der mann, der den regen träumt

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Leseprobe zum Buch von Ali Shaw. Finn ist kein gewöhnlicher Mann, ihn umgibt ein Geheimnis. Es ist der Grund für sein Einsiedlerleben und der Grund, warum die Einwohner von Thunderstown ihm nicht wohlgesinnt sind. Doch trotz aller Gerüchte und Anfeindungen hält Elsa zu Finn. Gemeinsam versuchen sie, ihre Liebe gegen all die Widerstände zu behaupten.

TRANSCRIPT

Ali Shaw bei script5:

Das Mädchen mit den gläsernen FüßenDer Mann, der den Regen träumt

Ali Shaw

Roman

Übersetzt von Sandra Knu$ nke

und Jessika Komina

Unverkäu% iche Leseprobe

Der Mann, der den Regen träumt

ISBN 978-3-8390-0146-21. Au% age 2013

Erschienen unter dem Originaltitel " e Man Who Rained

Copyright © Ali Shaw 2012. All rights reserved.Published by arrangement with Atlantic Books, London,

an imprint of Grove Atlantic Ltd.Copyright © für die deutschsprachige Ausgabe 2013 script5script5 ist ein Imprint der Loewe Verlag GmbH, Bindlach

Aus dem Englischen übersetzt von Sandra Knu$ nke und Jessika KominaWir danken dem Deutschen Taschenbuch Verlag

für die Abdruckgenehmigung von William Shakespeare: Der Sturm,Deutsch von Frank Günther, © 1996 Deutscher Taschenbuch Verlag, München.

Fotos: © iStockphoto.com/alexpixel; JoeLena; VectoringUmschlaggestaltung: Christian Keller

Redaktion: Ruth NikolayPrinted in Germany

www.script5.de

Für Iona

»Da unsre Mimen,

Wie ich dir sagte, waren alle Geister und

Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft;

Und wie dies körperlose Traumgewebe, so

Die wolkenhohen Türme, die Paläste,

Die stillen Tempel, selbst der Erdenball,

Ja, was an ihm nur teilhat, wird zerfl ießen,

Und wie dies wesenlose Schauspiel schwand,

Vergehen ohne Spur. Wir sind vom Stoff,

Aus dem die Träume sind; und unser kleines Leben

Beginnt und schließt ein Schlaf.«

William Shakespeare: Der Sturm

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Der Regen begann mit einem einzelnen

sanften Tippen an ihr Schlafzimmerfenster,

dann noch eins und noch eins, und schwoll

schließlich zu einem stetigen Prasseln gegen

die Scheibe an. Sie zog die Vorhänge auf und

erblickte einen Himmel wie aus angelaufe-

nem Silber, ohne eine Spur von Sonne. Sie

hatte so sehr auf einen solchen Morgen gehofft, dass sie einen leisen

Seufzer der Erleichterung ausstieß.

Als das Taxi kam, um sie zum Flughafen zu bringen, klatschte das

Wasser auf die Windschutzscheibe und breitete sich dort zu dicken

Kreisen aus. Die tief hängende Wolkendecke ließ die Hochhäuser

Manhattans mit der Atmosphäre verschmelzen und der Taxifahrer

schimpfte über die schlechte Sicht. Sie erklärte ihm, wie sehr sie

solche trüben Morgen liebte, wenn der Sprühregen die Welt ihrer

Substanz beraubte, und er entgegnete rundheraus, sie müsse ja wohl

verrückt sein. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah aus dem

Fenster, hoch zu den nebelumhüllten Verheißungen weit über ihr.

Sie hielt sich nicht für verrückt, doch sehr weit davon entfernt war

sie in den letzten Monaten nicht gewesen. Zu Beginn dieses Som-

mers hätte sie sich noch als gesellige, erfolgreiche und mit beiden

Beinen fest im Leben stehende Neunundzwanzigjährige beschrie-

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ben. Heute, da der August sich erschöpft seinem Ende zuneigte, war

sie nur noch neunundzwanzig.

Am Flughafen marschierte sie gedankenversunken durch den

Check-in-Bereich. In der Abfl ughalle lief sie ungeduldig auf und ab.

Beim Einstieg war sie die Erste in der Schlange. Selbst als sie in ih-

rem Sitz festgeschnallt war; selbst als sie den gelangweilt herunter-

geratterten Sicherheitsanweisungen des Bordpersonals lauschte;

selbst als die biedere alte Dame neben ihr knisternd das Papier eines

bunten Lutschbonbons zusammenknüllte; selbst inmitten dieser

für einen Traum viel zu klaren Details fürchtete sie die ganze Zeit,

dass ihr all die Versprechungen, die dieser Augenblick für sie bereit-

zuhalten schien, von einer Sekunde zur anderen entrissen werden

könnten.

Denn das Leben, davon war Elsa Beletti überzeugt, machte sich

einen Spaß daraus, ihr Dinge zu entreißen.

Elsa kam äußerlich nach der Familie ihrer Mutter. Die Belettis

hatten ihr ihr wirres schwarzes Haar und ihre rostbraunen Augen

vererbt, genauso wie die scharf geschwungenen Brauen, die ihrem

Gesicht eine Strenge verliehen, die in den meisten Fällen nicht be-

absichtigt war. Den Großteil des Jahres über war sie für ihren eige-

nen Geschmack schlank genug, obwohl ihre Mutter und alle ihre

Tanten ausgesprochen rund waren. Bei Familientreffen schienen sie

einander zu umkreisen wie die Planeten eines Sonnensystems. Elsa

rechnete jederzeit damit, eines Morgens aufzuwachen und fest-

zustellen, dass die Gene letztendlich gesiegt hatten, ihren Körper in

eine Kugel verwandelt und ihre Stimme, deren feines Sirren sie so

mochte, weil es sie an das einer scharfen Klinge erinnerte, in die ei-

ner echten Beletti-Matriarchin, die jeden Satz wie ein dezibelgesät-

tigtes Drama erscheinen ließ.

Doch ihr Nachname (den sie im Alter von sechzehn Jahren an-

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genommen hatte, nachdem ihre Mutter ihren Vater vor die Tür ge-

setzt hatte) und ihr Äußeres waren alles, was sie mit den Belettis

verband. Sie war schon immer davon überzeugt gewesen, dass sie

ihrem Dad ähnlicher war, dessen Familiengeschichte sich aus nichts

als unbestätigten Legenden und den Erzählungen seiner Großeltern

zusammensetzte. Einer seiner Ahnen, so hatten sie ihm erzählt, war

Steuermann auf einem Pilgerschiff gewesen. Er hatte den Wind in

die Segel des Schiffes gelockt, auf dass es die Siedler über die unsi-

cheren Wasser zur Gründung einer neuen Nation trage. Ein anderer

sollte ein Navajo-Medizinmann gewesen sein, der die gewaltsame

Vertreibung seines Volkes aus seinem Stammesgebiet überlebt hatte

und in der Fremde dessen Glauben an den heiligen Wind am Leben

erhielt, der den Menschen Atem einhauchte und für die spiralför-

migen Abdrücke auf ihren Fingerspitzen und Zehen verantwortlich

war.

Elsas Mutter sagte immer, ihr Dad habe diese beiden Geschichten

bloß erfunden. Sie sagte, er wolle damit nur seine jämmerliche Exis-

tenz aufwerten. Sie sagte, seine Ahnen seien allesamt Hinterwäldler

und Alkoholiker gewesen. Das alles sagte sie ein letztes Mal an je-

nem verregneten Nachmittag, als sie ihn aus dem Haus warf und er

wie ein obdachloser Hund im niederprasselnden Wasser stand.

Und dann, in diesem Frühling, hatte er sie ein zweites Mal, auf

eine endgültigere Art, verlassen.

* * *Unter Geruckel hob das Flugzeug ab. Zuerst sah Elsa durch das

Fenster nichts als grauen Nebel. Sie presste die Fingerspitzen an-

einander, um ruhig zu bleiben. Dann zeigte sich der erste verhei-

ßungsvolle Riss im Grau. Ein verschwommener blauer Streifen, der

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so rasch wieder verschwand, wie er aufgetaucht war, wie ein Fisch,

der durchs Wasser schnellt.

Dann löste sich das Flugzeug aus den Wolken.

Wenn die Welt, die sie gerade unter sich zurückgelassen hatte, nur

ein bisschen mehr mit dem Bild gemein gehabt hätte, das sich ihr

nun bot, wäre Elsa vielleicht glücklicher in ihr gewesen. Keine Welt

aus festgepressten Erdschichten unter betonierten Straßen und end-

losen Häuserreihen, sondern eine aus Wolken, die sich zu Gebirgen

auftürmten. So weit das Auge reichte, nichts als weiße Gipfel aus

Wolken, in helles Sonnenlicht getaucht. Berg um Berg erhob sich

über dunstverhangenen Schluchten. In der Ferne leuchtete für einen

Moment eine fl ammende Spitze auf wie eine durchbrennende

Glühbirne: ein fl üchtiger Lichtblitz etwa zweihundert Meilen süd-

lich. Elsa wünschte, sie könnte in dieser reinweißen Landschaft le-

ben, ihre Tage auf dem Rücken liegend auf einer sonnenbeschiene-

nen Wolkenwiese verbringen. Da das nicht möglich war, hatte sie

nun alles andere aufgegeben und sich für die nächstbeste Lösung

entschieden. Einen abgeschiedenen Ort, an dem sie sich ganz in

Ruhe wieder sammeln konnte.

»Ma’am?«

Ärgerlich kehrte sie der Welt vor ihrem Fenster den Rücken und

wandte sich dem Flugzeuggang und der Stewardess zu, die sie aus

ihren Gedanken gerissen hatte. Nach der majestätischen Pracht der

Wolkenlandschaft erfüllte die Banalität des Flugzeugs sie mit Wut.

