handel 4.0: die digitalisierung des handels – strategien, technologien, transformation

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Handel 4.0 Die Digitalisierung des Handels Rainer Gläß · Bernd Leukert Hrsg. Strategien, Technologien, Transformation

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Page 1: Handel 4.0: Die Digitalisierung des Handels – Strategien, Technologien, Transformation

Handel 4.0Die Digitalisierung des Handels

Rainer Gläß · Bernd Leukert Hrsg.

Strategien, Technologien, Transformation

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Handel 4.0

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Rainer Gläß · Bernd Leukert (Hrsg.)

Handel 4.0Die Digitalisierung des Handels – Strategien, Technologien, Transformation

Page 4: Handel 4.0: Die Digitalisierung des Handels – Strategien, Technologien, Transformation

Rainer GläßGK Software AG, Schöneck,Deutschland

Bernd LeukertSAP SE, Walldorf,Deutschland

Koordination: Norbert Eder, Leiter Public Affairs & PR, GK Software AG, [email protected]

ISBN 978-3-662-53331-4 ISBN 978-3-662-53332-1 (eBook)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer Gabler© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verar-beitung in elektronischen Systemen.Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen.

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

Springer Gabler ist Teil von Springer NatureDie eingetragene Gesellschaft ist Springer-Verlag GmbH Berlin Heidelberg

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V

Vorwort

Die Digitalisierung der Gesellschaft, der Unternehmen, der privaten Haushalte und nicht zuletzt die damit verbundenen Implikationen für Menschen in hochspezialisierten und in-dustrialisierten Gesellschaften bringen massive Veränderungen mit sich. Analysiert man die Produktivitätsentwicklung der letzten Jahrhunderte, so zeigt sich, dass wir uns aktuell in einer besonders herausfordernden Phase befinden. Die Digitalisierung ist im engeren Sinne des Wortes seit Jahrzehnten im Gange. Das erreichte Digitalisierungsniveau und die technischen Fähigkeiten von Maschinen sind allerdings mittlerweile derart weit fortge-schritten, dass sie Unternehmen und Gesellschaft gänzlich neue, teilweise bisher undenk-bare Möglichkeiten eröffnet. Während die Möglichkeiten revolutionär sind, versuchen sowohl Unternehmen als auch Wissenschaft und Politik, den Wandel möglichst fließend zu gestalten. Die neue Welle der Digitalisierung ist demnach eher ein evolutionärer Schritt seit ihrem Beginn, aber dafür mit revolutionären Erwartungen und Ergebnissen.

Diese Entwicklung hat zwei wesentliche Ursachen. Erstens verfügen wir heute über Infrastruktur, wie etwa flächendeckendes Breitband oder immense und dennoch bezahlba-re Rechner- und Speicherkapazität, und Technologien wie beispielsweise Mobile, Cloud oder Analytics, die neue Anwendungen und Geschäftsmöglichkeiten umsetzen können. Zweitens wird aus einem Potenzial dann ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Mehr-wert, wenn die Nutzer, also wir alle, für sich einen Mehrwert erkennen und die neuen Möglichkeiten annehmen. Mit der Einführung der Smartphones zum Beispiel ging eine Einfachheit in der Bedienbarkeit einher, die sich heute verbreitet hat, wie es kaum jemand für möglich hielt. Es bleibt für alle mit Informationstechnologien vertrauten Manager die Erkenntnis, dass die Anwender im Mittelpunkt der digitalen Welt stehen.

Die Voraussetzungen, die zur weiteren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzbar-machung der Digitalisierung nötig sind, scheinen erfüllt zu sein, denn es sind diverse technische und ökonomische Gegebenheiten, die zusammen genommen zu einer weiterhin schnellen wirtschaftlichen Verbreitung beitragen werden:

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VI VorwortVI

• Aufgrund der Miniaturisierung sind dem Einsatz von Sensoren, Aktoren oder anderen digitalen Datensendern und -empfängern kaum mehr Grenzen gesetzt. Darüber hinaus haben die Globalisierung und die Verfügbarkeit von Informationstechnologien zu einem wirtschaftlichen Effekt geführt, mit dem sich große Skaleneffekte erreichen lassen. Damit ist die kostengünstige Verfügbarkeit der Hardware und Technologien möglich, die wiederum zur schnellen Diffusion am Markt und in der Gesellschaft beigetragen hat.

• In der Industrie führt die Digitalisierung dazu, dass Informationen zunehmend ein eigenständiger Produktionsfaktor werden. Das Produkt selbst wird zum Träger der Produkt- und Produktionsinformationen. Die Verknüpfung der physischen mit der virtuellen Welt ermöglicht eine neue Art der Transparenz über Prozesse und das Produktleben. Werden diese unstrukturierten Daten mit den strukturierten Daten der Geschäftswelt verzahnt, eröffnen sich völlig neue Einblicke – und das mittels heutiger Technologien nahezu in Echtzeit, was einen enormen Spielraum, eine neue Flexibilität erlaubt.

• Im Konsumentenbereich ist mit der Digitalisierung von Produkten, wie bei Musik oder Filmen, eine starke Tendenz vom Konsumieren reiner Produkte hin zum Nutzen von Diensten zu beobachten. Überdies werden Produkte und Dienste immer personali-sierter und individualisierter angeboten und genutzt, zugeschnitten auf die Bedürfnisse des Einzelnen.

• Was aus allem voran genannten den bedeutenden Mehrwert darstellt und von überra-gender Bedeutung ist, ist die Vernetzung all dessen. Sie bildet die Basis für die Transparenz, Flexibilität und Individualisierung, die wir im Moment erfahren.

Zusammen genommen führen diese Entwicklungen zu Anwendungsmöglichkeiten für das Internet der Dinge sowie dessen Ausprägung in einer Industrie 4.0. Ein Baustein ist die Maschine-zu-Maschine-Kommunikation. Aber erst mit der Nutzung des Internets und durch die Verknüpfung mit der Intelligenz der Unternehmenssoftware wird es Unterneh-men möglich, sehr viel effizienter im Wettbewerb agieren zu können. Viele Szenarien und konkrete Anwendungsfälle existieren bereits. Das vorliegende Buch widmet sich einem bisher in diesem Kontext noch wenig beleuchteten Bereich, dem Handel sowie den damit verbundenen Fragestellungen und Herausforderungen. Gerade der Handel ist seit Jahrzehn-ten, insbesondere in Deutschland, von einem besonderen Wettbewerbsdruck geprägt. Die Kunden in Deutschland sind Studien (Accenture, 2015; Michael Gassmann, DIE WELT online, 22.02.2015; dpa 03.06.2014) zufolge die anspruchsvollsten der Welt, und die An-forderungen an die Handelsunternehmen generell weltweit einzigartig. Daher erscheint es von besonderem Interesse, grundsätzliche Fragen zur Digitalisierung einerseits und spezi-fische Fragen für den Handel andererseits zu stellen. Den Entscheidungsträgern in Han-delsunternehmen hoffen wir damit wertvolle Einsichten in diese wichtigen Überlegungen geben zu können.

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VIIVorwort VII

Das vorliegende Buch gliedert sich in drei Teile.

Der erste Teil befasst sich mit den Grundlagen der Digitalisierung. Die Digitalisierung betrifft nicht nur die Gesellschaft oder Unternehmen, sondern vor allem auch den Men-schen in seinem täglichen Leben.

Dirk Baecker, der Autor des ersten Beitrags, stellt aus soziologischer Perspektive die wichtige Frage, wie die Digitalisierung unser Denken und unsere Welt verändert, und bildet die Basis für alle weiteren Betrachtungen.

Der Kunde steht im Mittelpunkt sämtlicher Aktivitäten von Unternehmen. Dies gilt insbesondere für das digitale Zeitalter, in dem der Kunde individueller als je zuvor bedient werden möchte und die technischen Möglichkeiten einer weiterentwickelten Form des Mass Customizing dies auch wirtschaftlich ermöglichen. Der zweite Beitrag widmet sich dem Kunden in der digitalen Welt. Michael Jahn von der GfK untersucht, welches Kun-denverhalten wir heute beobachten und welche Entwicklung im digitalen Zeitalter noch zu erwarten ist.

Im dritten Beitrag geht August-Wilhelm Scheer auf die grundsätzlichen Herausforderun-gen von Unternehmen auf dem Weg zur Digitalisierung ein. Dabei widmet er sich insbe-sondere auch Industrie- und Technologieunternehmen, die er seit Jahrzehnten in ihrer Entwicklung begleitet hat mit besonderer Berücksichtigung der veränderten Geschäftsmo-delle im Handel.

Tobias Kollmann und Simon Hensellek setzen sich im vierten Beitrag des ersten Teils mit digitalisierten Unternehmen auseinander. Aus einer reichhaltigen Erfahrungspraxis von der Gründung von Internetunternehmen bis hin zu deren Erfolg wird aufgezeigt, was den Unterschied zwischen digitalisierten und traditionellen Unternehmen ausmacht. Diese Be-trachtung ist vor dem Hintergrund der Überlegung von Christensen et al. (1997) zu disruptiven Innovationen von enormer strategischer Bedeutung, denn etablierte Unterneh-men stehen stets vor der Fragestellung, ob sie aus sich selbst heraus wirkliche Innovationen umsetzen oder nicht doch neue Unternehmen diesen Weg erfolgreicher beschreiten können.

Der fünfte Beitrag bildet die Schnittstelle von allgemeinen Digitalisierungsüberlegun-gen und Handelsunternehmen. Reinhard Schütte und Thomas Vetter analysieren anhand einer mehrstufigen Architektur für Industrie-, Handels- und Kundeninformationssystemen, welche Potenziale die Digitalisierung für Handelsunternehmen eröffnet, um die betriebs-wirtschaftlichen Aufgaben im Wettbewerb effektiver und effizienter lösen zu können.

Basis für eine Digitalisierung in Handelsunternehmen sind die vorhandenen, die sich in der Entwicklung befindenden oder noch zu entwickelnden Technologien. Im zweiten Teil werden daher Technologien der Digitalisierung diskutiert. Im ersten Beitrag dieses Teils untersucht Michael Gerling die historische Entwicklung des Einsatzes von Technologien in Handelsunternehmen. Anhand einer vom EHI Retail Institute über Jahre durchgeführten Befragung von CIOs wird analysiert, welche Bedeutung welchen Technologietrends in der Vergangenheit und aktuell zugeschrieben wurde und wird.

Antonio Krüger und Gerrit Kahl widmen sich im zweiten Beitrag den neuen Möglich-keiten, die im DFKI Innovative Retail Labor für den zukünftigen Einsatz von digitalen

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VIII VorwortVIII

Technologien in Handelsunternehmen untersucht werden. Dabei stehen diejenigen Tech-nologien im Fokus, die potentiell von den Kunden genutzt werden könnten. Zudem werden die Erwartungshaltungen der Kunden an Handelsunternehmen aufgezeigt, denn die Digi-talisierung im Lebensumfeld der Kunden selbst fordert eine verstärkte technische Unter-stützung der Kundenprozesse.

Stefan Spang zeigt im dritten Beitrag auf, welche Technologien die Digitalisierung von Unternehmen treiben. Aus den von McKinsey weltweit begleiteten Digitalisierungsprojek-ten werden zugleich Erfolgsfaktoren für Digitalisierungsvorhaben abgeleitet.

Als Abschluss des zweiten Teils und des Themas Technologien der Digitalisierung im Handel wird aus den wissenschaftlichen und praktischen Erfahrungen des Hasso-Plattner-Instituts von den Autoren Matthias Uflacker, Rainer Schlosser und Christoph Meinel die In-Memory Technologie und deren Einsatz bei der Digitalisierung des Handels näher be-leuchtet.

Der dritte Teil beschäftigt sich mit dem Transformationsprozess, den Handelsunterneh-men auf dem Weg in das digitale Zeitalter zu bewältigen haben. Es werden Digitalisierungs-anforderungen für Handelsunternehmen diskutiert und wie diese erfüllt werden können. Ausgehend von allgemeinen Anforderungen an Unternehmen über deren Konkretisierung für Handelsunternehmen bis hin zu praktischen Beispielen wird eine breite Perspektive für die Unternehmen aufgezeigt.

