualisierungen, d. h. durch Lebensvollzüge und damit im Medium der Lebensführung, zu dem hin50 verwirklichen kann, was als Wirklich­keit Möglichkeit bleibt. Was ontologisch seiende Möglichkeit genannt werden kann, wird in der Lebensführung als Person angesprochen.

Die Person bleibt in der Lebensführung nicht bei sich selbst, sondern sie muss den doppelten Weg nach innen (in der „Eröffnung eines Innen“)51 und außen (in Verkörperungsleistungen) gehen.52 Sie muss den doppelten Weg gehen, weil sie keinen festen Ort hat: weder im Innen, das nur in seiner substanziellen Auffassung als mit sich selbst identisch bleibende Heimat aufgefasst werden kann, findet die Person ein dauerhaftes Refugium, noch findet sie im Außen eine Idylle, in welcher

50 Vom Begriff der „Selbstverwirklichung“ wird hier Abstand genommen, weil er suggeriert, dass in der Selbstverwirklichung ein Selbst sich zu dem macht, was es bereits ist, oder als substan­zielles Selbst die um ihr Endziel wissende Verwirklichung selbst in der Hand habe und ab­schließend erlangen könne. „Selbstverwirklichung“ zielt in der landläufigen Auffassung be­grifflich auf die Artikulation des erreichten oder erstrebten Ziels, in der Lebensführung mit sich im Reinen zu sein und die Lebensführung demgemäß vollauf bejahen zu können, und verkürzt dabei die Potenzialität der Lebensführung auf die jeweilige bejahte Aktualität oder eine partikulare Vorstellung einer für allein angemessen gehaltenen, bestimmten zukünftigen Gestalt, welche das Leben anzunehmen habe. Plessner verwirft eine so verstandene und ihm logischerweise unbe­kannte Selbstverwirklichung in den Stufen bereits indirekt: „Infolgedessen lebt der Mensch weder einfach das zu Ende, was er ist, er lebt sich nicht aus (das Wort in seiner Unmittelbarkeit radikal verstanden), noch macht er sich nur zu dem, was er ist.“ (SOM: 310)51 Ebd.: XVII.52 Vgl. hierzu CH: 196.

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5.2 Von Plessners Ontologie des Ausgleichs 337

sie zur Ruhe kommen kann. Dass die Person beide Wege gehen muss, ohne auf einem von beiden ein endgültiges Ziel erreichen zu können, setzt sie keinem Zwang aus, der ihre Potenzialität unterminiert; vielmehr stellt gerade aufgrund ihrer wesenhaften Potenzialität, ihres Potenz-Seins, der doppelte Zwang sich „in der menschlichen Personalität als Zwang und Chance“53 dar. Wäre der Zwang, den Weg nach außen zu gehen, bloßer Zwang, so wäre die Person bloß eine permanent reaktive Aktualität, ein blankes Positivum, das unverstandenen Widerfahrnissen unablässig ausgesetzt wäre und sich lediglich einer Reiz-Reaktions-Logik gemäß zu ihnen verhalten könnte. Könnte die Person immer nur einen der beiden Wege gehen und müsste nacheinander einseitige Möglichkeiten disjunktiv realisieren, so würde sie zwischen zwei Wegen oszillieren statt zwei Sphären zu verschränken.

Die Denkfigur der Verschränkung hat Plessner in den Stufen noch nicht sys­tematisch entwickelt; Plessner spricht in den Stufen nur in Überschriften von „Verschränkung“, und auch nur in dem Abschnitt, wo er vom Hiatus als „Kon­stitutionsform des Lebens“ handelt,54 nicht aber in der Entfaltung der exzentri­schen Positionalität. Erst in Macht und menschliche Natur gewinnt der Begriff seine zentrale Stellung dort wo Plessner die „Verschränkung der Perspektiven des Miteinander und Gegeneinander“55 als das prekäre Desiderat einer Meisterung56 des zwischen Vertrautheit und Fremdheit gespannten Politischen offenlegt. In Lachen und Weinen, wo der Verschränkungsgedanke zu seiner vollen Reife ge­langt, denkt Plessner die Verschränkung auf Basis der wechselseitigen Ver- schränktheit von Leib und Körper. Der Leib als das gleichsam verkörperte Innen, das als Körper „selber ein Stück Außenwelt“57 ist, bildet den Ort der Ver- schränktheit zweier Ordnungen, die stets aufs Neue und ohne finale Schließung in der Lebensführung zu verschränken sind: „Beide Ordnungen sind ineinander verschränkt und bilden eine merkwürdige Einheit.“58 Der Doppelaspekt von Innen (Psychischem) und Außen (Physischem) wird hier in der systematischen Ausar­beitung des Begriffs des Körperleibs material entfaltet, ohne dass eine um­standslose Übersetzung stattfände: Der Leib, der immer auch Körper bleibt, ist nicht „das Innen“, sondern müsste, wenn man die Terminologie der Stufen darauf

53 Ebd.54 SOM: 152 und 154.55 MmN: 196.56 „In beständigen Umbrüchen erobert der Mensch zwischen Umwelt und Welt, zwischen der heimischen Zone vertrauter Verweisungen und Bedeutungsbezüge, d ie,immer schon“ verstanden worden sind, und der unheimlichen Wirklichkeit der bodenlosen Welt seine Umwelt aus der Welt. An der Verschränkung zeigt er sich als Meister.“ (ebd.: 197f.)57 LuW: 240.58 Ebd.

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338 5 Das Politische in der Ontologie der Person

übertragen wollte, als „Innen-Außen“ angesprochen werden. Umgekehrt ist der physische Körper kein schlichtes Außen, sondern das Außen des Innen und als solches, wie die Genitivkonstruktion andeutet, ein Außen, welches dem Innen selbst als nicht in ihm aufgehendes und von ihm beherrschbares antagonistisches Moment innewohnt. Der nur noch als Körper von der Person empfundene Kör­perleib, der sich gegen die Intentionen der Person im Verhaltenskollaps des un- gespielten59 Lachens und Weinens verselbständigt,60 wird in seiner antagonisti­schen Verselbständigung gegen die Person zum Ausdrucksmoment jenseits jeglichen aktiven Ausdrückens aufgrund der Ausdrücklichkeit als Lebensmodus; nicht mehr die Person als ihrer selbst mächtige Verhaltenseinheit antwortet, sondern der Körper der Person antwortet von jenseits der Verhaltensmöglichkeiten der Person her und über deren Verhaltens- und Verkörperungsmöglichkeiten hinweg personal.61

Wie hängt die „merkwürdige Einheit“, von der Plessner spricht, nun mit der Potenzialität der menschlichen Person als seiender Möglichkeit zusammen, wel­che diese Einheit verkörpert? Die Person ist schließlich nicht identisch mit dem Körperleib, in dem die „merkwürdige Einheit“ der beiden Ordnungen zur Er­scheinung gelangt, sondern die Person ist das, was die Verschränkung der Ver- schränktheit der beiden Ordnungen vollzieht; sie kommt nicht zur Verschränktheit als die Verschränkung vollziehendes Agens hinzu, sondern Personalität besteht in der Verschränkung, d.h. die Person ist Person, weil und indem sie die Ver­schränkung vollzieht (und damit ein lebendiges Verhältnis zwischen den Gliedern der „Verschränktheit“ stiftet) - oder auf spezifische Weise in einer menschlichen

59 Die konsequente Unterscheidung zwischen gespieltem und ungespieltem Lachen und Weinen geht auf Hans-Peter Krüger zurück, der der systematischen Differenz zwischen dem schauspie­lerischen Lachen und Weinen und dem Lachen und Weinen der Verhaltenskrisen auf der ter­minologischen Ebene ihr Recht gewährt. Vgl. Krüger 1999.60 Krüger bringt dies phänomenologisch auf den Punkt: „Diese leiblos gewordene Verkörperung ist nicht mehr der eigene Körper, den ich unmittelbar erleben und direkt willentlich betätigen kann, eben weil er mein eigener Körperleib ist, sondern wie ein anderer Körper, irgendein anderer, der darin allen anderen Körpern gleicht, daß er wie diese außer meiner meiner Macht steht.“ (Krüger 1999:158)61 Die Verhaltensmöglichkeiten reichen über die Verkörperungsmöglichkeiten im engeren Sinne, z. B. in der sprachlichen Artikulation hinaus. Plessner hat beide als Arten der Artikulation, die als Oberbegriff der heterogenen Vollzugsarten dienen könnte, im Visier: „Wiewohl vom Menschen aus motiviert, treten sie als unbeherrschte und ungeformte Eruptionen des gleichsam verselbstän­digten Körpers in Erscheinung. Der Mensch verfällt ihnen, er fällt - ins Lachen, er läßt sich fallen - ins Weinen. Er antwortet in ihnen auf etwas, aber nicht mit einer entsprechenden Formung, die der sprachlichen Gliederung, der mimischen Gebärde, Geste oder Handlung an die Seite zu stellen wäre. Er antwortet - mit seinem Körper als Körper wie aus der Unmöglichkeit heraus, noch selber eine Antwort finden zu können.“ (LuW: 234f.)

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5.2 Von Plessners Ontologie des Ausgleichs 339

Verhaltenskrise im ungespielten Lachen oder Weinen daran scheitert. Weil die Person das ist, was die Verschränkung vollzieht, ist alle Lebensführung personaler Art und sind Personen Lebewesen, zu deren Lebendigkeit als solcher es strukturell gehört, ihr Leben zu führen. Der personalisierende und individualisierende Ver­schränkungsvollzug bringt nicht einfach eine „merkwürdige Einheit“ zu sich selbst, als wäre die Verschränkung die Überführung einer „merkwürdigen“ in eine „gelungene“ Einheit und damit letztlich eine Glättung oder eine Auflösung eines Widerstreits in Harmonie. Eine solche „glättende Verschränkung“ würde letztlich den traditionellen Vorrang des Akts vor der Potenz durch die Hintertür als te­leologisches Ideal der personalen Genesis einführen und sowohl die Abständig- keit der Person zu sich selbst als auch die Unabschließbarkeit personaler Ent­wicklung nicht mit der hinreichenden systematischen Strenge denken.

Mit der Kategorie der Verschränkung wird das Feld der Personalisierung und Individualisierung betreten, doch ein umfassenderer Blick auf die praktische Kategorie der Verschränkung erfordert eine weitere Perspektive, die von Plessners Begriff des Ausgleichs her zu gewinnen ist, genauer gesagt: von seiner Ontologie des Ausgleichs, die in den Stufen ihre Grundlegung erfahren hat, ohne in der Plessner-Forschung als ontologisch-naturphilosophische Fundamentalkategorie wahrgenommen worden zu sein. Dass der Status dieses Begriffs unbemerkt ge­blieben ist, dürfte nicht wenig damit zu tun haben, dass Plessner diese Kategorie nicht ins Zentrum der Stufen rückt und von ihr - wie auch von den Begriffen der „Entelechie als Seinsmodus“ und der „immanenten Teleologie“ - nur äußerst sparsam Gebrauch macht. „Ausgleich“ soll im Folgenden als die ontologische Kategorie aufgewiesen werden, von welcher her sich ein Bogen von Plessners naturphilosophischer Grundlegung zu seinem Begriff des privat-öffentlichen Doppelgängertums spannen lässt. Dabei soll in den nächsten Abschnitten vor allem das strikt komplementäre Verhältnis zwischen den Kategorien des Aus­gleichs und der Verschränkung genau gefasst werden.

5.2.2 Plessners Ontologie des Ausgleichs. Verbindung des Doppelgängertums mit der Ontologie des Organischen

Der Begriff des Ausgleichs tritt keineswegs erst oder nur in Plessners gern zitierter und missverstandener „Ethik des Ausgleichs“62 auf, sondern findet bereits seinen

62 Bielefeldt bringt die Ethik des Ausgleichs fälschlicherweise mit der Aristotelischen μεσότης- Lehre in Verbindung und übersieht dabei, dass Plessner keine ethische Mitte der tugendhaften Vervollkommnung im Blick hat, sondern die Mitte der Mitte, welche die Person ist. Vgl. Bielefeldt 1994: 74. - Uta Eichler fasst Plessners Ethik des Ausgleichs gar als „angewandte Ethik“ auf, die

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theoretisch grundlegenden Ort in den Stufen. Nicht verschwiegen, aber auch nur knapp angedeutet werden soll hier, dass die Figur des Ausgleichs sich durch Plessners gesamtes Denken zieht, bevor die Verbindung zwischen den Stufen und Lachen und Weinen exponiert wird.

In den Grenzen der Gemeinschaft bildet die Kategorie des Ausgleichs keine Kategorie der Versöhnung, sondern die einer Vermittlung, die Plessner geradezu polemisch einklagt. Die Figur des Ausgleichs hat Plessner zufolge eine doppelte Funktion, denn Ausgleich bedeute sowohl Ausgleich im Sinne der Kompensation eines Mangels, die sich politisch in der Totalisierung der Gemeinschaft Bahn breche, als auch Ausgleich als Ausgleich dieser Fehlkompensation. Die fehl­kompensatorische Variante lautet wie folgt: „Das Idol des Zeitalters ist die Ge­meinschaft. Wie zum Ausgleich für die Härte und Schalheit unseres Lebens hat die Idee alle Süße bis zur Süßlichkeit, alle Zartheit bis zur Kraftlosigkeit, alle Nach­

gleich der Philosophischen Anthropologie keiner ontologischen Begründung mehr fähig sei, und vertritt einer der hier entfalteten Auffassung diametral entgegengesetzte: „Die ,Ethilc des Aus­gleichs“ als .angewandte Ethik“ ist mit dem Politischen verknüpft. Ebenso wie nach Plessner Anthropologie nicht mehr ontologisch begründet werden kann, ist einer Ethik, die ihre Grenzen reflektiert, die Rückführung auf eine Ontologie verwehrt.“ (Eichler 2010: 322) Ihre Behauptung entwickelt Eichler in keiner Analyse der Stufen, sondern versucht deren Legitimation aus einer zusammenhanglos zitierten Stelle zu gewinnen, an welcher Plessner sich von der Existenzia- lontologie Heideggers und dessen Privilegierung spezifischer Lebenshaltungen und Weisen der Lebensführung abgrenzt. Vgl. Ebd., Fußnote 34 und Plessner 2001b: 187. Wenn es sich darüber hinaus bei der Ethik des Ausgleichs um eine „angewandte Ethik“ handeln soll, stellt sich die Frage, wo Plessner deren Grundlage formuliert; die Grenzen enthalten eine solche nicht nur, Plessner definiert den sozialen Radikalismus gar als „Opposition gegen das Bestehende, insofern es als immer einen einen gewissen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Kräften der menschlichen Natur einschließt und den Gesetzen der Verwirklichung, dem Zwang des Möglichen gehorcht“. (GdG: 14) Plessners Einwand gegen den Radikalismus, der selbst viel eher als eine angewandte Ethik auftritt als Plessners Kritik, zielt gerade darauf, die Möglichkeit zu retten, dass die Einheit der menschlichen Person sich als Einheit zu realisieren vermag. Der soziale Radika­lismus bildet demgegenüber eine angewandte Ethik der dualistischen Reduktion dieser Einheit: „Der Dualismus, dem die Einheit der menschlichen Person verloren geht, führt in der Ethik stets zur Machtverneinung und damit zur Degradierung der Politik, zur Verdrängung des Zivilisati­onstriebes, der Werte der Künstlichkeit.“ (ebd.: 130) In den Stufen auftretende Begriffe und For­mulierungen (z.B. die natürliche Künstlichkeit) klingen hier schon deutlich an, und das Ziel der Ethik des Ausgleichs besteht weniger in der Ausformulierung einer positiven Ethik als darin, das anthropologisch Unhintergehbare gegen die positive, wertrigoristische [vgl. ebd.: 25f.[ Ethik des Gemeinschaftslcultus unter ethischen Vorzeichen ins Feld zu führen. Paradox formuliert: Es geht darum, die Natur des Menschen auf der Grundlage der natürlichen Künstlichkeit gegen die toll­wütig gewordene künstliche Künstlichkeit des Gemeinschaftsradikalismus zu verteidigen, die sich das Ansehen ursprünglicher Natürlichkeit zu geben versucht.

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5.2 Von Plessners Ontologie des Ausgleichs 341

giebigkeit bis zur Würdelosigkeit in sich verdichtet.“63 Die Idolatrie der Gemein­schaft erweise sich, wie die sprachliche Form („wie zum..“) indizieren soll, als Pseudo-Ausgleich. Die als Krankheit erfahrene Gesellschaft, welche durch Kälte und Härte, in summa durch Gleichgültigkeit gegenüber den Individuen, sich kennzeichnet, soll mittels eines Gemeinschaftskultus therapiert werden, dem Plessner wiederum therapeutisch die Vermittlung von Gemeinschaft und Gesell­schaft unter dem Primat des Gesellschaftlichen verordnet.64 Auf diese Vermittlung zielt Schneidereits oben besprochenes Buch, in dem der Ausgleich jedoch eher im Sinne der Versöhnung denn als Ausgleich unter der Voraussetzung der Unaus- gleichbarkeit gedacht wird, wie Plessner dies tut.65 Der Ausgleich, wie Plessner ihn denkt, ist also nicht harmonistisch verkürzbar zu einem Nullsummenspiel falsch verstandener Versöhnungsversuche. Ausgleich im Sinne Plessners kann Unaus- gleichbarkeit nicht aufheben, weil Plessner Vermittlung zur Ganzheit in keinem seiner Werke finalistisch denkt, sondern jede Ganzheitlichkeit oder erreichte Einheit als jeweils fragile und unabgeschlossene begreift.

In Macht und menschliche Natur tritt der Begriff des Ausgleichs hinter dem der Verschränkung des Eigenen ins Fremde zurück, mittels dessen Plessner „in den Mittelpunkt der Anthropologie die Unergründlichkeit des Menschen“66 rückt. Die Pointe des Verschränkungsbegriffs besteht darin, das Eigene als von einem seine Selbstmächtigkeit brechenden Fremden in ihm selbst Bestimmtes und Durch­quertes auf sich zu nehmen. Diese Verschränkung zu leisten heißt, in ein dra­matisches und gefährliches Unternehmen mit Wagnis-Charakter einzutreten, wohingegen Plessner mit dem Begriff des Ausgleichs eher auf nötige Ausbalan­cierungen zielt, die einer immanenten Gesetzmäßigkeit der Selbstorganisation (Stufen) oder der Personalisierung und Individualisierung (Grenzen der Gemein­

em Ebd.: 28.64 „Erinnern wir uns jetzt daran, daß Öffentlichkeit als Ort der unverbunden sich begegnenden Personen durch Wertferne bezeichnet ist, die freilich nicht Wertfreiheit, sondern die ewig un­auflösbare Spannung zwischen Norm und Leben bedeutet. Um konkrete Bedingungen einer unbedingt verläßlichen Ordnung zu erhalten, in deren Schutz jeder seinen Zwecken nachgehen kann, ohne in Kollision mit dem anderen zu geraten, muß ein Ausgleich sowohl zwischen Norm und Leben, also zwischen dem, was menschenwürdig, logisch, sittlich, religiös, ästhetisch not­wendig ist, und dem, was die Situation jetzt und hier verlangt, als auch zwischen den Trägern der Lebensinteressen, die über das Menschenwürdige nicht weniger als über das tatsächlich Nötige verschiedener Meinung sind, gefunden werden.“ (ebd.: 97)65 „Eine zwiefache Gebrochenheit steckt in dem Gebaren der Öffentlichkeit, die Unausgleich- barkeit des Gegensatzes von Situation und Norm und Privatperson und, Amtsperson, Mensch und Funktionär.“ (ebd.: 96)66 MmN: 161.

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342 5 Das Politische in der Ontologie der Person

Schaft) Genüge tun. „Gewagtheit und Bedrohtheit“67 kennzeichnen Plessner zu­folge die „Situation des Menschen“,68 die Ausgleichsbedürftigkeit kennzeichnet jedoch die Natur des Menschen. Die Verschränkung bildet insofern den Ausgleich innerhalb der gefährdeten Lage des Menschen, sie bildet einen Ausgleichsversuch sui generis, der, zwischen die immanente Gesetzmäßigkeit des diesen Ausgleich Vollziehenden und ein sowohl dieser Gesetzmäßigkeit externes Anderes gespannt als auch einem den Machtmöglichkeiten des den Ausgleich vollziehenden Lebe­wesens gänzlich entzogenen Anderen ausgesetzt, unternommen wird. Auf die Ausgleichsfigur kommt Plessner am Ende von Macht und menschliche Natur zu­rück, wo er, wenig überraschend, eine Rückbindung der Situation des Menschen an die Natur des Menschen im Rückgang auf die Stufen vornimmt und die „in eine Unendlichkeit verschränkte und damit ausdrücklich sich als solche manifestie­rende Endlichkeit“69 des Menschen als Bruch exponiert, der gemäß der natürli­chen Künstlichkeit „auf natürliche Weise künstlich ausgeglichen zu werden ver­langt“.70 Diese Form des Ausgleichs ist gleichermaßen naturphilosophisch begründet und explosiver, daher auch geradezu existenzieller Art, denn sie er­laubt keine Annäherung von Verschränkung und Ausgleich an eine erreichbare Versöhnung oder finale Einheit. Ein solcher Ausgleich ist kein Ausgleich der Unergründlichkeit, sondern ein Ausgleich, der dem Menschen aufgegeben ist, weil die Unergründlichkeit nicht einfach nur ein normatives Prinzip oder eine beliebig annehmbare oder ablehnbare Maxime, sondern ein methodisches Prinzip mit einer naturphilosophischen Grundlage ist.

In Die verspätete Nation begründet Plessner den deutschen Sonderweg durch den Mangel des religiösen und nationalen Ausgleichs, den Frankreich und Eng­land erreicht hätten:

Aus Gründen seiner politischen und religiösen Geschichte hat Deutschland - das Deutschland des Reiches - kein Verhältnis zu den lahrhunderten, welche für die Bildung und Festigung der Welt entscheidend waren. Im Vergleich zu den anderen großen maßgebenden Staatsvölkern der neueren Zeit steht es traditionslos da. Es ist nicht wie Frankreich und

67 Ebd.: 198.68 Ebd.69 Ebd.: 199.70 Ebd. - Krüger (2006: 27) unterscheidet typologisch Plessner und Scheler voneinander als Denker der Verschränkung (Plessner) und Denker des Ausgleichs (Scheler), obwohl Verschrän­kung und Ausgleich in Plessners Denken systematische Zwillinge bilden. Die Zentralisierung des Verschränkungsbegriffs, die Krüger vomimmt, ist insofern plausibel, als damit das terminologi­sche Proprium Plessners sich in Vergleichsfähen pointiert angeben lässt, bringt aber Plessner- intem den Begriff des Ausgleichs um seine fundamentale Bedeutung.

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5.2 Von Plessners Ontologie des Ausgleichs 343

England durch seine Vergangenheit seit dem 16. Jahrhundert zu einem gesicherten Lebensstil gekommen. Jeder Ausgleich in religiöser und nationaler Hinsicht blieb ihm versagt.71

Nur auf einen weiteren Aspekt soll hier in aller Kürze eingegangen werden, weil Die verspätete Nation mittels der Kategorie des Ausgleichs die Idolatrie der Gemein­schaft in der Gestalt der Volksidee historisch bzw. retrospektiv betrachtet, dies aber mittels der Ausgleichsfigur gerade auf der Grundlage der fundamentalen Bedeutung derselben tut. Anders gesagt: Der aporetische Charakter des Ge­meinschaftskults, den Plessner in der Grenzschrift angreift, wird in Die verspätete Nation als Motor einer Bewegung exponiert, deren Ausgleichslosigkeit ihren Verhängnischarakter begründet:

Die fehlende Möglichkeit, das deutsche Schicksal im Bilde eines Auftrags, einer Stellver­tretung zu sehen, d. h. es nach einer Idee von Staat und Verfassung zu deuten, machte zum Ausgleich die Idee des Volkes, die staats- und verfassungspolitisch noch unbelastete Idee eines organischen Grundes für mögliche politische Formen zur politischen Idee.72

Von Lachen und Weinen an erhält die Kategorie des Ausgleichs schließlich ihre das Politische mit der Naturphilosophie und Ontologie des Organischen vermittelnde Ausformulierung. Dieser Verbindung ist nun im Ausgang von der Ontologie des Organischen der Stufen aus nachzugehen.

In unserer Darstellung der Naturphilosophie des Lebendigen als Ontologie stellte sich die Selbstvermittlung des Organismus als Ganzheit als ein zentraler Sachverhalt und Ausdruck zugleich heraus. Dieser Ausdruck ist in seiner onto­logischen Bedeutung hier aufzunehmen und am Sachverhalt der Selbstvermitt­lung der menschlichen Person zur Ganzheit zu spezifizieren, denn menschlichen Personen ist diese Selbstvermittlung zur Ganzheit unter inkommensurablen Be­dingungen aufgegeben, die ihren Status als ζώον πολιτικόν begründen und ihren grundbegrifflichen, transponierbaren und vom Gegenstand her inhaltlich modi­fizierenden Explikationsrahmen bereits in der Ontologie des Organischen finden. Die Kategorie des Ausgleichs bildet dabei die Nahtstelle zwischen der Ontologie und dem privat-öffentlichen Doppelgängertum.73

71 Plessner 1982: 91. - An anderer Stelle mutmaßt Plessner, dass ein solcher Ausgleich nicht faktisch nicht gefehlt hat, sondern, wäre er 1918 in Form einer eigenen Staatsidee vorhanden gewesen, die politischen Paroxysmen deutscher Geschichte hätte verhindern können, vgl. ebd. : 56.72 Ebd.: 57.73 Dass die Kategorie des Ausgleichs in die Naturphilosophie hineinreicht, hat auch Arlt gesehen, ohne dabei den größeren Rahmen zu sehen, in dem die Stufen und das mit Lachen und Weinen beginnende spätere Werk Plessners selbst Aspekte einer Naturphilosophie des Politischen dar­stellen; Arlt beschränkt die Tragweite des Ausgleichsbegriffs daher auf die Selbstvermittlung des

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Die Kategorie des Ausgleichs spielt in den Stufen eine vierfache Rolle. Sie tritt im elementarsten Sinne auf (1) in der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit. In dieser Selbstvermittlung bildet der Ausgleich den Oberbegriff von Eingepasstsein und Anpassung, da einerseits „der wechselseitige Ausgleich zwischen Lebewesen und Medium an sich schon besteht“74 (Eingepasstsein) und anderseits der Organismus je aufs Neue den ,,faktische[n] Ausgleich mit der Umwelt“75 (Anpassung) vollziehen muss. Die Selbstvermittlung bildet insofern eine Ausgleichsleistung zwischen Organismus und Positionsfeld, weshalb Pless- ner zufolge der Organismus „in und mit dem Medium und gegen das Medium, [...] im Kampf mit ihm und im Ausgleich zu ihm existiert“.76 Innerhalb der Selbst­vermittlung, auf der Mikroebene derselben, muss es darüber hinaus (2) zu einem Ausgleich zwischen Ganzem und Teil kommen.77 Weniger naheliegend ist die dritte (3) Bedeutung des Ausgleichs, die Plessner als „Ausgleich einer Unfertig­keit“78 in der lebendigen Entwicklung ausmacht, welche wir im vorigen Kapitel als das Sichvorwegsein der seienden Möglichkeit im naturphilosophischen Sinne expliziert haben.79 „Ausgleich einer Unfertigkeit“ meint in diesem Fall die dem Ding in dem Prozess, der seine lebendige Entwicklung ist, „vorwegseiende Formidee“,80 die keinen äußeren Bestimmungsfaktor dieser Entwicklung bildet, sondern vermöge derer das Ding sich vorweg ist und in diesem Sichvorwegsein sich selbst zu seinem - paradox gesprochen - durch die Formidee bestimmten Gegenstand und offenen Resultat hat. Dieser Ausgleich seiner Unfertigkeit, in welchem die zum Ausgleich kommenden Glieder keine definite Bestimmtheit haben wie im Fall von Organismus und Positionsfeld, sondern der Organismus in einer durch sich selbst als seine - zu verwirklichende, aber nicht in Form einer fertigen Gestalt teleologisch gegebenen - Idee und eine die leere Selbstbezüg- lichkeit sprengende, real zu leistende Vermittlung gestellt ist, ist die ontologische Ausgleichsfigur, welche die „immanente Teleologie“ und die „Entelechie als Seinsmodus“ begründet, denn Entelechie im oben explizierten Sinn von Erfüllung ist der ontologische Ausdruck für das, was Plessner den „Ausgleich einer Unfer­tigkeit“ nennt. Die Organisationsidee ist keine Idee im Sinne des Urbilds, deren

Organismus zur Ganzheit: „Die jeweilige Position des Organismus ist das Ergebnis eines Ver­mittlungsprozesses, in dem Innen und Außen zum Ausgleich kommen. Sie begründet seinen Ganzheitscharakter.“ (Arlt 1996: 59)74 SOM: 192.75 Ebd.: 202.76 Ebd.: 212.77 Vgl. ebd.: 189.78 Ebd.: 142.79 Vgl. Kapitel 4.13.80 SOM: 142.