Die mit grauem Kunststoff verkleidete Kabine und das adrette klei-

ne Halstuch der Stewardess. Die Leute, die in ihren Sitzen lümmel-

ten wie zu Hause in ihren Wohnzimmern, im kostenlosen Magazin

der Fluggesellschaft blätterten oder stumpf auf den Fernsehbild-

schirm starrten. Ein kleines Mädchen weinte und Elsa dachte: Ja,

geht mir genauso.

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Die Stewardess erläuterte ihr die Menüauswahl, doch Elsa entgeg-

nete, sie habe keinen Hunger. Die Frau lächelte steif und schob dann

ihren Wagen weiter durch den Mittelgang.

Das Flugzeug entfernte sich vom Land ihrer Geburt, von den glas-

grauen Häuserblocks und dem gitterförmigen Straßennetz, von den

betonierten Landebahnen, den Fähranlegern und den schaukelnden

Booten auf dem zellophangleichen Meer. Doch sie verspürte keine

Traurigkeit angesichts dieses Abschieds, obwohl sie noch kurz vor

dem Einstieg ein paar Tränen hatte hinunterschlucken müssen. Ge-

gen Elsas ausdrücklichen Wunsch war ihre Mutter am Flughafen

aufgetaucht, um ihr, in ein Taschentuch schluchzend, Lebewohl zu

sagen. Und sie hatte eine weitere unwillkommene Überraschung

mitgebracht: zwei in glitzerndes rotes Papier gewickelte Geschenke.

Elsa hatte versucht, sie abzulehnen – sie wollte ihr gesamtes früheres

Leben hinter sich lassen –, sie dann aber schließlich doch hastig in

ihre Tasche gestopft.

Schon seit Jahren hatte Elsa kein enges Verhältnis mehr zu ihrer

Mutter. Ihre Telefonate folgten immer demselben von ihnen beiden

äußerst pfl ichtbewusst eingehaltenen Schema. Ihre unregelmäßigen

Treffen fanden seit jeher in einem alten Diner statt, in dem ihre

Mutter Elsa jedes Mal eine dicke heiße Schokolade und ein Stück

Pekannusskuchen bestellte, was sie als Kind stets begierig verschlun-

gen hatte. Mittlerweile hatte Elsa das Gefühl, allein vom Anblick

dieses fetttriefenden Kuchenstücks zuzunehmen, doch sie würgte es

jedes Mal klaglos hinunter. Wenn sie einfach mitspielte, so hoffte

sie, würde diese sich ewig wiederholende Szene vielleicht eines Ta-

ges aus dem Stück gestrichen und durch eine neue ersetzt werden.

Doch seit ihre Mum ihren Dad hinausgeworfen hatte, waren sie

beide in ihren verbrauchten Rollen gefangen; und Elsa beschlich

immer mehr die Befürchtung, dass ihre Mutter damals zusammen

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mit ihrem Ehemann auch alle noch ausstehenden Akte auf die Stra-

ße geworfen hatte.

In diesem Frühjahr hatten die ersten Sonnenstrahlen zur Zeit der

Kirschblüte Neuigkeiten mit sich gebracht, die Elsas Leben zu

Scherben zerschmettert hatten. Ihr Handy hatte geklingelt, irgend-

wo in den Tiefen von Peters Brooklyner Wohnung versteckt. Peter

und sie hatten danach gesucht, unter Kissen nachgesehen und Ta-

schen durchwühlt, während das körperlose Klingeln sie zu verhöh-

nen schien. Irgendwann hatte Peter es unter einem Haufen Zeit-

schriften gefunden und ihr zugeworfen. Sie war völlig außer Atem

gewesen, als sie das Gespräch annahm.

»Ist da Elsa Beletti?« Ein schleppender Oklahoma-Akzent.

»Ja. Ja, genau.«

»Mein Name ist Offi cer Fischer vom Polizei-Department Oklaho-

ma. Sind Sie allein, Elsa?«

»Nein. Mein Freund ist bei mir.«

»Gut. Das ist gut.« Ein tiefer Atemzug. »Elsa, es tut mir schreck-

lich leid, Ihnen mitteilen zu müssen –«

Sie hatte aufgelegt und das Telefon fallen lassen. Eine Sekunde

später hatte es erneut angefangen zu klingeln und zu vibrieren, so-

dass es sich auf dem Boden im Kreis drehte. Am Ende war Peter

drangegangen und hatte mit dem Offi cer gesprochen. Dann hatte er

aufgelegt und Elsa fest in die Arme genommen.

Ihr Dad war im Wrack seines Autos gefunden worden – mit kolla-

bierter Lunge und zersplitterten Oberschenkelknochen –, nachdem

er damit hundert Meilen westlich von der windumtosten kleinen

Ranch, auf der er sein einziges Kind großgezogen hatte, von einem

Tornado erfasst worden war.

* * *

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Das Flugzeug geriet in Turbulenzen und die Anschnallzeichen

leuchteten auf. Mit einem Mal waren sie vollkommen in Wolken

gehüllt. Elsa blickte hinaus ins Grau. Eine Weile später riss die De-

cke auf und weit unter ihnen kam ein blauer Streifen Meer zum

Vorschein, wie ein Fluss am Grund einer tiefen Schlucht. Schließ-

lich schoss das Flugzeug ganz ins Freie und unter ihnen erstreckte

sich der Ozean mit seinen gekräuselten Wellen.

Ein paar Stunden lang blieb die Welt unverändert. Dann, plötz-

lich, warf sich die See gegen eine gelblich braune Küste. Die Land-

schaft unter ihnen wirkte wüst und ungezähmt, mit ausgedörrten

Hügeln und pockennarbigen Ebenen. Sie fl ogen über eine Siedlung

dahin, deren Gebäude verstreut dalagen wie ein Haufen halb ver-

scharrter Knochen. Ein winziges rotes Auto kroch wie eine mit Blut

vollgesogene Spinne von einem Nirgendwo zum nächsten. Schließ-

lich folgten, eine ganze Weile, nichts als brauner Sand und braune

Felsen.

Elsa besaß noch immer jeden einzelnen Brief, den ihr Dad ihr

nach seinem Rauswurf geschickt hatte. Als er im Gefängnis gelandet

war, hatte er mit dem Schreiben aufgehört, und die meisten Leute

begriffen nicht, dass ein Mann hinter Gittern nicht die Zeit fand,

ein paar Worte an sein einziges Kind zu senden. Doch Elsa verstand,

was den anderen unbegreifl ich war. Sie wusste, wie sehr sein Geist

sich verschloss, wenn er in einem Haus gefangen war.

Als Kind hatte sie mit angesehen, wie eines Nachmittags ein Sturm

die Regenrinne der Scheune abgerissen und einer Keule gleich durch

die Luft und schließlich auf ihn niedergeschleudert hatte. Sie brach

ihm das Bein. Als er danach, während der Bruch heilte, das Haus

nicht verlassen konnte, wurde er regelrecht katatonisch. »Mich

treibt nun mal das Wetter an«, hatte er einmal gemurmelt, und das

war die beste Art, ihn zu beschreiben. Eines stürmischen Tages hatte

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er beschlossen, dass sein Bein verheilt war. Er war aus seinem Sessel

aufgestanden und in die Weite der Prärie hinausgefahren. Sie er-

innerte sich, wie sie die Hände an ihr Zimmerfenster gepresst und

der Staubwolke nachgesehen hatte, während sein Pick-up in der

Ferne verschwand. Dann hatte der Wind die Wolke davongefegt.

Elsa hatte sich vorgestellt, wie ihr Vater irgendwo in der Wildnis,

wohin auch immer er unterwegs gewesen war, aus dem Wagen stieg,

die Hände zum Himmel erhoben, und Wind und Regen ihn um-

tanzten wie eine Meute von Hunden ihr Herrchen.

Ihr Dad hatte sie dazu erzogen, die Elemente mit einer Leiden-

schaft zu lieben, die seiner eigenen in kaum etwas nachstand, doch

ihr Leben in New York hatte sie wetterfest werden lassen. Nur bei

seiner Beerdigung, als der Frühlingswind ihre Tränen trocknete und

die Asche ihres Vaters davontrug, hatte sie das Gefühl gehabt, dass

diese Leidenschaft noch einmal entfesselt worden war. Sie war ihr

Erbe, doch sie hatte ein Loch in ihr hinterlassen wie in einer Glas-

scheibe. Elsa hatte den Sommer damit verbracht, die Risse zu fl i-

cken, die sich von da an durch ihr ganzes Dasein zogen.

* * *Unter ihr kam ein verschwommener Strommast in Sicht. Dann

noch einer. Und weitere, in einer schmalen Reihe auf den Horizont

zulaufend. Als Nächstes sah sie Lichter, strahlend und weiß, Reihen

von Bäumen – die ersten seit Stunden –, einen breiten blauen Fluss,

mit Autos verstopfte Straßen. Kurz darauf kehrte die Landschaft

wieder zu Felsen, Ebenen und Hügelland zurück und wirkte von so

weit oben wie ein riesiger Sandkasten. Es begann zu dämmern. Aus

den Lautsprechern drang knisternd eine Durchsage des Piloten: Sie

würden nun zur Landung ansetzen.

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Der Fußboden im Flughafen war so blitzsauber, dass ihr Spiegel-

bild sie auf Schritt und Tritt, Sohle an Sohle, über die glänzenden

Fliesen begleitete. In New York suchte sie für gewöhnlich auf dem

Weg zur Arbeit in Autofenstern und den Eckspiegeln der U-Bahn-

steige nach ihrem Spiegelbild. Sie stellte sich gern vor, auf diese Wei-

se einen Blick auf eine andere Elsa erhaschen zu können, die in einer

Welt hinter den Spiegeln lebte, wo das Leben nicht unerträglich ge-

worden war. Jetzt, dachte sie, während ihre Koffer auf das Gepäck-

band rutschten, bin ich eine von ihnen. Eine neue Elsa. Einen Mo-

ment lang war sie wie erstarrt vor Freude. Sie umklammerte die

Griffe ihrer Koffer so fest, dass ihre Fingerknöchel knackten.