Im ersten Beitrag dieses Teils betrachten Bernd Leukert und Rainer Gläß aus der Pers-pektive von Softwareunternehmen die Anforderungen, die von Kunden an die Anwen-dungssysteme formuliert werden. Daraus resultierend werden die besonders wichtig er-scheinenden Herausforderungen und die Chancen für Handelsunternehmen aufgezeigt.

Der zweite Beitrag der Autoren Eva Stüber, Kai Hudetz und Gero Becker vom Institut für Handelsforschung widmet sich dem Transformationsumfang der einzelnen Bereiche des Handels. Dabei unterscheidet er diverse Handelsbereiche wie Fashion, Lebensmittel, Baumarkt, Bücher, Reisen usw. Jede dieser Handelsbranchen hat einen voneinander abwei-chenden heutigen Digitalisierungsgrad und vor allem einen abweichenden erahnten maxi-malen Digitalisierungsgrad. Die branchenorientierte Differenzierung, die insbesondere auch in Porters (1980) wettbewerbstheoretischen Arbeiten verankert ist, eröffnet für Han-delsunternehmen einen besonders wichtigen Einstiegspunkt in Überlegungen zum Trans-formationsprozess, in dem es um die Positionierung des Unternehmens innerhalb der Bran-che geht.

August Harder, CIO von Coop zeigt als dritten Beitrag in der Fallstudie für die Coop Gruppe die vielschichtigen Themen der Digitalisierung eines Handelsriesen. Neben den 800 Coop Supermärkten sind für die Kunden unsichtbar und doch faktisch vorhandenen Angebote und Prozesse der Coop Online Shops, Eigenmarken und Tochterunternehmen zu integrieren, wie die Transformation in ein digitales Zeitalter erfolgen soll.

Den Abschluss des Buches bildet der vierte Beitrag des dritten Teils von Torsten Toeller, als Geschäftsführer der Fressnapf Tiernahrungs GmbH, verantwortlich für die Digitalisie-rung des Marktführers im Heimtierbedarf in Europa mit mehr als 1.400 Fachmärkte in zwölf europäischen Ländern und mehr als 10.000 Beschäftigten. Der Unternehmensgrün-

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IXVorwort IX

der spricht überblicksartig am Beispiel seines Unternehmens das veränderte Konsumen-tenverhalten, Veränderung des Geschäftsmodells, das Neue an Handel 4.0 und den Change Prozess innerhalb des Unternehmens und bei den Mitarbeitern an.

Die Beiträge des drei Teile umfassenden Buches bilden ein solides Fundament für eine Entfaltung des Themenkomplexes Handel 4.0, sowohl in der Breite als auch in der Tiefe. Auch wenn einige Handelsunternehmen noch immer davon ausgehen, dass das stationäre Geschäft so bleiben wird wie es ist, zeichnen sich in vielen Ländern der Welt und in vielen Handelsbranchen signifikante Veränderungen ab, die nicht ohne eine neue, dem technolo-gischen Fortschritt angepasste, Denkweise zu bewältigen sind. Wir hoffen, dass sich für den Leser mit diesem Buch Anregungen für eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Digitalisierung an sich und mit strategischen, prozessualen und systemtechnischen Fragestellungen eröffnen.

Rainer GläßBernd Leukert

Literatur

Accenture (2015): Global Consumer Pulse Research, Kronberg.Christensen, C.M. (2011): The Innovator’s Dilemma. Warum etablierte Unternehmen den Wett-

bewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren (The innovator‘s dilemma, 1997). Vahlen, München.

dpa (2014): Deutsche sind bei Hotelsuche geizig und anspruchsvoll. http://www.ksta.de/rund-um-die-welt/deutsche-hotelsuche-geizig-anspruchsvoll-umfrage,16126870,27333316.html. Abgeru-fen am 03.06.2014.

Gassmann, M. (2015): Deutsche sind die kompliziertesten Kunden der Welt. http://www.welt.de/wirtschaft/article137801892/Deutsche-sind-die-kompliziertesten-Kunden-der-Welt.html. Abge-rufen am 25.02.2015.

Porter, M.E. (1980): Competitive Strategy – Techniques for Analyzing Industries and Competitors. Free Press, New York.

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Inhaltsverzeichnis

Teil I: Die Digitalisierung von Gesellschaft, Wirtschaft und Handel

Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3Dirk Baecker

Einzelhandel in Läden – Ein Auslaufmodell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25Manuel Jahn

The Big Change. Auswirkungen der neuen Technologien von Industrie 4.0. Neue Wertschöpfungsketten für den Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51August-Wilhelm Scheer

Die Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59Tobias Kollmann und Simon Hensellek

Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen . . . . . . . . 75Reinhard Schütte und Thomas Vetter

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InhaltXII

Teil II: Technologien für die Digitalisierung des Handels

Vom Barcode zu Mobile Commerce – Moderne Handels-IT stellt Kundennutzen in den Mittelpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117Michael Gerling

Der technologische Fortschritt im Handel getrieben durch Erwartungen der Kunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129Antonio Krüger und Gerrit Kahl

Die technologische Entwicklung der Digitalisierung im Handel . . . . . . . . . 157Stefan Spang

Ertragsmanagement im Wandel – Potentiale der In-Memory Technologie . . . 177Matthias Uflacker, Rainer Schlosser und Christoph Meinel

Teil III: Transformation des Handels zu digitalisierten Unternehmen

Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193Bernd Leukert und Rainer Gläß

Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung . . . . 213Eva Stüber, Kai Hudetz und Gero Becker

Omni-Channel und Modularisierung bei Coop. Format- und kanalübergreifender Handel und Digitalisierung . . . . . . . . . . 235August Harder

Die Digitalisierungsperspektive bei Fressnapf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253Torsten Toeller

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Teil I:

Die Digitalisierung von Gesellschaft, Wirtschaft und Handel

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Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt?

Ausgangspunkte einer Theorie der Digitalisierung

Prof. Dr. Dirk BaeckerPrivate Universität Witten/Herdecke gGmbH, Witten, Deutschland [email protected]

1.1 Die Fragestellung

Das Stichwort der Digitalisierung der Gesellschaft ist in aller Munde. Jeder weiß, was darunter zu verstehen ist. Es spielt an auf eine zunehmende Beteiligung von Computern an privaten und beruflichen Aktivitäten der Menschen, auf eine zunehmende Durchsetzung der Infrastruktur der Gesellschaft mit elektronischen Rechnern, auf das Wachsen von Da-tenspeichern mit dem Versprechen des Gewinns neuartiger Kenntnisse aus raffinierten statistischen Verfahren („Big Data“), auf die verblüffende Reduktion multimedialer Kom-munikation mit Bildern, Texten, Tönen und Videos auf einen digitalen 0/1-Code, der diese Kommunikation überdies vielfach bearbeitbar macht, und nicht zuletzt auf die große Frage, was den Menschen noch Menschliches bleibt, wenn ihr Intellekt, ihre Wahrnehmung, ihre Kommunikation, ihr Gedächtnis in die Maschinen auswandern. Bleibt ihnen nur das Ana-loge? Und was wäre das?

Es bleibt ihnen – diese These werden wir im Folgenden kultur- und sozialtheoretisch ableiten, medienarchäologisch unterfüttern und unter Bezug auf den noch unzureichenden Forschungsstand skizzieren – die Beobachtung, Begleitung und Reflexion der Verschaltung des Digitalen mit dem Analogen. Es bleibt ihnen die Beobachtung, Begleitung und Refle-xion von Komplexität. Das Feld, auf dem wir versuchen, diese These zu entfalten, ist das Feld der Kommunikationstheorie, verstanden als Theorie ungeplanter und unzuverlässiger Effekte der Vernetzung autonomer Agenten und Agenturen. Auf diesem Feld, das ist die Herausforderung jeder Theorie der Digitalisierung, spielen intelligente Maschinen eine Rolle der Teilnahme an Kommunikation, die noch vor kurzem nur Menschen zugestanden worden wäre. Aber es darf daran erinnert werden, dass vor der Humanisierung der Gesell-schaft durch die Aufklärung auch Geistern und Göttern, Tieren und Pflanzen diese Rolle zugestanden worden war. Freilich fiel es einst leichter, diese Rolle weit zu fassen, weil man noch nicht gezwungen war, darüber nachzudenken, was man unter Kommunikation ver-standen wissen wollte. Heute sind wir gezwungen, darüber nachzudenken, weil wir das

R. Gläß, B. Leukert (Hrsg.), Handel 4.0, DOI 10.1007/978-3-662-53332-1_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

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Gefühl haben, an Kommunikation nicht mehr alleine beteiligt zu sein. Und siehe da, dabei kommen nicht nur „unsichtbare“ Maschinen in den Blick, sondern es wird auch die Aus-treibung der Geister und Götter, der Tiere und Pflanzen, ja sogar mancher Rituale, Praktiken und Artefakte zum Thema, die uns einst durchaus etwas zu sagen hatten.

1.2 Digital, analog, komplex

WatzlaWiCk, Beavin und JaCkson haben den interessanten Vorschlag gemacht, der Digi-talkommunikation mit ihrem 0/1-Code und damit Alles-oder-Nichts-Charakter (Boole 1958), die in einer willkürlichen, also gestaltbaren Beziehung zum Gegenstand steht, eine Analogkommunikation gegenüberzustellen, die nichtbeliebige Ähnlichkeiten zwischen Kommunikation und Gegenstand etabliert und aufrechterhält (Watzlawick/Beavin/Jackson 1969, S. 61ff.). Und sie haben hinzugefügt, dass die Digitalkommunikation dank ihrer expliziten Verfügung über Möglichkeiten der Negation zum Aufbau einer nahezu beliebig komplexen (besser: konnektiven) Syntax fähig ist, während die Analogkommunikation an die Stelle von Negation, über die sie nicht verfügt, die Widersprüchlichkeit setzt (also die Komplexität). Tränen der Freude und Tränen des Schmerzes, das Lächeln der Sympathie und das Lächeln der Verachtung, die geballte Faust der Drohung und die geballte Faust der Selbstbeherrschung sind Beispiele einer Analogkommunikation (ebd., S. 66), die an die Stelle einer errechenbaren Schlussfolgerung die Entscheidung eines Beobachters setzt. Diese Entscheidung ist nicht errechenbar, sondern unbestimmt und deswegen in der Lage, Geschichte zu schreiben, im Kleinen und im Großen. Ist diese Analogkommunikation die Domäne des Menschen im digitalen Zeitalter?

Die digitalen Rechner sind (noch) ebenso sehr ein Produkt des menschlichen Intellekts wie es die Analogkommunikation ist, die dieser Intellekt den Rechnern entgegensetzt. Und beides verdankt sich einer nicht zuletzt auch sozialen Intelligenz, die mit einer unbestimm-ten Freiheit der Teilnehmer an Kommunikation, mit autonomen, aber beeinflussbaren Ent-scheidungen genauso gut rechnen kann wie mit den deduktiven und induktiven Ketten präziser Präpositionen. Das Problem ist nur, dass wir verschiedene Formen des Rechnens mit großen Titeln wie „Natur“, „Kultur“, „Technik“, „Ethik“, „Mensch“ und „Gesellschaft“ so scheinbar eindeutig benannt haben, dass wir nicht mehr wissen, dass es sich jeweils um Formen des Rechnens, der Kommunikation, der Komplexität handelt. Deswegen stellt uns die „Digitalisierung“ vor die Herausforderung, so viel „Theorie“ zu produzieren, dass wir die traditionellen Kategorien zur Beschreibung der Lage des Menschen wieder in Fragen übersetzen können, auf die wir neue Antworten suchen können.