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5.2 Von Plessners Ontologie des Ausgleichs 345

Abbild der Organismus bildet, sondern die Organisationsidee bildet eine dem Organismus als solchem inhärierende Gesetzmäßigkeit der Selbstorganisation, die zu realisieren bedeutet, zu leben; das Sich-vorwegsein-zu81 ist ein Sich-vor- wegsein zum Positionsfeld und darin zugleich ein Sich-vorwegsein zu sich selbst. Diese drei Formen des Ausgleichs waren im vorigen Kapitel permanent präsent und sind in ihrer (Onto-)Logik verfolgt worden, ohne als Bewegungen eines übergreifenden ontologischen Gesetzes angesprochen worden zu sein. Die vierte (4) Variante des Ausgleichs findet sich auf der Ebene der Positionsformen, die Plessner als Ausgleichsformen auffasst: „Auf zweierlei Weise ist der Ausgleich möglich, in offener und in geschlossener Form.“82 Auf dieser Ebene wird die Selbstvermittlung zur Ganzheit, die oben als Verhältnis von Organismus und Positionsfeld angesprochen worden ist, als jeweils typologisch präzisiert gemäß den Organisationsideen, welche die jeweiligen Lebensformen verkörpern:

Die Lösung des Konflikts findet das lebendige Ding in seiner Form, deren Ausprägung in der jeweiligen Gestalt ihres Typus sinnlich faßbar wird, ohne allerdings selbst in Erscheinung zu treten. Sie bezeichnet hier die Organisationsidee [...], nach welcher der lebendige Körper seine dingliche Selbständigkeit mit seiner vitalen Unselbständigkeit vereinigt.83

Die ersten drei Ausgleichsformen bilden als solche ontologische Ausgleichsfor­men, d.h. mit ihnen werden Ausgleichsformen angesprochen, welche der Selbstvermittlung des Lebendigen zur Ganzheit inhärieren. Sie sind innerhalb der Ontologie des Organischen behandelt worden, die aber noch nicht als Element einer das Organische ins Politische hinein übergreifenden Ontologie des Aus­gleichs entfaltet werden konnte. Dazu musste die Ontologie des Organischen erst mit dem privat-öffentlichen Doppelgängertum im nicht mehr auf Lebendiges überhaupt beschränkten, sondern auf das Sein des Menschen übertragenen ontologischen Begriff der seienden Möglichkeit verbunden werden.

Dies setzt eine genauere Betrachtung des Körperleibs als des Mediums von Verschränkungsleistungen im Spiel von Leibsein und Körperhaben voraus, um diese Verschränkungsleistungen als die Personalisierungs- und Individualisie­rungspraxis der Ontologie des Ausgleichs exponieren zu können.

81 Vgl. Kapitel 4.15.82 SOM.: 219.83 Ebd.: 218.

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346 5 Das Politische in der Ontologie der Person

5.3 Körperleiblichkeit als Medium der Personalisierung und ontologische Grundlage des privat-öffentlichen Doppelgängertums

Im Kompositum „Körperleib“ werden nicht zwei schlicht gegeneinander ab- grenzbare Entitäten zu einer dritten verschmolzen. Wird das angenommen, so werden „Leib“ und „Körper“ mit jeweils in sich geschlossenen und ihrem Sein nach distinkten Ordnungen oder Entitäten identifiziert, d. h. die Doppelaspekti- vität wird wieder in eine Zwei-Reiche-Lehre übergeführt und dualistisch reduziert. Stattdessen bildet die Referenzgröße und das Integrations- und Gravitations­zentrum von Leib und Körper die menschliche Person als Ganzheit:

Lachen und Weinen als Ausdrucksformen begreifen heißt, vom Menschen als Ganzem ausgehen, nicht von Partikularem, das sich quasi selbständig aus dem Ganzen loslösen läßt wie Körper, Seele, Geist, Sozialverband. Als Ganzer ist uns der Mensch, d. h. der Mitmensch, und sind wir uns selber zugänglich im Konnex des Verhaltens, des Umgangs mit unseres­gleichen und der Umwelt. In diesem Konnex leben wir, von ihm leben wir, er ist die (ge­schichtlich freilich variabel geformte) Basis aller Erfahrung.84

Wie die menschliche Person das agens der Einheitsbildung bildet, so benennt das Kompositum „Körperleib“ sowohl die prozessuale Grundlage als auch ein Medium personaler Verhaltensbildung in Form der doppelten Gegebenheit des Körperleibs als Leib und Körper, nämlich „als Leib im Körper“.85 Dieses Leibsein im Körper findet seine Grenze in der Unverfügbarkeit eben dieses Körpers, den der Mensch prinzipiell - das macht ihn zu seinem Leib - und zumeist hat: „Ein Mensch ist immer zugleich Leib (Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allem, was darin ist) - auch wenn er von seiner irgendwie,darin* seienden unsterblichen Seele überzeugt ist - und hat diesen Leib als diesen Körper.“86

Die Intransgredienz der Richtungsgegensätze, mittels welcher Plessner die Doppelaspektivität in den Stufen charakterisiert hat, findet ihr Äquivalent in der Sphäre der personalen Verhaltensbildung in der Intransgredienz von Leib und Körper als deren existenzieller Materialisierung. Krüger hat Plessners Unter­scheidung zwischen Leib und Körper aufgenommen, terminologisch stringenter87 als Plessner gefasst und mittels des bei Plessner angelegten, aber nicht von ihm

84 Ebd.: 223 f.85 Luw: 238.86 Ebd.87 Diese Bemerkung bezieht sich auf den inkonsequenten Sprachgebrauch Plessners, der teil­weise statt von Leibsein und Körperhaben auch - widersinnigerweise - von „Körper-Sein“ und „Körper-Haben“ spricht, vgl. ebd.: 242.

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5.3 Körperleiblichkeit als Medium der Personalisierung 347

verwendeten Begriffs der „Aspektrichtung“ in einer Weise auf den Punkt gebracht, in welcher der phänomenologische Sinn der Doppelaspektivität gewahrt bleibt und in einer existenziellen Perspektive, d. h. in der Beziehung meiner selbst zu meinem eigenen Körperleib, fruchtbar gemacht wird:

Der eigene Körper begegnet in einem differentiellen Spektrum von Modi: In der einen As­pektrichtung gehe ich mit meinem Körper ebenso um wie mit anderen Körpern auch, was man ,Körperhaben‘ nennen kann. Ich habe ihn, insofern ich auf dem Umweg der Reflexion, durch Vermittlung (seitens Medien oder seitens anderer) und durch Teilnahme an soziolculturellen Verfahren, darunter einer medizinischen Praktik, mit ihm umgehe. Er wird darin mit anderen Körpern vergleichbar, durch sie vertretbar und austauschbar. Im Falle von Krankheiten, deren Vorbeugung und Linderung, kann man froh sein, wenn sich der eigene Körper wie andere Körper auch unter einem bestimmten Aspekt erneut haben lässt. In der anderen Aspekt­richtung bin ich aber schon immer und wieder Leib, was man ,Leibsein‘ heißen kann. Ich bin dies auf spontane, unmittelbare und willkürliche Weise hier und jetzt, d. h. ohne reflexive, vermittelnde und prozedurale Umwege. Im Leibsein bin ich - nolens volens - mir nicht mit anderen Körpern vergleichbar, nicht durch sie austauschbar oder vertretbar.88

Körper und Leib als Aspektrichtungen bilden zwar immanent unterscheidbare, aber nicht analytisch voneinander separierbare Elemente personaler Verhal­tensbildung, weil der Leib im Leibsein immer Körper und als solcher vom Ab­gleiten in die Unverfügbarkeit bedroht bleibt wie er umgekehrt als Körper in Habitualisierungsvollzügen, z. B. beim Erlernen des Klavierspiels, gehabt werden kann, wodurch Verkörperungen in Verleiblichungen überführbar sind:

Was Verkörperung war, d.h. umwegig erlernt wurde, sedimentiert im Habitualisierungs- prozess in den Leib hinein. Die Aufführung der Meisterpianistin zehrt noch heute von dem, was sie vor dreißig fahren als fünfjähriges Kind erlernt hat. Vielleicht hat sie seinerzeit noch frühreif einen Aspekt verkörpert, den sie inzwischen aus Lebenserfahrung zu verleiblichen vermag.89

Auch den Begriff der Verleiblichung, der bei Plessner nominell eine marginale Rolle spielt,90 hat Krüger, vor allem in Das Spektrum menschlicher Phänomene, dem ersten Band von Zwischen Lachen und Weinen, systematisch terminologisiert. Die Verleiblichung markiert das Gegenbild von Lachen und Weinen als das Gelingen der Verschränkung von Leib und Körper in Habitualisierungsleistungen; sie bildet

88 Krüger 2009c: 72.89 Ebd.: 73.90 Nur an wenigen Stellen verwendet Plessner meines Wissens diesen Begriff, erstmals in Die Einheit der Sinne [EdS:288], einmal in Lachen und Weinen (LuW:217) und in seinem Die Einheit der Sinne weiterführenden Spätwerk Anthropologie der Sinne (AdS: 383)

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ebenso das, gleichwohl richtungskontrastive („rezentrische“),91 Komplement der (exzentrischen) „Verkörperung“.92

Die Intransgredienz der Aspektrichtungen der Leiblichkeit und der Körper­lichkeit stellt sich dar als ein Verhältnis, das sowohl innerhalb des Verhältnisses der Person zu sich selbst und zu Anderen auftritt als auch für diese Verhältnisse konstitutiv ist. Dieses Verhältnis wird durchzogen vom Vorrang des Körpers, welcher in dem sehr spezifischen Sinn besteht, dass auch das Leibsein, wie sehr auch immer durch die Bestimmung des irreduziblen und jemeinigen Empfindens der jeweiligen Person intimisiert, der Körperlichkeit sich nicht entwinden kann, die als solche die Person zwar keineswegs grundsätzlich oder stets verrät, es ihr aber verunmöglicht, sichtbar und zugleich gänzlich tabula rasa zu sein.93 Das Verhältnis zum Leib verödet Plessner daher in der „körperlichen Situation des Menschen“: „Nachahmen und Sichverstellen müssen von der körperlichen Si­tuation des Menschen her gesehen werden, seinem Verhältnis zum eigenen Leib, zu sich und den anderen.“94

Dieses Verhältnis zum eigenen Leib, der wir sind und den wir doch haben müssen, ist kein Geschenk Gottes, sondern es muss im korrelativen Doppelprozess von Individualisierung und Personalisierung95 entwickelt werden. In dieser dem Individuum zunächst auferlegten, zumeist aber dann von ihm aktiv angenom­menen und, soweit möglich, in eigene Regie genommenen Entwicklung entstehen keine verkörperten Rollenkonglomerate, sondern, und zwar in Abhängigkeit und Abhebung von den soziokulturellen Rollen, individuierte Personen, weshalb der Prozess der Personalisierung von der Seite des ihn Vollziehenden her zugleich ein Prozess der Individualisierung ist und Krüger zufolge „Personalität das Medium darstellt, dem gegenüber sich Menschen individualisieren“.96 Während Plessner in den Grenzen der Gemeinschaft noch, Gesellschaft als Individualisierungsprinzip gegen einen Gemeinschaftskult kämpferisch verteidigend, vom „Schicksal der Individualisierung“97 spricht, kann Krüger den Zwang zur Individualisierung im

91 Vgl. Krüger 1999:102.92 Zur Komplementarität von Verleiblichung und Verkörperung vgl. Krüger 1999: 39, 66, 102. Krüger 2001: 343.93 Diesen Sachverhalt hebt Krüger in der Analyse der Individualisierung ebenfalls hervor: „Für die Individualisierung ist die leibliche Sinnbildung primär, aber soziolculturell überlebt die Ver­körperung in ihrer praktischen Bedeutung.“ (Krüger 1999: 216)94 Plessner2003 h: 453.95 Dieser Doppelprozess ist bei Plessner zwar angelegt, als solcher aber systematisch entwickelt und ausformuliert worden von Krüger, vgl. Krüger 1999.96 Krüger 1999:193.97 GdG: 60.

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5.3 Körperleiblichkeit als Medium der Personalisierung 349

Ausgang von der elementaren Rollenhaftigkeit menschlicher Existenz nüchterner artikulieren:

Die Individualisierung ist keine Frage bloßer Willkür oder subjektiver Gespreiztheit. [...] Individualisierung setzt vielmehr in allen Kulturen leibseitig an den sensomotorischen Rückbezügen der Rolle auf den eigenen Körperleib, etwa an eine Sucht oder Leidenschaft, an und hat mindestens privaten Spielraum.98

Individualisierung und Personalisierung setzen „leibseitig“ an, vollzogen werden sie aber in der Vermittlung der „Expressivität des Leibes“99 mit der „Instrumen- talität des Körpers“.100 Diese Vermittlung entfaltet Plessner als das Spiel von Leibsein und Körperhaben, in dem wir den uns existenziell zugänglich Leib, in dem wir uns verkörpern, zugleich haben müssen als Körper, um uns über die Verkörpertheit unserer Existenz hinaus intentional verkörpern zu können. Jegliche intentionale Verkörperung stößt jedoch an die Grenze, die der Körper aufgrund seiner Unverfügbarkeit, d. h. aufgrund der Grenzen der Verleiblichung des Kör­pers, bildet. Doch auch der Körper, der uns im ungespielten Lachen und Weinen überwältigt und von jeder Verleiblichung abgeschnitten ist, wird nicht zum Ding, sondern bleibt sowohl für (und gewissermaßen gegen uns) und für die Anderen eine Aspektrichtung des101 im Modus der Ausdrücklichkeit erscheinenden Kör­perleibs.

Da die Aspektrichtungen nicht als Seinsbereiche in der Wirklichkeit auftreten, sondern als Aspekte der körperleiblichen Wirklichkeit, ist ihr Sinn kein Seinssinn, keine Bedeutung im denotativen Sinn, sondern ein phänomenologisch ela- borierter Richtungssinn. Diesen Begriff führt Plessner in der Analyse des Verhältnisses von Doppelaspektivität und Grenze ein, welche er in den Stufen

98 Krüger 1999:192 f.99 LuW: 248.100 Krüger 1999:147. - Plessner spricht zwar auch von der „instrumentalejn] Auffassung des eigenen Körpers“ (LuW: 245), aber auch von der „Instrumentalität des Leibes“ (ebd.:248f.) und im Bezug auf das menschliche Dasein global vom „instrumentalejn] und expressive[n] Charakter seines Daseins“ (ebd.: 374). Gegenüber diesem schwankenden Sprachgebrauch hat Krüger die „Instrumentalität des Körpers“ terminologisiert in Anlehnung an den Begriff des Körperhabens und die exklusive Möglichkeit des Körpers, als Instrument im Dienste des Leibes und des Leibseins eingesetzt zu werden, wohingegen eine „Instrumentalität des Leibes“ auf eine instrumentale Verwendung von etwas abzielen würde, was sich p er definitionem dadurch auszeichnet, überhaupt in Abstraktion von seinem irreduzibel privaten und genuinen Intimitätscharakter als instrumental handhabbarer Körper aufgefasst werden zu können.101 Dem „des“ entspricht phänomenologisch das „am“, d.h. das Erscheinen am lebendigen Körperleib selbst.

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durchführt.102 Der Richtungssinn bildet das spezifische Charakteristikum der Richtungsgegensätze von Innen und Außen im Unterschied zur richtungsneu­tralen Zone, welche die Grenze bildet.103 Die Grenze wiederum ist hier, um alle irreführenden verräumlichenden Auffassungen derselben zu vermeiden, als der Grenzübergang zu verstehen, den das Lebewesen im Allgemeinen und die menschliche Person in besonderer Weise „selbst als Eigenschaft hat“.104 Leib und Körper sind als Aspektrichtungen nicht der Richtungsgegensätzlichkeit enthoben, weshalb Plessner bereits in der Deutung des mimischen Ausdrucks, gleichsam seine späteren Ausführungen in Lachen und Weinen antezipierend, von der „gegen­sinnigen Gegebenheit des Körperleibes“105 spricht.

Als Aspektrichtungen bilden Leib und Körper interne Differenzierungen des Mediums Körperleib, in dem die Richtungsgegensinnigkeit des Doppelaspekts die Gestalt des privat-öffentlichen Doppelgängertums annimmt. Die Doppelaspekti- vität ist als Grundfigur von Plessners Ontologie des Organischen ausgewiesen worden, das privat-öffentliche Doppelgängertum soll im Folgenden ebenfalls ontologisch, nämlich von seinem „Ursprung“ in der Struktur der Körperleiblich­keit her, aufgewiesen werden.

5.4 Ontologische Wurzeln des anthropologischfundamentalen privat-öffentlichen Doppelgängertums und Plessners Kritik der soziologischen Rollentheorie

5.4.1 Die Struktur der Körperleiblichkeit und das privat-öffentliche Doppelgängertum

Die Konvergenz von Ontologischem und Politischem in der Verfasstheit des Kör­perleibs gründet darin, dass sowohl in der anschaulichen Erscheinung von Per­sonen in der Wirklichkeit als auch in der Hermeneutik der eigenen Lebensvollzüge den Aspektrichtungen von Körper und Leib die Sinnrichtungen des Öffentlichen und des Privaten eingeschrieben sind. Aufgrund dieser doppelten Sinnrichtung

102 Vgl. SOM: 100.103 „Insofern die richtungsneutrale Zone selbst kein Gebiet einnehmen darf, welches die Aus­schließlichkeit des Richtungsgegensatzes an dem betreffenden Gebilde aufhöbe und neben das Außen und Innen ein real anweisbares Zwischen setzte, ist sie Grenze.“ (ebd.)104 Ebd.: 103.105 DmA: 113.

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5.4 Ontologische Wurzeln 351

zeigt sich bei Personen die Doppelaspektivität in der Gestalt des privat-öffentli­chen Doppelgängertums.

Die Sinnrichtungen fallen nicht in den Richtungsgegensatz der Aspekte, der Körper ist daher nicht „das Öffentliche“ und der Leib nicht „das Private“, aber die Aspektrichtungen des Leibes und des Körpers sind - um wieder einen Begriff aus den Stufen aufzugreifen - die „Ansatzzonen“106 von Privatem und Öffentlichem. In den Stufen bildet die Mitte die Ansatzzone der Richtungsgegensätze von Innen und Außen, sie fällt also nicht in die Richtungsgegensätzlichkeit, was in dieser Ad­aptation des Begriffs aber der Fall zu sein scheint. Von „Ansatzzonen“ der Sinn­richtungen lässt sich bei Körper und Leib jedoch insofern sprechen, als die Sinnrichtungen in gleicher Weise an die personal geleistete Verschränkung von Leibsein und Körperhaben gebunden sind wie Leib und Körper als Aspektrich­tungen an die Person, welche deren Verschränkung vollzieht. Öffentliches und Privates sind nicht identisch mit Aspektrichtungen, aber sie existieren als Sinn­richtungen in strikter Komplementarität mit ihnen, ohne von ihnen hervorge­bracht zu werden, weil sie als Hervorgebrachtes von ihnen ablösbar wären. Im Falle einer solchen Ablösbarkeit wäre das privat-öffentliche Doppelgängertum aber nicht mehr fundamental, sondern arbiträr.

Mit der Unterscheidung zwischen Sinnrichtungen107 und „Aspektrichtungen“ (Krüger) - beide Begriffe kommen bei Plessner nicht vor - sollen nicht zwei verschiedene und getrennt voneinander behandelbare Sachverhalte angespro­chen werden, sondern ein Sachverhalt, das Spiel von Leibsein und Körperhaben, in einer geringfügig geänderten Akzentuierung: Öffentliches und Privates sind

106 SOM: 102.107 Den Begriff der Sinnrichtung hat Krüger in einer allerdings anderen Bedeutung verwendet, nämlich in Auseinandersetzung mit Scheler zur Bezeichnung der Sinnrichtung von „Gefühlsbe­wegungen“. Vgl. Krüger 2009d: 165 und 177. - Thomas Ebke verwendet den Begriff in seinem Buch Lebendiges Wissen des Lebens zur Erläuterung des hiatus irrationalis „Die Grenze steht, darin den Doppelaspekt des unbelebten Wahmehmungsdinges verschärfend, für eine absolute Disparität von Sinnrichtungen, d. h. von nicht-materiellen Relationen. Seine Grenzen zu realisieren oder, wie Plessner schreibt, zu ,vollziehen“, bedeutet für das Lebendige, in eine durchaus widersprüchliche Bewegung eingelassen zu sein: Eine Dynamik, die das Lebendige ,in doppelter Richtung tran­szendiert, es einerseits über es hinaus setzt (streng genommen: außerhalb seiner setzt), ande­rerseits in es hineinsetzt (in ihm setzt)“. Aktive und passive Verhaltensmomente schlagen inein­ander um, ohne harmonisiert werden zu können.“ (Ebke 2012: 68) Ebke verfährt mit dem Begriff der Sinnrichtungen, die er treffend als „nicht-materielle Relationen“ definiert, allerdings nicht konsequent, da er ihn an anderer Stelle zur Bezeichnung der Aspektrichtungen und synonym mit diesen verwendet, vgl. ebd.: 65. Zudem versteht Ebke unter den Sinnrichtungen nicht nur „nicht­materielle Relationen“, sondern zugleich nicht-materielle Bewegungsmomente, womit der je­weilige Sinn als reales movens statt als strikt komplementäre Bedeutungsdimension der As­pektrichtungen aufgefasst wird.

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352 5 Das Politische in der Ontologie der Person

Sinnrichtungen der Aspektrichtungen im Verhalten, während der Richtungssinn der Aspektrichtungen ontologisch an die Materialität des Körperleibes selbst ge­bunden bleibt. Die Sinnrichtungen, welche den Aspektrichtungen eingeschrieben sind, ohne mit ihnen zu koinzidieren, haben das mediale Substrat des Körperleibs zur Voraussetzung. Sinnrichtungen sind dabei kein semantischer Überbau der Aspektrichtungen, weil sie eine nicht-arbiträre Bedeutungsdimension der dop- pelaspektiven Erscheinungsweise und damit der Expressivität sind, die nicht etwa ein Derivat der Sprache bildet, sondern deren Derivat die Sprache bildet. Die Sinnrichtungen codieren sich existenziell, d.h. Privates und Öffentliches sind nicht semantisch primitiv, ihre Bedeutung ist nicht mit der Körperleiblichkeit selbst gegeben, sondern der Körperlichkeit ist der Imperativ zu ihrer Gestaltung im Medium von Bedeutungen eingeschrieben, die aufgrund der Sinnrichtungen keiner Definitionswillkür unterworfen werden können. Anders gesagt: Aufgrund des privat-öffentlichen Doppelgängertums geht die konkrete semantische Konfi­guration von Öffentlichem und Privatem in das Spiel von Personalisierung und Individualisierung ein und ergibt sich aus ihm; auf diesen scheinbar paradoxen Sachverhalt zielt Plessners Begriff „elementarer Rollenhaftigkeit“.108

Von Öffentlichem und Privatem als in der Struktur der Körperleiblichkeit wurzelnden und mit der Körperleiblichkeit unaufhebbar gegebenen Sinnrich­tungen her lässt sich das Verhältnis zwischen Öffentlichem und Privatem im Sinne der elementaren Rollenhaftigkeit begreifen, ohne sie aus einer empirischen Rol­lensozialisation herleiten zu müssen, welche sie bereits voraussetzt. Fasst man den Rollenbegriff bloß empirisch auf, so müsste die Einübung von Rollen die Rollenhaftigkeit ermöglichen, welche ihre Einübung ermöglicht - der Zirkel tritt offen zutage. Versuchte man die elementare Rollenhaftigkeit in der empirischen Rollensozialisation aufzulösen, würde man damit auch das privat-öffentliche Doppelgängertum in der fundamentalen Bedeutung, die Plessner ihm anthro­pologisch konzediert und die hier ontologisch vertieft wird, aufheben. Die onto­logisch-politische Verfasstheit des Körperleibs gründet demzufolge darin, dass sowohl anschaulich in der Erscheinungsweise von Personen in der Wirklichkeit als auch in der Hermeneutik der eigenen Lebensvollzüge (keine Introspektion) den Aspektrichtungen von Körper und Leib die Sinnrichtungen des Öffentlichen und des Privaten eingeschrieben sind. Aufgrund dieser doppelten Sinnrichtung zeigt sich bei Personen die Doppelaspektivität in der Gestalt des privat-öffentlichen Doppelgängertums.

Fundamental ist dieses Doppelgängertum also, weil es in den Aspektrich­tungen der Körperleiblichkeit selbst wurzelt. Und weil es sich um ein anthropo­

108 CH: 199.

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5.4 Ontologische Wurzeln 353

logisch fundamentales Doppelgängertum handelt, hat Plessner, der es am Bilde des Schauspielers erläutert, es nicht am Beispiel des Schauspielers gewonnen: „Dieses Doppelgängertum erläutert sich, da Rolle hier als Maske verstanden wird, am Bilde des Schauspielers.“109 Den am Bilde des Schauspielers gewonnenen Rollenbegriff nennt Plessner daher auch den „theatralische[n] Rollenbegriff“,110 der das in der anthropologisch grundlegenden „Rollenhaftigkeit latente Spiel­element, das in die Konstitution der Person durch die Verkörperung eingeht und in ihr gebunden bleibt“,111 zur Voraussetzung hat. Weil die Verkörperung die Ver- körpertheit der Person in der doppelten Aspektrichtung von Leib und Körper voraussetzt, kann die elementare Rollenhaftigkeit als Basis von Plessners Kritik der soziologischen Rollentheorie fungieren, die sich herschreibe von einem „durch unser Sozialverständnis [...] genährtes Vorurteil“,112 wonach „die ele­mentaren Lebensbeziehungen, wie Kindschaft, Mutterschaft, Vaterschaft, über­haupt verwandtschaftliche Zugehörigkeiten, der Rollensphäre entzogen seien und ,Rolle* nur an solchen gesellschaftlichen Aufgaben hänge, deren Bewältigung eine besondere Leistung darstellt“.113 Das gesellschaftliche Rollenspiel wurzelt also nicht zuletzt in der gesellschaftlichen Praxis, sondern das Rollenspiel der ge­sellschaftlichen Praxis findet seine Ermöglichungsbedingung in der Struktur der (sprachlich sich objektivierenden und potenzierenden) Körperleiblichkeit und der sie kennzeichnenden Irreduzibilität zweier unauflöslich verbundener, nicht in­einander überführbarer und nicht durcheinander ersetzbarer Aspektrichtungen (Körper/Leib) und der diesen eingeschriebenen Sinnrichtungen (Öffentliches/ Privates). Die Differenz des Privaten und des Öffentlichen ist - hier wird nun der weite Rückweg zur phänomenologischen Deskription genommen - als deren Sinn diesen Aspektrichtungen bereits eingeschrieben, weil die Expressivität des Leibes eine anschauliche Sinngrenze im Verstehen bildet, das nicht per se den aporeti- schen Charakter hat, welchen ein gegenüber der Körperleiblichkeit blinder Idealismus in Form einer unverlierbaren und letztlich die Subjektivität gegen die Mitwelt abschließenden Innerlichkeit zu behaupten geneigt sein könnte; einer solchen solipsistischen Monadizität steht jedoch die Körperlichkeit des unauf­hebbar expressiven Leibes als Verunmöglichungsgrund aporetischer Privatheit im Weg. Deshalb kann und muss Plessner behaupten, dass dem funktionalen Rol­lenbegriff der Soziologie „das Doppelgängertum privat-öffentlich zugrunde

109 Plessner 1985e: 232.110 CH: 199.111 Ebd.112 Ebd.: 198.113 Ebd.

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liegt“,114 denn „die Doppelgängerstruktur als solche hält sich überall durch“.115 Daraus erkläre sich wiederum der universelle Nutzen einer soziologischen Funktionsanalyse anhand des Rollenbegriffs, in welchem zwischen Rollenträger und Rollenfigur unterschieden wird: „An dieser Struktur von Doppelgängertum, in welchem Rollenträger und Rollenfigur verbunden sind, glauben wir eine Kon­stante zu erkennen, welche für jeden Typus menschlicher Vergesellschaftung offen ist und eine ihrer wesentlichen Voraussetzungen bildet.“116 Aufgrund des privat-öffentlichen Doppelgängertums bildet der Rollenbegriff nicht nur eine theatralische und auch nicht nur eine „gesellschaftlich-politische Kategorie“,117 sondern eine ontologisch fundierte anthropologische Fundamentalkategorie.