Als sie die Ankunftshalle erreichte, spürte sie die ersten Anzeichen

des Jetlags. Sie starrte auf die Reihe gelangweilter Taxifahrer und

fragte sich, wie um alles in der Welt sie Mr Olivier fi nden sollte. Zu

ihrer Erleichterung erspähte sie kurz darauf einen Mann, der ein

handgeschriebenes Schild hochhielt, auf dem ihr Name stand. Er

hatte sich zu wenig Platz zum Schreiben gelassen, sodass die letzten

drei Buchstaben zusammengequetscht waren wie eine römische

Zahl. Er war ein großgewachsener Schwarzer mit unsicher ge-

krümmten Schultern und trug denselben scheußlich buntgemus-

terten Pullover wie auf dem Foto, das er ihr gemailt hatte, damit sie

ihn erkannte. Sein Haar, das sich in winzigen Löckchen auf seinem

Kopf kringelte, war von Grau durchsetzt.

Als er sah, dass sie sein Schild las, grinste er zufrieden und rief mit

einer Stimme, die, obwohl er sie erhoben hatte, ruhig klang: »Elsa

Beletti? Elsa Beletti, richtig?«

»Mr Olivier?«

»Nenn mich Kenneth.«

Kaum vorstellbar, dass sie diesen Mann gerade mal vor zwei Mo-

naten kennengelernt hatte, in einem Internetcafé in Brooklyn, wäh-

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rend die helle Sonne, die auf ihren Computerbildschirm fi el, das

Wort, das sie gerade in die Suchmaschine eingegeben hatte, beinahe

unleserlich machte: Thunderstown.

Die Suchmaschine lieferte einen einzigen Treffer – eine Anzeige,

in der Zimmer mit Frühstück angeboten wurden. Ich suche nach

einer Unterkunft in Thunderstown, hatte sie in ihrer Mail geschrie-

ben, und würde gern eine ganze Weile bleiben.

Mr Olivier hatte ihr innerhalb von Minuten geantwortet. In der

folgenden Stunde tauschten sie neun oder zehn E-Mails aus. Er er-

zählte, dass er mit Ende zwanzig, also etwa in ihrem Alter, von St.

Lucia nach Thunderstown gezogen war. Er fragte nicht, warum in

aller Welt sie New York gegen die tiefste Provinz, ein vergessenes

und halb ausgestorbenes Fleckchen, viele Meilen von jeder anderen

Stadt entfernt, eintauschen wolle. Sie dankte es ihm, indem sie nicht

nachforschte, warum er es der Karibik vorgezogen hatte. Sie hatte

das Gefühl, zwischen den Zeilen seiner Antworten lesen zu können,

genau wie er es bei ihr tat, und dass sein Angebot, den Aufenthalt so

lange auszudehnen, wie sie wollte, ihnen beiden entgegenkommen

würde.

Nun, in der Ankunftshalle, begrüßte er sie, indem er ihre aus-

gestreckte Hand mit seinen beiden umschloss. Sie fühlten sich warm

und weich an. Am liebsten hätte Elsa die Augen geschlossen, sich an

seine Schulter gelehnt und wäre auf der Stelle eingeschlummert.

»Da bin ich«, verkündete sie erschöpft und erleichtert.

»Nein«, erwiderte er lachend. »Noch nicht. Wir haben noch eine

ziemlich lange Fahrt vor uns.«

Sie nickte. Ja. Ihre Gedanken begannen zu zerfasern.

Behutsam legte er seine Hände um die Griffe ihrer Koffer und

trug diese, als sie sich auf den Weg in ein dunkles Parkhaus mach-

ten. Die Stille dort war gespenstisch nach der überlaufenen Flugha-

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fenhalle. Kenneth quetschte sich hinter das Lenkrad eines winzigen

Autos. Elsa ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und atmete tief ein.

Im Inneren des Wagens roch es angenehm nach Wolle, und als sie

den Kopf zurücklehnte, fühlte sie einen fl auschigen Sitzbezug in

ihrem Nacken.

»Ziegenfell«, erklärte er lächelnd. »Aus Thunderstown.«

Sie schmiegte ihre Wange in die Wolle, die sich weich und plüschig

auf ihrer Haut anfühlte.

Er ließ den Motor an und steuerte den Wagen langsam vom Flug-

hafengelände in den hektischen Stadtverkehr, zwischen Reihen von

Straßenlaternen, hell erleuchteten Bars und grellen Reklametafeln

hindurch. Nach und nach ließen sie all diese Dinge hinter sich.

Die monotone Abfolge unbekannter Straßen ließ ihre Lider

schwer werden. Sie öffnete die Augen. Die Uhr im Armaturenbrett

informierte sie, dass eine halbe Stunde vergangen war. Sie befanden

sich auf einem Highway und irgendwo weit vor ihnen schlängelte

sich eine Reihe roter Rücklichter durch die Dunkelheit, während

auf der Gegenfahrbahn refl ektierende Straßenmarkierungen und

weiße Frontscheinwerfer an ihnen vorüberglitten. Kenneth summte

kaum hörbar vor sich hin. Elsa glaubte, die Melodie zu erkennen.

* * *Nach einem, wie sie glaubte, kurzen Moment öffnete sie die Augen,

doch die Uhr hatte eine weitere Stunde der Nacht ausradiert und

die Scheibenwischer kämpften gegen den Regen an, der aus der

Dunkelheit auf sie niederprasselte. Der Verkehr hatte abgenommen.

Ein einzelnes Auto beschleunigte neben ihnen auf der Überholspur

und verschwand dann in der Ferne. Sie lehnte den Kopf zurück in

den Sitzbezug.

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Als sie die Augen das nächste Mal aufschlug, regnete es nicht

mehr. Frische Nachtluft strömte durch das geöffnete Fenster herein.

Vor ihnen tauchte das gigantische Konstrukt einer Hängebrücke

auf, deren riesige Träger sich in die Dunkelheit reckten. Autos rasten

darüber hinweg, und links und rechts sah Elsa Meilen um Meilen

eines breiten, gewundenen Flusses, auf dessen krauser Oberfl äche

hell erleuchtete Schiffe schaukelten. Wind erfasste den Wagen und

ließ die Brückenpfeiler schwingen wie Stimmgabeln. Der Stahl rings

um sie summte. Ihr Kopf sackte vornüber.

Sie träumte von ihrer Beziehung mit Peter, bevor er das getan hat-

te, was ihr den Rest gegeben und ihr vor Augen geführt hatte, dass

sie New York verlassen musste. In ihrem Traum saß sie im Schlaf-

zimmer seiner Wohnung in Brooklyn und hörte zu, wie er einer

seiner E-Gitarren undefi nierbaren Lärm entlockte. Sie hatte das

Gefühl, dass sämtliche Mietshäuser, all die Geschäfte und Büro-

gebäude der Nachbarschaft und selbst die Wolkenkratzer oben in

Manhattan von allen Seiten auf sie zurückten. Jedes einzelne Fenster

in ganz New York City schien sie zu belauschen.

Elsa öffnete die Augen. Die anderen Autos waren verschwunden

und Kenneths Wagen war ganz allein auf der Straße. Der einzig

sichtbare Teil der Welt war in die gelben Lichtkegel der Scheinwerfer

gepfercht. Die Straße schien keine Begrenzungen zu haben, keine

Mauer, kein Gebüsch hinter dem Seitenstreifen, und das Rumpeln

und Schaukeln, mit dem das Auto über Schlaglöcher und verstreute

Schieferstückchen fuhr, hielt sie wach. Eine Straße in die Unend-

lichkeit, als bestünde das Universum aus nichts als einem Auto und

aufgesprungenem Asphalt. Plötzlich bogen sie um eine Kurve, und

als Elsa einen fl üchtigen Blick auf einen steilen Geröllhang erhasch-

te, wurde ihr bewusst, dass sie sich möglicherweise in ziemlich gro-

ßer Höhe befanden.

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Die Straße wurde wieder gerade und die Fahrbahn ebener. Ihr

Kopf sackte erneut nach vorn.

Sie öffnete die Augen. Die Scheinwerfer erhellten zu beiden Seiten

Geröll und riesige Felsbrocken. Kein Gras, nur Schieferstücke, die

unter dem Gewicht des Wagens zerbarsten und dabei ein Geräusch

wie ein Händeklatschen machten.

Augen zu. Auf. Die Zeiger der Uhr schienen sich nicht tickend,

sondern in Sprüngen vorwärtszubewegen. Auf beiden Seiten der

Straße standen Bäume, die jedoch so krumm wuchsen – beinahe

parallel zum steinigen Grund –, dass sie kaum so hoch wie das Auto

waren. Der Wind übertönte sogar das Dröhnen des Motors.

»Wieder wach?«, fragte Kenneth freundlich. Doch Elsa war schon

wieder eingeschlafen.

Wieder wach. Der Mond hing einsam am sternlosen Himmel.

Aufgedunsene Nachtwolken scharten sich um ihn. Und darunter

erhoben sich die Silhouetten anderer Riesen.

»Berge«, fl üsterte sie.

»Ja«, entgegnete Kenneth ebenso ehrfürchtig. »Berge.«

Selbst aus dieser Entfernung und obwohl sie so zweidimensional

wirkten, als wären sie aus schwarzem Papier ausgeschnitten, konnte

Elsa ihre gewaltige Größe erahnen. Sie hoben den Horizont weit in

den Nachthimmel empor. Jeder einzelne hatte seine ganz eigene

Form: Der eine war perfekt gewölbt wie eine umgedrehte Schüssel,

ein anderer hatte einen eingedrückten Gipfel und den nächsten zier-

te eine zerklüftete Reihe von Spitzen wie die Zacken einer Krone.