Aber kann es sein, dass wir, um die Einführung digitaler Produktionsverfahren, neuer Steuerungstechnologien, elektronischer Überwachungstechniken, konnektiver Algorith-men, ungeordneter Datenspeicher, der Internetrecherche, der Blogosphäre, der Big-Data-Versprechen usw. zu verstehen, die Frage nach dem Menschen und seiner Gesellschaft aufwerfen müssen? Kann es sein, dass Handel 2.0, Industrie 4.0, das Cyberspace und das Internet der Dinge uns nicht nur ingenieurwissenschaftlich, sondern auch sozialtheoretisch

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5Wie verändert die Digitalisierung unser Denken und unseren Umgang mit der Welt? 5

und philosophisch herausfordern? Von luhmann stammt die Beobachtung, dass der Bild-schirm des Computers eine Oberfläche darstellt, die mit der undurchschaubaren Tiefe un-sichtbarer Maschinen auf eine ähnliche Weise konfrontiert, wie es früher nur die Oberfläche magischer Ornamente mit der Tiefe religiöser Transzendenz vermochte (Luhmann 1997, S. 304). Die Faszination der Programmierer und Codierer, immer wieder neue Vorgänge zu automatisieren, ist ebenso wenig Zufall wie der Suchteffekt, den wir im Umgang mit un-seren Accounts in den Sozialen Netzwerken erfahren, oder das Auftauchen verführerisch leuchtender angebissener Äpfel auf den Performancebühnen und Elektronikfestivals dieser Welt. Hier passiert etwas mit uns. Und dem versuche ich im Folgenden etwas nachzugehen.

Etwas Theorie und der eine oder andere Ausflug in die Geschichte der Menschheit sind dabei nicht zu vermeiden. Wir begreifen, das wäre meine soziologisch und kulturwissen-schaftlich informierte Ausgangshypothese, nur dann etwas von der Digitalisierung, die sich längst und praktisch gut vertraut unter unseren Augen abspielt, wenn wir sie im Kontext früherer Medienepochen beobachten. Wir benötigen eine auch historische Distanz, um uns aktuellen Phänomenen nähern zu können. Das kann hier nur in einer groben Skizze gesche-hen, die das Thema nicht erschöpft, sondern für den Typ von Fragestellung wirbt, der weitere Forschung anregen kann. Wir sagen auch nicht, dass die Einführung elektronischer Medien dasselbe sei wie die Einführung von Sprache, Schrift und Buchdruck. Aber wir vermuten, dass sich im Zusammenhang komplexer Beziehungen zwischen Mensch, Ge-sellschaft, Technik und Kultur im Fall der Einführung und Durchsetzung dieser vier Ver-breitungsmedien der Kommunikation ähnlich weitreichende Fragen stellen lassen. Deswe-gen konzentrieren wir uns hier darauf, diesen Typ von Frage vorzustellen und ein wenig einzuüben. Weiteres muss folgen.

1.3 Kurze Einführung in eine Archäologie der Medienepochen

Wir starten mit einer einfachen Hypothese: Probleme der Digitalisierung entstehen daraus, dass elektronische Medien der Gesell-

schaft an der Schnittstelle von Mensch und Maschine einen Überschusssinn bereitstellen, auf dessen Bearbeitung bisherige Formen der Gesellschaft strukturell und kulturell nicht vorbereitet sind.

Mit der Idee und dem Begriff des „Überschusssinns“ folgen wir einem Vorschlag von luhmann (1997, S. 405ff.), verschiedene Formen der Gesellschaft unter dem Gesichts-punkt jeweils dominanter Verbreitungsmedien der Kommunikation zu beobachten und in diesem Sinne, wie in den Kulturwissenschaften inzwischen weitgehend üblich (McLuhan 1964), zwischen der tribalen, der antiken, der modernen und einer nächsten Gesellschaft zu unterscheiden, in denen zunächst die Sprache, dann die Schrift, dann der Buchdruck und schließlich die elektronischen Medien jeweils dominant sind. Jedes in der Evolution der Gesellschaft neu auftretende Verbreitungsmedium der Gesellschaft attrahiert neue Mög-lichkeiten der Kommunikation, das heißt des Erreichens und Verstehens neuer Kreise von Adressaten, und bedroht damit die bisherige Struktur und Kultur, die bisherigen Institutio-

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6 Dirk Baecker6

nen, Konventionen und Routinen, die auf die Modalitäten der älteren Verbreitungsmedien eingestellt sind.

So produziert die Sprache einen Überschusssinn, der über die Wahrnehmung von Kör-pern, Gesten, Bewegungen und allenfalls einigen Warn- und Trostlauten hinausgeht, und die Menschheit mit dem Drama konfrontiert, zwischen Wort und Sache unterscheiden lernen zu müssen, um eine Sprache inklusive ihrer Möglichkeit der Lüge überhaupt hand-haben zu können. Der Bewältigung des Referenzproblems der Sprache (Deacon 1997) inklusive der Einführung von Moral und Geheimnis zur Kontrolle der Frage, wer mit wem worüber reden darf, und zur Markierung dessen, worüber nicht gesprochen werden darf, verdankt die tribale Gesellschaft ihre Entstehung (Luhmann 1997, S. 230ff.).

In eine weitere Medienepoche treten die Menschheit und ihre Gesellschaft (oder sollte man sagen: die Gesellschaft und ihre Menschheit?) in dem Moment ein, in dem zunächst die Schrift und dann die alphabetische Schrift einen neuen Überschusssinn produzieren, indem sie die Zeithorizonte der Gesellschaft explodieren lassen. Die Schrift ermöglicht kontrollierbare Zugriffe auf eine differenzierbare Vergangenheit und korrigierbare Zugrif-fe auf eine noch offene Zukunft, und beides in einer Gegenwart, die beides aushalten können muss. Schriftgesellschaften sind deswegen historische und – wegen ihres reflexi-ven, das heißt laufend überprüften Umgangs mit Mythen – „heiße“ Gesellschaften (Lévi-Strauss 1968). Die Schrift erschließt als lineare und offene Perspektiven eine Vergangenheit und eine Zukunft, die zuvor in der ewigen Wiederkehr der Erinnerung an die Ahnen zirku-lär verschlossen waren. Die in einem variierbaren Gedächtnis und in variierbaren Plänen enthaltene Komplexität der Gesellschaft wird durch Stratifikation aufgefangen, die es er-laubt, unterschiedlichen Sozialschichten die Orientierung an unterschiedlichen Zeithori-zonten zuzuordnen. Heterochronotopien sind der Gewinn dieser Lage, doch der Preis dafür ist die Einrichtung von „Herrschaft“ und damit die Installation asymmetrisierender Beob-achtung zweiter Ordnung, die die Gesellschaft in der Möglichkeit der Rebellion gegen die Verhältnisse instabil stabilisiert: Hegels „Herr“, nicht nur beobachtet, sondern bestimmt durch den „Knecht“, der die Verhältnisse durchschaut, während der Herr sie nur sicherstellt (Hegel 1807, S. 150f.).

Jede dieser Medienepochen ist durch einen Überschusssinn gekennzeichnet, der die vorherige Ordnung bedroht und nur in einer neuen Ordnung aufgefangen werden kann. Andernfalls müsste die Gesellschaft Mittel und Wege finden, das jeweilige neue Verbrei-tungsmedium der Kommunikation abzulehnen. Tatsächlich begleitet der Versuch der Ab-lehnung die Einführung jedes neuen Verbreitungsmediums. Seit der Einführung der Schrift gibt es dafür Beispiele in Hülle und Fülle. Dass Kommunikation „entkörpert“ (so der nicht zufällige Ausdruck), gilt nicht erst seit der Einführung und Durchsetzung der neuen elekt-ronischen Kommunikationsmedien oder des Buchdrucks (zu dieser Annahme scheint Pe-ters 1999 zu neigen), sondern seit der Einführung der Schrift und bereits der Sprache, auch wenn die Reaktion der Gesellschaft auf die Sprache aus naheliegenden Gründen nicht dokumentiert ist. Wir können im Nachhinein nur versuchen, die magische, mythologische und streng topographische Ordnung der Stammesgesellschaft, die uns die ethnologische und anthropologische Literatur überliefert, auf das Problem der Bewältigung von Über-

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schusssinn abzubilden, dessen Lösung sie vermutlich sind. Dieser Mangel an Dokumenta-tion ändert sich mit dem Auftreten der Schrift, deren Ablehnung etwa durch die Akademie Platons gut nachlesbar ist (Havelock 1963): Man schaut auf Ägypten, befürchtet ein Erkal-ten des Gemüts im Medium der bürokratisch verschriftlichten Kommunikation und setzt dagegen das lebendige Gespräch der mit Herz und Verstand in ihrer jeweiligen Gegenwart engagierten Menschen (vgl. Luckmann 1984).

Daraus wird ein Topos, der medien- und kulturkritisch bis heute wiederholt wird. Ent-scheidend ist jedoch, dass die Ablehnung neu auftretender Medien ihrerseits eine Form der Beobachtung ihrer möglichen Konsequenzen und damit eine Form der Entdeckung mögli-chen Nutzens ist, auch wenn man diesen dann nur realisieren kann, indem man die Ableh-nung überwindet und gegen Strukturen der Gesellschaft verstößt. Die Medienevolution der Gesellschaft findet im Medium der Ablehnung von Medieninnovationen statt. Disruptiv ist zum Zeitpunkt seines Auftretens jedes dieser Medien. Die von Ökonomen nachgewiesene Senkung von Transaktionskosten überzeugt immer nur die einen und bedroht die anderen, deren Renten (im Sinne von David Ricardo) von der Ausbeutung der Transaktionskosten abhängen. Es hängt von technisch ebenso wie sozial findigen Innovationen ab, ob es ge-lingt, den Gebrauch eines neuen Mediums in zunächst möglicherweise marginalen, dann zunehmend zentralen Bereichen der Gesellschaft zu verankern.

Dasselbe gilt für die moderne Buchdruckgesellschaft, die gegen jede Autorität verstößt, die die Schriftgesellschaft im Umgang mit den Quellen und den Hierarchien mühsam genug zu einer eindrucksvoll geschlossenen Kosmologie aufgebaut hat. Dass man sich auf dieses Teufelswerk der beweglichen Lettern (im Gegensatz zu Hand und Sinn der abschreibenden Mönche, die ihre Kopierarbeit mit Leib und Seele als Gottesdienst verstehen konnten) und der Massenproduktion von Texten eingelassen hat, konnte zunächst nur dadurch gerecht-fertigt werden, dass man vorgab, nur die Bibel massenhaft reproduzieren zu wollen und mit ihr die Erde so zu wässern, wie es sich Gott nicht besser wünschen konnte (Giesecke 1991). Der Buchdruck galt als Maschine der Kommunikation, das heißt Verbreitung (lat. commu-nicare: „gemein machen“) der Bibel und weiterer gottesfürchtiger Literatur; und niemand ahnte, dass das religiöse Angebot nicht ausreichen würde, den Nachschub für die Druck-maschinen sicherzustellen, die mit einem erheblichen Kapitalaufwand (ein wichtiger Im-puls für eine allererste industrielle Revolution) in Betrieb genommen worden waren. Der Humanismus, die Aufklärung und der Gedanke einer Bildung für alle inklusive der dafür erforderlichen Alphabetisierung kamen gerade recht, den fehlenden Content nachzuliefern und rezipierbar zu machen.

Auch hier jedoch unterscheiden sich die Absichten und Akzeptanzbedingungen der Einführung einer Technologie dramatisch von den tatsächlichen Folgen (Bijker/Hughes/Pinch 1987). Die moderne Gesellschaft benötigte vierhundert Jahre, abgeschlossen erst in luhmanns Theorie der modernen Gesellschaft (Luhmann 1997), um ihre eigene Funktio-nalität nicht mehr nur im Modus einer Rationalität zu begreifen, die die Ontologie und Metaphysik der Antike allenfalls um eine neue Sachordnung ergänzte (Rombach 1965). Tatsächlich besteht der neue Überschusssinn der modernen Gesellschaft nicht nur in Auf-klärung, Vernunft und Bildung, sondern darin, dass, einmal alphabetisiert, liberalisiert,

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individualisiert und privatisiert (siehe den vielbesprochenen Effekt des stillen Lesens, in dem ein Individuum erstmals sein eigenes Bewusstsein erfährt), jeder jederzeit alles lesen und jeden anderen vor dem Hintergrund des Gelesenen, aber nur schwer zu Überprüfenden kritisieren kann. Die Kritik dynamisiert die Kommunikation der Gesellschaft. Aufklärung, Vernunft und Bildung sind streng genommen bereits Sekundärinnovationen, die diese re-gelrecht wildgewordene Kritik in geordnete Bahnen zu lenken haben.