Was die Fundamentalität des privat-öffentlichen Doppelgängertums wesent­lich kennzeichnet, ist die fundamentale Gegensinnigkeit der Sinnrichtungen, welche in der doppelten Gegensinnigkeit der Körperleiblichkeit wurzeln - der Gegensinnigkeit der Aspektrichtungen und der Sinnrichtungen. Diese Gegensin­nigkeit ist keineswegs per se antagonistischer Natur, sie kann zu einer antago­nistischen erst in einer Krise des sie Umgreifenden, nämlich der Person, geraten; sie kann aber auch als antagonistische gewollt und dieser Antagonismus wie­derum stilisiert werden.118 Gegensinnigkeit meint hier lediglich, dass, so wie die Aspektrichtungen Leib und Körper nicht ineinander überführbar und durchein­ander substituierbar, die Sinnrichtungen „privat“ und „öffentlich“ dies auch nicht sind und es zuletzt auch da nicht sind, wo deren Auflösung einem intentional total öffentlich geführten Leben angestrebt oder wenigstens akzeptiert wird.119 Weil das

114 Ebd.: 201.115 Plessner 2003 h: 453.116 CH: 204.117 „Überall da, wo Repräsentation einen wesentlichen Bestandteil sozialen Lebens bildet, im Kult der Gottheit oder des Staates, erweitert sich der theatralische Rollenbegriff zu einer gesell- schaftlichpolitischen Kategorie.“ (CH: 199)118 Die naturphilosophische Fundiertheit des privat-öffentlichenm Doppelgängertums impliziert keine Entscheidung darüber, welche Ausgestaltung desselben natürlich sei oder als natürlich zu gelten habe: „Dem Doppelgängertum als solchen, als einer jedwede Selbstauffassung ermögli­chenden Struktur, darf die eine Hälfte der anderen keineswegs in dem Sinne gegenübergetellt werden, als sei sie ,von Natur“ die bessere. Er, der Doppelgänger, hat nur die Möglichkeit, dazu zu machen.“ (CH: 204) Hinzufügen ließe sich: Oder die Privilegierung einer Hälfte zu verweigern.119 Selbst wo Personen eine Depersonalisierung vollziehen, indem sie ihr Leben vollständig öffentlich, d. h. restlos exhibitionistisch zu führen versuchen, würden diese Personen, so wenig sie noch solche sind, die Personalität noch beanspruchen mit der Behauptung, dass es eine unver­lierbare Innerlichkeit gebe, die in keiner Ostension aufgehen könne. Sie lägen damit parado­xerweise anthropologisch so richtig wie sie sich mit einer solchen Behauptung bzw. An­spruchshaltung dadurch lächerlich machen würden, dass sie etwas artikulierten, was in einem grundlegend, nicht gegensinnigen, sondern antagonistischen Verhältnis zu ihren Verlcörpe-

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5.4 Ontologische Wurzeln 355

privat-öffentliche Doppelgängertum fundamental ist, sind Ausgleichsleistungen zwischen Privatem und Öffentlichem es nicht weniger; deren Notwendigkeit gründet darin, dass keine der beiden Sphären totalisierungsfähig ist, da noch das genuin Eigene im Leibsein sowohl nicht nur für den Anderen prinzipiell unver­fügbar, sondern auch für mich selbst prinzipiell nicht im Ganzen verfügbar ist, wie Krüger eindringlich gezeigt hat:

Das Eigene, an dem ich doch hänge, von dem mein ganzes Leben abhängt, entzieht sich jetzt meiner Verfügbarkeit. Wenn jetzt und hier überhaupt etwas hilft, dann braucht es den Umweg über die Aneignung von etwas Anderem. Derjenige Leib, der etwa nur noch in einem schier unendlichen Schmerz der Bauchgegend zu bestehen scheint, verlangt nach einer Erlösung, und sei es die Verkörperung durch einen Chirurgenschnitt. Oder auch diejenige unbedingte Leidenschaft der Liebe, die in unbedingten Hass umgeschlagen ist, braucht ein Gegenge­wicht an Verkörperung zum Aufruhr des Leibes, soll dieses Unbedingte nicht töten. Die Unmittelbarkeit des Leibes kann uns verschlingen, wenn sie für uns unbedingt wird, d.h. durch keine gegensinnige Verkörperung mehr bedingt werden kann.120

Die ontologische Dimension des privat-öffentlichen Doppelgängertums lässt sich allerdings erst dann erschöpfend begründen, wenn man die Verschränkung von Leibsein und Körperhaben in den sie fundierenden oben begrifflich angedeuteten naturphilosophisch-ontologischen Rahmen stellt, welchen Plessners Ontologie des Ausgleichs bildet.

5.4.2 Die naturphilosophische Ontologie des Ausgleichs und das privat-öffentliche Doppelgängertum

Was die Ontologie des Organischen mit der Theorie des Politischen unauflöslich verbindet, ist die Tatsache, dass die organische (Selbst-)Vermittlungzur Ganzheit im Falle menschlicher Personen nicht jenseits des privat-öffentlichen Doppelgänger­tums vollzogen werden kann, sondern dass diese Vermittlung in ihrer doppelten Gestalt der Personalisierung und Individualisierung im Medium und Bruch des privat-öffentlichen Doppelgängertums, das mit der Struktur der Körperleiblichkeit gegeben ist, vollzogen werden muss. Die naturphilosophische Bestimmung des Körpers als die Vereinigung der „Eigenschaft, Subjekt des Habens zu sein, mit der

rungsleistungen stünde. Der wenig schmeichelhafte und doch zutreffende Begriff, der sich für Phänomene dieser Art eingebürgert hat, lautet nicht umsonst attention whores. Besagt wird damit, dass für die Sinnressource Anerkennung auf die für die Intaktheit personalen Lebens grundle­gende Ausgleichsleistung zwischen öffentlicher und privater Existenz weitgehend verzichtet wird. 120 Krüger 1999: 95.

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Eigenschaft, Objekt des Habens (sein Körper) zu sein, dadurch, daß er zum Mittel des Habens wird“,121 ist noch für das privat-öffentliche Doppelgängertum der Person und die Aufgabe, die Expressivität des Leibes mit der Instrumentalität des Körpers zu vermitteln, grundlegend. In der naturphilosophischen Grundlegung, die vom Lebendigen überhaupt handelt, koinzidieren bei Plessner die Mitte und das Subjekt des Habens: „Die Inexistenz der Mitte (des realen Kerns, des Subjekts des Habens) ist also allein als die wirkliche Möglichkeit des Körpers oder sein Vermögen (Potenz) real.“122 Auf der personalen Ebene potenziert sich diese Po- tenzialität allerdings durch die exzentrische Positionalität, durch welche die Person nicht mehr bloß Subjekt und Objekt des Habens zugleich ist, sondern aufgrund welcher vom Menschen gilt, dass „sein im Hier-Jetzt Sein, d.h. sein Aufgehen im Erleben nicht mehr in den Punkt seiner Existenz fällt. Sogar im Vollzug des Gedankens, des Gefühls, des Willens steht der Mensch außerhalb seiner selbst.“123 Von diesem Außerhalb her werden Subjekt und Objekt des Ha­bens in Exzentrierungsleistungen über ihren engeren naturphilosophischen Sinn hinaus ihrer selbst als spezifisch personaler Doppelcharakter und als die aspek- tive Ausdifferenzierung des Körperleibs in die „Expressivität des Leibes“ und die „Instrumentalität des Körpers“ ansichtig. Dieses Verhältnis von Leib und Körper stellt nicht eine schlichte Tatsache, sondern zugleich ein Gestaltungsdesiderat dar, und diese Gestaltung ist die Aufgabe der personalen Lebensführung, in welcher die naturphilosophische Ontologie des Ausgleichs personale Gestalt annimmt.

Doch auch wo die Ontologie des Ausgleichs eine spezifisch personale Form annimmt, bleibt das Problem des natürlichen Körpers grundlegend, da die Ver­schränkung von Leibsein und Körperhaben die Wiege menschlichen Handelns bildet: „Der Zwang zum Ausgleich seines körperleiblichen Doppelaspekts ist die Wiege des Handelns, dem sich der Mensch in seiner Motorik nicht entziehen kann, wenn er sein möglichstes, das menschenmögliche versucht.“124 Diesen Ausgleich nennt Plessner an anderer Stelle auch den „Ausgleich zwischen der privaten und der öffentlichen Hälfte seiner selbst“.125 Das privat-öffentliche Doppelgängertum ist der Ontologie des Ausgleichs in ihrer personalen Variante nicht nur unaus­löschlich eingeschrieben, sondern es bildet darüber hinaus die Wiege des Han­delns statt das Resultat von Handlungen. Das Resultat von Handlungen kann nur darin bestehen, die Sinnrichtungen zu codieren, nicht jedoch darin, sie hervor­

121 SOM: 189.122 Ebd.: 162.123 Ebd.: 298.124 AdS: 386.125 CH: 204.

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5.4 Ontologische Wurzeln 357

zubringen oder ihre konstitutive Bedeutung zu stiften. Diese Fundamentalität des privat-öffentlichen Doppelgängertums und der in ihr gründenden „elementaren Rollenhaftigkeit“ lässt sich daher auch nicht aus den Handlungen ableiten, die sich als Sprachhandlungen bezeichnen lassen; diese können ebenfalls Sinn nur codieren, nicht aber solchen ursprünglich stiften. In diesem Sachverhalt gründet Plessners Hinweis auf die Fundamentalität der Struktur des Doppelgängertums als der Grundlage funktioneller Analysen auch von Gesellschaften, welche die Un­terscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem nicht kennen.126

Wie die Ontologie des Ausgleichs naturphilosophisch am Doppelcharakter des Körpers, Subjekt und Objekt des Habens zu sein, ansetzt, so reagiert auch alles menschliche Handeln auf diesen Doppelcharakter. Die Pointe der Personalisie- rung und Individualisierung besteht jedoch darin, die ontologische Potenzialität der Mitte, welche beim Menschen als Personalität sich zeigt, derart zum Ausgleich zu bringen, dass der natürliche Körper zum personalen Körper wird, ohne dass seine Natürlichkeit kulturalistisch aufgelöst würde. Am Anfang alles Handelns steht nämlich nicht schlicht die „fertige“ Doppelaspektivität des Körperleibs, d. h. die „Instrumentalität des Körpers“ im Sinne einer instrumentalen Beherrsch­barkeit des Körpers, sowie die Sphären des Privaten und des Öffentlichen als fertige Bereiche des Politischen, die nur auszugestalten wären, sondern eine Asymmetrie, die wir als Vorrang des Körpers gefasst haben: Für uns sind wir primär Leib, in der von uns geeigneten bzw. in einen Innenperspektive übersetzbaren Außenperspektive her jedoch sind wir zunächst ausdruckshafter Körper (fremder Leib; in sozialer Perspektive, die wir in Selbstdistanzierung prinzipiell einzu­nehmen in der Lage sind) oder gegenständlicher Körper (naturwissenschaftlich betrachtet, aber auch in der maximal vergegenständlichenden Objektivierung des Körperleibes durch uns selbst).

So existenziell wir uns im Leibsein scheinbar unmittelbar selbst gegeben sind, so existenziell ist doch zugleich diese Außenperspektive, denn die Körpernatur des notwendig expressiven Leibes setzt uns dem Blick von außen unaufhebbar aus, bevor wir über die Kapazitäten verfügen, diese elementare Tatsache zu be­wältigen; in diesem eng gefassten Sinn lässt sich von einem Primat des Körpers sprechen.127 In unserer doppelten Ausgesetztheit als beobachtbarer, fragiler

126 „Merkwürdigerweise versagt nun auch gegenüber diesen altertümlichen Typen von Gesell­schaft, die den Funktionalismus der Arbeit nicht kennen und von keiner Gespaltenheit in private und öffentliche Existenz wissen, die funktionelle Analyse nicht.“ (ebd.: 203)127 Der privilegierte Zugang zu unserem leiblichen vermittelten Selbstgefühl kann nur zu dessen ontologischer Privilegierung verführen, wenn man darüber hinwegsieht, wir unseren Leib nur im personalen Sinne zu unserem machen, paradox gesprochen: verleiblichen können, indem wir uns unseren Körper aneignen, der uns gerade frühkindlich durch unsere Unverfügbarkeit terrorisiert,

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Körper und als expressiver Körper (Leib), in der Tatsache der verkörperten Exis­tenz noch vor aller intentionalen Verkörperung gründet der Zwang zum Ausgleich noch bevor wir im Körper das Korrektiv einer wahrlich „leibhaftig“ in sich krei­senden Subjektivität suchen und finden müssen. Umgekehrt müssen wir leibliche Regungen Neugeborener als Artikulation körperlicher Bedürfnisse auffassen und auf sie in einer Art permanentem Notarzteinsatz zunächst technisch, durch Füt­terung und Pflege, reagieren, bevor wir es mit einem uns ausgesetzten Körperleib zu tun haben, dem gegenüber wir uns selber als ausgesetzt erfahren können.128 Der Begriff der Exzentrizität gewinnt in diesem Zusammenhang eine weitere Be­deutung, wenn man die Verkörperung auf die unaufhebbare Verkörpertheit der menschlichen Existenz anwendet: Exzentrizität ist dann auch das ausdruckshafte Über-ihm-hinaus-Sein des körperleiblichen Wesens als Ausgangsbedingung von Ausgleichsleistungen. Sie macht Verschränkungsleistungen notwendig, die keine Ontologie der Verschränkung als Alternative zur Ontologie des Ausgleichs be­gründen, sondern vielmehr bildet die Verschränkung von Leibsein und Körperha­ben die Praxis des ontologisch notwendigen Ausgleichs der „Expressivität des Lei­bes“ und der „Instrumentalität des Körpers“ unter den Vorzeichen eines Primats des Körpers im schwachen Sinne.

5.5 Die genuin politische Dimension des privat-öffentlichen Doppelgängertums

Plessner führt den Begriff des privat-öffentlichen Doppelgängertums zusammen mit dem der elementaren Rollenhaftigkeit in Die Frage nach der conditio humana ein, um die soziologische Rollentheorien anthropologisch zu fundieren. Diese Tatsache ließe sich zum Anlass nehmen, um mit kritischem Verdacht zu fragen, warum das privat-öffentliche Doppelgängertum überhaupt die Keimzelle einer Theorie des Politischen darstellen solle, wo doch diese Differenz zunächst nur besagt, dass Personen elementar soziale Wesen seien. So hat Jan Beaufort, ohne diesen Einwand zu erheben, ihm entsprochen, indem er zugleich den Menschen von Plessner her als ζώον πολιτικόν aufzufassen bestrebt ist, dabei aber die Ge-

aber auch in seiner nicht ganz aufhebbaren Fremdheit zur erstaunlich unbefangenen Erforschung reizt.128 Phaseneinteilungen innerhalb der Frühontogenese interessieren uns hier nicht, sondern nur die banale und doch ständig übersehene grundsätzliche Bedeutung der Tatsache, dass Menschen nicht als Erwachsene zur Welt kommen. Zur genaueren Analyse der Frühontogenese im Rahmen der Philosophischen Anthropologie siehe Krüger 2011: 40 und vor allem 140 - 145.

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5.5 Die genuin politische Dimension des privat-öffentlichen Doppelgängertums 359

Seilschaft als die „Sphäre des Politischen“129 ansetzt. Das Politische wird damit vom empirischen Sozialen (der Gesellschaft) her erklärt, das privat-öffentliche Doppelgängertum spielt in Beauforts Deutung nicht einmal nominell eine Rolle.130

Hans-Peter Krüger hingegen sieht den Vorrang des Öffentlichen vor dem Privaten in der Konstitution des Verhältnisses beider:

Das Politische entspringt dem Öffentlichen und gewinnt erst an dem Problem, welche Ver­schränkung von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung hier und heute die angemes­senste ist, sein gewichtiges Thema, das der öffentlichen Partizipation aller bedarf. Es ist diese Frage ,einer Ethik des Ausgleichs, der wahren Mitte“, die zu Recht im Mittelpunkt der Phä­nomene des Politischen steht.131

Krüger knüpft hier an Plessners Grenzen der Gemeinschaft an, doch diese bilden auch die systematische Mitte zwischen der Ontologie des Ausgleichs aus den Stufen und dem privat-öffentlichen Doppelgängertum, wie Plessner es später entwickelt hat. Auf der Ebene des privat-öffentlichen Doppelgängertums ent­spricht der „Verschränkung von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung“ die Verschränkung von Leibsein und Körperhaben, die nur als Verkörperungsleistung vollzogen werden kann und als solche an der Inkorporiertheit des in Verkörpe­rungen Überzuführenden ansetzt. Das privat-öffentliche Doppelgängertum setzt an der irreduziblen Komplementarität beider Aspektrichtungen an, aber unter den Vorzeichen der Ausgesetztheit des Körperleibs, d. h. seiner unaufhebbaren prin­zipiellen Öffentlichkeit. Das privat-öffentliche Doppelgängertum in der Lebens­führung zum Ausgleich zu bringen heißt, die ontologische Ausgleichsbedürftig­keit der Person als Naturwesen, ihre Realität als Potenz,132 zu verwirklichen; diese steht nicht im Mittelpunkt, sondern an der Wurzel der Phänomene des Politischen.

Die Aufweisung des privat-öffentlichen Doppelgängertums als Wurzel des Politischen statt bloß des Sozialen bedarf des Rückgangs auf die in das Doppel­gängertum hinreinragende Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden,

129 Vgl. Beaufort 2000: 234.130 Auch Arlt (1994) geht über das privat-öffentliche Doppelgängertum, wenn auch nicht no­minell, so doch in der Sache hinweg, obwohl er im Untertitel seines Buches den Zusammenhang zwischen Anthropologie und Politik zu elaborieren vorgibt. Den Zusammenhang zwischen dem Doppelgängertum und der Doppelaspelctivität spricht Arlt zwar an (ebd.: 77), versäumt es aber dabei, die Rollentheorie zum Politischen in Beziehung zu setzen. Dabei hätte es nahegelegen, diese Verbindung herzustellen, bildet doch das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem, über welches Arlt das Politische definiert, einen Schnittpunkt zwischen Sozialem und Politischem: „Worin gründet das Politische? In der Eigenschaft des Menschen, sich zur eigenen Vertrautheit gegen das Fremde ermächtigen zu müssen.“ (ebd.: 121)131 Krüger 1999: 213.132 Vgl. SOM: 162.

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das Plessner in Macht und menschliche Natur als die politische Fundamentaldif­ferenz eingeführt hat. In der Verschränkung von Leibsein und Körperhaben, in welchem sowohl das privat-öffentliche Doppelgängertum als auch die elementare Rollenhaftigkeit zu ihrer geschichtlichen Verwirklichung im Rollenspiel der Le­bensführung gelangen, finden zwei weitere Verschränkungen statt, in denen und durch welche hindurch die Ausgleichsleistungen von Personen vollzogen werden:(1) die Verschränkung der Sinnrichtungen des Privaten und des Öffentlichen und(2) die Verschränkung der Sphären des Eigenen und des Fremden.

In Macht und menschliche Natur bringt Plessner in Anlehnung an Freud die zur Verschränkung zu bringende Verschränktheit von Eigenem und Fremdem im Ei­genen zur Sprache: „Denn das Fremde ist das Eigene, Vertraute und Heimliche im Anderen und als das Andere und darum - wir erinnern uns hier an eine Erkenntnis Freuds - das Unheimliche.“133 Das Unheimlichwerden des Eigenen in der Erfah­rung des Fremden im Eigenen und des Eigenen als auch Fremdem basiert auf der Vertretbarkeit der menschlichen Person, die Plessner bereits in den Stufen als innere, durch die exzentrische Positionalität bedingte Brechung der Individualität, d.h. der individuierten Personalität, herausgearbeitet hat.134 Diese strukturelle Verwandtschaft, deren Konvergenzpunkt in der Konstitution von Identität über und durch Differenz in ihr selbst besteht, sollte Plessner-Interpreten stärker in­teressieren als die eher zeitgeschichtlich als systematisch erklärbare Bezugnahme Plessners auf Carl Schmitts Freund-Feind-Relation, über die Plessner sagt, dass sie „nicht notwendig den Sinn einer spezifisch politischen Relation [habe], weil sie alle Verhältnisse des Menschen durchwaltet“.135 Sie bildet nach Plessner nicht die politische Grundrelation, sondern eine universale Relation, in welcher das Poli­tische wurzele: „Aber in ihr wurzelt als einer Konstante der menschlichen Si­tuation das Politische in seiner expliziten Form eines zwischenmenschlichen Verhaltens, das auf der Sicherung und Mehrung der eigenen Macht durch Ein­engung bzw. Vernichtung des fremden Machtbereichs gerichtet ist“.136 Das Ver­

133 MmN: 193, vgl. Krüger 1999:138.134 Vgl. SOM: 343.135 MmN: 194. - Das Gleiche hält übrigens Kondylis Schmitt vor: „Die Beziehung von Freund­schaft und Feindschaft charakterisiert die soziale Beziehung in ihrer Gesamtheit und nicht nur die politische Beziehung. [...] In einem logischen Sprung identifiziert Carl Schmitt eigentlich die politische mit der sozialen Beziehung, das heißt, er nimmt eine Beziehung mit so universaler Reichweite und verwendet sie, um einen Bereich zu bestimmen, der enger ist als der gesamte Bereich der Gesellschaft.“ (Kondylis 2012: 403 f.) Anders als Plessner zielt Kondylis mit seiner Kritik der unzulässigen Verengung der Freund-Feind-Relation auf das Politische darauf ab, die besagte Relation als sozialontologische Grundrelation einzuführen. Vgl. ebd., die Ausgestaltung dieser Sozialontologie findet sich in Kondylis 1984.136 MmN: 194.

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5.5 Die genuin politische Dimension des privat-öffentlichen Doppelgängertums 361

hältnis zwischen Eigenem und Fremdem erweist sich für das Politische als fun­damentaler als die Freund-Feind-Relation, weil die gegenseitige Durchdringung von Eigenem und Fremdem in der Personalität137 die Verbindung stiftet zwischen der Vertretbarkeit der Person und Plessners Angriff auf die „Monopolisierung eines bestimmten historisch gewordenen Menschentums“138 in Macht und menschliche Natur.

Die Ontologie des Ausgleichs vollzieht sich im privat-öffentlichen Doppel- gängertum nicht nur in der Verschränkung von Leibsein und Körperhaben, son­dern zugleich in der Verschränkung der Sphären von Eigenem und Fremdem. Das privat-öffentliche Doppelgängertum bildet nicht nur die Grundlage der Rollen­theorie, sondern ist darüber hinaus konstitutiv für die Sphäre des Politischen, ohne diese zu erschöpfen oder für sie allein konstitutiv zu sein. Die Sinnrich­tungen kreuzen sich in beiden Sphären, der des Eigenen und des Fremden, ohne in einer von ihnen aufzugehen - auch da nicht, wo bestimmte Verkörperungen des privat-öffentlichen Doppelgängertums als in vollständiger Harmonie mit dem aufgefasst werden, was als die Sphäre des „Eigenen“ bezeichnet werden mag. Umgekehrt kann die Entfremdung in die Sphäre des Eigenen fallen, gerade weil diese von der des Fremden besetzt wird. Der Bereich der Sphäre ist wesentlich weiter als der Bereich der Sinnrichtungen und nicht durch eine terminologisch von außen fixierbare Grenze bestimmt oder an ein spezifisches Substrat gebunden, als welches im Fall der Sinnrichtungen die körperleibliche Doppelaspektivität fun­giert.139 So reicht die „Sphäre des Menschen“, von welcher das letzte Kapitel der Stufen bereits dem Titel nach handelt, weit über die Natur des Menschen und das, was sich mittels der zentralen Begriffe des Kapitels (exzentrische Positionalität, die drei anthropologischen Grundgesetze) im engeren, naturphilosophischen Sinne strukturell fassen lässt; in die Sphäre des Menschen fällt alles, was sich mittels dieser Begriffe im weitesten Sinne erschließen lässt, weshalb z.B. der Kulturbegriff im Rahmen der natürlichen Künstlichkeit eingeführt wird; die Kultur fällt in die Sphäre des Menschen, aber nicht die Kultur in ihrer kulturwissen­schaftlich erforschbaren empirischen Gestalt, sondern lediglich ihre naturphilo­

137 Der Mensch „ist sich selber Hintergrund des Menschlichen überhaupt, von dem er a ls ,dieser und kein anderer“ hervortritt. Als reines Ich oder Wir steht das einzelne Individuum in der Mitwelt. Sie umgibt den Einzelnen nicht nur wie die Umwelt, sie erfüllt ihn nicht nur wie die Innenwelt, sondern sie steht durch ihn hindurch, er ist sie. Er ist die Menschheit, d. h. er als Einzelner ist absolut vertretbar und ersetzbar.“ (SOM: 343)138 MmN: 193.139 „Die Sphäre der Vertrautheit ist also nicht von,Natur“ begrenzt und erstreckt sich (gleichsam außergeschichtlich) bis zu einer gewissen Grenze, sondern sie ist offen und erschließt ihm da­durch die Unheimlichkeit des Anderen in der unbegreiflichen Verschränkung des Eigenen mit dem Anderen.“ (MmN: 193)

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sophischen Ermöglichungsbedingungen sind Gegenstand der Stufen.1'10 Die Sphäre des Politischen reicht zwar wesentlich weiter als das privat-öffentliche Doppelgängertum und die körperleibliche Doppelaspektivität, sie bleibt aber gleichwohl an diese als ihr mediales Substrat gebunden.

Was Plessner in der Ontologie des Ausgleichs strukturell aufweist und im privat-öffentlichen Doppelgängertum vertieft, erlaubt keine Übersetzung der Ausgleichsbedürftigkeit in eine bestimmte Gestalt der Verwirklichung, keine Privilegierung einer besonderen Gestaltung des privat-öffentlichen Doppelgän- gertums. Der Ausgleichsbedürftigkeit ist kein Ideal des gelungenen Ausgleichs eingeschrieben, ebenso wenig lässt sich aus ihr ein bestimmtes Ideal ableiten, weshalb Bielefeldts Begründung der „Ethik des Ausgleichs“ im Rekurs auf die Aristotelische μεσάτης -Lehre aus der Nikomachischen Ethik irreführend ist.140 141 Was zwischen Plessner und dem Aristoteles der Nikomachischen Ethik steht, findet sich in Plessners Philosophischer Anthropologie und reißt einen Graben zwischen der Ethik des Ausgleichs und der μεσότης-Lehre auf: die natürliche Künstlichkeit. Die natürliche Künstlichkeit, welche als Bindeglied zwischen Plessners Ethik und einer Ontologie des Ausgleichs fungieren kann, steht der Aristotelischen Natur­philosophie wesentlich näher als der Nikomachischen Ethik, weil auch Plessners Ethik des Ausgleichs keine Tugendteleologie enthält, sondern gerade die „im­manente Teleologie“ der Stufen in einer am Problem der Selbstorganisation von Lebendigem gewonnenen statt in einer tugendethischen Perspektive aufnimmt.142 Sowohl in Plessners Ethik des Ausgleichs als auch in seiner Ontologie des Aus­gleichs geht es um ein Gleichgewicht, das keine Tugendideale verwirklicht, son­dern vielmehr ein Selbstseinkönnen gemäß der exzentrischen Positionalität:

Existentiell bedürftig, hälftenhaft, nackt ist dem Menschen die Künstlichkeit wesensent­sprechender Ausdruck seiner Natur. Sie ist der mit der Exzentrizität gesetzte Umweg zu einemzweiten Vaterland, in dem er Heimat und absolute Verwurzelung findet. Ortlos, zeitlos, ins

140 Die Probleme, die sich mit dem Begriff der Sphäre ergeben und die regelmäßig übergangen werden, sind nicht zu unterschätzen. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie wird der Begriff als Modeschlagwort des frühen 20. Jahrhunderts bezeichnet, seine noch am ehesten terminolo­gische Prägung bei Scheler verortet, dem Plessner ihn vermutlich entlehnt hat. Vgl. HWPh Bd. 9, 1375. Wie weit der Begriff gefasst ist, zeigt sich bei Scheler wahrlich: „Der [Mensch hat] Welt. Er weist auch noch das als Sphäre seiner Sphäre nach, was er aus der Begrenzung seiner Sinne nicht wissen kann.“ (Scheler 1997b: 130) Womöglich spielt der Begriffe der „Sphäre des Menschen“ keine allzu geringe Rolle in Schelers Vorbehalten gegen die Stufen, hat Scheler ihn doch bereits 1926 in seiner nachgelassenen Schrift Zur Konstitution des Menschen (ebd.: 135) verwendet; ob Plessner diese Schrift kannte, entzieht sich meiner Kenntnis.141 Vgl. Bielefeldt 1994: 73 f.142 Die Bedeutung des Problems der Selbstorganisation als zentrales Motiv der Aristotelischen Ontologie des Lebens aufzuweisen, war das Vorhaben des zweiten Kapitels. Vgl. Kapitel 2.3.4.

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Nichts gestellt schafft sich die exzentrische Lebensform ihren Boden. Nur sofern sie ihn schafft, hat sie ihn, wird sie von ihm getragen. Künstlichkeit im Handeln, Denken und Träumen ist das innere Mittel, wodurch der Mensch als lebendiges Naturwesen mit sich im Einklang steht.143

Wenn Plessner in den Grenzen der Gemeinschaft von der Notwendigkeit des Ausgleichs zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft spricht, tut er dies eher als Arzt denn als Tugendethiker. Und der Arzt ist in diesem Fall ein Ontologe des Ausgleichs, der, indem er das Politische in der Ontologie der Person aufweist, einen kritischen Maßstab gegenüber allen die Notwendigkeit des Ausgleichs zur Notwendigkeit dieser Gestalt des Ausgleichs verfälschenden, konkretistischen Reduktion des Politischen auf bestimmte politische Idealbilder findet. Denn Ausgleichsleistungen im Sinne der Ontologie des Ausgleichs haben gerade nicht die Mitte als das Prinzip der μεσότης-Lehre zu ihrem τέλος, sondern die Mitte, die als Potenz real ist und sich daher notwendig als Potenz zum Ziel hat. Der Begriff des homo absconditus ist daher nicht von einem normativ verstandenen Prinzip der Unergründlichkeit herzuleiten,144 sondern das Prinzip der Unergründlichkeit bezieht seine Legitimität daraus, dass das Durchgegebensein des Menschen auf das Andere seiner selbst, von dem Plessner in Macht und menschliche Natur spricht, das Durchgegebensein auf die lebendige Natur ist,145 die ontologisch als Potenz bestimmt wird.