Als sie in eine weitere verlassene Straße einbogen, verlor Elsa sie

aus den Augen. Der einzige Wegweiser, den sie in ihren wenigen

wachen Momenten bemerkt hatte, war ein rostiger Rahmen gewe-

sen, aus dem das Schild herausgeschlagen worden war – ein leerer

Pfeil ins Nirgendwo.

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Diesem Schild waren sie gefolgt.

»Eine Stunde noch«, sagte Kenneth.

Eine Antwort hätte sie mehr Mühe gekostet, als hundertmal auf-

zuwachen. Sie döste wieder ein.

* * *Als sie wieder zu sich kam, stand das Auto still und Kenneth hatte

die Scheinwerfer ausgeschaltet.

»Was ist los?«, fragte Elsa und rieb sich den Schlaf aus den Au-

gen.

Er deutete an ihr vorbei aus dem Fenster.

Sie wandte den Kopf und setzte sich kerzengerade auf, mit einem

Mal hellwach. Sie sah keine Berge mehr am Horizont. Über ihnen

leuchteten Sterne, aber nur am Zenit der Nacht. Sie sah keine Berge

mehr am Horizont, weil sie sich mittendrin befand.

Durch Risse in der Wolkendecke glitzerte das Mondlicht wie fal-

lender Schnee und erhellte die Berggipfel dort, wo es auf ihre kah-

len, zerfurchten Schädel traf. Elsa spürte die Anziehungskraft der

Berge in ihren Knochen, jeder einzelne von ihnen schien ihre Glied-

maßen auf sich ausrichten zu wollen. Doch es waren nicht die Ber-

ge, die Kenneth ihr hatte zeigen wollen. Vor ihnen fi el die Straße

zwischen den Gipfeln abrupt in ein tiefes Tal ab, so steil, dass Elsa

das Gefühl hatte, hoch in der Luft zu schweben.

Am Grund dieses natürlichen Kessels leuchteten die Lichter von

Thunderstown.

Das erste Mal hatte sie diese Lichter vor ein paar Jahren aus dem

Fenster eines Flugzeugs gesehen, einer ganz ähnlichen Maschine wie

der, aus der sie vor ein paar Stunden gestiegen war. Es war ein An-

schlussfl ug gewesen und sie hatte neben Peter gesessen, auf dem

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Weg in einen Urlaub, der sich als ziemlicher Reinfall herausgestellt

hatte. Peter und die anderen Passagiere hatten geschlafen, während

Elsa ihren Kopf an die Fensterscheibe gelehnt und beobachtet hatte,

wie die nächtliche Welt unter ihr dahinzog. Und dann hatte sie

Thunderstown erblickt.

Vom schwarzen Himmel aus betrachtet, formten die glimmenden

Lichter von Thunderstown dasselbe Muster wie ein Hurrikan auf

einem Satellitenbild: ein Gefl echt verschlungener Spiralen, das in

die Nacht hinausfunkelte. Im Herzen der Stadt lag ein Punkt voll-

kommener Finsternis – ein rätselhaftes Nichts wie das Auge eines

Hurrikans.

Sie hatte Peter beinahe zur Verzweifl ung getrieben, weil sie die

ersten Tage ihres Urlaubs mit nichts anderem verbracht hatte als

damit, ihre Flugroute zurückzuverfolgen, bis sie schließlich auf den

Namen des Städtchens gestoßen war, den sie wieder und wieder vor

sich hin murmelte wie ein Losungswort, das ihr Zutritt zu einer

magischen Höhle gewähren würde.

Kenneth ließ den Motor wieder an und sie fuhren bergab.

Als sie sich der kleinen Stadt näherten, veränderte sich langsam

die Perspektive und verwandelte die schimmernde Spirale in einen

verschwommenen Streifen aus Gebäuden und Straßenlaternen, die

nach und nach in der Ferne versanken. Plötzlich beschrieb die Stra-

ße einen Bogen um einen hohen Felsbrocken herum, der unver-

mittelt vor ihnen aufragte. Der graue Koloss verdeckte einen Mo-

ment lang die Sicht auf die Stadt und die Lichtkegel des Autos

bohrten sich in den Schlund der Nacht.

Dort draußen in der Dunkelheit war etwas. Elsa sah es und stieß

einen erschrockenen Schrei aus.

Die Scheinwerfer ließen ein Paar Tieraugen aufl euchten. Fell und

Zähne und einen Schwanz. Im nächsten Moment duckte sich das

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Geschöpf, was auch immer es gewesen sein mochte, aus dem Licht-

strahl und war verschwunden.

»Keine Angst«, beschwichtigte sie Kenneth.

»War das ein Wolf?«

Er lachte. »Wahrscheinlich nur ein Hund.«

Als sie den Felsbrocken umrundet hatten, rückten die Gebäude

näher und Elsa konnte einzelne Fenster und Türen ausmachen.

»Da sind wir«, sagte Kenneth. »Zu Hause.« Den letzten beiden

Wörtern verlieh er bewusst Nachdruck. Sie waren Einladung und

feierliche Erklärung zugleich. Elsa war noch nie zuvor in Thunders-

town gewesen, doch in diesem Moment – noch immer kerzengerade

im Auto sitzend, hellwach und wie elektrisiert vor Aufregung – hat-

te sie tatsächlich das Gefühl, nach Hause zu kommen.

In der ersten Straße, in die sie einbogen, waren viele Häuser ver-

barrikadiert. Es handelte sich um schieferverkleidete Reihenhäuser

mit morschen Türen und verrammelten Fenstern.

»Heutzutage haben wir hier mehr Häuser«, erklärte Kenneth, »als

Leute, die drin wohnen wollen. Wir können sie nicht alle instand

halten, schon gar nicht, wenn das schlechte Wetter kommt. In dieser

Straße wohnt niemand mehr. Aber keine Sorge, Thunderstown ist

nicht überall so ausgestorben.«

Das Auto rumpelte über den aufgesprungenen Asphalt. Die Wohn-

häuser am Ende der Straße waren nicht ganz so heruntergekommen,

dennoch brannte kein Licht hinter den Fenstern. Es war spät in der

Nacht, doch diese Häuser würden auch im Morgengrauen nicht

zum Leben erwachen. Ihre Türen sahen aus, als könnte man sie

nicht einmal mehr öffnen, fest verschlossen wie Grabkammern.

In der nächsten Straße waren die Gebäude größer und doch wirk-

ten sie seltsam verschüchtert, als drückte das Gewicht des Himmels

sie nieder. Ihre Mauern waren säuberlich verputzt und gestrichen

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und vor einer Haustür trotzte der beruhigende Schein einer Lampe

den Schatten. Daneben hing ein Korb mit wilden Bergblumen, die

genauso gelb und orangefarben leuchteten wie die Glühbirne. Die

Fensterläden im Erdgeschoss waren weit geöffnet und Elsa konnte

in ein von einem Kronleuchter erhelltes Wohnzimmer blicken. Eine

dürre Mutter im Nachthemd wiegte ein Baby in ihren Armen und

streichelte ihm über die Stirn. Es war ein willkommenes Bild nach

all der Trostlosigkeit. Als sie das Haus passierten, hob die Frau er-

staunt den Kopf, als wäre ihr Auto das erste motorisierte Fahrzeug

im Zeitalter der Maultierkarren.

Sie kamen an einer Kneipe vorbei, dem Burning Wick, deren

Front mit verrußtem Schiefer vertäfelt war und der Innenraum mit

karamellbraunem Holz. Eine nackte Glühbirne leuchtete hinter

dem Fenster, doch der Laden war längst geschlossen und die Stühle

waren auf den Tischen gestapelt. Im Hauseingang jedoch hockte ein

alter Mann in einem Regenmantel, in der Hand eine in braunes Pa-

pier gewickelte Flasche. Er trug einen ledernen Regenhut, dessen

breite Krempe an den Seiten herunterhing wie riesige Schlappohren.

Trübselig erwiderte er Elsas Blick, als sie an ihm vorbeifuhren, dann

machte die Straße eine Biegung und er war verschwunden.

Noch mehr Häuser folgten. Einige der Schieferfassaden waren in

gedeckten Farben gestrichen, die der tristen Gegend zögerlich Le-

ben einzuhauchen schienen. Schließlich beschrieb die Straße einen

weiteren Bogen und mündete auf einen riesigen Platz, der von al-

tertümlichen Straßenlaternen erhellt wurde, bis auf ein paar dunkle

Winkel, dort, wo die Glaskuppeln zerbrochen waren.

Im nächsten Moment keuchte Elsa auf. Sie hatte das imposanteste

Bauwerk auf dem Platz zuerst gar nicht gesehen. Es ragte so hoch

vor ihnen auf, dass ihre müden Augen es nicht registriert oder für

ein Relikt ihrer Träume gehalten hatten.

24

»Die Sankt-Erasmus-Kirche«, fl üsterte Kenneth und fuhr ein we-

nig langsamer. »Der heilige Erasmus ist der Schutzpatron der See-

fahrer, ausgerechnet.« Er lachte leise. Er schien seine Sätze gern mit

einem kleinen Glucksen anstelle eines Punkts zu beenden.

Elsa kurbelte ihr Fenster herunter, streckte ihren Kopf nach drau-

ßen und blickte hoch, dann noch höher.