Aber es ist zu spät. Die großartige Idee von kant, dass man die Kritik kanalisieren kann, indem man darauf achtet, dass von der Vernunft nur öffentlicher Gebrauch zu machen ist (auf dass die Aussage eines Gelehrten vor Publikum immer von einem zweiten kontrolliert werde; Kant 1783), unterstellt dort eine Kontrolle der Kommunikation durch die Interak-tion (immerhin: nicht mehr durch die Stratifikation), wo sich längst die Funktionssysteme Politik, Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst und Wissenschaft sowie Organisationssysteme wie Behörden, Unternehmen, Gerichte, Kirchen, Armeen und Universitäten ausdifferen-ziert haben, die sich weder durch Interaktion noch durch Schrift kontrollieren lassen, son-dern eigenen Regeln (auch „Bürokratie“ genannt; vgl. Baecker 2004) der Ermutigung und Entmutigung von Kritik folgen. Die moderne Gesellschaft wird zur Gesellschaft im Modus der Kritik an sich selbst, kontrolliert durch Formen der Differenzierung, die Stichworte wie Demokratie, Marktwirtschaft, Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Ästhetik und Methode dazu nutzen, um Kritik in den jeweiligen Funktionssystemen hochspezifisch und streng selektiv produktiv werden zu lassen.

Begleitet wird diese Formatierung von Kritik durch eine Individualisierung, die nicht mehr durch Geburt, Herkunft, Familie und Schicht, sondern durch Medien wie Macht, Geld, Glauben, Schönheit und Wahrheit sozial bindet und so ein bisher noch nie gesehenes Maß an loser Kopplung und selbstreferentieller Unruhe in die Gesellschaft einführt (Par-sons 1980). Einfluss bekommt, wer mit diesen Medien kompetent umgehen kann. Herr-schaft ist darauf jedoch nur zu begründen, wenn Organisation zu Hilfe kommt. Denn nur die Organisation kann über Entscheidungen dort exkludieren, wo die Gesellschaft seit der Französischen Revolution programmatisch allen offenstehen, das heißt jedes Individuum zumindest prinzipiell in jedes Funktionssystem inkludieren muss (Stichweh 2005; Bohn 2006).

Und all dies, so unsere Hypothese, muss man wissen, wenn man beobachten will, wie sich „die“ Gesellschaft seit einigen Jahrzehnten auf elektronische Medien einstellt? Ja, ich denke schon. Und die Begründung dafür ist eine doppelte. Zum einen lassen sich die Ein-führung von Sprache, Schrift und Buchdruck als Vergleichsfolien nutzen, um die Komple-xität einer Gesellschaft in der Abstimmung mit Körper, Bewusstsein und natürlicher Um-welt zu studieren, für deren Modalität die Stichworte Struktur, Kultur, Natur und Technik nur Anhaltspunkte für eine Forschung liefern, die in der Lage sein muss, jede bis dato für stabil gehaltene Unterscheidung zu dekonstruieren, das heißt in den Modus ihrer Reflexion zu versetzen (Latour 1998). Und zum anderen sind alle bisherigen Lösungen für die Prob-leme, die neue Kommunikationsmedien aufwerfen, nicht etwa obsolet, sobald neue Kom-munikationsmedien auftreten, sondern bleiben zusammen mit den Problemen, die sie lösen, weiterhin relevant. Die elektronischen Medien variieren das Referenzproblem der Sprache,

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das Zeitproblem der Schrift und das Kritikproblem des Buchdrucks, aber sie schaffen sie nicht ab. Wir müssen demnach mit evolutionären Lösungen für komplexe Problemlagen im Kontext weiterhin gültiger Problemlagen und ihrer mühsam erstrittenen Lösungen rech-nen. Eine Kenntnis der Medienepochen der Gesellschaft ist dazu nicht viel mehr als ein erster Zugang, der mit seiner Konzentration auf vier und nur vier Medienepochen zwar kulturwissenschaftlich bewährt, aber historisch eher holzschnittartig verfährt.

Und Überschusssinn, auch das wäre in Rechnung zu stellen, tritt im Kontext nicht nur neuer Verbreitungsmedien, sondern auch neuer Erfolgsmedien auf. Ebenso nichttrivial wie auf die Sprache, die Schrift, den Buchdruck und die elektronischen Medien reagiert die Gesellschaft auch auf die Macht, das Geld, die Wahrheit, den Glauben und die Kunst. Man wagt sich kaum vorzustellen, welche Aufgaben die soziologische Theorie zu bewältigen hat, um in der Abstimmung mit Kulturtheorie, Medientheorie, Techniktheorie und Gesell-schaftstheorie zunächst nicht viel mehr als den Sinn für nichttriviale Lösungen komplexer Medienlagen in der Evolution der Gesellschaft zu schärfen (Baecker 2014).

1.4 Struktur und Kultur der Gesellschaft im Medium ihrer Medien

Die Dominanz eines Mediums schließt die Existenz anderer Medien nicht aus, sondern ein, so dass die Probleme, die angesichts neuer Medien zu lösen sind, die Lösung der Probleme alter Medien voraussetzt und mitführt, aber auch in Frage stellen kann. Wir sprechen von einer „Medienarchäologie“, um bestimmte Phänomene der Gesellschaft als Produkt über-einander geschichteter Formen der Bewältigung alter und neuer Medienprobleme beobach-ten und beschreiben zu können (Baecker 2007a). Nach dem Vorschlag von FouCault wird „Archäologie“ hier nicht mehr als Wissenschaft der stummen Monumente verstanden, sondern als eine Wissenschaft, die Serien der Konstruktion lebendiger Phänomene in der Kontinuität und Diskontinuität ihrer Geschichte nachgeht (Foucault 1969). So ist die Uni-versität, um ein Beispiel zu wählen, das strukturelle und kulturelle Produkt der Auseinan-dersetzung mit den Möglichkeiten der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks und muss sich nun, vor diesem Hintergrund und mit diesen Erfahrungen, mit den Möglichkeiten der elektronischen Medien auseinandersetzen (vgl. Baecker 2007a, S. 98–115). Man spricht miteinander, man macht sich Notizen, man publiziert und man vernetzt sich elektronisch, um die Resonanz auf Themen, Kollegen und Agenden zu kontrollieren. Die Auseinander-setzung mit neuen Möglichkeiten zwingt dazu, alte Erfahrungen als solche zu reflektieren und das Verhältnis der Kommunikation in den verschiedenen Medien neu zu justieren. Verschiedene Experimente dienen dazu, sich alter Erfahrungen zum einen zu vergewissern und sie zum anderen zugunsten neuer Erfahrungen zu variieren. Die Ablehnung neuer Medien und ihrer Möglichkeiten ist hierbei ebenso wichtig wie ein möglicherweise zu ra-sches Verständnis und Ausprobieren, weil beides in Theorie und Praxis, Forschung und Design, Kritik und Affirmation das Material bereitstellt, dessen man bedarf, um den struk-turellen und kulturellen Wandel der Gesellschaft zu bewältigen.

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„Überschusssinn“ bedeutet jeweils, dass ein Medium der Kommunikation mehr Mög-lichkeiten der Kommunikation bereitstellt, als je aktuell wahrgenommen werden können. Jede neue Medienepoche muss sich auf diesen Überschusssinn erst einstellen. Und „Ein-stellen“ heißt nicht, dass der Überschusssinn verschwindet; sondern es heißt, dass Formen bereitstehen, eben eine Struktur und eine Kultur der Gesellschaft, in denen er aufgegriffen und reduziert werden kann, ohne ihn als solchen zum Verschwinden zu bringen. Im Gegen-teil. Jede neue Struktur und Kultur einer neuen Medienepoche misst sich eben daran, dass sie den Überschusssinn aushält den das Medium trägt, indem sie mit diesem Überschuss-sinn konstruktiv, das heißt ebenso routiniert wie innovativ, umgehen. Das gilt für Verbrei-tungsmedien der Kommunikation wie die Schrift, den Buchdruck, die Massenmedien und die elektronischen Medien ebenso wie für sogenannte Erfolgsmedien der Kommunikation wie das Geld, die Macht, die Wahrheit, das Recht, die Kunst oder die Liebe. Die Folgen der Monetarisierung, der Demokratisierung, der Methodologisierung, der Justifizierung, der Ästhetisierung und der Passionierung sind nicht in dem Moment bewältigt, in dem diesen Prozessen Einhalt geboten werden kann, sondern in dem Moment, in dem sie im Medium ihrer Eingrenzung entfaltet werden können.

Und ja, das setzt voraus, die Gesellschaft als eine Form im Medium ihrer Medien zu begreifen und den Medienbegriff entsprechend zu justieren. heider hat nicht zufällig für den Fall von Medien der Wahrnehmung (nämlich orientiert an neuartigen Einsichten zur Komplexität von Organismus, Gehirn und Bewusstsein) dazu einen wichtigen Vorschlag gemacht (Heider 1926), dem wir hier jedoch nicht weiter nachgehen können (vgl. Baecker 2005, S. 175ff.).

Und es gilt strukturell wie kulturell. Strukturell muss es eine Gesellschaft aushalten, dass in anderen Situationen andere Möglichkeiten wahrgenommen werden als in der je aktuellen Situation, das heißt strukturell muss die Gesellschaft die Verteilung der Kommunikation sicherstellen. Während die einen zahlen, üben andere Macht aus, lesen Dritte still einen Roman und züchten wieder andere gefährliche Bakterien in Reagenzgläsern. Während die einen an wissenschaftlichen Texten arbeiten, schauen die anderen Fernsehen und hadern die Dritten mit ihrer Liebe. Eine Gesellschaft muss für diese Verteiltheit, die entsprechende Diversität und Heterogenität, die allenfalls fallweise Synchronisation und den allenfalls lockeren Zusammenhang des Ganzen einen Sinn haben, einen Sinn für den Überschusssinn, der je aktuell reduziert werden muss, andernorts und gleich anschließend jedoch unredu-ziert und damit überfordernd zur Verfügung steht (Luhmann 1971).

Dasselbe gilt kulturell. Kulturell muss eine Gesellschaft in der Lage sein, den Partiku-larsinn einer Situation mit dem Partikularsinn einer anderen Situation in ein Verhältnis zu setzen, einen Zusammenhang zu sehen (der ein Zusammenhang der Differenz sein kann), eine Einheit des Verschiedenen zu erkennen, eine Verdichtung herzustellen. Und wenn wir hier von einem „Müssen“ sprechen, so ist damit die These gemeint, dass die Gesellschaft dieses Problem bereits gelöst hat, auch wenn die Theorie damit überfordert sein mag, her-auszufinden, worin die Lösung besteht. Die Arbeit der Theorie besteht darin, nach funkti-onalen Anforderungen zu suchen, die die Praxis bereits erfüllt hat. Das ist in der Kulturthe-orie nicht anders als in anderen Wissenschaften (Malinowski 1944). Und die für den Kul-

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turbegriff typische Diffusität weist darauf hin, dass die Problemstellung ungewöhnlich komplex ist (Luhmann 1995; Baecker 2001a und 2001b). luhmann schlägt vor, von „Kul-turformen“ im Umgang mit dem Überschusssinn verschiedener Medienepochen der Ge-sellschaft zu reden und anzunehmen, dass die Kulturform der antiken Gesellschaft das aristotelische Telos und der modernen Gesellschaft die cartesianisch unruhige Selbstrefe-renz ist (Luhmann 1997, S. 410f.). Zur tribalen Gesellschaft äußert er sich in diesem Zu-sammenhang nicht und für die nächste Gesellschaft sind wir noch auf der Suche nach einer passenden Kulturform (Baecker 2001c). Ein möglicher Kandidat ist die Idee der Komple-xität (Cilliers 1998).

Die Kulturform der tribalen Gesellschaft ist möglicherweise die Grenze (Leach 1979), das heißt die Vorstellung, dass man Kommunikation unter Männern, unter Frauen, unter Kindern, mit Schamamen, Geistern und Tieren verschiedenen Orten zuweisen kann, um ihre referentiellen Effekte kontrollieren, aber, wie gesagt, auch ausbeuten zu können. Dann darf man unter Männern sagen, was man unter Frauen nicht sagen darf, aber es dürfen auch die Frauen sich darüber lustig machen, was für die Männer bitterer Ernst ist (Hegel 1807, S. 352f.). Dafür spricht im ethnologischen Material vieles; und dafür spricht auch, dass wir noch heute einen ausgeprägten Sinn dafür haben, welcher Tonfall wem gegenüber an wel-chen Orten „angemessen“ ist, wer wen zuerst anspricht, wer wie lange spricht, wer das Thema wechseln darf und wer nicht usw. Wir tragen die Grenzen der Kommunizierbarkeit nicht nur mit uns herum, sondern wir respektieren sie, reagieren auf ihre Verletzung mit Verlegenheit und haben eigene Techniken, mit dieser Verlegenheit wiederum umzugehen (Goffman 1956).