143 SOM: 316.144 Dies macht z. B. Schürmann (Vgl. Kap. 5.1). Mitscherlich behauptet zwar, dass Plessner „sich in der Naturphilosophie unter den Gesichtspunkt der Grenzhypothese und in der Geschichts­philosophie unter das Prinzip menschlicher Unergründlichkeit stellt“ (Mitscherlich 2006: 59 f.) bleibt aber aus guten Gründen skeptisch gegenüber der normativistischen Interpretation des Unergründlichkeitsprinzips (vgl. ebd.: 251, FN 257). Doch Mitscherlichs Auffassung des Prinzips der Unergründlichkeit als „Methodenprinzip“, mittels dessen Plessner „auch noch die apriorische Bestimmung, daß die menschliche Wirklichkeit unergründlich sei“ (ebd.: 278), verwechselt die strukturelle Unergründlichkeit, auf welcher der Begriff des homo absconditus zielt, mit einer apriorischen Unergründlichkeit, die vom methodischen Gang der Stufen her gar nicht zu gewinnen ist.145 Vgl. MmN:230.

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5.6 Die rollentheoretische Adaptation des privat-öffentlichen Doppelgängertums als des Ermöglichungsgrundes des Politischen

Was in Macht und menschliche Natur noch nicht rollentheoretisch formuliert wird, weil es nicht entlang des privat-öffentlichen Doppelgängertums und dessen Ver- körpertheit in der Körperleiblichkeit betrachtet wird, wird in Lachen und Weinen in einer Weise gefasst, die im Unterschied zur sphärisch gefassten Differenz zwi­schen Eigenem und Fremdem jede fehlgehende Psychologisierung verunmöglicht. Eine solche Psychologisierung kann man erst in Angriff nehmen, wenn man Plessners Sphären-Begriff missversteht und ihn psychologisch verengt:

Der Mensch sieht ,sich‘ nicht nur in seinem Hier, sondern auch im Dort des Anderen. Die Sphäre der Vertrautheit ist also nicht von ,Natur“ begrenzt und erstreckt sich (gleichsam außergeschichtlich) bis zu einer gewissen Grenze, sondern sie ist offen und erschließt ihm dadurch die Unheimlichkeit des Anderen in der unbegreiflichen Verschränkung des Eigenen mit dem Anderen.146

Weil Eigenes und Fremdes selbst Elemente der Sphäre der Vertrautheit bilden, kann der Mensch im Eigenen im Fremden sein, sowohl hier als auch dort und im Hier dort oder im Dort hier sein,147 weil Hier und Dort weder im handgreiflichen („im“ Körper) noch im metaphorischen Sinne („im“ Bewusstsein) geographisch lokalisierbar sind, weshalb das „Dort des Anderen“ nicht mit dem Anderen identisch ist, dessen Dort wiederum ein sich selbst ins Dort des Anderen hin entzogenes Hier sein kann. Auch Krüger weist in seiner an Plessner anschlie­ßenden Rollentheorie explizit darauf hin, dass Eigenes und Fremdes nicht im Sinne des eigenen und fremden Bewusstseins aufgefasst werden dürfen, ersetzt dabei allerdings den Rekurs auf den Sphärenbegriff durch eine rollentheoretische Erdung des Eigenen und Fremden in körperlichen und leiblichen Bewegungs­richtungen:

Man verwechsle diesen Zugang zum Eigenen und Anderen von einem selbst aus dem Schauspiel der Rolle her nicht mit reinen Bewußtseinszuständen, die entweder unmittelbar da seien oder auf sich reflektieren könnten. Es handelt sich um leibliche und körperliche Bewegungsrichtungen, die sensomotorisch in die Welt hinein und aus ihr zurück [...] aus­geführt werden müssen und zu deren Verschränkung [...] Spielraum und Spielzeit auszu­bilden vonnöten ist, damit die Selbstbezüge entstehen und sich ausgleichen können.148

146 Ebd.: 193.147 Vgl. ebd.148 Krüger 1999:138.

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5.6 Die rollentheoretische Adaptation des privat-öffentlichen Doppelgängertums 365

In die rollentheoretisch grundlegende Differenz zwischen Leib und Körper als Aspektrichtungen ragen die Sphären des Eigenem und Fremdem hinein. Weil dieses Hineinragen kein Hineinragen in etwas ist, von dem diese Sphären gene­tisch oder ontologisch unabhängig wären, lassen sich die Sphäre der Rollen­theorie und der Theorie des Politischen eben nicht trennen, sondern sind selbst ineinander verschränkt. Dies lässt sich an der rollentheoretischen Aufnahme des oben angesprochenen Vorrangs des Körpers veranschaulichen: In der Ausge­setztheit des Körpers ist dieser zunächst ein Fremdes, von uns Anzueignendes, und auch als Angeeignetes nie ein vollständig - mit sich selbst bruchlos identisches - Eigenes, da auch kein noch so privilegierter, durch Empfindungen und Gefühle gegebener Zugang zum Leib diesen „entkörpern“, d. h. aus seiner Ausgesetztheit in eine Innerlichkeit hinein- oder zurückholen kann. Den ontogenetischen Anfang bildet nicht das Eigene, sondern die Aneignung des Eigenen in der Ausgesetztheit, die das Eigene ent-eignet, bevor es überhaupt ein Eigenes geworden ist und werden konnte. Die Sphäre von Eigenem ist jedoch mit dem noch nicht ange­eigneten Eigenen bereits gegeben, doch semantisch konfiguriert sich die Sphäre erst im Prozess der Aneignung; sie ist auch als Sphäre nicht fertig, sondern wird - paradox gesprochen - innerhalb ihrer selbst konstituiert, wodurch sich ihre Grenzen verschieben und ihre Inhalte verändern. Die sphärenkonstitutive An­eignung dieses Verhältnisses zwischen Eigenem und Fremdem vollzieht sich im Rollenspiel, in dem sie nicht auf geht.

Es lässt sich daher von einer reziproken Codierung der Sphären des Eigenen und des Fremden einerseits und des privat-öffentlichen Doppelgängertums im Rollenspiel andererseits sprechen. Die uns vertraute Situation, in welcher wir uns als Personen jedoch befinden, hat zum Ansatzpunkt das Eigene, das wir mit einer Selbstverständlichkeit „bewohnen“, die uns im Alltag dafür blind macht, dass das Eigene ein Angeeignetes ist, obwohl wir uns sehr wohl dessen bewusst sind, dass es weiterhin und permanent aufgrund der Inkorporiertheit unserer Existenz ein dem der sozialen bzw. mitweltlichen Sphäre Ausgesetztes ist. Dieses Ausgesetzt­sein bedeutet aber nicht, z.B. im Fall des personal noch nicht bemächtigten Körperleibs, dass der Leib in seiner öffentlichen Ausgesetztheit bloßer Körper wäre, sondern dass der Leib, der auch Körper ist, auch als Leib in der privat-öf­fentlichen Doppelaspektivität erscheint. Eindeutige und überschneidungsfreie Zuordnungen zwischen den Sphären und den Aspektrichtungen sind hier nicht möglich. Lebensweltlich ist uns demzufolge das privat-öffentliche Doppelgän- gertum in mehrfacher, man könnte auch sagen: hybrider Weise gegeben: in der Verkörperung, die an den Anderen beobachtbar ist, und in der eigenen Verkör­perung, die gleichwohl in der Übernahme fremder Perspektiven objektivierbar und insofern beobachtbar ist, sowie in der je eigenen und unvertretbaren Leib­haftigkeit der körperlichen Situation und in der Reflexion dieser sich aneinander

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modellierenden und brechenden Verhältnisse. Wie diese Verhältnisse sich ge­genseitig beeinflussen und für die Selbstverhältnisse von Personen konstitutiv sind, die aufgrund des privat-öffentlichen Doppelgängertums nicht monadisch in sich selbst verharren können, Selbstverhältnisse also nur durch die Einarbeitung von Fremdem im Perspektivenwechsel sein können, hat Krüger am Beispiel der spielerischen (Schein-)Identifikation mit Rollen gezeigt, in welcher das Eigene sich durch die distanziert bleibende Anverwandlung des Fremden von diesem her modelliert, ohne sich als Eigenes zu verlieren:

Indem man aber umgekehrt bei sich gegen die Verkörperung der Rolle bleiben will, nicht in, sondern nur mit dem Träger der Erwartungen anderer spielt, instrumentiert man aus der Distanz heraus zu sich selbst als Rollenträger. Da man sich nur zum Scheine mit ihm identifiziert, läuft man auch im Rückbezug von ihm her wie ein Fremder auf sich zurück, in dem einen das Andere von einem selbst begegnet.149 [sic!]

Krüger adaptiert hier rollentheoretisch, was Plessner - Krüger verweist selbst wenige Zeilen weiter unten selbst darauf - in Macht und menschliche Natur aus­geführt hat. Durch den systematischen Ansatz am privat-öffentlichen Doppel- gängertum, der elementaren Rollenhaftigkeit der menschlichen Existenz und der Fundierung beider im Spiel von Leibsein und Körperhaben vertieft Krüger aller­dings Plessners frühere Ausführungen umfassend und führt die verschiedenen Linien, die sich bei Plessner verstreut finden, zusammen. Dabei tritt der bei Plessner durchweg präsente Begriff der Sphäre hinter dem Begriff des Mediums und der medialen Rolle sowohl der Körperleiblichkeit als auch der Sprache zu­rück, die - wiederum paradox formuliert - als mediale Materialisierung der ex­zentrischen Positionalität fungiert und in dieser Funktion im Folgenden als solche fokussiert werden soll.

5.7 Die mediale Potenzierung von Potenzialität:Sprache, Mitwelt und Geist

Was das Verhältnis zwischen den Aspektrichtungen des Leibes, der wir existen­ziell sind, und denen des Körpers, der uns, indem wir ihn als Leib sind, zugleich in seiner Körperlichkeit entzogen bleibt, potenziert, ist die reflexive Gegebenheit dieses Verhältnisses, aufgrund welcher wir zu diesem Verhältnis in ein Verhältnis treten können. Um diese reflexive Gegebenheit der Körperleiblichkeit für die in ihr und durch sie hindurch ihr Leben führende Person strukturell einzuholen, ist es im

149 Ebd.: 138.

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5.7 Die mediale Potenzierung von Potenzialität: Sprache, Mitwelt und Geist 367

Folgenden nötig, die mediale Selbstgegebenheit der Person um Sprache und Mitwelt im Anschluss an Krüger als Personalisierungsmedien zu erweitern. Dieser Exkurs ist auch unabdingbar, um die humanspezifische Transformation der na­turphilosophischen Potenzialität adäquat zu fassen:

Es bietet sich an, an eine bereits zitierte und hier noch einmal angeführte Passage anzu­schließen: „Die Individualisierung ist keine Frage bloßer Willkür oder subjektiver Ge­spreiztheit. [...] Individualisierung setzt vielmehr in allen Kulturen leibseitig an den senso- motorischen Rückbezügen der Rolle auf den eigenen Körperleib, etwa an eine Sucht oder Leidenschaft, an und hat mindestens privaten Spielraum.150

Die Verschränkung von Leib(-sein) und Körper(-haben) wird nicht von einer Person vollzogen, die in ihrer Körperleiblichkeit aufgeht, sondern von einer Per­son, die zu ihrer Körperleiblichkeit in ein Verhältnis tritt, das über das „leibseitige“ Ansetzen hinausreicht. Dieses Verhältnis sieht Plessner durch die exzentrische Positionalität ermöglicht, es soll aber mit Krüger im folgenden Exkurs von der Sprache als einem möglichen gegenüber der Körperleiblichkeit Dritten151 her in den Blick genommen werden, um allein dem möglichen Anschein einer Reduktion der Person auf ihre körperleibliche Verfasstheit entgegenzuwirken. Damit wird Plessners Philosophische Anthropologie nicht in Richtung Sprachphilosophie verlassen, sondern einer bestimmten Form der medialen „Materialisierung“ der exzentrischen Positionalität nachgegangen.

Die Person bedarf, um sich als Person und um die Körperleiblichkeit als Personalisierungsmedium zu vergegenständlichen und auf dieser Grundlage zu gestalten, der Sprache, welche Plessner als die zweite makroskopische Äuße­rungsweise des Menschen bezeichnet: „Makroskopisch stellt sich die Äußerung des Menschen in zwei Bereichen dar, in der Sprache und in der Gebärde.“152 Plessners Ausführungen zur Sprache bleiben jedoch meist auf den vertikalen Vergleich mit dem Tier und die Darstellung der Sprache als Monopol des Men­

150 Ebd.: 192f.151 Hier darf keineswegs unterschlagen werden, dass es je nach Konstellation verschiedene Dritte geben kann. Als gegenüber Körper und Leib Drittes exponiert Krüger im direkten Anschluss an Plessner, der vom Menschen spricht und dabei die menschliche Person meint (vgl. SOM: 73 f.), die Personalität. (Vgl. Krüger 2010: 61 f.) Umgekehrt bilde gegenüber der „Wiederholung des dualistischen Ausschlusses von Anderem (Körperlichem) aus dem Selbst (dem reflektierenden Bewusstsein oder der reflektierenden Sprache“ (Krüger 2001:77) die lebendige Natur das Dritte, das einen Vergleich zwischen hominitas und humanitas erst ermögliche statt ihn von der Privi­legierung (das menschlichen Privilegs) der Sprache, d. h. von der humanitas her, vorzuentschei­den. Vgl. ebd.: 76f.152 LuW: 255.

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sehen beschränkt,153 die notwendige Vertiefung der grundsätzlichen, wenn auch knapp gehaltenen Überlegungen Plessners zum Verhältnis zwischen der Position des Sprechers und der Verwendung der Personalpronomina154 hat Krüger voll­zogen. Um eine Vertiefung handelt es sich bei Krügers Ausführungen, weil die Sprache systematisch nicht nur an die exzentrische Positionalität, sondern auch an die Struktur der Körperleiblichkeit zurückgebunden wird:

Anscheinend verlangt gerade der Zusammenhang zwischen leiblichem Ausdruck und kör­perlicher Handlung, inwiefern es nämlich um Verschränkungen von Leiblichem und Kör­perlichem in Handlungsausdrücken und Ausdruckshandlungen geht, Sprache. Wir nehmen sie als das Dritte implizit im Selbstgespräch und im Streitfälle explizit in der Rede und Widerrede in Anspruch. Dieses Dritte erlaubt es uns, dasjenige, was in der äußeren Wahr­nehmung gerade aktual realisiert wird, als eine Variante perspektivisch anderer Möglich­keiten zu nehmen, die das sprachliche Medium virtualisiert enthält. Insofern erscheint die dritte, eben exzentrische Position, von der her sich der Unterschied und Zusammenhang zwischen Ausdrücken und Handlungen fassen lässt, als das Medium der Sprache.155

Krüger zeigt auf, dass die Sprache kein Drittes im bloß nebengeordneten Sinne ist, sondern dass sie ein Medium bildet, das die Objektivierung, Virtualisierung und Distanzierung des Verhaltensmediums der Körperleiblichkeit erlaubt. Dies be­gründet keine Überlegenheit der Sprache, welche eine ausschließliche Fixierung auf dieselbe erlaubte,156 sondern die Fähigkeit der Sprache, für die Verhaltens­bildung und Lebensführung relevante Sphären miteinander zu verschränken, wie Krüger dies am Beispiel der sprachlich ermöglichten Perspektivenübernahme in ihrer Rückbindung an den Körperleib zeit:

Man kann die Doppeldeutigkeit des Ich-Pronomen [das leiblich unvertretbare und das körperlich vertretbare Ich zu bezeichnen, S. E.[ im Austausch mit den Perspektiven anderer, die in der zweiten oder dritten Person Singular oder Plural auftreten, erlernen und nach allen der Sprache zu Gebote stehenden Reflexionsbeziehungen differenzieren und elaborieren. Soll aber diese Reziprozität der Perspektiven nicht syntaktisch oder formalsemantisch von den Personen abgelöst werden, die miteinander kommunizieren, soll sie also pragmatisch im

153 Vgl. Plessner 2003 h: 62f. und Plessner 2003a: 272 und 274f., Plessner 2003j: 285, Plessner 2003k: 314 - 318, Plessner 20031, CH: 173 - 179, wo die Bedeutung der Sprache für die Ontogenese durch die Thematisierung ihrer Rolle in Vergegenständlichungen angesprochen, aber im Hinblick auf den komplexen Gesamtprozess der Personalisierung systematisch entfaltet wird. In Immer noch Philosophische Anthropologie? greift Plessner den linguistic turn als eine Ausblendung des Organismus überhaupt in der blickfixierten Hinwendung zur Sprache an, beschränkt sich aber auf diese kritische Andeutung, vgl. Plessner 2003d: 245 f.154 Vgl. Plessner 2003 m: 338 f.155 Krüger 2001:119. - Vgl. auch Krüger 1999:102.156 Vgl. dazu Krüger 2001: 78 -8 0 .

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5.7 Die mediale Potenzierung von Potenzialität: Sprache, Mitwelt und Geist 369

Verhaltens- respektive Handlungskontext Sinn machen, dann muß ihr Rückbezug auf den sensomotorischen Zugang jeder Person zu ihrem Körperleib gewährleistet werden, was üb­licherweise durch Mimik und Gestik erfolgt.157

Diese doppelte Bewegung der Virtualisierung von Perspektiven und Verhaltens­möglichkeiten einerseits, in welcher der unmittelbare sensomotorische Funkti­onskreis verlassen wird, und der Rückbeziehung auf den sensomotorischen Zu­gang der Person zum Körperleib andererseits fasst Krüger auf als das für alle Personalisierung konstitutive Wechselspiel der „entgegengesetzte^] Funktions­richtungen“158 der Exzentrierung (Verkörperung) und der Rezentrierung (Ver- leiblichung),159 die sich „von der Funktion her gegenseitig als Kontrast brauchen, um überhaupt erscheinen zu können“160 und in der Orientierung an Verhaltens­potenzialen der Person die Grundlage einer Sprachpragmatik im eigentlichen Sinne des Wortes bilden. Diese Sprachpragmatik hat daher selbst das Rollenspiel in seiner anthropologischen Bedeutung, d.h. in seiner Gebundenheit an die elementare Rollenhaftigkeit der menschlichen Existenz, zur Voraussetzung: „Als das anthropologische Minimum, das medial die Mitwelt erscheinen läßt - das die Mitwelt tragen und in einer Differenz zwischen Außen- und Innenwelt bildbar werden läßt - hat Plessner das Rollenspiel begriffen.“161

Während Plessners Ausführungen zur Mitwelt in den Stufen abstrakt bleiben und die exzentrische Positionalität als Ermöglichungsbedingung daher stellen­weise überstrapazieren, formuliert Krüger die Frage nach der Mitwelt aus als „eine Frage nach den Medien, die .zwischen mir und mir, mir und ihm* (dem anderen) die Verschränkung der Zentrierungsrichtungen im Verhalten ermöglichen“.162 Dabei hebt Krüger ausdrücklich hervor, dass nicht alle Medien als Mitwelt fun­gieren können: „Nicht alles kann Medium sein, aber auch nicht alle möglichen Medien können umgekehrt ausgerechnet als Mitwelt fungieren, deren, wie man sagen könnte, Stiftungsfunktion von Welthaltigkeit (nicht nur Umweltartigkeit) übernehmen.“163 Das im Rahmen der Verschränkung von Perspektiven entschei­dende Medium bildet das „Medium der Sprache“,164 deren Potenzial innerhalb der Verhaltensbildung Plessner selbst nicht ausdrücklich an die von Krüger ausfor­mulierte Unterscheidung der Verhaltensrichtungen von Exzentrierung und Re-

157 Krüger 1999:101.158 Ebd.: 102.159 Vgl. ebd.: 149.160 Ebd.161 Ebd.: 125.162 Ebd.: 122.163 Ebd.164 Ebd.: 102.

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Zentrierung rückgebunden hat,165 sondern, wie die angesprochene Nebenordnung zweier makroskopischer Äußerungsweisen indiziert, vornehmlich in ihrer die Verhaltenspotenziale gleichwohl prinzipiell ermöglichenden Vergegenständli- chungsleistung betrachtet hat.166 Krüger bringt diese Stränge in eine Perspektive:

Die Verschränkung zwischen sensomotorischen Rückbezüglichkeiten au f den eigenen Körper­leib und den sprachlichen Reflexionsbeziehungen zwischen Personen kommt durch ein aktuales Über-Setzen von beiden Seiten her zustande. Einerseits spielen wir nämlich in und mit dem eigenen Körperleib zur Schau und andererseits tragen wir etwas in und mit der Sprache hinüber, benutzen wir also eine Metapher.167 [Hervorhebung im Original]

In diesem „Über-setzen“ werden nicht nur „sensomotorische Rückbezüglichkei­ten“ mit „sprachlichen Reflexionsbeziehungen“ verschränkt, sondern auch über diese Verschränkung die Sinnrichtungen des Öffentlichen und des Privaten co­diert. Mit anderen Worten: Das privat-öffentliche Doppelgängertum, das kein Resultat der Sprache ist, wird sprachlich konfiguriert. Durch die sprachliche Vermittlung der Aspektrichtungen mit den Sinnrichtungen und beider mit den sprachlichen Reflexionsbeziehungen wird der Übergang von den Ermögli­chungsbedingungen des Politischen zu einer manifesten politischen Semantik ermöglicht. Das politische Vokabular der Grenzen der Gemeinschaft wahrt in Begriffen wie denen des „Takts“168 oder des „Zeremoniells“169 noch die Verbin-

165 Eine bloße Andeutung findet sich in Die Frage nach der conditio humana: „Imitation und Vergegenständlichung, von denen Spracherwerb und Sprachgebrauch leben, haben die gleiche menschliche Wurzel: Sinn für Reziprozität der Perspektiven im Verhältnis von meinem leibhaften Dasein zum Dasein des anderen.“ (CH: 179)166 Vgl. Plessner 2003n: 437, Plessner 2003o: 315 f., Plessner 2003 m: 345, Plessner 2003p: 364, CH: 191 f.167 Krüger 1999:125.168 „Takt ist das Vermögen der Wahrnehmung unwägbarer Verschiedenheiten, die Fähigkeit, jene unübersetzbare Sprache der Erscheinungen zu begreifen, welche die Situationen, die Per­sonen ohne Worte in ihrer Konstellation, in ihrem Benehmen, in ihrer Physiognomie nach un­ergründlichen Symbolen des Lebens zu reden. Takt ist die Bereitschaft, auf diese feinsten Vi­brationen der Umwelt anzusprechen, die willige Geöffnetheit, andere zu sehen und sich selber dabei aus dem Blickfeld auszuschalten, andere nach ihrem Maßstab und nicht dem eigenen zu messen.“ (GdG: 107) - Takt ist insofern das Grundvermögen und die Bereitschaft zur Diplomatie. „Takt“ meint außerdem die Achtsamkeit, Grenzen nicht zu überschreiten und das Bemühen, die Unversehrtheit von Identität durch die Vermeidung übergriffigen Verhaltens zu wahren. In diesem Begriff fasst Plessner außerdem das, was in einem marktgängigen largon, der jeden sprachlichen Takt missen lässt, „interlculturelle Kompetenz“ genannt wird.169 Während im „Takt“ tendenziell eher der Respekt vor der Privatheit bzw., abstrakter ge­sprochen, vor der Identität Anderer im Vordergrund steht, zielt Plessner mit dem Zeremoniell auf den Schutz der Privatheit vor deren Auflösung in der Öffentlichkeit. Der Bezug zu sinnstiftenden

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5.7 Die mediale Potenzierung von Potenzialität: Sprache, Mitwelt und Geist 371

dung zu deren sinnstiftenden Verhaltensformen, die in einem formalistisch-pro- zeduralen Vokabular zum Verschwinden gebracht werden. Das Band zwischen den Sinnrichtungen, die im privat-öffentlichen Doppelgängertum Gestalt anneh­men, und dem Sinn einer elementaren politischen Semantik ist hier noch nicht zerschnitten.

So elementar die Bedeutung der Sprache ist, so wichtig ist es, deren Grenzen nicht aus den Augen zu verlieren. Zentral für das Verständnis der Sinnrichtungen (wie der Aspektrichtungen) ist, dass sie nicht „bewohnbar“ sind. Der Mensch holt sich von ihnen her ein, aber er holt sich nicht von einem aus der Prozesshaftigkeit des Lebensvollzugs extrahierbaren und isolierbaren Teil (Öffentliches/Privates) der im privat-öffentlichen Doppelgängertums ein unzerreißbares Ganzes bilden­den Sinnrichtungen her ein, weil das Doppelgängertum ausschließlich ganz rea­lisierbar ist in Verkörperungsvollzügen; daher bestimmt Plessner „den Menschen als ein Wesen, das sich nie einholt, weil es sich verkörpern muss“.170 Die Sprache könnte eine solche Selbst-Einholung nur ermöglichen bzw. eine solche nur mittels der Sprache vollzogen werden, wenn sie die Selbst-Einholung von außen her, als ein allen Verkörperungsleistungen genetisch und strukturell enthobenes Ver­mögen höherer Dignität, vollziehen könnte. Sie müsste dann ein Vermögen sein, in dem die (prospektive) Bestimmung bzw. Koordination und die (retrospektive) Erschließung von personalen Vollzügen vollständig zusammenfielen. In einem solchen sprachlichen Idealismus wären Verkörperungen nur noch Epiphänomene sprachlicher Leistungen und als solche unverständlich; wo jedoch die „senso- motorischen Rückbezüglichkeiten“ (Krüger) unverständlich werden, wird die Sprache es nicht weniger, auch wenn sie als das allein Verständliche und Ver­stehen Ermöglichende privilegiert wird.

Verhaltensformen ist auch hier noch deutlich präsent: „Für den Abendländer ergibt sich also neuer Zwang zur Verteidigung des Zeremoniells aus Gründen einer Hygiene der Seele. Seine Bewertung, vielleicht Überbewertung der Persönlichkeit zieht folgerichtig die Ausbildung ver­stärkten Schutzes der Psyche vor Preisgabe, Verletzung und Erniedrigung in der Öffentlichkeit nach sich.“ (ebd. : 88) Platonischer gefasst ist das Zeremoniell eine Praxis, die „feste Regeln für das Verhalten des einzelnen bedeutet und alle individuellen Unterschiede aus seinen Kreisen ver­bannt, gewissermaßen eine Umprägung der Persönlichkeit in statischer Richtung vornimmt und das flüchtige Dasein zu bleibenden Symbolen verzaubert“, (ebd.) - Der Weg zur einer Theorie kommunikativen Handelns kann von hier aus in Angriff genommen werden, ohne mit einer Sprachtheorie anzusetzen. Stattdessen könnte an den sinnstiftenden Verhaltensformen angesetzt werden, ohne diese kommunikationspragmatisch so zu verdünnen, dass Übergänge in beide Richtungen von der Verkörperung im Verhalten zur Sprache und umgekehrt scheinbar nur noch gewaltsam oder durch Themenwechsel herstellbar sind.170 CH: 204.