Die Kirche war gigantisch, vollkommen überdimensioniert für

die Bedürfnisse einer so winzigen Stadt; ein wuchtiger Steinbau, der

es mit jeder Kathedrale hätte aufnehmen können. Und sie war völ-

lig unbeleuchtet. Die Nachtluft ringsum wirkte aufgewühlt, als hätte

die gewaltige Präsenz des Gebäudes sie von ihrem rechtmäßigen

Platz verdrängt. Elsa dachte an die Kathedralen von New York, de-

ren kunstvoll verzierte Fassaden bei Nacht majestätisch angestrahlt

wurden. Die Sankt-Erasmus-Kirche dagegen lag in vollkommener

Finsternis. Und obwohl Elsa kaum etwas erkennen konnte, glaubte

sie zu ahnen, dass der Bau auch beleuchtet ein völlig anderes Bild

geboten hätte als alle Kirchen, die sie kannte. Gerade die Dunkel-

heit, schwärzer als die Nacht, verlieh ihm etwas Ehrfurchterwecken-

des, genau wie seine unansehnliche Silhouette – der traurig stumpfe

Kirchturm, der kaum über den höchsten Punkt des Daches hinaus-

ragte, die ausladenden Seiten, auf Breite ausgelegt statt auf Höhe. Er

erinnerte eher an einen gewaltigen heidnischen Megalithen als an

eine christliche Kirche.

Sie verließen den Sankt-Erasmus-Platz und fuhren wieder durch

Straßen voller Reihenhaussiedlungen und anderer zusammenge-

duckter Gebäude. Im Vorbeifahren konnte Elsa ein paar Schilder

entziffern: Auger Lane, Drillbit Alley, Foreman’s Avenue.

»Das hier war früher mal ein Bergbaugebiet«, erklärte Kenneth.

»Die ganze Stadt ist auf alten Stollen errichtet.«

Nach einer Weile bogen sie in die Prospect Street ein, und diesen

25

Straßennamen erkannte Elsa. Hier, vor dem Haus mit der Nummer

38, hielt Kenneth den Wagen an und schaltete den Motor aus.

Es war ein dreistöckiges Gebäude, ein bisschen baufällig, aber

trotzdem hübsch. Kenneth gestand, dass er seine Tage hauptsächlich

damit verbrachte, sich im Fernsehen Kricketspiele anzusehen. Er er-

klärte scherzhaft, Kricket und eine Vorliebe für Rum wären alles,

was er sich von seinem alten Leben auf St. Lucia bewahrt habe. Der

Schlüssel zu Elsas Zimmer war groß und warm, genau wie die Hand,

mit der Kenneth ihre umfasste, als er ihn ihr überreichte. Er drückte

kurz ihre Finger und ließ dann langsam los.

»Jetzt bist du da«, verkündete er mit feierlicher Stimme, denn er

schien zu spüren, dass dies ein bedeutungsvoller Moment für sie

war. Ein Adrenalinstoß ließ Elsa wieder munter werden. Ja, sie war

da. Am Anfang ihres neuen Lebens.

Sie grinste und Kenneth lächelte ihr vom Fuß der Treppe aus nach,

als sie sich auf den Weg ins oberste Stockwerk machte. Kenneth hat-

te ihr erzählt, wie er vor ein paar Jahren den Dachboden zu einem

Einzimmerapartment ausgebaut hatte, als sein erwachsener Sohn

hergezogen war und eine eigene Wohnung brauchte. Nun stand Elsa

vor der Tür: dickes, lackiertes Holz, wie der Deckel einer Schatz-

truhe. Sie wog den Schlüssel in ihrer Hand, allein der Griff hatte die

Größe eines Medaillons und war angenehm schwer. Sie steckte ihn

ins Schloss und hielt kurz inne, um die alte Messingklinke und den

Rost an den Türangeln zu bestaunen, dann ergriff sie den Schlüssel

fest mit Daumen und Zeigefi nger und drehte ihn um.

Der Mechanismus des Schlosses gab ein Geräusch von sich, das

dem einer Münze ähnelte, die in einen Wunschbrunnen fällt. Elsa

öffnete die Tür und lauschte dem Gesang der Angeln.

Sie schloss die Augen und dachte an all die Orte, an denen sie im

Laufe ihres Lebens schon geschlafen hatte. Ihr Kinderbett, in dem

26

sie sich immer die Daunendecke bis über den Kopf gezogen hatte,

um beim Licht einer Taschenlampe im Wolkenatlas ihres Dads zu

lesen; das Bett im Studentenwohnheim, das sie mit so einigen Wan-

zen und Jungs geteilt hatte; die schmale Pritsche in ihrer New Yorker

Einzimmerwohnung; Peters Bett mit den weichen weißen Laken;

Klappbetten und Sofas und Fußböden.

Sie öffnete die Augen.

Hinter der Tür wartete ein kleiner dunkler Flur, und als Elsa einen

Schritt hinein machte, war sie so aufgeregt, dass sie beinahe damit

rechnete, die Luft um sich herum knistern zu hören. Sie tastete an

der Wand nach dem Lichtschalter und drückte darauf.

Die Tapete war grau mit einem Muster, das möglicherweise ein-

mal kunstvoll gewirkt hatte, jetzt jedoch so ausgeblichen war wie

der Kondensstreifen eines Flugzeugs. Das Papier wellte sich an ei-

nigen Stellen, wo es auf die Fußleisten stieß, die einen Boden aus

nackten Holzdielen einfassten. Am Ende des Flurs hing ein boden-

langer, silbergerahmter Spiegel, der aus einem Märchenbuch hätte

stammen können.

Elsa stellte ihre Koffer im Flur unter einer Reihe von Garderoben-

haken ab, dann holte sie tief Luft und schob die Wohnungstür hin-

ter sich zu. Zu beiden Seiten des Spiegels befand sich je eine ge-

schlossene Tür. Sie ging durch den Flur und öffnete die linke.

Das also würde ihr neuestes Schlafzimmer werden. Hohe Decke,

ein breites, grau bezogenes Bett und ein antiker Holzschrank. Dieser

nahm die gesamte Wand ein und seine Türen waren mit einer

Schnitzerei aus verschlungenen Linien verziert, die sich geradezu

hypnotisierend umeinander wanden. In den äußeren Ecken jeder

Schranktür entdeckte sie pausbäckige Gesichter, deren gespitzte

Lippen den Ursprung der strudelnden Spiralen markierten. Sie

grinste, als sie daran dachte, wie ihr Vater mit ihr im Kinderzimmer

27

herumgealbert hatte, als sie noch klein gewesen war. Schnaufend

und mit den Armen rudernd hatte er den tosenden Nordwind ge-

spielt.

Elsa öffnete den Schrank, dessen Inneres sie mit dem Duft von

Holzpolitur und dem Klirren von Drahtbügeln begrüßte. An der

Kleiderstange hing kopfüber ein getrockneter Blumenstrauß. Sie

klappte den ersten Koffer auf, um ihre Sachen auszupacken, doch

plötzlich fehlte ihr die Energie dazu. Das konnte auch bis zum Mor-

gen warten, doch bevor sie die Schranktüren sorgfältig wieder

schloss, legte sie die Geschenke ihrer Mutter (noch immer verpackt

und in einer Plastiktüte) in eines der Fächer. So gut ihre Mutter es

auch gemeint hatte, Elsa wollte nicht, dass ihr altes Leben ihr nach

Thunderstown folgte.

Zurück im Flur, fand sie als Nächstes heraus, dass die andere Tür

in ein Wohnzimmer mit einer kleinen Kochnische in der Ecke führ-

te. Auf einem Tischchen hatte Kenneth eine Vase voll frischer Berg-

blumen platziert, mit winzigen buttergelben Blüten. Vor dem Fens-

ter mit Aussicht auf einen von einer einzelnen Laterne erhellten

Hinterhof stand ein Korbsessel. Jenseits der Mauern am anderen

Ende des Hofs zeichneten sich die Umrisse anderer Häuser ab und

in der Ferne ragte, dunkler als der Rest der Nacht, ein Dreieck auf.

Elsa hoffte, dass es sich im Morgenlicht als die Turmspitze der

Sankt-Erasmus-Kirche erweisen würde.

Vor dem Fenster erklang ein leises Klimpern. Sie stieß die Scheibe

auf.

An einem rostigen Nagel in der Außenmauer hing ein Band mit

Anhängern. Sie nahm es ab und betrachtete es von Nahem. Es wa-

ren verschiedene kleine Gegenstände, zusammengehalten von ei-

nem schmutzigen Stück Bindfaden: ein paar winzige Zweige mit

silbern schimmernder Borke; zwei Kupfermünzen, deren Prägung

28

unter einer grünen Patina verschwunden war; eine geschwungene

Feder und noch etwas … Ruckartig riss Elsa den Kopf zurück und

ließ das Band zu Boden fallen. Ein Eckzahn, an dessen Wurzeln

noch getrocknetes Blut klebte. Sie bückte sich und hob es wieder

auf. Der Zahn schlug klackernd gegen die Münzen.

Sie warf das Band aus dem Fenster und sah zu, wie es unten im

Hof landete und die mürben Zweige auf den Pfl astersteinen zer-

brachen.

Gähnend ging sie zurück in ihr neues Schlafzimmer. Sie beschloss,

kurz die neue Matratze zu testen.

Sekunden später war sie tief eingeschlafen.

* * *In der Tiefe der Nacht weckte sie ein merkwürdiges Geräusch vor

ihrem Fenster. Ein Schnüffeln, wie von einem wilden Tier. Sie dreh-

te sich auf die andere Seite. Wahrscheinlich bloß die Geräusche ei-

nes unbekannten Hauses. Wahrscheinlich bloß der Wind.

Elsa schob den Gedanken von sich und der Schlaf zog sie zurück

in ihre Träume.

29

E lsa erwachte vom Gezwitscher eines Vo-

gels auf ihrem Fenstersims und von der Son-

ne, die das Schlafzimmer erfüllte. Sie blin-

zelte den Schlaf weg und gähnte.

Dann fi el ihr ein, dass sie nicht mehr in

New York war.

Sie stemmte sich hoch auf die Ellbogen.