Auf den Überschusssinn der Schrift, der auch als ein Symbolüberschuss verstanden werden kann, der vergangene und zukünftige Referenzen in einer jeweiligen Gegenwart zur Geltung bringt und damit die alten Kontrolltechniken der Verständigung von Angesicht zu Angesicht („Interaktion“) überfordert, reagiert, so Luhmann, Aristoteles in der Ausein-andersetzung mit der Frage, ob es in der Vernunft ein „unbegrenztes Fortschreiten“ geben könne (Aristoteles 1970, 994b), mit der Einführung des Konzepts des Telos (telos, griech. für „Ziel“, aber auch: „angemessener Platz“). Dieses Konzept ermöglicht es, jedes kom-munikative Angebot unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob es mit bisherigen Absichten und Ordnungen (durchaus in deren Ambivalenz) abgestimmt ist oder nicht. Diese Teleolo-gie, die es nach den Vorstellungen von Aristoteles ermöglicht, unendlichen Reihen von Ursachen (eine Folge der explodierenden Zeithorizonte) Grenzen gegenüberzustellen, an denen sich Ideen des Guten, des Vernünftigen und auch der Erkenntnis festmachen lassen (Aristoteles 1970, 994), ist nur im Rahmen einer Kosmologie möglich, die jeder Psyche, jedem Oikos und jeder Polis einen angemessenen, wenn auch unter den Bedingungen sub-lunarer Verhältnisse korrumpierbaren und daher immer wieder neu zu perfektionierenden Platz zuweist. Diese Teleologie ist zu jedem Zeitpunkt nicht nur diskutierbar und damit der Rahmen für die Suche nach neuen Zwecken und neuen Mitteln, so sie nur als „passend“, das heißt der Perfektion des Menschen, seines Hauses und seiner Stadt dienend, dargestellt werden können (das Tummelfeld der Dialektik und Sophistik, nur mühsam kontrolliert von der Philosophie). Sondern sie wird in der Naturforschung, wie nicht zuletzt Aristoteles, der

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anerkannte Delfinexperte seiner Zeit, gezeigt hat, auch außerordentlich produktiv. Denn sie erlaubt es, jede neue Idee daraufhin zu prüfen, ob sie passt oder nicht. Sie erlaubt es, Argu-mente zu finden, die für sie sprechen, und Argumente, die gegen sie sprechen. Platons Formenlehre versucht, die Ideen vor diesem Schicksal der laufenden Neuprüfung zu be-wahren, arbeitet dieser Prüfung in Wahrheit jedoch nur zu (und gesteht dieses esoterisch, hinter den verschlossenen Türen der Akademie, durch die Anerkennung einer unbestimm-ten Zweiheit neben jeder Eins offenbar auch zu, vgl. Oehler 1969). Beides, die Annahme und die Ablehnung, muss jeweils möglich sein; mit Kulturformen, die nach platonischen Vorstellungen zur Kunst die Verhältnisse nur zu preisen erlauben, kann man nicht arbeiten. Sinn kann nur stabilisiert werden, wenn er auch abgelehnt werden und sich dagegen profi-lieren kann.

Mit den Nachwirkungen teleologischer Vorstellungen haben wir es bis heute ebenso zu tun wie mit Angemessenheitsvorstellungen für seine Grenzen wahrende Kommunikation (Steinfeld 1991). Nach wie vor funktionieren zum Beispiel weder die Neurowissenschaften noch die Betriebswirtschaftslehre (die beiden Leitwissenschaften der vergangenen Jahr-zehnte, auch das vermutlich kein Zufall) ohne die Annahme zielgeleiteten Handelns, so sehr die Evolutionstheorie auch dafürsprechen mag, dass sich Handeln eher im Rahmen eines Begriffs der Drift als der Zielorientierung beschreiben lässt. Auch das ist ein Beleg dafür, dass die Medienepochen sich überlagern und nicht verdrängen. Wir haben es mit einer prinzipiellen und extremen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu tun. Vermutlich ist selbst die menschliche Konstitution allenfalls schräg in diese Ungleichzeitigkeit einge-lassen. Während unsere praktische Intelligenz sich relativ rasch auf die neuen Verhältnisse der je aktuellen Medienepoche einlässt, denken wir in den Begriffen der vorherigen und fühlen wir in den Konzepten und Perzepten (Deleuze 1993, S. 197ff.) der vorvorherigen Epoche. So ist unser Gemüt gegenwärtig aristotelisch gestimmt; noch immer geben wir die Suche nach dem richtigen Platz für uns in unserem Leben nicht auf. Gleichzeitig denken wir durchaus modern in Begriffen einer selbstreferentiell unruhigen Vernunft; wir wechseln unsere Meinungen so, wie es montaigne archetypisch für das moderne Individuum in seinen Essais beschrieben hat (Montaigne 1580, insbes. in der „Apologie des Raimundus Sebundus“, S. 217–300). Aber weder fühlen wir uns in dieser Welt der elektronischen Medien wohl noch haben wir die Begriffe, sie zu verstehen. Praktisch jedoch bewegen wir uns in ihrem ebenfalls nicht zufällig so genannten „Flow“ wie die Fische im Wasser (zur Kategorie des „Flow“: Csikszentmihaly 1996; und für ein Beispiel Knorr Cetina 2005).

Zur Kulturform einer Gesellschaft, die die moderne Gesellschaft nach der These einer „nächsten Gesellschaft“ (Drucker 2002), die wir hier verfolgen, bereits beerbt hat, finden sich bei Luhmann keine so deutlichen Festlegungen wie im Fall der antiken und modernen Gesellschaft. Das ganze Thema ist bei ihm nicht nur durch Skepsis gegenüber der Mög-lichkeit einer Kulturtheorie, sondern auch durch eine Ironie gegenüber dieser Art von Epochenunterscheidungen gerahmt (siehe auch Luhmann 1985; vgl. Gehring 2012 zum Interesse an „Archäologie“; und Jäger 2004 zur Kritik der Unterscheidung von Medienepo-chen). Diese Rahmung geschieht dadurch, dass er – untypisch für sein Arbeiten – für die beiden Kulturformen der antiken und modernen Gesellschaft nicht nur Autorennamen,

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sondern sogar Namen „großer“ Autoren nennt: aristoteles und desCartes. Üblicherwei-se verlässt sich luhmann für seine Semantikstudien eher auf unbekanntere Autoren, die ohne das Bedürfnis einer preiswürdigen Abweichung gleichsam näher am Puls ihrer zeitgenössischen Diskurse arbeiten und daher eher als Belege für gesellschaftsstrukturelle Trends gelten können.

Immerhin gibt luhmann zur Kulturform einer nicht mehr modernen Gesellschaft den Hinweis, dass sie dem Überschusssinn mitrechnender Computer, der Beschleunigung ent-sprechender Kontrolloperationen und den gegenüber Schriftrollen, Bibliotheken, Archiven und Katalogen ein weiteres Mal gesteigerten Gedächtnisleistungen, an denen sich alle In-formationen messen lassen muss, gewachsen sein muss (Luhmann 1997, S. 411f.). Die Hypothese einer Epochenschwelle entscheidet sich daran, ob die Einführung elektronischer Medien auf demselben evolutionären Niveau abgehandelt werden kann wie die Einführung von Schrift und Buchdruck oder nicht. luhmanns Würdigung der elektronischen Medien in der Parallele zur Schrift und zum Buchdruck spricht hier eine deutliche Sprache (ebd., S. 302ff.; vgl. Baecker 2007b). Aber welches Konzept käme für eine Kulturform der nächsten Gesellschaft in Frage? Und wer wäre, wenn man das Spiel der „großen“ Autoren weiterspielen will, ihr Autor? Die Preisfrage, die man in diesem Sinne ausschreiben könn-te und die ich auch bereits ausgeschrieben habe (Baecker 2001c), ist bis heute nicht beant-wortet. Weavers Komplexität, Shannons Information, Batesons Spiel, Spencer-Browns Form, Luhmanns System?

1.5 Maschinen kommunizieren nicht, noch nicht

Wir arbeiten hier grundsätzlich mit einem Verständnis soziologischer Theorie, das darin besteht, Phänomene einer funktionalen Analyse zu unterziehen und Begriffe dementspre-chend nach ihrer Leistungsfähigkeit im Zusammenhang einer solchen Analyse zu beurtei-len. Und wir arbeiten deskriptiv, nicht normativ, das heißt, wir nehmen an, dass im Gegen-stand Probleme bereits gelöst sind, deren Problemstellung und Lösung durch Beobachtung, Beschreibung und Erklärung („Theorie“) erst noch herausgefunden werden müssen. Selbst „Probleme“, die in der Gesellschaft auftreten und als solche beobachtet werden, sind dann immer schon Lösungen für tieferliegende Probleme. So sind die Probleme der Digitalisie-rung, mit denen wir uns hier beschäftigen, Probleme der Auseinandersetzung mit Phäno-menen der Digitalisierung, auf die die Gesellschaft längst reagiert, wenn und insofern sie sie als Probleme adressiert.

Fraglich ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die Rede von einer „Gesellschaft“ oder von verschiedenen Medienepochen dieser „Gesellschaft“. Unter einer Gesellschaft verstehen wir hier ebenfalls im Anschluss an luhmann nichts anderes als den Zusammen-hang einer Regelung von Fortsetzungsbedingungen der Kommunikation. Substantiv und Singular des Wortes „Gesellschaft“ verweisen nicht auf ein entsprechendes Ding, das sich in der Welt aufweisen und vorzeigen ließe, sondern auf eine Relation, die in der Sachdi-mension Fakten, in der Zeitdimension Ereignisse und in der Sozialdimension Adressen

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miteinander in Beziehung setzt, was immer auch heißt: voneinander unterscheidet. Eine Gesellschaft ist somit nichts anderes als die Spezifik einer Kombinatorik von Fakten, Er-eignissen und Adressen: Wirklichkeit, Evolution und Netzwerk. Und dies ist sie für uns, für die Menschen, die in ihr und mit ihr leben und sie als das konstituieren, was ihnen ihre knüpfbaren und wieder auflösbaren Bindungen untereinander, ihre Beziehungen jeweils steigerbarer Abhängigkeit und Unabhängigkeit erklärt. Wir haben es mit einem operatio-nalen und funktionalen, nicht mit einem substanziellen Begriff der Gesellschaft zu tun. Wir können auch sagen, dass wir es mit einem Kalkül und nicht mit einem Ganzen und seinen Teilen zu tun haben. Ein Kalkül errechnet Fortsetzungsmöglichkeiten, ein Ganzes und seine Teile verführen dazu, nach einer Ordnung zu fragen.

Dieser Kalkül stellt sich auf die jeweiligen Medienkonstellationen ein und wird von neu auftretenden Medien dazu gezwungen, sich umzustellen. Eine Medientheorie der Gesell-schaft erlaubt es dementsprechend, zu beobachten und zu beschreiben, wie es diesem Kalkül gelingt, Fortsetzungsmöglichkeiten der Kommunikation in den verschiedenen Ver-breitungs- und Erfolgsmedien der Gesellschaft zu errechnen. Der Kalkül wird praktisch gehandhabt oder gar nicht; und er wird theoretisch mehr oder minder treffend verstanden und beschrieben oder auch ignoriert. Jede Gesellschaft enthält ihre eigene „Theorie“, inso-fern jede Kommunikation und jede Handlung ohne minimale Schritte der Generalisierung von einer Situation zur nächsten nicht auskommen. Soziologen erforschen dies unter dem Titel einer Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967). Aber keine Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass diese Theorie auch aufgeschrieben wird. Gesellschaft läuft auch ohne eine Soziologie, deren Texte sich um dieses Aufschreiben bemühen (Baecker 2012). Aber will man wissen, was die Praxis schon kann, und will man reflektieren, wie kreativ diese Praxis mit sich selber umgeht und auf welche Fatalitäten sich die Praxis möglicherweise eingelassen hat, braucht man die Soziologie und damit auch den Streit unter den Theorien und Methoden, mit deren Hilfe sie sich reproduziert.