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Zu erweitern ist das Verhältnis zwischen den Medien Sprache und Mitwelt um den Geist, der allerdings nicht als Medium fungiert, aber auch nicht in klassischer Weise als ein der lebendigen Natur enthobenes Vermögen gefasst wird. Dies ist in Abhebung von Edith Stein zu sagen, bei welcher die menschliche Person vermöge des Geistes ontologisch zwischen die Natur und Gott gespannt171 und mit der Person Gottes gemäß der analogia-entis-Lehre per hiatum ihrem Was-Sein nach verbunden ist.172 Zwischen die Natur und Gott gespannt, ist der Mensch weder bloß Lebewesen noch selber göttlich, aber er ist das, was er ist, vermöge der von Gott gegebenen Geistigkeit seiner Seele, die ihn zwar nicht des Reichs des Le­bendigen enthebt, aber ihm selber als Eigenschaft bzw. substantiate Form zu­kommt und wesentlich als Aktualität bestimmt wird: „Die ursprüngliche Exis­tenzweise des Geistes ist Aktualität, ist Leben; zum Leben gehört Wirken; darum gehören Aktualität und Aktivität zusammen: Aktualität wirkt sich in Aktivität aus, Aktivität hat Aktualität zur Voraussetzung.“173 Was Stein hier im Begriff der Ak­tualität im Hinblick auf Gott, aber in einer grundsätzlichen und über engere theologische Zusammenhänge hinausreichend zusammenfasst, ist nichts anderes als die Trias von ενέργεια, εργον und εντελέχεια. Die Entelechie, deren Entfaltung selbst wiederum im „ursprünglichen Kern der Person“174 vorgezeichnet sei, findet

171 Dieses Gespanntsein zwischen Natur und Gott wird bei Scheler und Stein nicht bruchlos gedacht. Beide erweisen sich darin als Kinder der Moderne. Bei Stein ist alles geschöpfliche Sein gebrochen: „Der vollkommenen Einheit des göttlichen Seins steht die Gebrochenheit und Ge- spaltenheit des geschöpflichen Seins gegenüber.“ (EES: 45) Auch Scheler denkt die geschöpfliche Gebrochenheit in der Triebhaftigkeit als der Machtgrenze des Geistes: „Geist und Wollen des Menschen kann - ich sagte es - nie mehr bedeuten a ls ,Leitung und,Lenkung“. Und das bedeutet immer nur, daß der Geist als solcher den Triebmächten Ideen vorhält, und das Wollen den Triebimpulsen - die schon vorhanden sein müssen - solche Vorstellungen zuwendet oder ent­zieht, die die Verwirklichung dieser Ideen konkretisieren können. Ursprüngliche determinierende Lenkdetermination hat also das zentrale geistige Wollen nicht auf die Triebe selbst, sondern auf die Abwandlung der Vorstellungen.“ (Scheler 1995:54) Ohne eine Diskussion über den Beginn der Moderne anstoßen zu wollen, möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass Scheler hierin Scho­penhauer folgt, der den Intellekt als dem Willen höriges Organ und Medium der Motive bestimmt hat, ohne dass dem Intellekt eine eigene willensbestimmende Kraft zulcäme. Schopenhauer zu­folge gilt, dass des Menschen „Intellekt seiner ursprünglichen Bestimmung, als Medium der Motive dem Willen dienstbar zu seyn, noch ganz treu geblieben ist und deshalb mit der Welt und Natur, als integrierender Theil derselben, eng verbunden, folglich weit entfernt davon ist, sichvom Ganzen der Dinge gleichsam ablösend, denselben gegenüber zu treten“. (Schopenhauer 1988b: 185)172 Vgl. Kap 3.7.3.173 PuA: 77.174 Ebd.: 263.

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5.7 Die mediale Potenzierung von Potenzialität: Sprache, Mitwelt und Geist 373

daher ihre Erfüllung in der Vollendung geistiger Aktualität, welche die Existenz­weise des Geistes ausmacht.

Von dieser klassischen Sichtweise unterscheidet Plessners Begriff des Geistes sich grundlegend. Bei Plessner gibt es keinen Geist als intrinsische Eigenschaft der Person, vermöge deren diese zwischen die Natur und Gott gespannt ist, sondern die Transzendenz des Geistes bildet sich innerhalb der Immanenz in der Natur aus und bleibt an die Natur gebunden. Auch zur Bestimmung des Geistes verwendet Plessner den Begriff der Sphäre: Geist sei „die mit der eigentümlichen Positi­onsform geschaffene und bestehende Sphäre und macht daher keine Realität aus, ist jedoch realisiert in der Mitwelt, wenn auch nur eine Person existiert“.175 Der Geist erfährt damit eine doppelte Bestimmung: Er bezeichnet erstens als mit der menschlichen Positionsform geschaffene „Sphäre“ eine innerhalb der Organis­mus-Umwelt-Relation eröffnete Dimension derselben, welche diese in besonderer Weise zu einer „Relation“ macht, nämlich zu einer für ein natürliches Wesen selbst gegebenen Relation. Als mit der menschlichen Positionsform geschaffene Sphäre ist er nicht nur ein Überbau-Phänomen, sondern „die Sphäre, kraft deren wir als Personen leben, in der wir stehen, gerade weil unsere Positionsform sie erhält.“176 Er ist zweitens als Moment der lebendigen Natur sowohl medial durch die Kör­perleiblichkeit (vertikal) und die Sprache (horizontal)177 vermittelt, ohne mit ei­nem von beiden identisch zu sein. Krüger fasst Plessners Geist nicht als Sphäre, sondern als „Spezifikation der Mitwelt im Rahmen der exzentrischen Positiona- lität“178 auf.179 Diese Sichtweise ist mit der Plessners nicht inkompatibel, vielmehr stellt sie eine Konkretisierung der Bestimmung der Stufen vom späteren Plessner her dar. Will man den Sphärenbegriff beibehalten und mit Krügers Definition verbinden, wäre Geist aufzufassen als die humanspezifische Sphäre, in der die Körperleiblichkeit (vertikale Betrachtung) und die Mitwelt bzw. Sprache (hori­

175 SOM: 303.176 Ebd.: 304. - Für den Geist gilt daher, dass er den Menschen von der tierischen Umwelt entbindet, ohne ihn von der lebendigen Natur im Ganzen zu entbinden, d. h. ohne den Menschen in die Sphäre des Geistes, die ihm allein offensteht, abheben zu lassen.177 Diese terminologische Unterscheidung zwischen horizontaler und vertikaler Betrachtung geht wiederum auf Krüger zurück. Vgl. Krüger 2001: 271 f.178 Krüger 2009e: 159.179 Plessner hat die Trias von Geist, Mitwelt und Sprache in den Stufen nicht systematisch als solche entwickeltt. In den Stufen führt Plessner Geist und Mitwelt eng, die vermittelnde Rolle der Sprache findet jedoch keinen Eingang in Plessners Überlegungen. Dies ist erst bei Krüger der Fall, der Geist, Sprache und Mitwelt in einer Perspektive sehen kann, weil er im Unterschied zu Plessner über einen Medienbegriff verfügt, der es erlaubt, eine Einheit bildende Motive systematisch zu bündeln und als Einheit zu entwickeln.

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zontale Betrachtung)180 sich als Medien der Personalisierung kreuzen wie die Organisationsform und die Positionalitätsform menschlicher Personen sich in ihnen kreuzen und sich durch ihre Wechselwirkung potenzieren.

Der hier gedrängt angedeutete komplexe Zusammenhang zwischen Sprache, Geist, Mitwelt und Körperleiblichkeit, der nicht übergangen werden sollte, kann hier gleichwohl nicht weiterverfolgt werden, ohne die Linie dieser Untersuchung zu verlassen und die Verschränktheit des Ontologischen ins Politische aus dem Blick zu verlieren. Dieser Exkurs war jedoch nötig, um die naturphilosophische Fassung des Potenzialitätsbegriff in seiner medial auf humanspezifische Weise vermittelten Transformation begreifen zu können bzw. ein solches Begreifen vorzubereiten.

5.8 Die ontologisch-politische Potenzialität der Person

5.8.1 Potenzialität als Begrenzung. Liminale Potenzialität

Wer versucht, das privat-öffentliche Doppelgängertum, in das er gleichsam exis­tenziell hineingestellt ist, in Ausgleichsleistungen zu meistern, handelt oder verhält sich als Person. Die Person bildet das Woher und Wohin der Ausgleichs­leistungen, sie fasst die sie konstituierenden Momente im Rollenspiel - sei es im Spiel von Rollen oder im von Rollen distanzierten Spiel mit und gegen Rollen - zusammen und bildet als ihre Integrationsinstanz „die raumzeitlich funktionale Mitte des eigenen Körperleibs“181 (Krüger), oder sie bildet noch im Kollaps der Verhaltensbildung im ungespielten Lachen und Weinen den Sinnfluchtpunkt ei­nes körperlichen Geschehens, das in seiner Verselbständigung gegenüber dem Woher die dessen sich bemächtigende Antwort auf die Situation bildet.

In ihren Ausgleichsleistungen, die Aktualisierungen von Potenzen durch die Person in dem Sinne bilden, dass die Person sich im Ausgleich selbst zur Erfüllung hat und deshalb die „Entelechie als Seinsmodus“ realisiert, bleibt die Person wesentlich Potenz und damit in Verkörperungen und Verleiblichungen der Kör­perlichkeit ausgeliefert, wenn auch nicht unterworfen; als unterworfene wäre die Person nicht mehr reale Potenz, sondern Potenz der Umwelt wie die Pflanze und das Tier bei Edith Stein und damit keine Person mehr. In der Ausgesetztheit des Körpers und dem Primat des Öffentlichen im privat-öffentlichen Doppelgängertum findet keine Unterwerfung der Person unter den Körper und keine Reduktion der

180 Diese Unterscheidung geht wiederum auf Krüger zurück. Vgl. Krüger 2001: 271 f.181 Krüger 1999: 96.

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5.8 Die ontologisch-politische Potenzialität der Person 375

privaten Sphäre auf die je eigenen Gefühle und Gedanken statt, sondern die Wirklichkeit der Person als einer seienden Möglichkeit wird in ihrer Begrenztheit durch die „Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vorhandenen greifbaren Körpers“ bestimmt, wie Plessner dies auch in seiner Naturphilosophie als Maxime formuliert hat: „Man kommt nicht darum herum, lebendiges Sein als seiende Möglichkeit und in seiner Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vorhandenen greifbaren Körpers näher zu bestimmen.“182

Reale Potenz ist die Person, weil sie sich selbst in ihren Aktualisierungen Potenz ist und auch da, wo sie in der Potenzialität ihres Kollabierens im unge- spielten Lachen und Weinen sich gegeben ist, Potenz bleibt dadurch, dass der verselbständigte Körper in seinem Ausdrucksgehalt noch immer eine ihr entzo­gene und doch in dieser Entzogenheit aufgrund seines Ausdruckswertes eine ihr eigene, für das privat-öffentliche Doppelgängertum konstitutive Potenz ist. Um zu zeigen, wie Plessner hier die klassische Akt-Potenz-Relation transformiert, ist ein äußerst summarischer Rekurs auf Thomas von Aquin nötig: Die Unterscheidung zwischen Akt und Potenz, wie Thomas von Aquin sie durchführt, nämlich als gegenläufige Stufung von zunehmender Potenzialität bei abnehmender Seins­mächtigkeit, wonach die reine Materie die reine Potenzialität und Gott den actus purus darstelle, ist nicht dialektisch, sondern differentiell und gradualistisch angelegt. Plessner hat demgegenüber eine sowohl ontologische als auch negative Dialektik von Akt und Potenz ausgearbeitet,183 welche als indirekte Transforma­tion des klassischen Akt-Potenz-Verhältnisses gelesen werden kann. Dialektisch wird die Auffassung von Akt und Potenz, wenn Leib und Körper für sich als personkonstitutive Akt-Potenzen auf gefasst werden, dadurch, dass sie füreinander und in sich Potenzialitäten und Aktualitäten bilden, die sich zugleich durchein­ander konstituieren und aneinander begrenzen, d. h. Aktualität und Potenzialität sind durch das jeweils Andere, das ihr Anderes ist, weil sie innerhalb des sie umfassenden Ganzen der Person auftreten.184

182 SOM: 173.183 Vgl. Kapitel 4.14.184 Die dialektische Auffassung unterscheidet Plessner von Thomas von Aquin wesentlich darin, dass die Zusammengesetztheit der Substanz aus distinkten Entitäten (Form, Materie) Probleme wie das der kausalen Relation und des kausalen und somit individuativen Primats aufwirft, ohne sie zu beantworten. Die Komplikationen, die sich daraus ergeben, zeigen sich darin, dass Thomas zufolge „das Sein der zusammengesetzten Form nicht nur der Materie, sondern dem Zusam­mengesetzten selbst zukommt. Wegen der Wesenheit aber spricht man vom Sein eines Dinges. Daher darf die Wesenheit, wodurch man ein Ding Seiendes nennt, nicht nur die Form sein, noch auch nur die Materie, sondern beides, obwohl vom derartigen Sein auf ihre Weise nur die Form Ursache ist.“ (Thomas von Aquin 1988:11)

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Diese naturphilosophische Dialektik von Aktualität und Potenzialität schreibt sich in das privat-öffentliche Doppelgängertum in der Gestalt des angesprochenen Vorrangs der Potenzialität des Körpers und damit der „öffentlichen Hälfte“ der Person ein,185 in welcher die Sphären des Eigenen und des Fremden sich unauf­hebbar kreuzen. Anders gesagt: Die ontologische Potenzialität der Person ist selbst politisch, insofern der Körperleib die Ansatzzone der Sphäre des Politischen in genau dem Sinne ist, in dem die Raumgrenze die Ansatzzone der Doppel- aspektivität ist.186 Der Körper leib erscheint eigenschaftlich im Doppelaspekt und bringt darin medial das privat-öffentliche Doppelgängertum zur Erscheinung, welches sich daher anschaulich als ein Konstitutionsmoment der Wirklichkeit des Lebendigen zeigt, das wir als Person ansprechen. Zugleich bilden Körper und Leib als „Aspektrichtungen“ (Krüger) Aktualitäten und Potenzialitäten füreinander sowohl im Sinne der Begrenzung als auch des Sich-Vorwegseins-zu und - hiermit wird auf die positive Bestimmung der Potenzialität vorausgegriffen - Aktualitäten und Potenzialitäten für die Person im Ganzen, die sich wiederum zu dem, wodurch sie sich unter anderem (vor allem der Sprache) medial realisiert, verhalten kann und muss.

Zur Verdeutlichung: Im ungespielten Lachen und Weinen bricht das Leibsein sich an der Körperlichkeit des Leibes, die nicht mehr beherrschbar ist, d. h. der Akt-Charakter der Person, welchem in einer traditionellen Auffassung der Vorrang zukäme, wird systematisch in die Konzeption der Person als seiender Möglichkeit aufgenommen, die seiende Möglichkeit schon dadurch ist, dass sie nicht voll­ständig Herr über die für sie konstitutive Potenz des Körpers sein kann, die daher ihre Potenzialität im Ganzen mitkonstituiert; die Person bricht sich in sich an dem, was sie als sie selbst entscheidend mitkonstituiert.187 Dieses sie Mitkonstituie­rende ist ihr Körper, der in der Beobachtung als ihr „Außen“ angesprochen werden kann, der aber vor allem seiner Realität nach ihr Eigenes und Fremdes zugleich ist,

185 Nicht umsonst resultieren die Versuche, den Vorrang des Privaten vor dem Öffentlichen lebenspraktisch zu instituieren, in der sozialen Abschottung, d. h. in einer künstlichen „Ent-öf- fentlichung“ von unaufhebbar Öffentlichem. Die Abschottung stellt den Versuch dar, die Kör­perleiblichkeit zum schlechthin Eigenen zu machen und die unaufhebbare gegenseitige Durch­kreuzung der Sphären von Öffentlichem und Privatem in der Körperleiblichkeit in genau diesem Medium ihrer Kreuzung zur Aufhebung zu bringen.186 Vgl. SOM: 102.187 Das intime Verhältnis der Person zu ihrem Körper jenseits spezifischer Intimitäten spricht Plessner in Lachen und Weinen diskret an: „Hier dagegen, bei Lachen und Weinen, verliert zwar die menschliche Person ihre Beherrschung, aber sie bleibt Person, indem der Körper gewissermaßen für sie die Antwort übernimmt. Damit verrät sich eine Möglichkeit des Zusammenwirkens zwi­schen der Person und ihrem Körper, die für gewöhnlich geheim bleibt, weil sie nicht beansprucht wird.“ (LuW: 237)

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5.8 Die ontologisch-politische Potenzialität der Person 377

in welcher der öffentliche Aspekt ihres Doppelgängertums sich für sie, gegen sie und für Andere „materialisiert“. Diese Potenzialität kann die Person nicht be­herrschen, sie braucht es aber auch nicht, solange sie ihre kreatürliche Hinfäl­ligkeit nicht in Wahnphantasmen vergessen machen will oder - und hier wird ihre personale kreatürliche Hinfälligkeit selbst politisch -die Vulnerabilität, die mit dem öffentlichen Aspekt des Doppelgängertums gegeben ist, in einer dieses As­pekts sich zu bemächtigen versuchenden totalen Privatheit auflösen will.

Aber Lachen und Weinen bilden keinen Endpunkt, keinen finalen Zusam­menbruch, sondern ein Moment des personalen Lebens und insofern Aktualitä­ten, die sich brechen an der Potenzialität, welche die Person als seiende Mög­lichkeit ist. Daher ist die Aktualität der situativen Verhaltensgrenze kein factum brutum, sondern selbst Element einer personalen Wirklichkeit, welches im Ganzen der personalen Lebensführung in die personale Realität Eingang finden kann, ohne die Personalität per se zu unterminieren. Die Person durchlebt ihre Ver­haltensgrenzen und lebt durch sie hindurch. Personen brechen sich in der Po­tenzialität, die ihr Körper als ontologisches Negativitätsprinzip gegenüber der Selbstmächtigkeit der Person in Analogie zur Potenz im klassisch-ontologischen Sinn darstellt, aber sie brechen sich zugleich an einer Potenzialität, die aufgrund des Antwortcharakters des ungespielten Lachens und Weinens ihre eigene, gleichwohl nicht domestizierbare, ist. Es lässt sich daher sagen: Die Person be­wältigt die sie im Verhaltenskollaps überwältigende Potenzialität,188 die sich im Körper verkörpert und welchem in diesem Kollaps eine situative Absolutheit als Konstitutionsmoment der Person gegenüber der Autonomie der Person gewinnt, als reale Potenz bzw. seiende Möglichkeit, indem sie die sie begrenzende Poten­zialität in Ausgleichsleistungen organisiert und damit - in der Regel - in ihre individuative Entwicklung zu integrieren vermag. Die „merkwürdige Einheit“,189 von der Plessner spricht, stellt sich im Lichte dieser Betrachtung als eine Einheit im Bruch und durch den Bruch hindurch dar, merkwürdig, weil die Gebrochenheit der Einheitsmächtigkeit als ihr konstitutives Apriori systematisch modulierend.

Hier lassen sich nun Fäden aus Lachen und Weinen, wo Plessner den Begriff der „merkwürdigen Einheit“ prägt, und Macht und menschliche Natur im Begriff der Selbstmächtigkeit zusammenführen, in dem ein existenzielles und ein

188 Das Überwältigtsein spricht Plessner dem Lachen und Weinen gemeinsam zu: „Stärker als jedes andere mimische Ausdrucksbild ergreifen uns Lachen und Weinen der Mitmenschen und machen uns zu Partnern ihrer Erregung, ohne daß wir wissen warum. Dieser mitreißenden Kraft entspricht auf der Seite des Lachenden und Weinenden jene Hingerissenheit, jenes Überwäl- tigtsein vom eigenen Ausdruck, das seiner distanzierten Verwendung im Sinne der Gebärden­sprache ebenso entgegen ist wie seiner beliebigen Erzeugung.“ (ebd.: 262)189 Ebd.: 240.

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strukturelles Verständnis des Politischen konvergieren. Die „Konzeption des Menschen als Macht nach dem Prinzip der offenen Immanenz oder der Uner- gründlichkeit“190 verbindlich nehmen heißt für Plessner, „den Durchbruch zum eigenen Mächtigkeitsgrunde (das Bewußtsein der Menschhaftigkeit)“191 nicht für eine bestimmte Ausprägung des Menschseins zu reservieren, wodurch die je­weilige Bestimmtheit in der die Möglichkeiten der humanitas unterminierenden Festschreibung zur bloßen Partikularität herabsänke, sondern das Eigene in der „Durchgegebenheit in das Andere seiner Selbst im Kern des Selbst“192 von seiner Selbstbezogenheit zu befreien. Der Durchbruch, der dadurch ermöglicht werde, sei hingegen ein „Durchbruch in eine um ihre Selbstmächtigkeit wissende Haltung des au f die Bodenlosigkeit des Wirklichen gewagten Wissens“.193 In der struktu­rellen Lesart des Politischen entspricht der „Bodenlosigkeit des Wirklichen“ die Unmöglichkeit, das privat-öffentliche Doppelgängertum zu einem gesicherten und permanenten Ausgleich zu bringen. Der „Durchgegebenheit in das Andere seiner Selbst“ entspricht die strukturelle Eigenschaft des privat-öffentlichen Doppel- gängertums in dem doppelten Sinne, dass (1) die Aspektrichtungen des Privaten und des Öffentlichen füreinander und dadurch für die Person unaufhebbare, Krisen auslösen könnende Grenzen bilden und dass (2) der Körper als die An­satzzone des Öffentlichen im ungespielten Lachen und Weinen die Verschränkt- heit der Ordnungen des Öffentlichen und Privaten in der Personalität jenseits von Verschränkungsleistungen zum Ausdruck bringt. Wo Plessner in Macht und menschliche Natur den Rückweg zu den Stufen nimmt, indem er konzeptionell die Selbstmächtigkeit durch die Natur begrenzt,194 wird die Natur in Lachen und Weinen, wiederum ein zentrales Motiv der Stufen aufgreifend, an die Ausdrück­lichkeit als Lebensmodus des Menschen zurückgebunden im Antwortcharakter des „entgleitende [n] Hineingeraten [s] und Verfallen [s] in einen körperlichen Vorgang“:

Durch das entgleitende Hineingeraten und Verfallen in einen körperlichen Vorgang, der zwanghaft abläuft und für sich selbst undurchsichtig ist, durch die Zerstörung der inneren Balance wird das Verhältnis des Menschen zum Körper in eins preisgegeben und wieder­hergestellt. Die effektive Unmöglichkeit, einen entsprechenden Ausdruck und eine passende

190 MmN: 190.191 Ebd.: 189.192 Ebd.: 213.193 Ebd.: 214.194 „Auf das Andere seiner Macht und seines Selbst durchscheinend ist der Mensch in eine Ebene mit physischen Dingen durchgegeben und erscheint von ihm aus dem Reich eines besonderen Seins belebter Körper, der Pflanzen und Tiere, eingegliedert.“ (ebd.: 227)

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5.8 Die ontologisch-politische Potenzialität der Person 379

Antwort zu finden, ist zugleich der einzig entsprechende Ausdruck, die einzig passende Antwort.195

Die Ausgesetztheit des Körpers bringt, ohne darin mit der Spezifität der sprach­lichen Artikulation auf etwas zu antworten, den Kollaps sowohl des Ausgleichs als auch der Verschränkung von Eigenem und Fremdem zum Ausdruck und antwortet auf diese unscharfe, aber verständliche Weise ausdrücklich. Ausdruckswert und Antwortcharakter können im körperlichen Geschehen, das den Kontrollverlust der Person jenseits von Verkörperungsvollzügen verkörpert, konvergieren; der Aus­druck kann eine Antwort darstellen und als solche aufgefasst werden, aber die Möglichkeit, dass der Ausdruck einen Überschuss gegenüber der Antwort enthält, begründet die Peinlichkeit und Intimität des ungespielten Lachens und Weinens.

5.8.2 Potenzialität als ausgleichender Umgang mit Begrenztheit

Plessners systematische Orientierung an der Begrenztheit der Einheitsmächtigkeit der Person in ihrer Verfasstheit als Person enthält zugleich die Orientierung am Potenzialitätscharakter der Person, die als das Aktzentrum, als welches sie als Agens von Personalisierungsvollzügen gedacht werden muss, nur im Lichte der ihre Selbstmächtigkeit brechenden und sie mitkonstituierenden Potenzialität gedacht werden kann. Die in Verhaltenskrisen die Person überwältigende Kör­perlichkeit bildet zwar eine die Selbstmächtigkeit der Person innerhalb ihrer Konstitution begrenzende Potenz, doch sie bildet aufgrund der dadurch nicht eliminierten, grundsätzlichen „Instrumentalität des Körpers“ (Krüger) zugleich eine Potenzialität für die Person, z. B. im Körperhaben des gespielten Lachens und Weinens, in welchen die körperlichen Eruptionen der Verhaltenskrisen verleibli- chend-spielerisch angeeignet werden, und vor allem in sprachlich vermittelten Personalisierungs- und Individualisierungsleistungen. Dadurch erschöpft die Potenzialität sich nicht in bloßer Liminalität, ist nicht bloße Begrenzung im Sinne einer nicht selbst wiederum positivierbaren Negativität, sondern, wie Plessner, wenngleich in naturontologischer Perspektive, sagt, „Kannqualität als Seins­qualität“.196

Naturphilosophisch bestimmt Plessner das lebendige Sein „in purer Kann­qualität“ als „Nochnichtsein“: „Sein in purer Kannqualität ist Nochnichtsein, ein

195 Ebd.: 213.196 SOM: 172.

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Nichtsein, das die Bedingungen des Übergangs in das Sein an ihm hat.“197 Die Person ist im Unterschied zum natürlichen Sein im Allgemeinen, weil sie reale Potenz ist, nicht zureichend als „Nochnichtsein“ bestimmbar, da die „Bedin­gungen des Übergangs in das Sein an ihm“198 zu haben im Falle des personalen Seins bedeutet, sowohl die liminale Potenzialität der Körperlichkeit als auch die Potenzialität der Verhaltensgestaltung in der Individualisierung und Personali- sierung vergegenständlichen und damit Potenzialität potenzieren zu können. Weil personales Sein Potenzialität potenzieren könnendes Sein ist, ist es im empha­tischen Sinne Seinkönnen. Was Plessner über die Potenzialität von Lebewesen sagt, dass sie Potenzen seien, „weil sie das Lebewesen hat“199 und das Lebewesen sie habe, „weil sie den Gesamtbestand seines realen Seins bilden“,200 stellt sich aufgrund spezifisch personaler Leistungen der Vergegenständlichung durch die Sprache als Medium der Potenzierung lebendiger Potenzialität dar.

Diese Potenzierung lebendiger Potenzialität ist, im Unterschied zur prinzi­piellen Potenzialität lebendigen Seins, als ontologisches Charakteristikum von Personen in der exzentrischen Positionalität verankert, die, wie Krüger sagt, „strukturfunktionale“201 Ermöglichungsbedingungen des menschlichen Seins angibt, welches wir hier ontologisch, seinem Was-Sein nach, als reale Potenz gefasst haben. Die exzentrische Positionalität allein reicht zur Bestimmung der Potenzialität der menschlichen Person nicht aus, sondern muss in ihrer bereits angesprochenen medialen Materialisierung in Sprache und Mitwelt betrachtet werden, die Krüger herausgearbeitet hat.202 Innerhalb der Sprache, aber aufgrund der exzentrischen Positionalität, finden die personalen Distanzierungs- und Vir- tualisierungsleistungen statt, die es uns im Lebensvollzug ermöglichen, Mög­lichkeiten als Möglichkeiten zu begreifen und sie konjunktivisch zu modalisieren, weshalb Krüger von der „Emanzipation der Sprache von diesem Verhaltenskon­text aus der exzentrischen Positionalität durch Perspektivenwechsel“203 spricht. Hinzuzufügen wäre: Die „Emanzipation der Sprache“ ist eine Emanzipation in der Sprache „aus der exzentrischen Positionalität“. Sprachlich bewegen wir uns auch dort noch in Verhaltensvollzügen, wo wir diese in praktischer Orientierung sprachlich objektivieren und distanzieren; wir verhalten uns dann anders, näm­lich in der Situation zugleich sprachlich zur Situation, ohne dem Reizcharakter der

197 Ebd.198 Ebd.199 Ebd.: 173.200 Ebd.201 Vgl. Krüger 2001:10 und 249.202 Vgl. Kap. 5.7203 Krüger 2001: 365.

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Situation gänzlich hilflos und in stummer Direktheit ausgeliefert zu sein. Wie wir sprachlich mit Möglichkeiten umgehen und überhaupt erst Möglichkeiten als solche erkennen und begreifen können, unterscheidet sich aber davon, wie wir uns selbst als seiende Möglichkeit bzw. reale Potenz begreifen.

Die Sprache ist wie die Mitwelt204 ein gegenüber Leib und Körper Drittes, und zwar ein solches Drittes, das von einem anderen, ebenfalls gegenüber dem Doppelaspekt Dritten her praktisch in Anspruch genommen wird, nämlich von der Person. Auf die Sprache, deren Verwendung durch Personen die Mitwelt sowohl voraussetzen als auch praktisch in Anspruch nehmen muss, müssen wir hier zurückkommen, weil sie das spezifische Dritte der Verhaltensbildung ist, von welcher und in welcher (als Medium) die „Verschränkungen von Leiblichem und Körperlichem in Handlungsausdrücken und Ausdruckshandlungen“205 koordi­niert werden:

Dieses Dritte [die Sprache, S. E.[ erlaubt es uns, dasjenige, was in der äußeren Wahrnehmung gerade aktual realisiert wird, als eine Variante perspektivisch anderer Möglichkeiten zu nehmen, die das sprachliche Medium virtualisiert enthält. Insofern erscheint die dritte, eben die exzentrische Position, von der her sich der Unterschied und Zusammenhang zwischen Ausdrücken und Handlungen fassen lässt, als das Medium der Sprache.206 [Hervorhebungen, S.E.]