Die Uhr an der Wand zeigte halb zehn. Sie ließ sich zurück in die

Kissen sinken und lächelte. Endlich. Endlich war sie eine ganze Welt

weit weg.

Sie stand auf und ging ans Fenster, um einen ausgiebigen Blick

auf ihre Ecke von Thunderstown zu werfen. Dünner Morgennebel

ließ die Straße wie ein ausgeblichenes Foto wirken. Sonnenlicht

überzog jede bröckelnde Fassade, jede staubige Bürgersteigplatte

mit einem gelben Schimmer. Elsa lächelte, wusch sich das Gesicht,

zog sich an und entdeckte die Lebensmittel, die Kenneth so fürsorg-

lich in ihrer ansonsten leeren Küche deponiert hatte. Nach einem

Frühstück, bestehend aus Müsli und einem Apfel, der ihr süß wie

Karamell auf der Zunge zerging, machte sie sich auf den Weg, um

ihr neues Zuhause zu erkunden. Der Nebel hob sich langsam, doch

die Sonne verbarg sich noch immer hinter einem strahlend weißen

Schleier. Im Osten trübten ein paar kleine Wolken das Blau und

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selbst die Wärme des Tages schien diese nicht fortwischen zu kön-

nen.

Die Gebirgskette, die Thunderstown umschloss, war seit Jahrhun-

derten dem stetigen Nagen des Windes ausgesetzt und an ihren

Flanken schimmerte der nackte Schiefer durch. Wo spärlich Gras

und Gestrüpp wuchsen, hatte der Spätsommer sie goldbraun gerös-

tet. Der ausgetrocknete Boden war von Gerölllawinen mitgerissen

worden und an seiner Stelle waren nur kahle Schneisen aus schwar-

zer und ockerfarbener Erde zurückgeblieben.

Vier Berge thronten besonders gebieterisch über dem Städtchen

im Tal, einer in jeder Himmelsrichtung. Der höchste von ihnen rag-

te als zerknautschter Gipfel im Osten auf. In ihren E-Mails an Ken-

neth hatte Elsa aufgeregt jede Frage über Thunderstown gestellt, die

ihr nur eingefallen war, und aus einer seiner Antworten hatte sie

erfahren, dass der Name dieses gewaltigen Berges Drum Head lau-

tete. Seine Dominanz hatte er vor allem jenen Momenten zu ver-

danken, in denen die Sonne seine Flanken beschien: Das Licht ließ

die Felsoberfl äche wie ein Relief erscheinen, das an den Mann im

Mond erinnerte. Und so zeigte der Berg an sonnigen Tagen ein güti-

ges, leicht verwundertes Antlitz aus zahllosen Tonnen von Stein.

Im Westen, gegenüber dem Drum Head, erhob sich der Old Colp,

steil wie ein Katzenbuckel. Seine Hänge waren mit einem gefl eckten

Pelz aus Heidekraut überzogen, das die Einheimischen als Strubbel-

fl echte bezeichneten. Richtung Norden gingen die kleineren Hügel

unterhalb des Old Colp in die gezackten Ausläufer des Devil’s Dia-

dem über, ein Berg, der nicht einen einzelnen Gipfel besaß, sondern

eine ganze Reihe spitzer Felsnadeln, die wie die Zähne eines Teller-

eisens in den Himmel ragten. Kenneth hatte erklärt, dass das Devil’s

Diadem zwei Jahrhunderte zuvor noch Holy Mountain geheißen

hatte, doch er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es zu die-

31

ser Namensänderung gekommen war. Um Thunderstown rankten

sich zu viele Legenden, hatte er geschrieben, als dass man sich jede

einzelne merken könne.

Der Berg im Süden war der unauffälligste. Wie der Rauch eines

Freudenfeuers verhüllte ein Hauch von Nebel seinen Gipfel. Sein

Name war Merrow Wold und er war dermaßen mit Felsbrocken

und Bruchgestein übersät, dass er weniger wie ein Berg wirkte als

vielmehr wie das größte je von Menschenhand geschaffene Stein-

männchen. Ziegen hatten ihn zu dem gemacht, was er heute war,

indem sie dem Boden und der Pfl anzenwelt dort oben so lange zu-

gesetzt hatten, bis die Erde eines Tages keine Blumen und Schöss-

linge mehr hervorbrachte, sondern nur noch Stein und Schiefer.

Der Merrow Wold war der kargste Berg in der Umgebung und am

schwierigsten zu besteigen; seine Hänge waren rutschig und knirsch-

ten unter den Füßen wie ein Strand voller Kiesel.

Diese vier waren viel zu gigantisch, als dass sie keinen Einfl uss auf

das Städtchen gehabt hätten, das zwischen ihnen eingeschlossen lag.

Angesichts ihrer Größe fühlte Elsa sich winzig, wie sie so ziellos

durch das Netz von Straßen mit seinen unzähligen Seitengässchen

und düsteren Engstellen schlenderte. Sie fühlte sich gefangen, wie in

einem Labyrinth, und zur gleichen Zeit ungeschützt, wie auf den

weiten Ebenen ihrer Kindheit. Die vielen schmalen Sträßchen

schlängelten sich zwischen hohen Häuserwänden hindurch, nur um

nach einer scharfen Biegung noch enger zu werden und schließlich

in einer Sackgasse zu enden. Und jedes Mal, wenn Elsa zu befürch-

ten begann, bis in alle Ewigkeit durch dieses Labyrinth wandern zu

müssen, spuckte es sie mittels einer weiteren engen Kurve oder einer

kleinen Treppe auf einen sonnendurchfl uteten Hof voller Wildblu-

men, die zwischen den Pfl astersteinen wuchsen. Doch wo immer sie

auch landete, einer der vier Berge behielt sie stets im Auge.

32

Thunderstown hatte mehr Einwohner, als man auf den ersten

Blick vermutet hätte, doch sie huschten meistens schnell außer

Sicht, wie Kellerasseln unter einem angehobenen Brett. Sie wirkten

ganz in sich selbst versunken und schienen immer eilig auf dem

Weg irgendwohin zu sein. Ihre Kleidung gab Elsa Rätsel auf: Selbst

an einem spätsommerlich warmen Tag wie diesem trugen die meis-

ten Frauen dicke Schultertücher und die Männer Regenmäntel und

breitkrempige Lederhüte wie die Gewänder einer Ordensgemein-

schaft.

Der Wind folgte Elsa durch die ganze Stadt, strich über ihr Ge-

sicht und ihre bloßen Arme, nur um ganz plötzlich abzuebben und

unbewegte Luft zurückzulassen. Dann wieder tanzte er auf Kreu-

zungen und wirbelte aus dem Staub der engen Höfe kleine Wind-

hosen auf, sodass es schien, als gäbe es nicht einen einzigen Wind,

sondern unzählbar viele, von denen jeder sein Revier zu verteidigen

suchte. An einem kleinen Metzgerstand, wo man Rauchfl eisch kau-

fen konnte, übernahm der Wind die Rolle des Gehilfen, indem er

die Fliegen von der dunkelroten Ware verscheuchte. An einer ande-

ren Stelle ging der Wind einer Frau zur Hand, die gerade ihre Wä-

sche aufhängte, und faltete jede Bluse, jede Hose auseinander, so-

bald sie sie aus dem Korb nahm.

Kenneth hatte Elsa in einer seiner E-Mails so gut es ging die Stadt-

geschichte zusammengefasst. Er hatte von einer verheerenden Flut

berichtet, die einst über die Häuser hereingebrochen war. Heute, in

den trockenen Straßen von Thunderstown, konnte man sich kaum

vorstellen, dass hier einmal riesige Wassermassen gewütet haben

sollten, aber Kenneth hatte geschrieben, tief unter den Straßen und

Gassen, in den fi nsteren Tunneln, wo sich früher die Minenarbeiter

abgerackert hatten, seien wahrscheinlich noch immer große Men-

gen des alten Flutwassers gespeichert. Elsa stellte sich vor, dass ein

33

unterirdischer Sog sie auf ihrem Weg durch die Straßen leitete, und

machte dabei eine interessante Entdeckung: Jede Straße der Stadt

führte zur Sankt-Erasmus-Kirche. Sie musste all ihre Entschlossen-

heit aufbieten, um nicht ständig, ohne es zu merken, im Kreis zu

laufen und wieder vor der Kirche zu landen. Straßen, die auf den

ersten Blick daran vorbeizuführen schienen, beschrieben im letzten

Moment eine scharfe Kurve und lieferten sie doch wieder dem fi ns-

teren Bau aus.

Ein weiteres Detail, an das sie sich aus Kenneths Beschreibungen

erinnerte, war die Tatsache, dass man vor nicht allzu langer Zeit bei

Grabungen in den Gewölben unterhalb der Kirche auf die Über-

reste anderer Gebäude gestoßen war. Man vermutete, dass es die

Fundamente uralter Tempelanlagen waren, die zu Ehren noch älte-

rer Gottheiten errichtet worden waren. Als ihr Weg sie das nächste

Mal zu der Kirche führte, überkam Elsa das schaurige Gefühl, dass

dieser Ort auf irgendeine Weise die Vergangenheit bewahrt hatte.

Sie blickte zu dem kahlen Glockenturm mit dem düsteren Kruzifi x

auf, das wie aus zwei gekreuzten Kohlestäben gefertigt schien. Es

war das Prunkstück einer ganzen Sammlung von Metallarbeiten,

die die Dächer von Thunderstown zierten. Auf den Firsten schim-

merten Hunderte von Wetterfahnen, manche davon geformt wie

Tiere, andere wie menschliche Gesichter mit geschürzten Lippen,

die eine Brise durch die Stadt zu blasen schienen. Windböen hüpf-

ten fl ink von Regenrinne zu Regenrinne und tippten dabei an die

Wetterfahnen wie Techniker, die die Hebel einer komplizierten Ap-

paratur betätigten.