Mit elektronischen Medien – Telegraf, Telefon, Radio, Fernsehen, Computer, Internet – rückt eine Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine in den Blickpunkt, die bisher nicht zu den prominenten Forschungsgegenständen der Soziologie zählt. Medientheorie muss ab jetzt auch Techniktheorie heißen (Rammert 1993). Techniktheorie betrifft jedoch nicht nur elektronische Medien, sondern jede Art von Engführung auf kausal kontrollierte Prozesse. Elektronische Medien sprengen dieses Paradigma bis jetzt noch nicht, obwohl die Komplikationen elektronischer Netze in einem Maße zugenommen haben, die es aus-schließen, von verlässlicher kausaler Kontrolle zu reden. Dennoch sprechen wir noch nicht von einer „komplexen“ Technik oder Technologie, da wir den Begriff der Komplexität für Phänomene reservieren, in denen Zustände und Prozesse der Selbstorganisation auftreten: der Fähigkeit zur Entscheidung im Phänomen für selektive Verknüpfungen dieser oder je-ner Art (siehe zur Entdeckung und zum Begriff der Komplexität Weaver 1948; Morin 1974; Luhmann 1997, S. 134ff.). Allerdings ist der Technikbegriff gerade wegen der Phänomene, die wir in den Blick zu nehmen haben, alles andere als stabil. Längst treten Techniken auf, die Informationen verarbeiten und daher nicht mehr im klassischen Schema der Mechanik verstanden werden können (Günther 1963), und längst reden wir von Kultur-„Techniken“,

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die nicht nur kausale Vereinfachungen einführen und der Kommunikation diese entlastend zur Verfügung stellen, sondern rekursiv und selbstbezüglich mit Symbolen arbeiten (Luh-mann 1997, S. 517ff.; Macho 2008). Kann man annehmen, dass eine Technik, die mecha-nisch im Medium von Kräften realisiert wird, eher analog, und eine Technologie, die im Medium von Elektrizität, also der Wechselseitigkeit positiver und negativer Ladungen (Schelling 1798, S. 528, immerhin schon mit Blick auf Elektrizität, spricht auch hier noch von „Kräften“), eingerichtet wird, eher digital funktioniert?

Umso sinnvoller ist es, die Mensch-Maschine-Schnittstelle in dem Moment, in dem sie von elektronischen Medien reformatiert wird, unter dem Problemgesichtspunkt des Über-schusssinns zu untersuchen. Das ermöglicht uns einen ersten Zugang zum Phänomen der Digitalisierung, da dieses nur dann zureichend konzipiert ist, wenn es auf die Reformatie-rung der Maschine und der Interaktion von Mensch und Maschine gleichermaßen bezogen wird. Digitalisierung, was immer darunter zu verstehen ist, betrifft Maschine, Mensch und Gesellschaft in sicherlich je unterschiedlicher Weise.

Wir haben es immer noch, wenn nicht zunehmend mit der Topologie von Stimmen (tribale Gesellschaft 1.0), der Teleologie verschiedener Korporationen und Dynastien (an-tike Hochkultur 2.0) und der Rationalität unruhiger Funktionssysteme (moderne Gesell-schaft 3.0) zu tun. Aber diesen überlagert sich die Komplexität einer neuen Verschaltung von Mensch und Maschine, Körper, Bewusstsein und Gesellschaft, die im Fadenkreuz analoger und digitaler Verrechnung eher freigesetzt als gezähmt wird (nächste Gesellschaft 4.0). Eine der einfachsten Möglichkeiten, sich dieser Komplexität theoriegeleitet zu nä-hern, besteht darin, sich auf den Kommunikationsbegriff in der Tiefenschärfe einzulassen, die er in der soziologischen Systemtheorie inzwischen erhalten hat. Das klingt komplizier-ter, als es gemeint ist. Gemeint ist dreierlei.

Erstens ist der Kommunikationsbegriff spätestens seit shannon, ruesCh und Bateson allgemein genug formuliert, um nicht nur menschliche Teilnehmer, sondern jede Art von Teilnehmern berücksichtigen zu können, die über eine hinreichende Informationsverarbei-tungsfähigkeit, ein Gedächtnis und die dadurch bedingte Intransparenz und somit insge-samt über jene Art von Subjektivität verfügen, die zur Ablehnung ebenso wie zur Annahme von Kommunikation, beides konditioniert durch die jeweils andere Möglichkeit (das ist die eigentliche Leistung), befähigt (Shannon 1949; Ruesch/Bateson 1951; vgl. Baecker 2011). Es können sich demnach, wenn sie die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen, nicht nur die Geister, Teufel, Tiere und Pflanzen wieder beteiligen, die der Humanismus so erfolg-reich aus der Kommunikation unter Menschen vertrieben hat, sondern auch Maschinen.

Mit dem Rückgriff auf einen soziologischen Kommunikationsbegriff ist zweitens ge-meint, dass man zwischen der Frage, ob Maschinen untereinander kommunizieren können, und der Frage, ob sie sich an Kommunikation beteiligen können, streng unterscheiden kann. Für den Fall der Suche nach einer Sozialtheorie der Digitalisierung haben wir es, so zumindest die Vermutung von luhmann, nur mit dem zweiten Fall zu tun. Ingenieure ge-hen davon aus, dass Maschinen auch untereinander kommunizieren können, da sie unter Kommunikation unter Berufung auf shannon I den Austausch von Signalen verstehen. shannon I ist shannon in seinem Selbstverständnis, der etwa schreibt: „The fundamental

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problem of communication is that of reproducing at one point either exactly or approxi-mately a message selected at another point“ (Shannon 1949, S. 31), ohne darüber Auskunft geben zu können, wer denn, da jeder einzelne sich an verteilter Kommunikation nur betei-ligen kann, diese Übereinstimmung feststellen kann. Wir berufen uns daher auf shannon II. shannon II ist jener shannon, der eine Information als Einheit der Differenz von Nachricht und Auswahlbereich möglicher Nachrichten definiert: „The significant aspect is that the actual message is one selected from a set of possible messages“ (ebd.). Damit wird eine Bedingung der Teilnahme an Kommunikation formuliert, die für jeden einzelnen Teilnehmer unterschiedlich gelten kann, ohne Kommunikation dadurch zu gefährden. Im Gegenteil, sie wird dadurch ebenso erforderlich wie möglich. Unter der Bedingung, nicht von einem technisch definierten, exogen gegebenen (etwa ein Alphabet), sondern von ei-nem sozial konstruierten, endogen variablen, von Kontext, Konstruktion und Interpretation abhängigen Auswahlbereich sprechen zu können (vgl. Baecker 2005 und 2013), gehen wir davon aus, dass Maschinen zu dieser Art von Kommunikation nicht fähig sind. Und warum nicht? Weil sie nicht in der Lage sind, mit Nichtwissen umzugehen: mit dem Wissen, nicht zu wissen, welcher Auswahlbereich für das Verstehen welcher Nachricht der „richtige“ ist (Luhmann 1997, S. 303f.). Erst dann verdient Kommunikation diesen Namen und ist nicht nur Signalaustausch. Man wird sehen, ob und wann der Einbau evolutionärer Algorithmen, einer Fuzzy Logic, von Embedded Systems Designs und anderer Techniken des Umgangs mit Unschärfe und Ungewissheit diese Aussage zu revidieren zwingen.

Und drittens wird dieser Kommunikationsbegriff relational und funktional und nicht etwa intentional formuliert. Dies spätestens lässt viele Leser aus diesen Überlegungen aussteigen. Ein relationaler und funktionaler Kommunikationsbegriff widerspricht einer Sozialisation, die Menschen beigebracht hat, sich intentional an Kommunikation beteiligen zu können und somit Kommunikation auf gewolltes Handeln, möglicherweise unter In-kaufnahme nicht-intendierter Folgen, reduzieren zu können. Wir gehen jedoch mit luh-mann, aber auch mit Bateson, serres und haBermas (deren Ansätze gleichwohl nicht miteinander verwechselt werden dürfen, vgl. Bateson 1972; Serres 1968; Habermas 1981; Luhmann 1984), davon aus, dass der Begriff der Kommunikation eine Relation zwischen hinreichend komplexen und damit relativ (!) unabhängigen Einheiten beschreibt, deren Verhalten als eine Funktion dieser Relation verstanden und beschrieben werden kann, wenn und nur wenn diese Relation ihrerseits eine Funktion der Subjektivität und damit der Ab-lehnbarkeit und Annehmbarkeit durch die Beteiligten ist (im Sinne von Günther 1979).

Ein Verhalten als Funktion einer Relation als Funktion von Subjektivität? Ja, genau. Ein Fall für die Mathematik rekursiver Funktoren (von Foerster 2003). Und wir können es of-fenlassen, ob wir die Kommunikation oder jeden einzelnen Menschen, eine Situation, eine Gruppe, ein Set komplementärer Rollen, eine Institution, ein Spiel (im Sinne von von Neumann/Morgenstern 1944), ein System oder ein Netzwerk als einen Funktor verstehen wollen. Denn letztlich kommt es nur darauf an, die Subjektivität beziehungsweise Selbst-referenz, die die Prozesse der Kommunikation, von denen wir hier reden, nicht-trivial werden lassen, unter allen Beteiligten zirkulieren zu lassen. Diese Nicht-Trivialität ist das Ergebnis des Umstands, dass, hält man sich an die Metapher einer Maschine, neben Trans-

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formationsfunktionen immer auch Zustandsfunktionen der beteiligten komplexen Einhei-ten und der Prozesse, Systeme und Netzwerke ihrer Wechselseitigkeit abgefragt werden (von Foerster 1993).

Einigermaßen anschaulich wird dieser Kommunikationsbegriff, wenn man der Empfeh-lung von luhmann folgt, sich Kommunikation als Synthese dreier Selektionen, nämlich Information, Mitteilung und Verstehen, vorzustellen (Luhmann 1984, S. 193ff.). Denn dann kann man Sachbezug (Information), Sozialbezug (Mitteilung) und Fortsetzung beziehungs-weise Reproduktion (Verstehen) unterscheiden, auf verschiedene Adressen (Ego und Alter Ego unter komplexen Einheiten jeder Art), verschiedene zeitliche Momente und verschie-dene Wahrscheinlichkeiten (Kontextbedingungen) der Fortsetzung verteilen und sich unter diesen Bedingungen anschauen, was Linguisten und Soziologen unter einer Konversation verstehen (etwa Sacks 1992). Wenn man Sequenzen und Trajektorien einer Konversation untersucht, werden die rekursiven Bezugnahmen einer Kommunikation auf sich selbst deutlich und können die Abhängigkeiten sowie selbstgesetzten Konditionierungen studiert werden, die es der Kommunikation ermöglichen, „sich“ im Medium der Teilnahme ver-schiedener Adressen, verschiedener Ereignisse und verschiedener Fortsetzungsbedingun-gen zu reproduzieren. Man störe sich nicht am Pronomen „sich“. Es geht nicht darum, der Kommunikation substantielle (sich selbst zugrundeliegende) Fähigkeiten zuzuschreiben. Das „sich“ ist der Eigenwert der rekursiven Arbeit rekursiver Funktoren und damit ein grammatikalischer Hinweis auf Reflexivität (und die Referenzrollen, in denen sie geordnet wird, siehe Weinrich 1992, S. 141ff.) und damit wiederum auf eine konstitutive Eigendy-namik, die von der Teilnahme derselben Akteure abhängig ist, von denen sie sich unabhän-gig machen muss, um diese Teilnahme im Wechselspiel der Akteure sicherstellen zu kön-nen. Das klingt viel zu kompliziert, ich weiß. Aber wie will man die multiple Konstitution von Kommunikation, ihre Verteiltheit auf prinzipiell verschiedene Adressen, Momente und Kontexte anders erfassen und beschreiben?