Der springende Punkt in Krügers Ausführungen sind nicht die im Plural ange­sprochenen „Möglichkeiten“, sondern das, wozu die Sprache als mediale Mate­rialisierung der exzentrischen Positionalität uns sowohl grundsätzlich als auch exklusiv befähigt. Diese Befähigungen sind keine aus der Sprache selbst resul­tierenden Fähigkeiten, die wie die Möglichkeiten der Verhaltensbildung im Plural angesprochen werden können, sondern sie sind die elementare Potenz, die uns als seiende Möglichkeit qualifiziert. Sie qualifiziert uns - in spezifischer, nicht aus­schließlicher Weise207 - als seiende Möglichkeit, nicht zur seienden Möglichkeit, da letztere sonst aus dem Vermögen der Sprache abgeleitet würde, statt im Me­dium der Sprache sich als das qualifizieren, was sie von der exzentrischen Posi-

204 Wo im Folgenden von der Sprache die Rede ist, sind Mitwelt und Geist immer mitgemeint, weil die Sprache sich so wenig ohne die Mitwelt in Anspruch nehmen lässt wie es einen Leib ohne Körper geben kann, auch wenn der Nexus zwischen Sprache und Welt ein realer und kein bloß analytischer ist.205 Krüger 2001:119.206 Ebd.207 „Unter den Wesensmerkmalen des Menschen, die am häufigsten angegeben werden, steht die Sprache mit an erster Stelle. Wie die Untersuchung lehrt, mit Recht. Nur is t ,Sprache“ zu eng für das, was den Kern des Wesensmerkmals der Expressivität bildet.“ (SOM: 339)

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tionalität her ist. Die sprachlich potenzierte Potenzialität wäre sonst keine „Kannqualität als Seinsqualität“208 mehr, sondern eine bloß naturgeschichtlich gewachsene Option. In und mittels der Sprache potenziert die seiende Möglichkeit sich, indem in ihr als der medialen Materialisierung der exzentrischen Positio- nalität der naturphilosophische Sachverhalt der Expressivität seine spezifische Konfiguration erfährt, d. h. die Sprache bildet eine Modulation von Expressivität und zugleich nimmt aufgrund der Spezifik exzentrischer Positionalität die Struktur menschlicher Expressivität in der Sprache eine humanspezifische Gestalt an, die sich durch ihre spezifische strukturelle Indirektheit209 von der tierischen unterscheidet.210 Die exzentrische Positionalität als „strukturfunktionale“ (Krü­ger) Bestimmung der menschlichen Person und die ontologische Bestimmung der menschlichen Person als seiende Möglichkeit sind strikt korrelative Bestimmun­gen, die sich in der Sprache als dem Medium treffen, in welchem die Potenzialität sich materialisiert und mittels dessen sie sich auf eine eigentümlich menschliche Weise entfaltet.

Die Sprache bleibt in ihrer praktischen und anthropologischen Auffassung strukturell an die Ontologie des Organischen und konkret an die liminale Po­tenzialität gebunden. In der naturphilosophisch-ontologischen Trias von Haben, Gehabtsein und harmonischer Äquipotentialität als den Konstitutionsmomenten der Selbstvermittlung des Lebendigen zur Ganzheit markiert das Gehabtwerden - in der Übertragung: der Person - durch den Körper, den sie als Leib nie ganz haben kann, im ungespielten Lachen und Weinen eine Verhaltensgrenze, die vermittels der Sprache selbst wiederum zu einem Bestandteil von Praktiken narrativer Identitätsbildung gemacht werden kann. Vermittels der Sprache kann die Person das Gehabtsein haben, ohne es damit aufheben zu können. In solchen narrativen Praktiken können Lachen und Weinen verarbeitet werden; die Ereignisse, welchen sie (im Fall des Weinens: dramatische) Signifikanz verliehen haben, können z. B. nachträglich im Medium der Sprache zu Elementen von Geschichten werden können, die wiederum ein konstitutives Element unserer (jeweiligen/kollektiven) Geschichte im Ganzen sind. Gerade weil die Potenzialität der Sprache sich an den

208 Ebd.: 172.209 Indirektheit als solche kennzeichnet die Sprache nicht exklusiv, sondern ist mit dem Umwelt- Bezug gegeben, der sich auf den Begriff der vermittelten Unmittelbarkeit bringen lässt und bereits den UmweltBezug von Tieren kennzeichnet: „Beim Tier ist dies erreicht. Die Beziehung zwischen ihm und dem Umfeld spricht sich zwar am Organismus unabhängig davon aus, ob er dezentra- listisch oder zentralistisch organisiert ist, gemäß dem Gesetz der geschlossenen Form als indirekte Beziehung aus.“ (ebd.: 325)210 „Sie macht das Ausdrucksverhältnis des Menschen, in dem er mit der Welt lebt, zum Ge­genstand von Ausdrücken.“ (ebd.: 340)

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5.8 Die ontologisch-politische Potenzialität der Person 383

Verhaltensgrenzen und im Hinausfallen211 aus der sprachlichen Artikulation in die Körperleiblichkeit an dieser als einem nicht marginalisierbaren Medium der Personalisierung bricht, sind die von Krüger angesprochene „Rekontextualisie- rung der Sprache im menschlichen Lebensvollzug“212 und die ergänzende Re- kontextualisierung des menschlichen Lebensvollzugs in der Sprache nötig.

Die Sprache und der Körperleib als elementare Medien der Personalisierung ermöglichen irreduzible und komplementäre Äußerungsweisen,213 die sich durcheinander konstituieren, indem sie sich aneinander brechen. Mit dieser ge­genseitigen Brechung, die eine wechselseitige Begrenzung darstellt und keine wesenhafte Kluft, wird kein „Dualismus zwischen Sprachlichem und Nicht­sprachlichem in unserem Verhalten“214 eingeführt, sondern die Notwendigkeit der Verschränkung beider auf die Potenzialität der Person bezogen, die reale Potenz gerade dadurch ist, dass sie keine ihrer selbst vollständig mächtige Instanz über oder jenseits der Äußerungsweisen ist, sondern selbst ein Verhältnis zu diesen Verhältnissen hat und ist. Die Sprache bildet insofern eine Potenz der Aktuali­sierung (z. B. in der Möglichkeit kommunikativer Vollzüge, aber auch in der Ver- sprachlichung als transformatorischer Aktualisierungspraxis, die etwas sprach­lich gegenwärtig macht und dadurch eine Aktualität erzeugt) und darin eine Potenz der Potenzierung (z. B. in der prinzipiellen Möglichkeit der Virtualisierung und damit auch der Gestaltung und ferngerichteten Verkettung von Verhaltens­möglichkeiten) von Potenzialität.215 Doch gemäß der funktionalen Gebundenheit der Sprache an die körperleiblichen Lebensvollzüge gilt, was Krüger über die doppelte Gebundenheit der Exzentrierung an die Rezentrierung und die „Zen­trierung [...] auf die raumzeitlich funktionale Mitte des eigenen Körperleibes“216

211 Vom Hinaus- statt vom Zurückfallen ist hier die Rede, um die Sprache nicht in der üblichen Weise als eigentliche Äußerungsform zu privilegieren.212 Krüger 1999: 51.213 Die Auffassung von Sprache und Körperleib als Medien mit spezifischen Äußerungsweisen geht, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, auf Krüger zurück, dessen Weiterent­wicklung Plessners sich von diesem vorteilhaft darin unterscheidet, sich nicht auf die Unter­scheidung von Sprache und Gestilc/Mimilc als makroskopischen Äußerungsweisen zu beschrän­ken. Vgl. LuW: 255.214 Krüger 1999: 76.215 Was hier von der Sprache gilt, hat Plessner ausdrücklich vom Geist gesagt, der in der hier dargelegten und an Krüger anschließenden Lesart, der Sprache als Medium darf: „In der Intuition, die sich in der Geggenrichtung zur intellektuell-praktischen Bemeisterung der Dinge zurück­wendet, erinnert sich der Mensch der nicht weiter auflösbaren Schwungkraft des Lebens. Darum ist er aus der Tierreihe herausgehoben, darum erscheint das Leben in ihm gleichsam noch einmal potenziert, darum ist er des Lebens Leben: Geist.“ (Plessner 2003h 58)216 Krüger 1999: 96.

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sagt, nämlich dass sich das „hier und heute“217 lebende Wesen „kategorisch (unbedingt) auf seine funktionale Mitte hin zentrieren muss. Daran gemessen kann die umgekehrte Zentrierungsrichtung auf eine funktionale Mitte im Positi­onsfeld hin nur konjunktivischen Status haben.“218 Mit anderen Worten: Im ka­tegorischen Konjunktiv existieren heißt, naturphilosophisch paradox zu existie­ren: das ontologische Sich-Vorwegsein-zu als Über-sich-hinaus-Sein ontisch zu verkörpern und über diese Verkörperung vermöge der Sprache verfügen zu kön­nen; sprachlich die „Instrumentalität des Körpers“ (Krüger) zu modulieren, der zugleich in Verhaltenskrisen über einen verfügt.

Die Sprache gerät in der Philosophischen Anthropologie nicht außerhalb von Praktiken der Verhaltensbildung ins Visier,219 weil sie gerade nicht von der le­bendigen Natur als dem Boden, darin sie wurzelt, herausgerissen und in einem sprachphilosophischen Herbarium analysiert wird. Mittels der Sprache als einem medialen Dritten gegenüber Ausdruck und Handlung bringt die Person sich in eine Distanz zum Unmittelbarkeitscharakter von Situationen, in denen sie sich befindet. Ein Motiv aus Macht und menschliche Natur,220 die strukturelle Dop­pelheit des Innerhalb- und Außerhalb-einer-Perspektive-Seins, ist hier wieder­aufzunehmen: Mittels der Sprache können wir innerhalb von Situationen und Vollzügen außerhalb von Situationen und Vollzügen sein. Reale Potenz sind wir als die Lebewesen, die wir sind, weil dieses Können kein Bonus gelungener So­zialisation oder individueller Lebenskunst ist, sondern weil die sprachlichen Vollzüge sowohl an die Struktur des menschlichen Welt- und Umweltbezugs in seiner naturphilosophischen Verfasstheit als auch an die praktische Verhaltens­bildung gebunden sind.

Das Innerhalb-der-Perspektive-außerhalb-der-Perspektive-Seins verwirklicht sich nicht in völliger Simultaneität. Von dieser Doppelheit her, in welcher sich die Doppelheit von vermittelter Unmittelbarkeit und exzentrischer Positionalität realisiert, lässt sich die menschliche Potenzialität in engerer Anbindung an die

217 Ebd.218 Ebd.219 Dass sie in der Weise, etwa als formalistische Zeichensprache, analysiert werden kann, er­schüttert nicht die Bedeutung der Reflexionsleistung, welche die Philosophische Anthropologie vollzieht, sondern besagt lediglich, dass spezielle sprachliche Operationsweisen möglich sind, welche nicht den primären Fokus der Philosophischen Anthropologie als einer Naturphilosophie bilden. Solche sprachlichen Leistungen verhalten sich zu den grundsätzlichen Abstraktions­leistungen in der Virtualisierung und Distanzierung von Verhaltenskontexten derivativ, indem sie eine graduelle Steigerung des Abstaktheitsgrades darstellen und sich in ihrer spezifischen Ei­genart vom Zwang zur Rezentrierung von Exzentrierungsleistungen entlasten, ohne ihre Ver­wender lebensweltlich oder existenziell von solchen Leistungen entlasten zu können.220 Vgl. MmN: 222.

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5.9 Abschließender Rückgang auf die Ontologie des Ausgleichs 385

naturphilosophischen Überlegungen Plessners bestimmen und die humanspezi­fische „Potenz als eine Art des Seins“221 sich in neuer Weise darstellen. Das Sich- Vorwegsein-zu des organischen Körpers erweitert sich in der menschlichen Po- tenzialität um ein Sich-Vorwegsein-zu dem, was er nicht mehr ist, und dieses „Nicht-mehr“ kann zur determinierenden Variable des „Zu“ seines Sich-Vorweg- seins-zu werden. Der Sportler, der einen Titel verloren hat, den er wiedergewinnen will, kennt kein zukünftiges Selbst, das nicht die Schande der Niederlage bzw. des Verlustes getilgt hat. Das Innerhalb-einer-Perspektive-Sein wird von der Vergan­genheit und der Zukunft her getragen, und es trägt beide: die Vergangenheit mit sich, die Zukunft als zu verwirklichendes Bild.

5.9 Abschließender Rückgang auf die Ontologie des Ausgleichs

Sprache und Mitwelt spielen eine entscheidende Rolle in der Art und Weise, wie „die Potenz als eine Art des Seins“ sich im menschlichen Leben und der menschlichen Personalität realisiert. Mittels ihrer sind ihrer Natur eigentümliche und die menschliche Person als natürliches Wesen individuierende Ausgleichs­leistungen möglich. Diese Ausgleichsleistungen, die körperleiblich als Ver­schränkungen von Leibsein und Körperhaben vollzogen werden müssen, bilden Erfüllungen personaler Potenzialität und als solche personale Varianten des grundlegenden, alle Lebensformen kennzeichnenden, ontologischen Sachver­halts, den Plessner in seiner Ontologie des Organischen mit dem Begriff der „Entelechie als Seinsmodus“ fasst. Sie bilden - naturphilosophisch und perso­nal - solche Erfüllungen im prozessualen Sinn.222 Doch solche Erfüllungen rea­lisieren keine immanente oder transzendente Wesenhaftigkeit, sondern in ihnen entfaltet sich eine Tendenz, ein Sich-vorweg-Sein-zu und führt darin das „zu“ in einen bloß tendenzhaft vorgezeichneten „Zustand“ über. Im Falle menschlicher Personen ist die „Bewegung, die einer ihr vorgegebenen oder vorlaufenden Ten­denz folgt“,223 reflexiv einholbar, sprachlich virtualisierbar und dadurch gestalt­bar. Personen sind dazu in der Lage, ihr „zu“ sprachlich vorzuzeichnen und damit

221 SOM: 175.222 „Für die lebendige Bewegung ergibt sich infolgedessen zwangsläufig der Tendenzcharakter als ein auszeichnendes Merkmal, durch welches sie von der toten Bewegung unterschieden wird: lebendig erscheint derjenige in Bewegung, die einer ihr vorgegebenen oder vorlaufenden Tendenz folgt und deren reeller Verlauf somit im Charakter der Erfüllung gegeben ist.“ (ebd.: 125)223 Ebd.

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zu bestimmen; sie können selbst eine Tendenz setzen, die nicht durch ihre or­ganische Verfassung gesetzt ist und sie können die Veränderung ihrer organischen bzw. körperlichen Verfassung (ob dem Wege körperlicher Ertüchtigung oder chirurgischer Veränderung) gemäß ihren Zielen selbst zum Ziel erklären, kurz: ihnen ist ihre körperleibliche Verfassung, die bei anderen Lebensformen mit ihrem Sein zusammenfällt, vermittels der Sprache zumindest intentional, oft aber auch praktisch verfügbar.224 Der „Tendenzcharakter“ als Charakteristikum des leben­digen Seins gelangt in all dem aber nicht zur Aufhebung, sondern zur Gestaltung im Rahmen einer begrenzten Verfügbarkeit.

Es liegt nun nahe, solche entelechialen Vollzüge von Personen als Aktuali­sierungen von Potenzen aufzufassen und die Person als Aktzentrum aufzufassen, von dem her das personale Sein in Regie genommen und, abgesehen von tem­porären Zusammenbrüchen im ungespielten Lachen und Weinen, im Allgemeinen bestimmt wird. Damit würde man den Entelechie-Begriff in der personalen Le­bensführung in neoklassischer Weise Wiederaufleben leben, weil die Person als Aktzentrum die intentional entelechiale Vollzüge steuernde Instanz wäre, die sich selbst als die durch die Vollzüge modifizierte Endgestalt derselben setzen würde; sie würde teleologisch instantiieren, was in einer Art durchgängig personal kontrollierten Kreisprozesses von ihr her und zu ihr zurück, die Lebensführung zur Vollstreckung ihres Willens machen würde. Kurz: Die Person wäre nicht reale Potenz bzw. seiende Möglichkeit, sondern eine - auf diese Autarkie zielt der klassische Geistbegriff225 - ihrer selbst mächtige, durch Aktualisierungen der ihrer Selbstmächtigkeit inhärierenden Potenzen hindurch sich selbst modifizie­rende Instanz, die im Rahmen sie nicht grundlegend definierender Machtgrenzen nahezu beliebig - der Tod bleibt problematischerweise unverfügbar - über diverse Potenzen verfügt statt selbst Potenz zu sein und als solche in sich durch eine Potenzialität begrenzt zu sein, über die sie nicht verfügen kann. Zwei von drei Momenten der dreifachen Vermittlung, die Plessner naturphilosophisch entfaltet, scheinen dann auf die Person übertragbar zu sein und das Sein der Person on­tologisch, wenn nicht erschöpfend, so doch im Ganzen hinreichend zu bestimmen und damit die in der klassischen Ontologie behauptete Selbstmächtigkeit der Person zu bestätigen: In der harmonischen Äquipotentialität (erstes Moment), in welcher das „Subjekt des Habens“ (der Mitte, des realen Kerns; zweites Moment)226

224 Und selbst da, wo die Geschlechtlichkeit nicht der Hybris biologischer Verfügungsgewalt in Form einer Geschlechtsumwandlung unterworfen wird, kann eine „Geschlechtsumwandlung“ soziokulturell vollzogen werden wie das Beispiel der albanischen „Mannfrauen“ zeigt.225 Vgl. Kap. 3.8.1, wo der Geist zwar nicht gänzlich der Natur enthoben, aber doch p er hiatum mit Gott verbunden ist und insofern als vorrangiges Identitätsprinzip gegenüber der Natur fungiert.226 Vgl. SOM: 162.

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5.9 Abschließender Rückgang auf die Ontologie des Ausgleichs 387

in den Teilen des Organismus vertreten ist, scheint die Teil-Ganzes-Relation vom Ganzen, in Übertragung: von der Person her, ihre Steuerung und Beherrschung, kurz: im Ganzen ihre zweckmäßige und intentionale Organisation zu erfahren. Doch diese Lesart würde Plessner nicht gerecht werden.

Dass die harmonische Äquipotentialität eine Potenzialitätsfigur ist, mittels welcher die dem Organismus grundsätzlich inhärierende Möglichkeit bzw. Poten- zialität, eine Vertretung des Ganzen in Teilen zu vollziehen, angesprochen wird, ist daher nicht so banal wie der prima-facie-Rekurs auf ihren Wortlaut es glauben machen könnte. „Harmonische Äquipotentialität“ meint weder begrifflich noch stellt sie faktisch eine mit der zeitlichen Totalität der Existenz zusammenfallende Vertretung dar, die einer vollständigen und jederzeitigen oder auch nur prinzipiell (durch eine der Person inhärierende Eigenschaft) gegebenen Kontrolle der Teile durch das Ganze gliche, wie sich an Plessners oben angesprochenen Ausfüh­rungen zum Altern und zu irreparablen Verletzungen zeigt.227 Eine naive Über­tragung der als Ausdruck oder gar Prinzip der Selbstmächtigkeit von Lebewesen verstandenen harmonischen Äquipotentialität auf die personale Ebene würde die Differenz von Leibsein und Körperhaben zugunsten des Leibes aufheben, da nicht mehr nur der Leib immer auch Körper, sondern auch der Körper immer kontrol­lierbarer Leib wäre; Lachen und Weinen wären dann unverständliche Willkürre­aktionen oder intentional zu (v)erklären und der Körper wäre etwas, was wir hätten, ohne von ihm gehabt werden zu können. Genau dieses Gehabtwerden, das Plessner in der dreifachen Vermittlung naturphilosophisch als Objekt des Habens anspricht, ist jedoch ein zentraler und nicht eskamotierbarer Aspekt der Ontologie der Person, der oben bereits als Primat des Körpers angesprochen worden ist. Damit ist Folgendes gemeint: Personen müssen über die Verschränkung von Leibsein und Körperhaben stets aufs Neue zu einem Ausgleich von Haben und Gehabtsein gelangen, weil sie nicht in einem natürlichen, konstanten und uner­schütterlichen Gleichgewicht beider Aspektrichtungen existieren können. Sie können dies nicht, weil der Leib als Körper der Selbstmächtigkeit der Person (1) im ungespielten Lachen und Weinen (Verhaltens-)Grenzen setzt, (2) als physische Realität mit Eigengesetzlichkeiten eine Grenze markiert (exemplarisch wäre hier an Begrenzungen medizinischer Art zu denken, auf die psychotherapeutisch nicht adäquat geantwortet werden kann) und (3) die „öffentliche Hälfte“ (Plessner) der Person in der Ausgesetztheit des Körpers von der Person nicht als Eigenes und als Fremdes, sondern als Eigenes zugleich als Fremdes erfahren wird.228

227 Vgl. Kap. 4.10.3228 Diese Gespaltenheit gründet im privat-öffentlichen Doppelgängertum und ist prinzipieller Natur, ihr widerspricht es also nicht, wenn eine Person, wie man zu sagen pflegt, mit sich selbst im

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Die harmonische Äquipotentialität und die „Entelechie als Seinsmodus“ le­gen es aufgrund tief verwurzelter Intuitionen nahe, die seiende Möglichkeit, die in der Gestalt einer menschlichen Person auftritt, unter dem Primat des Akts auf­zufassen wie Max Scheler und Edith Stein dies tun, indem sie den Primat des Akts aus dem Geist als dem Wesen der Person begründen. Auch wenn man den Geist, wie Stein, als Spezifikation der Menschenseele auffasst und den Geist damit nicht vollständig denaturalisiert, muss man den Entelechie-Begriff in sich verdoppeln und zwischen spezifisch geistigen und spezifisch natürlichen Erfüllungsweisen unterscheiden, die in der klassischen Ontologie aufgrund des Begriffs inhärie- render Eigenschaften bzw. Vermögen auf undurchsichtige Weise per hiatum mit­einander verbunden sind. In der Philosophischen Anthropologie Plessners hin­gegen wird der phänomenologisch bestehende hiatus zwischen der tierischen und der menschlichen Lebensform nicht theoretisch verdoppelt durch die jeweilige Zuschreibung intrinsischer Eigenschaften („Geist“), sondern die Eigenart der menschlichen Lebensform wird als Spezifikation des Organismus-Umwelt-Ver- hältnisses aufgrund einer bestimmten Positionalitätsform (exzentrische Positio- nalität) bei gleichen Organisationsformen (zentrisch-geschlossene Organisation) begriffen. Aufgrund der exzentrischen Positionalität erweitert sich die Organis- mus-Umwelt-Relation zu einer Organismus-Umwelt-Welt-Relation, aber die na­turphilosophische Betrachtung des Menschen wird dabei nicht verlassen oder aufgehoben, auch wenn zur Entfaltung der Spezifik der menschlichen Lebensform ein spezifisches Vokabular (z. B. Geist, Sprache, Mitwelt) erfordert wird. Das be­deutet auch: Die humanspezifischen Erfüllungen, die im Medium von Körperleib und Sprache vollzogen werden und dadurch spezifisch menschliche Aus­gleichsleistungen ermöglichen, stellen keine der Natur entwachsenen, von einer autonom operierenden Vernunft anvisierte Verwirklichungen intentional vorge­zeichneter Zustände dar.

Was die „Entelechie als Seinsmodus“ als Charakteristikum des Lebendigen mit der „Entelechie als Seinsmodus“ als Charakteristikum der menschlichen Person verbindet, ist die Realität des Grenzübergangs. Der Grenzübergang ist ein doppelter: (1) naturphilosophisch der Grenzübergang zwischen den Aspektrich­tungen von Leib und Körper und (2) personal der Sinnrichtungen von Privatem und Öffentlichem und damit der Sphären von Eigenem und Fremdem. Der le­bendig vollzogene Grenzübergang fällt nicht in die Grenzen des Organismus, d. h. in die ihn in der Umwelt gegen die Umwelt abschließenden Vollzüge; seine le­bendigen Vollzüge bilden also keine interne Eigenschaft eines bloß innerhalb

Reinen ist, denn das Prinzipielle ist nicht das lederzeitige, d.h. eine Person muss nicht jederzeit das Eigene als Fremdes erfahren, um es grundsätzlich auch als Fremdes zu erfahren.

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5.9 Abschließender Rückgang auf die Ontologie des Ausgleichs 389

seiner eigenen Grenzen operierenden Systems, sondern Lebewesen verfügen über „eine Grenze, dank der sie sich raumhaft und zeithaft im Umfeld positionieren“.229 Den Grenzübergang vollziehen heißt daher, wie Plessner es nennt, Über-ihn- hinaus-Sein.230 Umgekehrt heißt den Grenzübergang vollziehen, „in ihm hinein“ bzw. „ihm entgegen“231 zu sein: „Beide Momente erst bestimmen das Wesen der Grenze als das, was in das Andere führt und zugleich gegen es abschließt“.232 Diesem ontologischen Sachverhalt des Grenzübergangs entspricht phänomeno­logisch, dass „die Doppelaspektivität phänomenal das Über den seienden Körper hinaus bzw. In ihm hinein Sein bedeutet“.233

Die Grenze haben wir aufgewiesen als einen ontischen und ontologischen Sachverhalt.234 Plessner spricht auch vom „ontischen Antagonismus, der im Wesen der Grenzverwirklichung ausgesprochen ist: Bleiben, was es ist, Übergehen in das, was es nicht ist (über ihm hinaus) und in das, was es ist (in ihm hinein)“.235 Um diesen „ontischen Antagonismus“ zu verstehen, bedarf die Ontologie des Organischen der realen Grenze als des Dritten, welches Lebendiges von Nicht- Lebendigem unterscheidet und dem Antagonismus überhaupt erst einen Ort verleiht bzw. ihn ermöglicht; gibt es kein Lebendiges, so gibt es auch keinen Antagonismus, sondern nur Unterschiede. In der Ontologie der Person fungiert als dieses Dritte „die raumzeitlich funktionale Mitte des eigenen Körperleibs“236 (Krüger), die den personalen Grenzübergang der Aspektrichtungen und der Sinnrichtungen ermöglicht. Die Person ist als die diesen Grenzübergang vollzie­hende Instanz nicht als Ding oder Eigenschaft existent, sondern „als die wirkliche Möglichkeit des Körpers oder sein Vermögen (Potenz) real“.237 Das meint Plessners „Inexistenz der Mitte“,238 zugleich verbindet diese Realität als Potenz die Person mit der Ontologie des Organischen, welche Verbindung in besonderer Weise sich in der angesprochenen liminalen Potenzialität zeigt. Die Realität der Potenz ist daher eine doppelte: (1) die Potenz ist real, weil etwas ein Lebendiges ist und aufhört, Lebendiges zu sein, sobald die Potenz nicht mehr real ist (Ontologie des

229 Krüger 2001: 269.230 Vgl. SOM: 127 ff.231 Zur korrelativen Verwendung beider Ausdrücke vgl. ebd.: 129.232 Ebd.: 133.233 Ebd.: 130.234 Vgl. Kap. 4.5235 SOM: 138.236 Krüger 1999: 96.237 SOM: 162.238 Ebd.

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Organischen);239 (2) die Potenz ist real, weil die Person sich im privat-öffentlichen Doppelgängertum als der spezifischen Form seiner Lebendigkeit diese Leben­digkeit in den zentralen (nicht ausschließlichen) Medien von Sprache und Mitwelt als der medialen Materialisierung der exzentrischen Positionalität realisiert. Doch wie sehr auch immer wir uns im Medium der Sprache von unserer Lebendigkeit dem Anschein nach zu emanzipieren können scheinen, die Person muss wieder den Rückweg zu sich als einem Lebewesen finden in dem, was Krüger die „Re- kontextualisierung der Sprache im menschlichen Lebensvollzug“240 genannt hat. Was in diesem Lebensvollzug immer wieder zu leisten ist, ist die Verschränkung von Leibsein und Körperhaben und der Ausgleich von Öffentlichem und Privatem. In der Ontologie des Ausgleichs konvergieren deshalb zuletzt die Ontologie des Organischen und die Ontologie der menschlichen Person, welche die Ermögli­chungsbedingungen des Politischen als Lebewesen in sich trägt und sich in der Struktur ihrer Körperleiblichkeit wieder zeigt als das, als welches Aristoteles den Menschen bezeichnet hat: als ζώον πολιτικόν.

239 Diese Potenz geht durch Aktualisierungen hindurch, aber als Akt könnte sie nur real sein, wenn ihr Akt-Charakter ihre grundsätzliche Bestimmung angeben könnte, mit der klassischen Ontologie gesprochen: wenn das Lebendige vergöttlicht würde.240 Krüger 1999: 51.

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Schlussbetrachtung

Den Ausgangspunkt dieser Studie bildete die systematische Intention, dass Plessner eine Transformation der klassischen Ontologie vorgenommen habe, die zu elaborieren ist, wenn man die Tragweite von Plessners „Neuschöpfung der Philosophie“ adäquat erfassen können will. Dieser Intention inhärieren weitrei­chende Annahmen, denn es wird dabei vorausgesetzt, dass es bei Plessner keine „Neuschöpfung der Philosophie“ gegeben habe, die sich zureichend unter Um­gehung ontologischer Fragestellung elaborieren lasse. Weil Plessners „Neu­schöpfung der Philosophie“ hier nicht wie ein Museumsexponat betrachtet wird, wird die womöglich für „steil“ gehaltene, implizite These nicht bestritten, wonach die Anerkennung der Verbindlichkeit dieser „Neuschöpfung der Philosophie“ es verbietet, ontologische Fragestellungen, Intentionen und Denkfiguren dem sys­tematischen Philosophieren konstruktivistisch zu amputieren. Ontologie wurde hier nicht aufgefasst als philosophische Disziplin, deren Feld man je nach Be­lieben oder Forschungsschwerpunkt betreten oder nicht betreten kann. Ontologie wurde auch nicht aufgefasst als Komplex von Fragen, der sich aufgrund anders gelagerter Erkenntnisinteressen dem Philosophieren eskamotieren lässt, ohne dass ontologische Vorentscheidungen in einem solchen ontologiekritischen Phi­losophieren oder den vermeintlich über Ontologie erhabenen Alternativen mit­laufen. Damit wird zunächst vor allem behauptet, dass sich gegenüber ontolo­gischem Denken keine konstruktivistische Definitionsmacht herbeireden lässt, die es dem Belieben des Einzelnen anheimstellt, eine Philosophische Anthropo­logie von einer naturphilosophischen Basis oder etwa im direkten Ausgang von einer freischwebenden Geistesphänomenologie her zu entwickeln.