Elsa bog um eine Ecke des Kirchengebäudes. Ein Stück vor ihr hat-

te sich eine Gruppe von Menschen an der Mauer zusammengefun-

den. Die Leute trugen Regenmäntel und Schultertücher und ver-

anstalteten einen ziemlichen Tumult. Als sie näher kam, wandten

34

sich ein paar Köpfe in ihre Richtung, doch was immer sich in ihrer

Mitte befand, schien ihre Aufmerksamkeit mehr zu fesseln als Elsas

fremdes Gesicht. Die Leute murmelten miteinander und ihre Stim-

men klangen ernst. »Nimm meine Hand«, fl ehte eine Frau die Person

neben sich an. »Ich kann gar nicht hinsehen«, jammerte jemand an-

deres. »Wo bleibt denn bloß Daniel?« – »Ja, wann kommt Daniel?«

Elsa drängte sich zwischen den Leuten hindurch, um zu sehen,

was der Grund für all die Aufregung war. Vor der Steinmauer kauer-

te etwas. Ein Hund, der angesichts der Menschen, die ihm den

Fluchtweg versperrten, unsicher knurrte. Elsa konnte nicht sagen,

was für einer Rasse er angehörte, aber er ähnelte einem irischen

Wolfshund: groß, mit elegantem Körperbau, struppigem Fell und

silbernen Barthaaren. Schnauze und Ohren erinnerten an die eines

Fuchses und Elsa war überrascht, als sie die Farbe seiner Augen sah:

eine Mischung aus Blau und Braungrau, genau wie der Himmel

heute mit seinen verstreuten Wolken.

Der Hund trug kein Halsband und dem getrockneten Schmutz in

seinem Fell nach zu urteilen, war er entweder wild oder ausgesetzt

worden. Er wirkte kaum bedrohlich, doch als er sich ein winziges

Stückchen auf die Menschen zubewegte, drohte ihm ein Mann so

vehement mit seinem Spazierstock, dass das Tier sich winselnd ans

Mauerwerk presste.

Ein Seufzer der Erleichterung brandete durch die Menge und die

Leute machten Platz für einen hochgewachsenen Mann mit einem

breitkrempigen Hut. Er hatte einen schwarzen Bart, dunkle Augen

und ein römisch anmutendes Profi l. Die Autorität seiner imposan-

ten Erscheinung wurde von den Stadtbewohnern bestätigt, die bei

seiner Ankunft merklich aufatmeten. Sein Bart hing ihm in drahti-

gen Strähnen von den Wangenknochen bis zum Schlüsselbein he-

rab. Neben seinem Regenhut, den er abnahm, als er sich dem Hund

35

näherte, trug er eine abgewetzte Hose, hohe Lederstiefel und ein

braun kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, die musku-

löse Unterarme entblößten.

Als der Hund ihn sah, stand er plötzlich ganz still, beinahe, als

hätte er ihn erkannt. Der Mann hockte sich hin, bis sein Kopf sich

auf derselben Höhe befand wie der des Hundes, Barthaar an Bart-

haar. Eine Weile starrte er bloß in die seltsamen Augen des Tieres,

dann gab er ein tiefes kehliges Grollen von sich, wie das Geräusch

einer fernen Steinlawine. Der Hund schien sich etwas zu beruhigen,

er neigte den Kopf und schob ihn nach vorn, bis seine Schnauze sich

an die Brust des Mannes schmiegte. Der Mann hob die Arme und

begann den Hund zu streicheln, mit der einen Hand rieb er über die

glatte Stelle zwischen seinen Ohren, während er mit der anderen

das weiche Fell an seiner Kehle kraulte.

Dann verschoben sich seine Hände ruckartig und das Genick des

Hundes brach mit einem trockenen Klicken.

Die Menge wich einen Schritt zurück, und plötzlich stand Elsa,

starr vor Schreck, ganz vorne. Der Mann erhob sich, klopfte seinen

Hut in Form und setzte ihn wieder auf. Dann bekreuzigte er sich.

Die Leute taten es ihm gleich und klatschten kurz Beifall, als der

tote Hund auf das Pfl aster plumpste.

Dort blieb er liegen und starrte mit leeren Augen zu Elsa auf, die

seinen Blick ungläubig und voller Entsetzen erwiderte. Dann, noch

während sie zu begreifen versuchte, was sie da soeben mit angese-

hen hatte, geschah etwas Eigenartiges. Die blauen Augen verdunkel-

ten sich. Sie änderten ihre Farbe wie ein Stück Papier, das langsam

von Feuer zerfressen wurde. Innerhalb von Sekunden verwandelten

sie sich von Himmelblau zu verkohltem Schwarz. Eine kühle Brise

strich über Elsas bloße Arme und sie erschauderte gleichermaßen

vor Verwirrung und Angst.

36

Ein paar Leute aus der Menge bedankten sich bei dem bärtigen

Mann oder klopften ihm auf die Schulter. Dann gingen sie unter

zufriedenem Geplauder wieder ihrer Wege, als verließen sie eine

Theatervorstellung.

Der Mann beugte sich über den toten Hund, zerrte ihn an den

Ohren vom staubigen Pfl aster hoch, warf sich den Kadaver über die

Schulter und richtete sich wieder auf. Die Menge hatte sich inzwi-

schen zerstreut. Nur Elsa blieb zurück, unsicher, aber zutiefst er-

schüttert. Sie hatte noch nie zuvor mit angesehen, wie jemand völlig

grundlos ein Tier umgebracht hatte. Den toten Hund auf dem Rü-

cken, drehte der Mann sich fragend zu ihr um.

»Ma’am«, sagte er und neigte grüßend den Kopf.

»Was … Warum … Was haben Sie da gerade gemacht?«

»Das war ein Wilder, Ma’am«, erwiderte er, als erklärte das alles.

Er wollte an ihr vorbeigehen, doch sie trat ihm mit einem schnellen

Schritt in den Weg.

»Sie hätten ihn aus der Stadt bringen können oder in ein Tier-

heim … oder … oder was weiß ich!«

Er runzelte die Stirn. Plötzlich erschien er ihr wie aus blankem

Fels gehauen, und nicht wie jemand, der einst ein Kind gewesen

war. Doch sie wich nicht zurück.

»Das hier, das hat Sie erschreckt?« Er klang verwirrt.

Elsa nickte, als habe er den Verstand verloren, doch seine Stimme

hatte sanfter geklungen als erwartet, und er schien ernsthaft, wenn

auch ein wenig verdutzt, über ihre Reaktion nachzudenken, während

die ganze Zeit der Kadaver über seiner Schulter hing, dessen ver-

färbte Augen inzwischen in ihren Höhlen nach oben gerollt waren.

»Das war ein Wilder«, wiederholte er.

»Das«, sie warf die Hände in die Luft, »das war ein lebendiges

Wesen!«

37

Er zog die Stirn kraus, als wollte er ihr widersprechen, stattdessen

aber sagte er: »Sie sind nicht aus Thunderstown, oder? Sonst würde

ich Sie und Ihre Familie kennen. Es ist mir eine Freude, ein neues

Gesicht hier zu sehen.«

Elsa ballte die Fäuste. »Wo ich herkomme, spielt keine Rolle.«

Die heraushängende Zunge des Hundes und seine baumelnden

Beine waren mit einem Mal zu viel für sie, genauso wie das mit-

fühlende Gesicht des Mannes inmitten all des toten Fells.

»Ich bin Daniel Fossiter«, sagte er leise, »und es freut mich, Sie

kennenzulernen.«

»Elsa«, erwiderte sie spitz und wurde noch wütender, weil sie die-

sem grausamen Mann ihren Namen verraten hatte.

»Ich sollte Ihnen vielleicht erklären, Elsa, dass diese spezielle Art

von Hunden –«

Sie hob abwehrend die Hand, eine Geste, die sie seit der Highschool

nicht mehr angewendet hatte. Dort hätte diese jedem unmissver-

ständlich klargemacht, dass Elsa das, was er zu sagen hatte, nicht

hören wollte, doch hier auf dem weitläufi gen Kirchplatz betrachtete

Daniel Fossiter nur interessiert ihre Handfl äche, als versuchte er,

darin zu lesen. Verschämt machte sie auf dem Absatz kehrt und

stürmte davon. Erst am anderen Ende der Straße drehte sie sich

noch einmal um und sah, dass er ihr geduldig nachblickte, den

Hund noch immer über die Schulter geworfen, als wäre er kein biss-

chen schwerer als Luft.

Als sie Kenneths Haus erreichte, hatte sie sich noch nicht wieder

beruhigt. Die Treppe zu ihrem Apartment führte an der geöffneten

Tür seines Wohnzimmers vorbei. Drinnen lümmelte er auf dem

Sofa und sah sich im Fernsehen ein Kricketspiel an. Er hatte die

Vorhänge zugezogen, damit sich das Sonnenlicht nicht im Fernseh-

bildschirm spiegelte, aber es war so intensiv, dass es den Raum

38

trotzdem erhellte und jede Oberfl äche im Pfi rsichton des Vorhang-

stoffs erstrahlen ließ.

Kenneth hatte die Einrichtung schlicht gehalten: ein schmuck-

loses Bücherregal voller Almanache mit gelben Rücken und ein ge-

polsterter Hocker vor seinem niedrigen Zweiersofa. Der leere Platz

neben ihm war so glatt, als hätte dort zuvor noch nie jemand ge-

sessen, doch als Kenneth aufstand, um Elsa zu begrüßen, blieb auf

seiner Seite eine Vertiefung zurück – Spuren seiner schon viele Jahre

währenden Kricketbegeisterung. Elsa hätte ihn vielleicht für faul ge-

halten, hätte ihr nicht ein winziges weiteres Detail im Raum einen

Hinweis auf eine mögliche Erklärung geliefert. Oben auf dem Fern-

seher stand das gerahmte Foto eines dunkelhäutigen jungen Man-

nes etwa in Elsas Alter, der Jeans und ein orangefarbenes T-Shirt

trug. Das Bild zeigte ihn mitten in einem Lachanfall. Seine Hände

waren über und über mit Ton beschmiert, von dem auch der Rest

seines Körpers kurz zuvor eine ganze Menge abbekommen zu ha-

ben schien.