Wenn man sich durch diese Komplikationen durchgearbeitet hat, ist es einfach, einen Ansatzpunkt für eine Gesellschafts- und Kulturtheorie der Digitalisierung zu finden. Digi-talisierung als sozialer und kultureller Prozess (zu unterscheiden vom technischen Prozess) ist ein Prozess der rasant zunehmenden Beteiligung „intelligenter“ Maschinen an Kommu-nikation, und zwar an Kommunikation, die nicht als Signalübertragung, sondern als selek-tive Vernetzung subjektiv eigensinniger Akteure (das heißt hinreichend komplexer Einhei-ten) zu verstehen ist. Diese Beteiligung von „intelligenten“ Maschinen ist die eigentliche „Katastrophe“, die den Wandel von der modernen Buchdruckgesellschaft zu einer nächsten Gesellschaft elektronischer Medien auslöst (Luhmann 1997, S. 304f.). Die von anderen Teilnehmern an der Kommunikation entsprechend wahrgenommene und zugeschriebene „Intelligenz“ dieser Maschinen besteht darin, dass sie an der Mensch-Maschine-Schnitt-stelle Operationen durchführen, die es schwer, wenn nicht unmöglich machen, eindeutige oder gar kausale Beziehungen zwischen einer Eingabe von Information und einer Ausgabe von Information herzustellen. Diese Unterbrechung von Eindeutigkeit oder gar Kausalität kennen wir jedoch bisher nur unter Menschen – wenn wir wiederum frühere Adressen magischer und religiöser Art außen vorlassen, denen diese Intelligenz in vorhumanistischen

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Zeiten ebenfalls zugesprochen worden war. Waren die Maschinen der antiken Hochkultur und der modernen Gesellschaft möglicherweise kompliziert, aber doch in jedem Fall sicht-bar (man konnte sie auseinanderlegen, untersuchen und wieder zusammensetzen), so wer-den die „intelligenten“ Maschinen der elektronischen Medien „unsichtbar“ (Luhmann 1997, ebd.). Ihre Codes, Datenspeicher und Algorithmen können nur unterstellt werden. Ihre Kenntnis muss man Ingenieuren überlassen; und von diesen hört man, dass sie sich ihrerseits zunehmend nur noch auf Maschinen verlassen, um weniger den Überblick zu behalten als vielmehr zumindest punktuell einzelne Prüfungen durchführen zu können. diJkstras Diagnose, dass die Leistungen der Computer sowohl den Informatikern als auch den Mathematikern (die bei ihm noch schlechter wegkommen) von Anfang an konzeptio-nell davongelaufen sind (a cultural gap, Dijkstra 1986), ist bekannt. minskys Diktum, “No computer has ever been designed that is ever aware of what it’s doing, but most of the time we aren’t either”, ziert eine Ausstellung im Eingangsbereich des Media Lab des Massachu-setts Institute of Technology in Cambridge (gesehen im Juli 2015).

Digitalisierung als sozialer und kultureller Prozess heißt, dass sich Maschinen an Kom-munikation beteiligen und dass alle anderen Akteure (Menschen, Organisationen, Teams) sich darauf einstellen, dass sie sich beteiligen. Maschinen verändern die zu verarbeitenden Informationen, indem sie aus ihren Codes, Speichern und Algorithmen Konditionierungen beisteuern an die andere Akteure möglicherweise nicht „gedacht“ haben. Sie machen mit Mitteilungen auf sich aufmerksam, deren Intention, Autorität, Zeitpunkt und Konditionie-rung in einem Netzwerk weiterer Beobachter nur schwer, wenn überhaupt zu kontrollieren ist. Und – ebenso erschütternd wie erleichternd – sie greifen in das Verstehen der Kommu-nikation ein, indem jede Aktion mit einer Maus, auf einer Tastatur, an einem Bildschirm, einem Mikrophon, einem Joystick, auf einem Touchscreen oder an welchem Interface auch immer nur erfolgreich sein kann, wenn weitere Aktionen anschließen können. Denn dann und nur dann hat die Kommunikation „sich“ verstanden. Das ist erschütternd, denn wir haben keine Ahnung, welche Prozesse jeweils ermöglichen oder verhindern, dass bestimm-te Aktionen fortgesetzt werden können. Und es ist erleichternd, denn wir können uns darauf konzentrieren, uns dem Flow zu überlassen und unsere Aktionen denen anzupassen, die die Maschine toleriert. Was geht, geht.

Es ist kein Zufall, dass Gamification zum Paradigma einer Einübung in die sozialen, nicht technischen Prozesse der Digitalisierung geworden ist (Pias 2002; Stampfl 2012; Burke 2014). Spielerisch, das heißt mit einem Blick auf die bewegliche Differenz von Online und Offline, mit Ein- und Ausklammerungen, die eingesetzt und wieder aufgehoben werden können, und nicht zuletzt mit einer Suggestion von Folgenlosigkeit, die sich zur Erprobung zuvor ungeahnter Möglichkeiten ausnutzen lässt, lassen Menschen, Teams und Organisationen (mit je unterschiedlichen Konditionierungen) sich auf Maschinen und de-ren Oberflächen ein, um herauszufinden, worauf sich diese Maschinen einlassen.

Der Überschusssinn, den der Umgang mit elektronischen Medien auf diese Art und Weise produziert, liegt auf der Hand. Jede Imagination von Sinn, die es bisher mit der Sprache, der Schrift, dem Buchdruck und den Erfolgsmedien Macht, Geld, Wahrheit, Glau-ben, Kunst und Erziehung zu tun hatte, hat es nun zusätzlich, nicht etwa ausschließlich, mit

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dem zu tun, was in elektronischen Medien von der Datenverarbeitung über das Internet und Onlinenetzwerke bis zu Apps in den Bereichen Handel, Organisation, Erziehung, Bildung, Geschäft, Partnersuche, Gesundheit, Fitness usw. möglich ist und möglich sein könnte, von anderen bereits genutzt und von wieder anderen bereits weiterentwickelt wird. Diese Zu-sätzlichkeit, die es zugleich mit neuen Medien und mit der Rekonfiguration der alten Me-dien zu tun hat, gilt es soziologisch in den Blick zu nehmen. Sie ist die Problemstellung einer Sozialtheorie der Digitalisierung im Kontext einer aktuellen Medienepoche, die frü-here Epochen nicht ablöst, sondern überlagert.

1.6 Komplexität und Kontrolle

Bei der Kulturform dieser nächsten Gesellschaft eines digitalen Zeitalters kann es sich schon deswegen nur um die Idee des Spiels im Medium der Komplexität handeln, weil die Verschaltung analoger und digitaler Prozesse nicht anders als komplex zu denken und nicht anders als im Spiel zu bewältigen ist. Konnte man für die Maschinen der Antike und der Moderne annehmen (aber auch das wird zu überprüfen sein), dass sie in einem physikali-schen Universum realisiert waren, das sich auf das Kontinuum der Kräfte der Mechanik begrenzen ließ, so haben wir es jetzt mit einem physikalischen Universum zu tun, das Diskontinuitäten zwischen Organismus, Gehirn, Bewusstsein und Gesellschaft übergreift und in dieser Form Prozesse ermöglicht, die heterogene Eigendynamiken miteinander verschalten. Komplexität ist der Name für die Einheit einer Vielfalt (unitas multiplex), die beide, Einheit wie Vielfalt, auf eine Art und Weise in Anspruch genommen werden, der gegenwärtig jede Art von „Theorie“ auf die Spur zu kommen versucht (etwa Badiou 1998). Ich bin mir nicht sicher, ob wir theoretisch darauf vorbereitet sind, Ladungen zu denken, die Schwellenwerte erreichen können, an denen sie von anderen Ladungen, für die dassel-be gilt, ausgelöst werden können. Die FreudsChe Psychologie mit ihrem Konzept der Reizabfuhr wäre immerhin ein passendes Paradigma (Freud 1895). Die Kybernetik mit ihrer Verschaltung von Kommunikation und Kontrolle ist ein zweites (Wiener 1948). Das Spiel ist ein drittes, wenn und weil es sich auf lineare Kausalität und rekursive Eindeutigkeit nicht festlegen lässt (Bateson 1972; Baecker 1993).

Im Moment glauben wir noch, dass sich der Prozess der Digitalisierung auf die Einrich-tung neuer Möglichkeiten der Konnektivität und die Beobachtung dieser Möglichkeiten unter Gesichtspunkten des Schutzes von Privatheit und der Garantie von Sicherheit begren-zen lässt (vgl. eher skeptisch auch Schmidt/Cohen 2013). Im Moment können wir uns noch darauf verlassen, dass der menschliche Organismus, sein Gehirn, unser Bewusstsein, un-sere Sprache und unsere Gesellschaft uns aus Gründen unseres evolutionären Vorlaufs dabei begünstigen, die Digitalisierung analog, das heißt im Medium widersprüchlicher Kopplung, zu rahmen und uns so eine gewisse Form der Kontrolle im Umgang mit den Maschinen zu lassen, deren Beiträge zur Kommunikation längst geeignet sind, uns zu kontrollieren. Aber wie lange noch?

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Fangen wir damit an, die Kybernetik hat es uns gelehrt (Ashby 1958; Glanville 2009-2014), die Kontrolle von Komplexität als ein komplexes Geschäft der Einrichtung zirkulä-rer Formen der Konditionierung von Kontrolle zu begreifen (Luhmann 1998), und fangen wir damit an, uns dabei zu beobachten, wie unsere soziale, emotionale und intellektuelle Intelligenz sich praktisch längst darauf eingelassen hat, sich in dieser Zirkularität zu bewe-gen.

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AutorProf. Dr. Dirk Baecker Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Her-decke und Dekan der Fakultät für Kulturreflexion – Studium fundamentale ebendort. Stu-dium der Soziologie und Nationalökonomie in Köln und Paris, Promotion und Habilitation im Fach Soziologie an der Universität Bielefeld, Rufe 1996 an die Universität Witten/Herdecke, 2007 an die Zeppelin Universität und 2015 wiederum an die Universität Witten/Herdecke. Arbeitsgebiete: soziologische Theorie, Kulturtheorie, Wirtschaftssoziologie, Organisationsforschung und Managementlehre. Jüngere Publikationen: Studien zur nächs-ten Gesellschaft (Suhrkamp 2007), Organisation und Störung (Suhrkamp 2011), Neuroso-ziologie (edition unseld 2014), Kulturkalkül (Merve 2014).

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Einzelhandel in Läden – Ein Auslaufmodell?

Chancen und Risiken in einer strukturellen Umbruchphase

Manuel JahnHead of Consulting, Geomarketing, GfK SE, Hamburg, Deutschland [email protected]

1.1 Handel ist Wandel

„Handel ist Wandel“. Nie schien diese alte Weisheit aktueller. Das große Sterben des letzten Jahrhunderts, ob das der Tante-Emma-Läden, der Supermärkte, der Fachgeschäfte, der Warenhäuser oder der Ladenpassagen, scheint eine Randnotiz der Geschichte vor den an-geführten Umwälzungen dieser Tage. Die Bedrohung komme aus dem Netz. Dem Konsu-menten stünden online kostengünstigere Einkaufsmöglichkeiten zur Verfügung, was zwangsläufig zum Austrocknen des stationären Handels führen müsse. Einzelhändler wür-den zum digitalen Broker, in dem sie dem Verbraucher die Ware direkt vom Distributions-lager nach Hause zustellen. Der Einzelhandel im engeren Sinne würde sich somit schon kurzfristig selber abschaffen. Was bleibe, seien vereinzelte Restbestände, die aus Mitleid und Romantik gerade noch am Leben erhalten werden.

Für besorgte Bürgermeister zählen mögliche Folgen dieses Strukturwandels längst zum gängigen Bedrohungsrepertoire wie ehedem das Werftensterben. Sie beklagen zunehmen-de Leerstände und die Verwahrlosung ihrer Innenstädte. Während einschlägige Forschungs-institute schon kurzfristig 45.000 Läden vor der endgültigen Schließung sehen, warnen führende Tageszeitungen und Fachmagazine neuerdings vor „Geisterstädten“.

Honorarberater von eCommerce-Unternehmen überbieten sich in Untergangsprognosen für den stationären Einzelhandel. In diesem Klima der Angst überlegt der eine oder andere Einzelhändler, aber auch die finanzierende Bank oder der Immobilieninvestor, ob sich ein weiteres Investment in Läden überhaupt noch lohne. Unabhängig vom Umfang der tatsäch-lichen aktuellen Bedrohungslage könnte sich ein solches Sentiment in eine realwirtschaft-liche Großkrise auswachsen – ganz nach dem ökonomischen Prinzip der Self-fulfilling Prophecy.