Diese systematische Intention erstreckt sich auch auf das Aristoteles-Kapitel, welches funktional eine historische Hinführung zu den modernen Entwürfen Steins und Plessners darstellt. Die Auseinandersetzung mit Aristoteles war zwar „nur“ propädeutischer Natur, doch ließ sich nicht umgehen, weil Aristoteles nicht nur die zentralen Begriffe geprägt hat, deren Stein und Plessner sich bedienen - Erstere überaus ausführlich, Letzterer an wenigen, aber bisher in ihrer systema­tischen Bedeutung unterschätzten Stellen. Die hier vorgelegten Betrachtungen zu Aristoteles wären in dieser Form nicht möglich gewesen ohne Georg Pichts Vor­lesungen zu De anima, die eine umfassende Gesamtdeutung der Aristotelischen Philosophie enthalten und sich keineswegs auf das genannte Werk beschränken. Was hier im durchgängigen Rückgriff auf Picht sichtbar gemacht und bekräftigt werden sollte, ist, dass Aristoteles nicht nur für die Auseinandersetzung mit Stein und Plessner elementare Begriffe wie δύναμις (Potenz) und ενέργεια (Akt), die Begriffe der Substanz, der Entelechie oder des Geistes geprägt hat, sondern, indem

DOI 10.1515/9783110459159-007

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392 Schlussbetrachtung

er diese Begriffe als miteinander zusammenhängende entwickelte, bereits eine „Ontologie des Lebens“1 entworfen hat und entwerfen musste.

Der Begriff, welcher eine philosophische Wahlverwandtschaft des Aristoteles mit Stein und Plessner vielleicht am klarsten zutage treten lässt, ist der Begriff der Entelechie (εντελέχεια), denn einzig von der Entelechie her lässt sich die Bewe­gung (κίνησις) als das Aristotelische Äquivalent von Steins Beseeltheit des Leibes und Plessners Grenzrealisierung begreifen. Denn die κίνησις ist nur deshalb nicht die bloß äußerlich am sich bewegenden Körper feststellbare Bewegung, weil sie das einheitsstiftende Prinzip dieses Körpers selbst ist:

Der Begriff der εντελέχεια wurde von Aristoteles [...] geprägt, um zu bestimmen, was die eigentliche, ursprüngliche und herrschende Bedeutung der Begriffe ,Eines“ und ,Sein‘ ist. Einheit und Sein müssen, das besagt dieser Begriff, als immanente Bewegungsstruktur dessen, was sich aus sich selbst bewegt, verstanden werden. Nur wenn man Einheit als εντελέχεια denkt, fallen Form und Materie nicht auseinander; denn Form ist dann jenes Bewegtsein der Materie, in dem sie sich im Vollzug des Lebens so organisiert, daß die dem Bewegungsablauf selbst immanente Struktur als Gestalt allmählich hervortritt.2

Die Einheit, welche Picht hier anspricht, ist der klassische Vorläufer der Ganzheit, die Plessner phänomenologisch und ontologisch von der bloßen Gestalt unter­scheidet. Die εντελέχεια wäre bei Aristoteles das materiale Prinzip, welches den Unterschied zwischen Gestalt und Ganzheit stiftet, wohingegen bei Plessner die εντελέχεια der Seinsmodus der Ganzheit ist, die als Lebendiges in einem spezi­fischen und distinkten Verhältnis zu seinem Positionsfeld steht. Die Spezifik dieses Verhältnisses gründet bei Plessner in der Grenzrealisierung, welche das Lebendigkeitsmerkmal der Selbstbewegung phänomenologisch und ontologisch vertieft, indem es von einem Dritten her (der Grenze) verstanden wird, ohne dass die Form-Materie-Relation in der aporetischen Weise bemüht werden müsste, wie sie von Haucke als Äquivalent der Doppelaspektivität herangezogen wird - mit der Konsequenz, dass die Form dann als Aspekt und als Grenze, also die Doppel­aspektivität Ermöglichendes, angesetzt muss.3 Anders gesagt: Bei Plessner muss, weil die Beziehung triadisch (Doppelaspekt, Grenze) angelegt ist, nicht eine Seele (Form) innerhalb der Beziehung (Form, Materie) auftreten und sie zugleich deren reale Spezifik (Lebendigkeit) stiften.

Picht nennt Hegel den „ große [n] Aristoteliker unter den Philosophen des deutschen Idealismus“4 und fügt hinzu:

1 Vgl. Kapitel 2.33-2.3.5.2 Picht 1992: 335.3 Vgl. Kapitel 4.8.4 Ebd.: 4.

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Schlussbetrachtung 393

Wer heute Hegel wieder entdeckt, muß wissen, daß er damit den philosophischen Entwurf des Aristoteles übernimmt. Er muß wissen, daß er sich im Horizont der griechischen On­tologie bewegt. Nun ist es aber keineswegs selbstverständlich, daß dieser Horizont auch unserem eigenen Denken inmitten der geschichtlichen Krise, die wir erleben, die Maße setzen und die tragenden Begriffe vorschreiben müßte. Es ist keineswegs selbstverständlich, daß wir die Wirklichkeit so auffassen, wie sie ist, wenn wir, wie es die Hegelianer tun, sie in ari­stotelischen Kategorien auffassen.5

Mit dem komprimierten Verweis auf Transformationsbeziehungen zwischen Plessner und Aristoteles sollte die summarische These vorbereitet werden, dass auch Plessner Aristoteliker ist. Diese angesprochenen Transformationsbezie­hungen machen Plessner weniger zum Überwinder des Aristoteles, sondern vielmehr zum Aristoteliker, weil er sich die Aristotelische Intention, ob bewusst oder unbewusst, zu eigen macht und auf der Grundlage einer objektiven Trans­formation der Phänomenologie eine neuartige Ontologie des Lebens entwickelt. In diesem spezifischen Sinne und nicht in der von Haucke6 behaupteten Weise ist Plessner Aristoteliker. Und um dies durch einen weiteren Rückgriff auf Picht zu­zuspitzen: Indem und in der Weise, wie Plessner Aristoteliker ist, ist seine On­tologie des Organischen im Kern emanzipatorischer Art, denn die Intention der Ontologie war ursprünglich eine emanzipatorische, keine dogmatische:

Im schroffen Gegensatz zu den Methodenbegriffen der neuzeitlichen Naturwissenschaft waren Platon und Aristoteles überzeugt, daß man zu einer wahren Erkenntnis der Natur nur gelangt, wenn man das, was ein Ganzes ist, nicht durch falsche Begriffsbildungen zerstört, sondern als Grundbegriffe nur solche Begriffe zuläßt, die das, was ist, unversehrt lassen.7

Die Kritik und Abwehr falscher Begriffsbildungen, die Etablierung von Bündnis­sen zwischen reduktiven, aus den Naturwissenschaften kurzschlüssig übernom­menen Begriffen und ihrer sich bedienenden Politiken, sind nicht der zentrale Impetus Plessners - Plessners Entwurf wäre sonst defensiv statt produktiv mo­tiviert - , aber doch ein zentraler, der seine naturphilosophische „Neuschöpfung der Philosophie“ motiviert.8 Wo eine Neuschöpfung der Philosophie in Angriff genommen wird, bilden falsche Begriffsbildungen (unabhängig von deren wo­möglich legitimer Intention) das, wovon auf der Grundlage richtiger Begriffsbil­dungen Emanzipation möglich sein bzw. werden soll. Unter die „falschen Be­griffsbildungen“ fällt aufgrund des dem systematischen Philosophieren

5 Ebd.:4f.6 Vgl. dazu Kapitel 4.8. und Haucke 2000: 22 f.7 Picht 1992: 287.8 Vgl. Kap. 4.4.1.

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394 Schlussbetrachtung

inhärierenden evolutionistischen Selbstverständnisses auch die Aristotelische Philosophie. Da jedoch grundlegende Intentionen und Orientierungen derselben auch noch für Plessners „Neuschöpfung der Philosophie“ bestimmend bleiben, lässt Plessner sich als Vollender dieser Intentionen und daher als Aristoteliker begreifen.9

Auch Edith Steins Philosophie ist dem Aristotelischen Erbe verpflichtet, doch anders als Plessner setzt Stein sich umfassend und dezidiert mit Aristoteles auseinander. Ihre Auseinandersetzung mit Aristoteles bleibt jedoch stets durch Thomas von Aquin vermittelt, dessen kosmologisches Konzept Stein übernimmt, weshalb ihre philosophische Anthropologie zugleich eine „Kosmo-Theologie“ des Lebens genannt werden kann. Entscheidend ist allerdings, dass die philosophi­sche Anthropologie bei Stein den Fluchtpunkt der Verknüpfung Thomas von Aquins mit Max Schelers Wissenschaft von der menschlichen Person bildet. We­gen des kosmo-theologischen Fluchtpunkts haben wir den entlang der Akt-Po- tenz-Relation entfalteten Stufenbau, in welchem der vertikale Vergleich zwischen Pflanze, Tier und Mensch enthalten ist, als „onto-anthropologischen Stufenbau“ bezeichnet.10 Das Wesen einer jeden Lebensform wird in den ontologischen Ter­mini, die Stein in der thomasischen Modifizierung von Aristoteles übernommen und um den scholastischen Begriff der Wesensform11 ergänzt hat, begrifflich dargestellt. Vergegenwärtigt man sich Steins philosophische Anthropologie vor dem Hintergrund von Plessners Aussage, wonach die klassische Ontologie phä­nomenologisch richtiggelegen und sich nur „falscher Begriffsbildungen“ (Picht) bedient habe, so verwundert es nicht mehr allzu sehr, dass sich bei Stein Äqui­valente zu Plessner finden lassen:

Wie bei Plessner die Pflanze aufgrund der offenen Organisationsform über kein eigenes Zentrum verfügt, welches sie dem Positionsfeld entgegensetzen könnte, wodurch ihr eine immerhin rudimentäre Identität zukäme, so fasst auch Stein sie als Abbild ihres Urbildes im Sinne der bloßen Manifestation; Samenkorn und Pflanze sind daher wesenhaft dasselbe in verschiedenen Zuständen und zu verschiedenen Zeitpunkten. In Ambivalenzen, die Plessner in der Bestimmung des pflanzlichen Seins erspart bleiben, gerät Stein durch den Begriff der Wesensform, der gerade die Entfaltung von Individualität ermöglicht und das Verhältnis von Abbild und Urbild delinearisiert, sich aber auf die Pflanze schlecht anwenden lässt. Stein spricht deshalb von der Verwirklichung von Möglichkeiten im pflanzlichen Sein, was sie dazu zwingt, einen Begriff uneigentlicher Möglichkeiten

9 Der Terminus „Aristoteliker“ wird hier von seinen negativen Konnotationen befreit: Wenn wir ernsthaft Aristoteliker sein wollen, müssen wir Ontologie als emanzipatorisches Projekt verstehen.10 Vgl. Kapitel 3.6.11 Vgl. Kapitel 3.6.

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Schlussbetrachtung 395

zuzulassen, von Möglichkeiten der Pflanze also, die nicht ihre Möglichkeiten sind. Indem Plessner sich auf keine der Akt-Potenz-Relation verpflichtete Kosmologie festlegt, kann er das Verhältnis zwischen Pflanze und Umgebung als eines der Beziehungslosigkeit entfalten. Zwar könnte man hier auch von einer Beziehung der Beziehungslosigkeit sprechen, doch eine solche Paradoxie wäre rhetorischer Natur.

Das Tier kennzeichnet sich Stein zufolge durch den „Aufbruch des Inneren“, der darin gründet, dass zur Pflanzenseele im Tier eine Empfindungsseele hin­zutrete.12 Der Empfindung, die zunächst den Kontakt zur Umwelt ermöglicht, entspricht die Wesensform des Tieres, die nicht im bloßen Registrieren von Reizen sich erschöpft, sondern es dem Tier ermöglicht, sich zu den Reizen und zum Leib als dem Medium der Reizvermittlung in Beziehung zu setzen. Was in dieser Be­ziehung zur Umwelt sich ausbildet, ist eine rudimentäre „Individualität“. Mit der Wesensform, die sich im Tier individualisiert, tritt eine Differenz zwischen das Individuum und die Gattung: Das Tier ist seine Natur (Individuum) und die Natur des Tieres, die in ihm als individualer Verkörperung des Urbildes konkrete Gestalt annimmt. Die Grenzen der Identität und Individualität des Tieres zeigen sich je­doch in der Ironie, dass das Tier als „Aktionszentrum“ wesentlich im Reakti­onsmodus sich befindet, d. h. das Aktionszentrum ist keine Grundlage einer das Tier gegenüber der Umwelt in den Stand der Autonomie setzenden Aktualität. Das tierische Individuum ist daher auch als Individuum vor allem Exemplar der Gat­tung. Die Aktualisierungsleistungen von Tieren sind daher Aktualisierungen von Dispositionen, sie beruhen auf dispositionellen Zuständen des Tieres, welche es zugleich der Umwelt aussetzen; Stein spricht deshalb von „vorübergehenden Zuständlichkeiten, die wir ihres Seinsmodus wegen Akte nennen“.13 Gemäß der thomasischen Ontologie verhalten sich Seinsmächtigkeit und Potenzialität um­gekehrt proportional zueinander, d. h. die Potenzialität nimmt ontologisch zu, wo die Seinsmächtigkeit des Individuums gerade abnimmt. Die Ironie des tierischen Seins besteht darin, dass es als Individuum - obwohl es durch eine Potenziali- tätszunahme gegenüber höheren Lebensformen gekennzeichnet ist - eher Potenz seiner Umweh als diese Potenz für das Tier ist, welches diese Potenz zum Ge­genstand seiner Aktualisierungsleistungen machen kann. Dies hat nicht wenig damit zu tun, dass Stein dem Tier zwar eine Individualität konzediert, ihm aber „bewusstes Erleben“ abspricht. Weil es nicht über die Potenz des Bewusstseins verfügt, wird es zur Potenz der Umweh und damit eines Aktualitätsganzen, dessen Teil es nicht ausschließlich, aber überwiegend ist.

12 Zum Folgenden vgl. Kapitel 3.6.2.13 PuA: 220.

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396 Schlussbetrachtung

Plessner stellt die Existenz eines tierischen Bewusstseins nicht in Frage; ein solches gründet ihm zufolge in der tierischen Organisationsform, welche durch die Ausbildung eines Zentrums gekennzeichnet ist.14 Die zentrisch-geschlossene Or­ganisationsform bildet bei Plessner die Grundlage seiner Analyse der Sphäre des Tieres. Die Grenzen der tierischen Verhaltensbildung führt Plessner nicht auf eine interne Begrenztheit dieses Zentrums selbst zurück, d. h. er erklärt sie nicht zir­kulär durch die Eigenschaften (Reizunterworfenheit, Fehlen von Bewusstsein etc.) einer Eigenschaft (der Seele), sondern durch die Art der Beziehung, welche das Tier zu seinem Positionsfeld hat. Dieses Positionsfeld trägt, darin stimmt Plessner wesentlich mit Stein überein, den Charakter der Umwelt statt der Welt. Die Be­ziehung des Tieres zur Umwelt bricht sich im Zentrum, das seinen Ort im Tier hat und zwischen Tier und Umwelt vermittelt; diese Brechung führt auch Plessner zufolge zu einem Aufbruch eines Inneren, aber nicht - obwohl Plessner den höheren Tieren Bewusstsein zuspricht - zu einem Ausbruch aus demselben. Ein gänzlicher Ausbruch ist auch dem Menschen nicht möglich, der aufgrund des Geistes bei Stein und der exzentrischen Positionalität bei Plessner immerhin der Freigänger der Natur ist.

Stein ordnet der Pflanze eine Pflanzenseele, dem Tier eine Tierseele und dem Menschen eine Menschenseele zu. Letztere spezifiziert sich Stein zufolge zum Geist, weshalb sie von der „Menschenseele als Geist“ spricht.15 Der Begriff des Geistes fungiert als der zentrale, gleichwohl nicht durchgängig konsequent vom Begriff der Vernunft abgegrenzte,16 Begriff, mittels dessen Stein den Menschen als das Wesen charakterisiert, das als ens creatum17 per hiatum18 mit Gott verbunden ist. Aufgrund des Geistes ist der Mensch menschliche Person, seine Personalität wird also wiederum eigenschaftlich begründet und diese Eigenschaft im onto- anthropologischen Stufenbau verödet. Diese doppelte Bestimmung der mensch­lichen Person als Naturwesen und als geistige Person ermöglicht es Stein, eine philosophische Anthropologie zu entwickeln, welche die Leiblichkeit des Men­schen als zentralen Topos begreifen kann19 und dennoch den Menschen unhin- tergehbar durch seine Gottebenbildlichkeit bestimmen kann.20

14 Vgl. Kap. 4.12.1.15 Vgl. vor allem Kap. 3.8.1.16 Zum verwickelten Verhältnis zwischen Geist, Vernunft und Bewusstsein vgl. Kapitel 3.7. Der Begriff der Vernunft spielt auch eine gewichtige Rolle in der Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie, vgl. Kap. 3.4.317 Vgl. Kap. 3.6.118 Vgl. Kap. 3.7.3 und 3.8.519 „Die menschliche Person trägt und umfaßt,ihren“ Leib und ,ihre‘ Seele, aber sie wird zugleich davon getragen und umfaßt.“ (EES: 310), auch zitiert auf S. 148.

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Schlussbetrachtung 397

Stein vollzieht damit eine doppelte Transzendierung des engeren phäno­menologischen Horizonts der Husserl’schen Phänomenologie: nach „unten“ zum Leib hin, nach „oben“ zu Gott hin. Die Sprengkraft dieser doppelten Transzen­dierung wird von Stein nicht harmonistisch geleugnet; die menschliche Person ist nicht Person allein aufgrund ihres Menschseins, sondern sie ist sich selbst eine Aufgabe, die ebenfalls nicht individualistisch bestimmt wird, weshalb Stein die Bedeutung der Erziehung in der Personalisierung klar ins Auge fasst.20 21 Niemand ist, was zu sein seine Aufgabe ist, allein dadurch, dass er ein Mensch ist; die pädagogischen und geistlichen Schriften Steins bilden die Konsequenz dieser Einsicht: „Denn wer nicht zu sich selbst gelangt, der findet auch Gott nicht und kommt nicht zum ewigen Leben.“22 Zu sich selbst kann man nicht als bloß dieses oder jenes Individuum gelangen, sondern einzig als menschliche Person. Als modern erweist Stein sich darin, dass sie in diesem Zusammenhang wieder den Künstler als Leitbild auffasst, weil in ihm Erziehung in Selbsterziehung gemäß einer Idee übergeht:

Die ,Idee‘ leuchtet dem Künstler auf, zieht ihn an, läßt ihm keine Ruhe und drängt ihn zum Schaffen. Und so scheint auch von dem, was als Ziel und Vollendung über dem Lebewesen steht, ein ,Zug‘ auszugehen, der seine Entwicklung lenkt. Beim reifen Menschen, ja schon vom Erwachen der Vernunft an, kann dieser Zug gespürt werden: das Bild dessen, was man werden soll, kann mehr oder minder deutlich erfaßt und das freie Verhalten danach gerichtet werden (in Vollkommenheitsstreben und Selbsterziehung). Aber alle untermenschliche Entwicklung, die frühe Entwicklung des Menschen und wohl auch der größere Teil seiner späteren Entwicklung geht nicht in der Form des bewußten und vernünftigen Strebens nach einem erkannten Ziel vor sich, sondern nach einer - vom Standpunkt des Lebewesens aus - unwillkürlichen und verborgenen Zweckmäßigkeit.23

Als „anti-modern“ erweist Stein sich allerdings darin, dass sie die menschliche Person von einer substanzialistischen Teleologie her begreift: „Die volle Entfal­tung ist als Telos in der Entelechie, dem ursprünglichen Kern der Person, vorge­zeichnet.“24 Da der Kern der Person allerdings die „Menschenseele als Geist“ ist, führt die innere Teleologie der Person auf direktem Wege zum Geist, durch den der Mensch wiederum per hiatum mit Gott in Form einer Berufung verbunden ist:

Die Berufung zur Vereinigung mit Gott ist Berufung zum ewigen Leben. Schon natürlicher­weise ist die Menschenseele als rein geistiges Gebilde nicht sterblich. Als geistig-persönliche

20 Vgl. EES: 391.21 Vgl. Kap. 3.8.222 EES: 426.23 Ebd.: 201.24 PuA: 263.

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ist sie überdies einer natürlichen Lebenssteigerung fähig, und der Glaube lehrt uns, daß Gott das ewige Leben, d.h. den ewigen Anteil an Seinem Leben schenken will.25

Die grundlegend doppelte Bestimmung der menschlichen Person, sich als Person entfalten zu müssen und sich gemäß ihrer spezifischen, theologisch vermittelten Bestimmung entfalten zu müssen (im Sinne auch des Sollens), hindert Stein daran, die Leiblichkeit und Natürlichkeit des Menschen in ihrer Philosophie systematisch, und das heißt hier: als strukturelle Ermöglichungsbedingungen statt nur als Begrenzungen zu denken. Der Mensch ist auch Naturwesen, der Leib ist auch ein konstitutives Moment der Person, letztlich bleibt Stein aber bei der „Auch-Wichtigkeit“,26 die Plessner in Macht und menschliche Natur angreift, ste­hen. Sie kann daher nicht konsequent die Frage stellen oder gar ausarbeiten, ob der Kern der Person und die personale Geistigkeit naturphilosophisch entwickelt werden können? Dass der personale Geist eine Eigenschaft und Gott der meta­physische Urgrund ist, welcher auch noch den personalen Geist gestiftet hat, ist theologisch vorentschieden. Diese Vorentscheidung trägt auch noch Steins Hei­degger-Kritik, welche sich exemplarisch auf eine jede Philosophie erstreckt, die den Menschen auf sich selbst zu stellen versucht: „Weil der Mensch nicht nur für sein eigenes Sein, sondern auch für andersartiges Verständnis hat, darum ist er nicht auf sein eigenes Sein als den einzig möglichen Weg zum Sinn des Seins angewiesen.“27 Das angedeutete andersartige Sein ist das göttliche,28 die sub­

25 EES: 422.26 Vgl. MmN: 229, auch hier zitiert auf S. 29.27 Stein 2006a: 481.28 Wo von schwerwiegenden inhaltlichen Voraussetzungen her gedacht wird, werden „einzig mögliche“ Wege schnell begangen. Stein greift Heideggers Exponierung des Daseins als „einzig möglichen Weg“ an, ohne in Betracht zu ziehen, dass sich daraus noch nicht notwendig ergibt, dass ihr Weg ein möglicher sei. Beide Wege - der theologische und der existenzialontologische - können als durchaus mögliche Wege aufgefasst werden, ohne dass beide lediglich relativistisch nebeneinander gestellt werden in einer Galerie von Optionen. Möglichkeiten als existenziale Möglichkeiten jenseits einer Existenzialontologie Heidegger’schen Stils denken zu können, wird von Plessners Verbindlichnehmen der Unergründlichlceit her möglich. Dieser Gedanke kann hier nicht ausführlich entwickelt werden, weil eine solche Entwicklung erforderte, die Unergründ- lichkeit weit über die strukturelle Fundiertheit im privat-öffentlichen Doppelgängertum hinaus zu verfolgen. Gemäß der hier entwickelten Systematik müsste aber auch eine Entwicklung des an­gedeuteten Gedankens stets im Blick behalten, dass die Unergründlichlceit nicht ein normatives Philosophieren jenseits der Philosophischen Anthropologie in ihrer naturphilosophischen Gestalt legitimiert, sondern in einem großen Gedankenbogen darauf bezogen bleiben müsste, weshalb Plessner in Macht und menschliche Natur die Unergründlichlceit explizit in der Anthropologie verortet: „Darum rückt in den Mittelpunkt der Anthropologie die Unergründlichlceit des Men­schen, und die Möglichkeit zum Menschsein, in der beschlossen liegt, was den Menschen allererst

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Schlussbetrachtung 399

stanzielle Differenz im Menschen eine, die ihn nicht in sich verdoppelt, sondern zu einem sui generis Anderen in Bezug setzt.

Gerade die Bestimmung der „Menschenseele als Geist“, welche die Verbin­dung zwischen dem Menschen und Gott in einer dem Menschen als individuierter Person inhärierenden, aber von Gott gestifteten Eigenschaft gründen lässt,29 verunmöglicht es Stein, einen in der ontologischen Struktur der menschlichen Person gründende Einheit der Personalität als solcher und des Politischen zu denken. So sehr die Wesensform (Seele) des Menschen sich im Menschen und damit diesen individuiert, die Individuation bricht nicht aus dem Urbild-Abbild- Verhältnis aus, welches Steins ontologisch-theologische Grundfigur bildet. Die menschliche Person gerät zwar in ein doppeltes Verhältnis der Bedürftigkeit: zur Gemeinschaft bzw. dem Staat und zu Gott, aber die Abhängigkeit von Gemein­schaft bzw. Staat setzt die Person vorrangig einem Zwangsverhältnis zum empi­rischen Politischen aus.

Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft haben wir in Kapitel 3.9 skizziert.30 Stein schließt in der Bestimmung dieses Verhältnisses nahtlos an Tönnies an, indem sie die ontologischen Seelentypen (Pflanzen-, Tier-, Mensch­seele) soziologisch in „Menschentypen“ transformiert. Die Menschentypen wer­den organologisch der Gemeinschaft als ihrem „natürlichen Ort“ zugeordnet, welcher im Kontrast zur im schlechten Sinne rationalen, weil bloß mechanischen, Gesellschaft steht. Die Menschentypen, deren zeitgenössischer soziologischer Nachfolger die Rollen(bilder) sind, ordnet Stein bestimmten Gemeinschaftskon­stellationen zu. Von der Gesellschaft werden die Menschentypen von Stein ab­geschnitten, weil Gesellschaft als solche keine konkrete Handlungssphäre, son­dern bloß einen mechanischen Überbau bildet. Die genetische Betrachtung menschlicher Personalität, die Stein zur grundlegenden Bedeutung von Erziehung führt, kann nicht konsequent durchgeführt, weil die Seele und der Geist der Person der Gemeinschaft zugeordnet und Gemeinschaft und Gesellschaft dadurch als antagonistische Wesenheiten aufgefasst werden. Die Entwicklung von Personen und die Formung ihrer Seele findet in Gemeinschaften statt, Gesellschaft hingegen bildet kein Individuations- und Vermittlungsprinzip, sondern eine Bedrohung der organischen Innerlichkeit, in welcher Seele und Gemeinschaft sich treffen.

zum Menschen macht, jenes menschliche Radikal, muß nach Maßgabe der Unergründlichkeit fallen.“ (MmN: 161)29 Hierbei ist zu beachten, dass eine jegliche Individualseele eine Wesensform ist, in der ein Typus sich konkretisiert. Sie ist aber gerade nicht nach dem Modell der Übersetzung zu denken, welches Plessner zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Individuum und Formidee her­anzieht, sondern nach dem von Plessner abgelehnten Modell der Kausalität.30 Zum Folgenden vgl. Kapitel 3.9.

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Plessner hingegen hat, wie Stein, zentrale Aristotelische Motive in seiner Ontologie des Organischen aufgenommen und diese zu einer umfassenden On­tologie des Lebens weiterentwickelt, deren zentraler Begriff der der menschlichen Person ist. Stein und Plessner haben an Schelers Projekt einer Wissenschaft von der menschlichen Person angeknüpft, doch sie haben dies auf der Basis einer unterschiedlichen Auffassung der phänomenologischen Methode getan. Während Stein das Husserl’sehe ego von innen heraus zur lebendigen Natur und zu Gott hin erweitert hat,31 hat Plessner eine objektive Transformation der Phänomenologie vollzogen, die einer ausführlicheren Darstellung bedurfte als sie bisher erfahren hat, um die volle Tragweite von Plessners „Neuschöpfung der Philosophie“ er­fassen zu können. Dies ist in den Kapiteln 4.1 bis einschließlich 4.9 geleistet worden. Die umfassende Betrachtung von Plessners phänomenologischem An­satz diente der Beantwortung einer einzigen Frage: Wie erscheint Lebendiges als solches in der nicht durch das Bewusstsein vergegenständlichten Wirklichkeit? Die Beantwortung dieser Frage erforderte eine Analyse des Erscheinens, die sich darüber im Klaren ist, dass Erscheinen Erscheinen in der Anschauung bedeutet, ohne dieses Faktum zum Anlass zu nehmen, die Ebene der Erscheinung zu ver­lassen und sich letztlich in kantisch-transzendentalphilosophischer Manier im Anschauenden zu verlieren, das im Begriff der Anschauung impliziert ist. Der Begriff der Wirklichkeit, der in diesen Analysen gewonnen wurde, erlaubte eine grundlegende Kritik der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise und eine Bestimmung ihres epistemologischen Orts, welcher die Realität bildet, welche die Wirklichkeit genetisch voraussetzt, sie aber nicht immanent erklären oder das allein in ihrer Sphäre sichtbar Werdende ersetzen kann.32 In der phänomenolo­gischen Betrachtung des Lebendigen war aber vor allem der ontisch-ontologische Doppelcharakter der Grenze als der eigenschaftlichen Mitte der Anschauung und als konstitutives Wesensmerkmal des anschaulich Erscheinenden im Phänomen der Grenzrealisierung positiv freizulegen.33 Was sich in seinem Erscheinen durch diese doppelte Grenze auszeichnet, dem kommt sowohl ein Substanz- als auch ein Wirklichkeitswert zu,34 d. h. die Substanz ist das, das den Wirklichkeitscharakter von Erscheinendem bestimmt, statt das Wesen des Wirklichen oder eine das Wirkliche begründende Eigenschaft zu bilden, und umgekehrt ist deshalb das Wirkliche als solches in sich substanziell, d. h. es bedarf keiner Gründung in einer höheren Wirklichkeit bzw. in der Realität. Diese Verhältnisse konsequent aus­buchstabieren zu können, setzt Plessners tiefgreifende Transformation der On­

31 Vgl. Kapitel 3.3 und 3.4.32 Vgl. Kapitel 4.4.33 Vgl. Kapitel 4.5.34 Zum Begriff des Wirklichkeitswerts vgl. Kapitel 4.14, 4.8 und vor allem 4.6.2 und 4.6.3.