»Er war Töpfer«, erklärte Kenneth Olivier, dem aufgefallen war,

dass Elsa das Foto entdeckt hatte. »Michael. Mein wunderbarer

Sohn.«

Bevor Elsa etwas erwidern konnte, runzelte er die Stirn und zog

einen der Vorhänge auf. Das Sonnenlicht, das durch den Stoff so

strahlend gewirkt hatte, schien plötzlich wie von Schüchternheit er-

griffen und leckte kaum noch an der Fensterbank. Und kurz darauf,

als sich auch noch ein paar Wolken vor die Sonne schoben, war das

Zimmer dunkler als zuvor.

»Was machst du für ein unglückliches Gesicht, Elsa?«

Sie erzählte ihm von dem Hund.

Mit dem mitfühlenden Blick eines Therapeuten hörte Kenneth

sich ihren Bericht an, was seine Antwort umso überraschender

39

machte. »Elsa, ich will dich ja nicht noch mehr beunruhigen, aber

du musst eins verstehen: Es ist gut, dass der Hund getötet wurde.

Diese Hunde bringen Unglück über die Stadt.«

»Unglück? Das war doch nur ein Hund! Ein wunderschöner Hund

mit blauen Augen!«

»Ah ja, die Augen.« Kenneth gluckste unbehaglich. »Weißt du, die

Augen sind das verräterischste Zeichen. Wenn du einem von diesen

Hunden bei Sonnenuntergang begegnest, sind seine Augen orange

oder rot.«

Elsa dachte daran, wie das Blau der Hundeaugen bei seinem Tod

zu Schwarz verkohlt war. Sie erschauderte und verschränkte die

Arme vor der Brust.

»Sag, Elsa, der Mann, der den Hund getötet hat, war er groß? Mit

einem schwarzen Bart?«

»Ja, genau der war es. Daniel Soundso.«

»Daniel Fossiter. Er ist ein angesehener Mann in Thunderstown.

Stammt aus einer alteingesessenen Familie von Bergjägern. Mit dem

solltest du es dir besser nicht verscherzen.«

»Bergjäger?«

»In erster Linie jagt er da oben Ziegen. Er hält den Bestand unter

Kontrolle, damit die Tiere nicht den Pfl anzenwuchs zerstören oder

sich bis runter in die Stadt ausbreiten. Glaub mir, die fressen einfach

alles, was sie zwischen die Zähne kriegen. Aber Daniel hat auch

noch eine rituelle Funktion. Er tötet auch«, Kenneth stockte, »ande-

re Kreaturen.«

Wieder sah Elsa Daniel Fossiter vor sich. Er war von einer beinahe

animalisch anmutenden Aura aus Macht umgeben gewesen. Wie

ein Löwe in freier Wildbahn. Er hatte nichts menschlich Berech-

nendes an sich gehabt und doch wie eine natürliche Bedrohung auf

sie gewirkt. »Er war mir unsympathisch.«

40

»Um ehrlich zu sein, Elsa, ich fühle mich in seiner Gegenwart

auch manchmal unbehaglich.«

»Ja. Genau. Unbehaglich.«

Sie stieg die Treppe zu ihrer Wohnung hoch, setzte sich in den

Korbsessel und blickte über die Dächer. Die Wolken formten klum-

pige Streifen, die zu nichts weiter gut waren, als das Sonnenlicht

abzuhalten. Thunderstown hatte ihr besser gefallen, bevor sie Da-

niel Fossiter begegnet war, und Elsa wünschte, sie wäre ihm niemals

über den Weg gelaufen. Sie hätte gut einen Tag ohne Unbehagen

gebrauchen können.

Einen solchen Tag hatte es für sie schon seit dem Sommer nicht

mehr gegeben. Nach der Beerdigung ihres Dads hatte sie sich ge-

fühlt wie eine von Haarrissen durchzogene Vase, die sich verzweifelt

bemühte, das Wasser in ihrem Inneren zu halten. Dann, eines Tages,

nachdem ein ganzer Monat vergangen war, hatte sie dem Druck

einfach nicht mehr standhalten können. Ein einziger weiterer Riss

hatte sie in tausend Scherben zerspringen lassen.

Es war Peters Schuld gewesen. Wahrscheinlich machte er sich

noch immer die schlimmsten Vorwürfe deswegen, denn sie war

nicht in der Lage gewesen, ihm zu erklären, dass sie schon seit Län-

gerem innerlich immer mehr zerbrach und dies bloß der letzte Aus-

schlag gewesen war. Sie hoffte, dass er schnell darüber hinwegkom-

men würde. Er verdiente es.

Er hatte vorgeschlagen, für ein langes Wochenende die Stadt zu

verlassen. »Warum kaufen wir uns nicht einfach ein Zelt und fahren

nach Westen? Ein bisschen frische Luft würde dir bestimmt guttun.«

Er hatte alles in die Hand genommen, und als sie schließlich an ei-

nem sonnigen Spätnachmittag auf einer Lichtung in Pennsylvania

ihr Zelt aufschlugen, hatte Elsa gedacht: Ja, das ist genau das, was

ich brauche. Sie hatte den Kopf an seine Schulter gelegt und in die

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Glut des Lagerfeuers gestarrt, den Duft des brennenden Holzes ein-

geatmet und die Kombination aus der wohltuenden Wärme der

letzten Sonnenstrahlen genossen, der intensiven Wärme des Feuers

und jener inneren Wärme, mit der die Flasche Rotwein sie erfüllt

hatte, die sie beim Entzünden des Feuers zusammen geleert hatten.

Peter hatte eine weitere Flasche genommen, schwungvoll den Kor-

ken herausgezogen und ihr Glas nachgefüllt. Die Blätter zitterten

im Wind, leicht wie Federn. Zwei Eichhörnchen huschten von Ast

zu Ast. Ein Vogel fl atterte zwitschernd über die Lichtung. Und dann

tat Peter etwas, was ihr den Boden unter den Füßen wegriss.

»Elsa«, sagte er und griff in die Tasche seiner Jeans. Als er die Hand

wieder herauszog, hielt er etwas in der Faust verborgen. Er öffnete

sie und in seiner Handfl äche lag ein Ring.

»Elsa … willst du mich heiraten?«

Sie starrte auf den schmalen Goldreif, dessen diamantenes Auge

zurückstarrte. Ihr Blick folgte der Rundung des Rings, wieder und

wieder und wieder. Als sie die Hand danach ausstreckte, wirkte die

Welt ringsum mit einem Mal furchtbar schwer. Die Blätter und

Grashalme lagen fl ach am Boden, massiv wie Briefbeschwerer. Sie

sah durch den Ring wie durch ein Fernrohr und die Bäume neigten

sich, Zweige schabten aneinander und auf einem gekrümmten Ast

saß ein Vogel und beobachtete sie mit schräg gelegtem Kopf. Ihr

Magen zog sich zusammen. Die Welt veränderte sich, formierte sich

neu wie die Zeiger auf einem riesigen Zifferblatt.

»Elsa?«

Sie ließ den Ring zurück in Peters Hand fallen und würgte einen

unerwarteten Schwall Tränen hinunter.

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Elsa … Elsa, ich liebe

dich.«

Sie weinte. Als sie angefangen hatten, miteinander auszugehen,

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hatten sie sich mit kühlem Zynismus darauf geeinigt, dass Liebe

nichts als das Ergebnis chemischer Reaktionen und elektrischer Im-

pulse im Gehirn war und all der damit verbundene Kitsch in einen

Souvenirladen verbannt gehörte. »Liebe«, hatte sie Peter einmal er-

klärt, »hat nicht viel mehr Bedeutung als das Herz auf einer

I-Heart-NY-Baseballkappe.« Und er hatte ihr beigepfl ichtet.

Und doch schien er es in diesem Moment vollkommen ernst zu

meinen, als er auf den Knien vor ihr hockte und zu ihr aufblickte.

Und sie liebte ihn nicht, auch wenn er ihr sehr viel bedeutete,

wusste nicht einmal, ob sie überhaupt an die Liebe glaubte, sie hatte

ihren Vater verloren und wollte einfach nur denselben Weg gehen

wie er, fortgetragen von einem Tornado, um ihn an dem Ort, für

den er die Erde verlassen hatte, wiederzusehen, und das konnte sie

Peter nicht erklären, genauso wenig, wie sie ihm erklären konnte,

warum ihr Leben plötzlich in Scherben lag und sie nichts mehr über

sich selbst zu wissen schien.

Wolle, den sie ihm behutsam aus den Händen nahm, ihn lächelnd

betrachtete und sich dann um die Schultern legte. In das blaue Zie-

genfell gehüllt schmiegte sie sich an ihn und legte seine Hände um

ihre Taille, bevor sie seine kräftigen Finger unter den weichen Stoff

ihres Rocks und über ihre noch weicheren Schenkel dirigierte. Sie

führte ihn in ihr Haus in der Candle Street, wo sie ihm die Kleider

auszog, und dann, weil seine Finger dazu nicht in der Lage waren,

sich selbst. Nacheinander landeten der Ziegenumhang, ihr Rock

und ihre Unterwäsche auf dem Bett. Dann sanken sie auf den Stapel

aus Kleidern und Fell und er verlor sich in dem Gefühl ihrer Haut

unter seiner eigenen.

* * *

Ali ShawDer Mann, der den Regen träumtHardcover, 336 Seiten, Format 15.0 x 22.0 cm € 18.95 (D), € 19.50 (A), CHF 27.50Januar 2013

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