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Schlussbetrachtung 401

tologie voraus, welche nicht nur zu einer Philosophie oder Theorie des Lebendi­gen, sondern zu einer phänomenologischen Theorie der Wirklichkeit des Le­bendigen führt.

In der durch die ausführliche Analyse von Plessners phänomenologischer Vorgehensweise vorbereiteten funktionalen Analyse hat der Begriff seine tief­greifende ontologische Bestimmung in der Entfaltung des Verhältnisses von Mitte und Peripherie im gesamten Abschnitt 4.10 erfahren. Die Grenze, wie sie als Mitte der Anschauung auftritt, wurde dabei als funktionale Mitte des Organismus bzw. als Subjekt des Habens bestimmt und die Selbstvermittlung als antagonistische entfaltet. Dieser Antagonismus gründet darin, dass das Objekt des Habens selbst Teil des Organismus ist und sich im Hingeordnetsein der Organe auf das Positi­onsfeld ausdrückt.35 Die Antwort auf die scheinbar unerklärbare und schwer fassliche Tatsache, dass der Regelfall lebendiger Selbstorganisation aufgrund ihres antagonistischen Charakters permanent vom Scheitern der Selbstorganisa­tion und damit von der Lebensunfähigkeit bedroht ist, hat Plessner in der inneren Teleologie und der „Entelechie als Seinsmodus“ gefunden, d. h. in Aristotelischen Konzepten, die er sich in einer gänzlich neuen Weise angeeignet hat.36 Was beide Konzepte vereint, ist ihre Abstinenz gegenüber äußeren Faktoren; so kritisiert Plessner einerseits Drieschs Entelechie-Begriff wegen der Einführung eines Na­turfaktors37 und begreift andererseits die innere Teleologie der Selbstvermittlung des Lebewesens zur Ganzheit als eine gleichermaßen selbstbezügliche wie dem Positionsfeld gegenüber offene, die in keinem den Organismus von außen har­monisierenden „Faktor“ gründet. Dass die „innere Teleologie“ und die „Entel­echie als Seinsmodus“ nicht bloß die Tatsache des Gelingens der organismischen Selbstorganisation begrifflich dekorieren, zeigt sich vor allem in Plessners Begriff der harmonischen Äquipotentialität, also der Realisierung der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit durch die und in der Vertretung des Ganzen in seinen Teilen. Was damit ohne Widerspruch zum antagonistischen Charakter der Selbstvermittlung erklärbar wird, ist z. B. das ansonsten schwer begreifliche an­gesprochene Phänomen der Organintegration.38 Die harmonische Äquipotentia­lität ist eine spezifische Konkretionsgestalt der „inneren Teleologie“ und der „Entelechie als Seinsmodus“, die verstehbar macht, was in einer bloß physiolo­gischen Analyse lediglich feststellbar und in Prozesse zerlegbar bleibt. Mit dem Begriff der harmonischen Äquipotentialität deutete sich bereits an, dass Plessners Begriff der seienden Möglichkeit, den er in den Stufen später an wenigen Stellen

35 Vgl. 4.10.1.36 Vgl. Kapitel 4.10.2 und 4.10.4.37 Vgl. S. 237.38 Vgl. S. 240f.

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verwendet, von zentralerer Bedeutung sein könnte als die Anzahl der Verwen­dungen desselben vermuten lassen.

Harmonische Äquipotentialität zielt auf „Kannqualität als Seinsqualität“.39 Die Analyse der „Kannqualität als Seinsqualität“, die den Organismus in seiner Selbstorganisation betrachtet und die Organe als die den Organismus räumlich zum Positionsfeld in Beziehung setzende Kontaktstelle, musste um eine Be­trachtung der Rolle der Zeit in der Selbstorganisation ergänzt werden.40 Plessner hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „Zeithaftigkeit des lebendigen Seins“ eingeführt, deren genaue Analyse den Schlüssel zu Plessners Ontologie der Potenzialität bildet. Der inneren Teleologie gemäß wird das lebendige Sein nicht als auf eine noch nicht reale, aber in ihrer manifesten Gestalt vorbestimmte Zu­kunft bezogen verstanden, sondern es wird als ein in seiner über sich selbst hinaus seienden Gegenwärtigkeit von seiner Zukunft her indefinit bestimmtes und daher zukunftsfundiertes Sein aufgewiesen.41 Ein solches Sein lässt sich zwar auch dem klassischen Entelechie-Begriff gemäß als Übergang von Potenzen zu Akten be­schreiben, wobei jeweils der Akt des Telos der Potenz bildet. Indem Plessner aber die Zukunft als die Gegenwart immanent fundierendes Moment des lebendigen Seins begreift, schöpft er gerade den Sinn des Entelechie-Begriffs tiefer aus als die gesamte Tradition vor ihm es getan hat, denn Erfüllung wird dann als das Wor­aufhin des Gegenwärtigen in seinem zukunftsfundierten Sich-Vorweg-Sein selbst gedacht. Die Teleologie ist deshalb im eigentlichen Sinne eine „innere“ Teleologie. Akt und Potenz sind dann keine Zustände mehr wie noch bei Aristoteles und auch keine Seinsmodi wie bei Edith Stein, sondern sie gehen in die Zukunftsfundiertheit und die Zeithaftigkeit des lebendigen Seins als ontologische Strukturmomente desselben ein. Akt und Potenz sind dann außerdem keine distinkten, in zeitlicher Relation zueinander stehende Zustände, sondern in der Zeithaftigkeit gründende Momente des Lebendigen überhaupt, weil jegliche Aktualität in sich potenziell ist aufgrund ihrer Nicht-Abgeschlossenheit und jede Potenzialität überhaupt erst eine solche dadurch ist, dass sie in sich über sich hinaus ist, und zwar auf ihr Nochnicht hin, ohne dass dieses Nochnicht ein konkretes Etwas und damit im Sinne der klassischen Determination als geschlossenes Telos zu denken wäre. Die in ihrer komplizierten dialektischen Struktur entfalteten Bestimmungen sind phänom e­nologische Charakteristika des Lebendigen, das seiende Möglichkeit ist, weil es nicht als beliebige Möglichkeit erscheint (sonst wäre seine Erscheinung in sich unbestimmt und semantisch indifferent), und seiende Möglichkeit, weil der Cha­

39 SOM: 172.40 Hierzu und zum Folgenden vgl. Kapitel 4.10.5 und 4.10.6.41 Vgl. S. 243 ff. - Das Folgende fassen die Kapitel 4.10.4 und 4.10.5 zusammen.

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rakter der Lebendigkeit seinem Erscheinen als Ausdruckshaftigkeit und damit als Über-sich-hinaus-Sein eingeschrieben ist.42 Ausführlich offenzulegen, was hier verkürzt Umrissen wurde, war der Sinn der Kapitel 4.10.4 und 4.10.5.

Die Zeithaftigkeit zielt also anders als die Zeitlichkeit auf eine für den Orga­nismus konstitutive Vorweg-Struktur, in der jedoch die Bezüge zum Raum und damit zum Lebensraum des Organismus, den Plessner gemäß dem positionalen Charakter des Lebens Positionsfeld nennt, nicht untergehen. Um die Zeithaftigkeit des lebendigen Seins mit der Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit wieder zusammenzuführen, mussten wir die konstitutive Bezogenheit des Orga­nismus auf das Positionsfeld in einer Präzisierung von Plessners Vorwegsein entfalten. Dazu war es nötig, dieses Vorwegsein als Sich-Vorwegsein-Zu zu spe­zifizieren.43

Damit ist Plessners Ontologie des Organischen resümierend als Ontologie der Potenzialität Umrissen. Den Begriff der seienden Möglichkeit hat Plessner in seiner Ontologie des Organischen eingeführt. Hier ging es darum, diesem Begriff den Status eines systematischen Grundbegriffs in Plessners Philosophie zu verleihen. Im nächsten Schritt war die Frage zu stellen, ob der Begriff der seienden Mög­lichkeit nicht auch als eine ontologische Bestimmung des Menschen fungieren könne. Der positiven Beantwortung der Frage galt Kapitel 4.13, wo der Begriff der seienden Möglichkeit als eine Was-Bestimmung und daher als eine ontologische Bestimmung ausgewiesen wurde, die als Komplement der exzentrischen Posi- tionalität als einer „strukturfunktionalen“ (Krüger) Bestimmung verstanden werden muss. Seiende Möglichkeit bzw. reale Potenz erweist sich als eine onto­logische Bestimmung, welche den „aufschließend-exponierenden“ Wert der ex­zentrischen Positionalität nicht unterminiert, sondern die Sphäre des Menschen mit der Sphäre des Organischen begrifflich in eine Ebene rückt, ohne sie gleichzuschalten und um ihre spezifische Differenz zu bringen.

Bisherige Versuche, Plessner als Denker des Politischen zu lesen - die Kritik einiger Ansätze findet sich in Kapitel 5.1. - haben sich oft am in Macht und menschliche Natur eingeführten Begriff der Unergründlichkeit orientiert. Wir ha­ben uns demgegenüber an Krügers Begründung des Politischen im Ausgang vom Spiel von Leibsein und Körperhaben orientiert und den Verschränkungsbegriff durch den Begriff des Ausgleichs ersetzt,44 weil Letzterer bei Plessner auf meh­reren Ebenen bei Plessner zur Anwendung gelangt, nämlich sowohl in der Analyse der antagonistischen Selbstvermittlung des Organismus zur Ganzheit als auch in

42 Vgl. dazu das Beispiel der Furcht auf S. 253 f.43 Vgl. Kapitel 4.15.44 Zur Mehrfältigkeit des Ausgleichsbegriffs vgl. Kapitel 5.2.2, auf das hier überaus kursorisch Bezug genommen wird.

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der Entfaltung des Spiels von Leibsein und Körperhaben. Auf dieser Grundlage war es uns möglich, die Ontologie des Organischen und das in der Struktur der Körperleiblichkeit gründende privat-öffentliche Doppelgängertum als Binnen­differenzierungen einer naturphilosophischen Ontologie zu fassen.

Eine zentrale Rolle in dieser Neulektüre Plessners spielte die konsequent medientheoretische Auffassung der Sprache und des Körperleibs. Dadurch war es im Anschluss an Krüger möglich, die Sprache neu als „mediale Materialisierung der exzentrischen Positionalität“ zu fassen, statt die exzentrische Positionalität so fundamental wie üblich zu verstehen, wodurch man schnell in das Dilemma gerät, das Verhältnis zwischen der exzentrischen Positionalität und der Sprache - ge­rade wenn man von der weithin akzeptierte Fundamentalität Letzterer anerkennt - nach der Henne-oder-Ei-Frage zu modeln. Der Anschluss an Krügers Auffassung von Leib und Körper als „Aspektrichtungen“ hat uns außerdem in einem darüber hinausgehenden Schritt ermöglicht, die mediale Struktur der Körperleiblichkeit und das privat-öffentliche Doppelgängertum mittels des in dieser Untersuchung kodifizierten und der phänomenologischen Systematik Plessners verpflichteten Begriffs der „Sinnrichtungen“ des Öffentlichen und Privaten in ihrer unaufheb­baren Komplementarität zu erfassen.

Die „Ausdrücklichkeit als Lebensmodus des Menschen“45 ließ sich mittels dieser Weichenstellungen auf eine weitreichende, die Ontologie des Organischen und das privat-öffentliche Doppelgängertum als einen organischen Zusammen­hang begreifende, Grundlage stellen. Dabei zeigte sich, dass die ontologische Bestimmung des Menschen als seiende Möglichkeit sich konsequent nur denken lässt, wenn die Körperleiblichkeit, welche den Ansetzungspunkt innerhalb der Ontologie des Organischen bildet, nicht als factum brutum, sondern als mediales Substrat elementarer Verkörperungen aufgefasst wird, die sich selbst wiederum in anderen Medien wie der Sprache und der Mitwelt notwendig komplementär verkörpern. Seiende Möglichkeit ist der Mensch dann, weil er nicht Mensch sein kann, ohne sich zu verkörpern, und sich nicht jenseits der seiner Körperleib­lichkeit eingeschriebenen Sinnrichtungen des Öffentlichen und Privaten verkör­pern kann, die in den Medien des Körperleibs, der Sprache und der Mitwelt sich codieren.

Dabei war es nötig, den Begriff der Potenzialität in doppelter, positiver wie negativer, Weise zu fassen:(1) Als liminale Potenzialität,46 die darin besteht, dass eine jegliche Verkörpe­

rung, unabhängig vom in ihr betriebenen Aufwand an Verleiblichung und

45 SOM: 323.46 Zum Folgenden vgl. Kapitel 5.8.1.

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Schlussbetrachtung 405

Versprachlichung, die (mitunter schicksalhafte) blanke Körperlichkeit des Leibes nicht aufheben kann. Die Verhaltensgrenzen, an welche Verkörpe­rungen stoßen können und von Zeit zu Zeit stoßen müssen, finden - und dieser Ausdruck sagt das Entscheidende über unsere Verhaltensgrenzen aus - ihren Ausdruck im ungespielten Lachen und Weinen, d.h. im Antworten jenseits unserer Fähigkeit, intentional auf Situationen zu antworten. Wo die Verhaltensgrenzen von anderen wahrgenommen werden, tritt das Private öffentlich in seiner Verletzbarkeit zutage - aber zugleich als nicht bloß Pri­vates, weil diese Verletzbarkeit kein Geheimnis Einzelner ist.

(2) Als Potenzialität im Sinne des ausgleichenden Umgangs mit Begrenztheit, die Potenzialität dadurch potenziert, dass sie Begrenztheit vergegenständlichen und sprachlich sowie generell in Verhaltensspielen (z.B. in spielerischen Verkörperungen theatralischer Art) thematisieren und aufnehmen kann. Die Begrenztheit bleibt potenziell krisenhaft und wird doch zu einem Konstitu­tionsmoment der Person. Dabei geht es eher um die Integration der liminalen Potenzialität als um deren Kompensation.47 In der Potenzierung von Poten­zialität findet die Personalisierung und Individualisierung ihren Höhepunkt, welche sich sowohl im Medium des privat-öffentlichen Doppelgängertums bewegt als auch Privates und Öffentliches im begrifflichen Sinne konzep- tualisiert, d. h. die Begriffe des Privaten und Öffentlichen erwirbt und von diesen her wiederum sich modelliert. Hierbei spielt die Sprache eine zentrale Rolle, weshalb wir sie in Kap. 5.8.2 als Medium der Potenzierung lebendiger Potenzialität bezeichnet haben.

Weil die Sprache als mediale Materialisierung der exzentrischen Positionalität ein die menschliche Potenzialität formendes Moment von Verkörperungsleistungen im wörtlichen Sinne ist, handelt es sich bei der hier entfalteten Lesart nicht nur um eine Phänomenologie, sondern um eine Hermeneutik der menschlichen Natur. Eine solche Hermeneutik der menschlichen Natur muss eine (als generelle Her­meneutik der Natur auffassbar) phänomenologische Ontologie des Organischen enthalten. Diese hat uns zum Grundbegriff der seienden Möglichkeit führt, wel­cher in seiner humanspezifischen Transformation nicht zu einer semantisch neutralen Körperleiblichkeit führt, sondern zu einer in sich sinnhaften Körper­leiblichkeit, in welcher menschliche Personen sich konstituieren und verkörpern. Die Explikation der immanenten Sinnhaftigkeit der Körperleiblichkeit führte uns auf das privat-öffentliche Doppelgängertum als die irreduzible strukturelle

47 Auf das, was hier Integration genannt wird, zielt auch Krügers Begriff der Souveränität, vgl. Krüger 1999: 33, 155 und 179.

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Grundlage von Personalisierung und Inividualisierung. Niemand kann jemand sein, ohne dies innerhalb der spannungsreichen Differenz zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen als den Sinnrichtungen der Aspektrichtungen des Leibes und des Körpers geworden zu sein. Eine Theorie der Politik folgt daraus nicht und lässt sich daraus auch nicht ableiten, aber keine Theorie der Politik sollte darüber hinwegsehen, dass sich das Verhältnis zwischen Öffentlichem und Privatem nicht eskamotieren oder marginalisieren lässt, weil wir im Spannungsverhältnis dieser Sphären überhaupt erst zu Personen geworden sind.

Plessners Begriff der Potenzialität, darauf soll resümierend noch einmal kurz hingewiesen werden, stimmt mit dem Steins darin überein, dass beide Begriffe keine logische,48 sondern ontologische Begriffe von Potenzialität sind. Doch Stein versteht die ontologische Möglichkeit immer noch als „Möglichkeit von“, d. h. als Möglichkeit der Person und des Geistes als deren Wesen. Eine ontologische Möglichkeit im Sinne Plessners ist erst sekundär eine „Möglichkeit von“, die eine solche nur sein kann, weil sie die Potenzialität eines Lebewesens ist, das als solches Potenz ist. Deshalb tritt der Begriff der seienden Möglichkeit bei Plessner bereits innerhalb der allgemeinen Naturphilosophie auf und spezifiziert sich im Menschen, statt die Differenz zwischen dem Menschen und den übrigen Le­bensformen zu bilden, welche letztere nur begrenzt über Möglichkeiten verfügen und im kosmologischen Sinne umso mehr Potenz sind, je mehr ihnen Potenzialität abgeht. Wo Möglichkeiten wie sprachliche Vollzüge in einer ontologischen Po­tenzialität im Stile Plessners gründen, lassen sie sich von bloßen Optionen, d. h. diesen oder jenen sprachlichen Vollzügen, unterscheiden, die ein konsumisti- sches Derivat von Möglichkeiten im anspruchsvollen Sinn bilden. Die Grundlage einer Kritik von Möglichkeitskonzepten, die den Begriff der Möglichkeit kasui­stisch-optionalistisch verballhornen, ist mit Plessners Konzeption gegeben.

Die Fundamentalität des privat-öffentlichen Doppelgängertums setzt die Person in der Personalisierung und Individuierung dem Politischen im Sinne der Ermöglichungsbedingung von Politik aus. Dieses Ausgesetztsein ist ein (weder notwendig fatales noch notwendig nicht fatales) Fatum, auf welches die Le­bensführung zu antworten hat, indem die Person sich ihm stellt, d.h.: indem sie den Zwang zur Personalisierung auch als Chance der Individualisierung begreift.49 Dieser Ausgleich ist permanent zu vollziehen und in diesem Bemühen permanent vom Scheitern bedroht; Ausgleich bedeutet nicht Stillstand, sein Resultat ist kein Endzustand. Auch wo der Ausgleich im Einzelnen versöhnlich geleistet werden

48 „Das ist keine bloß logische Möglichkeit, sondern eine reale: Der Kern der Person ist die Grundlage für ihr aktuelles Leben, er ist wirklich.“ (PuA: 129)49 Vgl. S. 283, wo die Untrennbarkeit von Zwang und Chance thematisiert wird.

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kann, findet keine Versöhnung statt. Darin trifft sich Plessner, wenn auch mit völlig anderer Akzentuierung, mit Adorno, und darin unterscheidet er sich wie­derum grundlegend von Edith Stein, welche eine Entschärfung der Lebensführung durch die erlösende Glaubensgewissheit für möglich hält:

Als das, was im Glauben für wahr gehalten wird, wird der Inhalt der Offenbarung bezeichnet. [...] Die Glaubensgewißheit ist aber eine ganz andere als die der natürlichen Erkenntnis, sie ist die festeste Gewißheit, deren wir in statua viae teilhaftig werden können, und wird von keiner natürlichen Erkenntnis erreicht.50

Wegen der Verbindlichkeit der Glaubensgewissheit und die Unverlierbarkeit der Seele bleibt das Individuum seiner seelischen Konstitution wie seiner praktischen Pflichten nach unaufhebbar auf Gott verwiesen: „Der Mensch ist nur durch Gott, und ist, was er ist, durch Gott. Weil er Geist und weil er als Geist mit dem Licht der Vernunft, d. h. dem Abbild des göttlichen Logos, ausgerüstet ist, kann er erken­nen.“51 Es gerät dadurch in Konflikt mit dem Staat, der das Prinzip der Gesellschaft repräsentiert, sofern der Staat sich gesetzlich über den Glauben zu erheben ver­sucht: „So kann der Staat schließlich auch Kultusformen und öffentliches Be­kenntnis zu irgendeiner Konfession vorschreiben oder verbieten. Aber auf das Verhältnis der Seele zu Gott kann kein Gebot oder Verbot einer äußeren Macht einen Einfluß üben.“52 Diese Konfliktträchtigkeit gründet in der theologischen Identität der menschlichen Person, aus welcher Stein eine klare normative Prio­rität ableitet:

feder Mensch untersteht zunächst und vor allem dem höchsten Herrscher, und daran kann kein irdisches Herrschaftsverhältnis etwas ändern. Wenn der Gläubige einen Befehl von Gott empfängt - sei es unmittelbar im Gebet, sei es durch Vermittlung seiner Stellvertreter auf Erden - , so muß er gehorchen, gleichgültig, ob er damit dem Willen des Staates zuwider­handelt oder nicht.53

Die normative Priorität der Glaubensgewissheit gegenüber dem politischen Leben deckt sich genauso gut mit der Aufforderung zum Widerstand gegen einen „got­tesfeindlichen“ Staat wie mit dem Rückzug der Seele in ihr natürliches Milieu, die Gemeinschaft. Die in Kapitel 3.9. angesprochene Gegenüberstellung von Indivi- duum/Gemeinschaft und Gesellschaft lässt darauf schließen, dass auch der im Glauben gründende Widerstand gegen den „falschen“ Staat sich bei Stein nur

50 Stein 2005: 32.51 AmP: 9.52 Stein 2006c: 86.53 Ebd.: 127.

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408 Schlussbetrachtung

politisch transformieren lässt, wenn Staat und Gesellschaft als das kalte und mechanische Prinzip kurzerhand identifiziert und in Opposition gegen die Ge­meinschaft gebracht werden, denn Stein kann die Gesellschaft nicht als „Bünd­nispartner“ der Individuen denken: „Die Besonderheit der Gesellschaft sehen wir darin, daß in ihr - im Gegensatz zur Gemeinschaft - die Individuen wohl für­einander Objekt, aber eben Objekte und nicht wie in der Gemeinschaft mitlebende Subjekte sind.“54 Hier wird zwar nicht der soziale Radikalismus beschworen, aber weil die Gemeinschaft der einzig mögliche „Bündnispartner“ des Individuums ist,55 bleiben politisch zwei Optionen für den Krisenfall: der fluchtartige Rückzug in die Gemeinschaft (als Rückzug ins Kloster von Stein gelebt) oder eben doch - unter der Voraussetzung, kein Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, d.h. keine Vergesellschaftung von Gemeinschaft, möglich ist - der Gemein- schaftsradikalismus.

Der (proto-)politische Gegensatz zu Steins Glaubensgewissheit ist im Denken Plessners das Ausgesetztsein der Person: in der Lebensführung und, noch ele­mentarer, in der Körperlichkeit des Leibkörpers, dessen Leidensfähigkeit ihre eigenen Offenbarungen parat hält. Das privat-öffentliche Doppelgängertum ist der Name der Situation des unaufhebbaren Ausgesetztseins, in welcher das Exis- tenzelle der Körperleiblichkeit und das dem Existenziellen nicht enthobene Ze­remonielle der Personalisierung und Individualisierung aufgrund der struktu­rellen Verfasstheit der Ontologie des Ausgleichs und ihrer medialen Vermitteltheit durch den Körperleib sich kreuzen. Die Gewissheit, die uns Plessner zufolge mit der privat-öffentlichen Doppelgängerstruktur der Körperleiblichkeit gegeben ist, ist dennoch keine geringe; in ihr materialisiert sich die exzentrische Positionalität medial und die aus dieser Struktur sich ergebende Position, die Plessner als die unsrige bestimmt, ist zugleich eine Aufgabe:

Ohne Gewißheit der Binnenlage meiner selbst in meinem Körper keine Gewißheit unmit­telbaren Ausgeliefertseins meiner selbst als Körper an Wirkung und Gegenwirkung der an­deren körperlichen Dinge. Und umgekehrt: Ohne Gewißheit des Draußenseins meiner selbst als Körper im Raum der körperlichen Dinge keine Gewißheit des Drinseins meiner selbst in einem Leib, d. h. keine Beherrschung des eigenen Körpers, keine Abstimmung seiner Motorik auf die Umgebung, keine Richtige Auffassung“ von der Umgebung. Eines läßt sich nicht vom anderen trennen, eines bedingt das andere, wie es von ihm bedingt wird. Mit gleichem Recht hält jedes Individuum an der absoluten Beziehung der Umwelt auf seinen Leib bzw. auf das ,in“ ihm beharrende Zentrum von Wahrnehmen, Denken, Wollen (sein Ich) fest, wie es sie

54 Ebd.: 7.55 Kollektiver Widerstand setzt Solidarität voraus, doch eine solche ist nur in Gemeinschaften möglich: „In der Gesellschaft ist jeder absolut einsam, eine,Monade, die keine Fenster hat“. In der Gemeinschaft herrscht Solidarität.“ (IuG: 111)

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Schlussbetrachtung 409

zugunsten der relativen Gegenseitigkeitsbeziehung aller Dinge, einschließlich des Leibes (mitsamt seinem Ich) preisgibt. Diese Position, Mitte und an der Peripherie zugleich zu sein, verdient den Namen der Exzentrizität.56

Bewältigen lässt sich diese Situation nur in Form von Ausgleichsleistungen. In der genetisch-strukturellen Betrachtung der Personalisierung, wie sie sich vom privat­öffentlichen Doppelgängertum als einer Spezifikation der hier angesprochenen Situationen her zeigt, bildet sich die oft leichtfertig verkürzte Relation von Ge­meinschaft und Gesellschaft in der Gemeinschaft selbst bereits ab: Auch in der Gemeinschaft sind wir immer in unserer Körperlichkeit, mit unserer öffentlichen Hälfte den Anderen ausgesetzt ohne Geborgenheitsgarantie. Auch in der Ge­meinschaft personalisieren und individualisieren wir uns, indem wir uns notge­drungen bereits vergesellschaften. Indem wir dies vorrangig oder nahezu aus­schließlich in der Gemeinschaft machen, retten wir nicht unsere Innerlichkeit oder unsere Seele, sondern wir trivialisieren das privat-öffentliche Doppelgängertum, welches für uns konstitutiv ist, im Lebensvollzug: Die Gemeinschaft wird dem Privaten und Heimeligen, die Gesellschaft dem Öffentlichen und Bedrohlichen bzw. Fremden zugeordnet. Wo die oben von Plessner angesprochene Situation angenommen wird und das Individuum sich ihr in der Lebensführung stellt, verschwindet die Dichotomie.

Weil die Ontologie des Ausgleichs keinen durch die Seele oder Gott garan­tierten finalen Ausgleich bereithält, bleibt nur das Wagnis der Unergründlichkeit, denn die Unergründlichkeit ist wie die in der Struktur von Personalität gründende Notwendigkeit, unsere konstitutive Unfertigkeit immer wieder zu Ausgleichen zu bringen, Zwang und Chance. Ihr wird man nicht durch Zwang gerecht, und sie ist als Chance vertan, wo Personen sich auf Halbheiten vereidigen lassen. In ihrem Kern findet die Person Plessner zufolge nicht zu sich und/oder zu Gott, sondern sie stößt auf das, was das Politische wie ihre eigene Lebensführung als Zwang und Chance erscheinen lässt, nämlich die in ihrer Natur gründende Unergründlichkeit, der sie ausgesetzt ist, indem sie auch der Welt ausgesetzt ist: „Als ein in der Welt ausgesetztes Wesen ist der Mensch sich verborgen - homo absconditus. Dieser ursprünglich dem unergründlichen Wesen Gottes zugesprochene Begriff trifft die Natur des Menschen.“57

56 LuW: 373 f.57 Plessner 2003p: 365.

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