In diesem Falle bräuchte selbst der aufgeschlossene, engagierte Omni-Channel-Händler keinen Gedanken mehr in die weitere Digitalisierung und Modernisierung seiner Ge-schäftsvorgänge verschwenden. Er würde sich wie ein Kapitän auf dem Segelschiff verhal-

R. Gläß, B. Leukert (Hrsg.), Handel 4.0, DOI 10.1007/978-3-662-53332-1_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

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26 Manuel Jahn26

ten, der trotz Optimierung aller Prozesse an Bord keine Charteraufträge mehr erhalten würde.

Nun kann sich jeder vor seiner Tür überzeugen, dass die Gegenwart bei weitem nicht so drastisch aussieht und dass es auch im stationären Einzelhandel Erfolge gibt, die sicher noch etwas länger als ein Jahr tragen werden. Auch gibt es vom Kunden stark nachge-fragte Konzepte, bei der eine duale Strategie, d. h. eine parallele oder verknüpfte Bespie-lung von Vertriebskanälen, gut angenommen wird. In dieser Evolutionsphase des Einzel-handels wächst der Bedarf nach Wissen und konkreten Erkenntnissen, die über die Bauchmeinung hinausgehen. So haben Einzelhändler, Centerbetreiber, Banken und In-vestoren ein hohes Interesse daran, einzuschätzen, von welchen Trends welcher Immo-bilientyp, welches Einzelhandelsformat und welcher Lagebereich in welcher Weise be-troffen sind.

Das alles entscheidende Konsumentenverhalten darf dabei nicht allein auf die neuen und perspektivischen Möglichkeiten des Online-Einkaufs hin überprüft und analysiert werden. Vielmehr gibt es eine ganze Reihe von Ansprüchen an das Einkaufen, die sich ebenfalls im Wandel befinden, die identifiziert und bewertet werden müssen.

GfK als Deutschlands größtes und weltweit führendes Marktforschungsinstitut beob-achtet und bewertet im Auftrag von Herstellern, Einzelhändlern und Retail-Investoren die handels- und handelsimmobilienbezogenen Märkte. Weltweite Verbraucher- und Retailpa-nels, zahllose Adhoc-Untersuchungen zu Konsum- und Retailtrends sowie Analysen von Regionen, Standorten und konkreten Handelsimmobilien stehen für ein laufendes Monito-ring sowie für Regressionsanalysen und Prognosemodelle zur Verfügung.

In diesem Beitrag soll zunächst auf die aktuellen Implikationen auf den stationären Einzelhandel durch eCommerce hingewiesen sowie eine parallel zu diesem Buch erschie-nene GfK Online-Prognose bis 2025 dargestellt werden. Es wird gezeigt, dass der Online-Handel nicht das Ende des stationären Handels bedeutet und dass auch beim eCommerce ein natürlicher Sättigungsverlauf zu erkennen ist – in einigen Segmenten sind schon jetzt abflachende Wachstumskurven festzustellen.

Auf dieser Basis wird ein Ausblick auf die weitere Verkaufsflächenentwicklung gegeben sowie auf voraussichtliche Gewinner und Verlierer der Umschichtungen im Markt.

Abschließend sollen die Veränderungen im Nachfrageverhalten erläutert und in den Kontext der Online-Entwicklungen eingeordnet werden. Erläutert werden hierzu Trends zur Art und Weise des Einkaufs selbst – wie Häufigkeit, Umfang, Einbindung in andere Aktivitäten – sowie die Ausdifferenzierung der Ladenkonzepte und der Einkaufsstandorte an sich. Dabei wird auf bestehende und perspektivische Verknüpfungen von analogem Einkaufserlebnis und digitalen Medien verwiesen.

1.2 Situation und Auswirkungen des Online-Handels

Die inzwischen hohe Marktdurchdringung und Kundenreichweite mit Web-Shops sowie der hohe Grad an Professionalisierung und technischer Innovationen waren die wesentli-

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27Einzelhandel in Läden – Ein Auslaufmodell? 27

chen Treiber der Online-Dynamik der vergangenen Jahre. In der Wachstumsphase 2009-2014 konnte der Online-Handel jährlich um durchschnittlich 21 % wachsen.

Im vergangenen Jahr (2015) wurden 8,5 % des gesamten deutschen Einzelhandelsum-satzes über das Internet abgewickelt. Dabei wird dieser Wert sogar noch durch den in Deutschland besonders niedrigen Online-Anteil im Lebensmitteleinzelhandel (inklusive Drogerieartikel) von 1,2 % gedrückt. Bezogen auf den reinen Nonfood-Umsatz betrug der Online-Anteil in 2014 bereits 15,3 %.

Um eine Prognose über die weitere Entwicklung abgeben und Implikationen für den Ein-zelhandel formulieren zu können, ist es nicht ausreichend, den Online-Handel als eine Einheit zu betrachten. Viel zu unterschiedlich sind die Online-Anteile in den einzelnen Sortimenten, viel zu unterschiedlich auch das Gewicht dieser Sortimente.

Hinsichtlich des Gewichts liegt mit 48,5 % der Lebensmitteleinzelhandel unangefochten an der Spitze, mit weitem Abstand gefolgt von Produkten aus den Warengruppen Technik & Medien mit 15,9 % sowie Fashion & Lifestyle mit 11,3 % der gesamten Einzelhandels-kaufkraft.

Hinsichtlich des aktuellen Online-Anteils liegt die Warengruppe Technik & Medien mit einem Online-Anteil von 20,9 % bzw. einem Online-Handelsvolumen von 15,1 Mrd. Euro weit vorn. Allerdings ist hier bereits ein zunehmender Reifegrad festzustellen: Nach dyna-mischen Wachstumsraten von jährlich 20–30 % von 2011–2013, wurden 2014 nur knapp

Abb. 1 Anteile des Online-Handels am Gesamteinzelhandel nach Sortimenten Quelle: GfK (2015)

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8 % höhere Online-Umsätze erzielt. Besonders deutlich wird die nachlassende Dynamik im Subsegment Bücher & Schreibwaren, wo im vergangenen Jahr kaum noch Online-Zuwäch-se hinzugewonnen werden konnten.

Auch die Warengruppe Fashion & Lifestyle hat eine sehr hohe Relevanz für den Online-Handel. Mit rund 52 Mrd. Euro Umsatz insgesamt und 18,9 % davon über das Internet (9,7 Mrd. Euro Online-Handelsvolumen) ist diese Branche aktuell die zweitwichtigste für den eCommerce.

Wenngleich das Gesamtvolumen im Sortiment Sport & Freizeit vergleichsweise klein ausfällt, ist seine Bedeutung für den Online-Handel vergleichsweise groß. So wurden auf-grund der hohen Online-Penetrationsrate von 20,2 % immerhin 3,8 Mrd. Euro Online-Umsatz im vergangenen Jahr erwirtschaftet.

Die Notwendigkeit, beide Dimensionen – Anteil der Warengruppe am Einzelhandel und Anteil von Online innerhalb der Warengruppe – gegenüberzustellen, wird am Lebensmit-teleinzelhandel deutlich: Obwohl der Online-Anteil mit 1,2 % auf einem sehr niedrigen Niveau liegt, ist die relative Bedeutung für den Online-Handel mit 2,6 Mrd. Euro Online-Umsatz in 2014 nicht zu vernachlässigen. Der für den stationären Handel daraus resultie-rende Verdrängungsdruck ist dagegen noch gering – die Relevanz für den Online-Handel und damit verknüpfte Branchen, wie beispielsweise Logistikdienstleister, ist jedoch schon heute gegeben.

Während die Art des Umsatzes – online oder stationär – vergleichsweise gut gemessen werden kann, sind Käufereigenschaften deutlich schwieriger zu analysieren. Zuverlässige

Abb. 2 Anteil der Warengruppen an der sortimentsbezogenen Kaufkraft Quelle: GfK (2015)

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29Einzelhandel in Läden – Ein Auslaufmodell? 29

Aussagen zu sozioökonomischen und regionalen Merkmalen erfordern sehr hohe Stichpro-benzahlen mit guter regionaler Abdeckung, die in Adhoc-Studien kaum geleistet werden können. Hier hilft das GfK Consumer Panel, das z. B. allein in Deutschland laufend die Einkäufe von 30.000 Haushalten im Detail erfasst.

Gemessen am Einkaufsverhalten des jeweiligen Haushaltsführers, geben die unter 30-Jährigen mit 17,7 % anteilsmäßig am meisten online aus, gefolgt von den 30–39-Jähri-gen mit 16,7 %. Wenngleich dies zu erwarten war, ist die Diskrepanz zu den älteren Jahr-gängen dennoch überraschend: Die 60–69-Jährigen kommen auf lediglich 8,4 %, die Über-70-Jährigen sind mit 3,9 % weit abgeschlagen. Der Umstand, dass jüngere Arbeitnehmer tendenziell auch geringere Einkommen haben, geht Hand in Hand damit, dass einkom-mensärmere Haushalte einen hohen Anteil online ausgeben. Aber auch die sehr kaufkräf-tigen Haushalte haben einen weit überdurchschnittlichen Anteil an Online-Ausgaben. Die-ser U-förmige Verlauf spiegelt zudem die unterschiedlichen Käufertypen wider: Personen mit sehr geringen Einkommen nutzen die zum Teil vorhandenen Preisvorteile im Internet, Personen mit höheren Einkommen die mit dem Online-Einkauf häufig verbundenen Zeit-ersparnisse.

Ebenso hat die Familienstruktur einen Einfluss darauf, wie hoch der Online-Anteil der Ausgaben ist: Mit wachsender Größe des Haushalts sinkt der Anteil der Online-Ausgaben. Und auch das Geschlecht spielt eine große Rolle: So haben beispielsweise Männer in Ein-personenhaushalten mit 17,8 % einen doppelt so hohen Online-Ausgabenanteil wie Frauen (8,8 %).

Diese auf repräsentativen Primärdaten basierenden Erkenntnisse sind Beleg für das, was in der Handelslandschaft bereits absehbar ist. Plakativ wird dies am Beispiel von preisgüns-tigen Young-Fashion-Anbietern, die von der ausgeprägten Online-Dynamik bei ihrer jun-

Abb. 3 Anteile des Online-Handels in den Warengruppen Quelle: GfK (2015)

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gen Zielgruppe besonders stark betroffen sind. Der Wettbewerbsdruck aus dem Internet nimmt besonders für diejenigen Young-Fashion-Händler zu, die selbst keine ausgereifte Omnichannel-Strategie verfolgen und zugleich auf der Fläche angreifbar sind. Category-Killer wie Primark verengen den Spielraum zusätzlich. Dies ist beispielsweise Indiz dafür, dass ein höheres Leerstandsrisiko in Lagen mit hohem Young-Fashion-Anteil besteht als in Lagen mit höherwertigem Besatz.

1.2.1 Wachstumstreiber Online

Die Evolution des eCommerce wird durch drei Metafaktoren getrieben:

InnovationDer erste Anfangs-Treiber liegt in der Innovationskraft der Unternehmen. Diese lag zu Beginn in der Entdeckung des Internets als Informationsmedium. Erst später kamen – mit der Einführung von Web-Shops und deren stetige Verbesserung – innovative Lösungen zur Nutzung des Internets als Vertriebskanal hinzu. Zuletzt wurde das Wachstum vor allem durch verbesserten Zugriff infolge der Verbreitung von Smartphones und Tablets getrie-ben.

Abb. 4 Online-Shopping nach sozioökonomischen Merkmalen Quelle: GfK (2015)

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31Einzelhandel in Läden – Ein Auslaufmodell? 31

MarktdurchdringungAmazon gründete 1998 seine erste Webseite in Deutschland und bald darauf folgten wei-tere Plattformen wie Ebay oder Buch.de. Die Große Welle der Online-Shop-Eröffnungen setzte erst mit dem Jahr 2009 ein, als H&M und C&A gerade noch ihre 2007 gegründeten Online-Shops optimierten und Zalando begann, den Markt aufzumischen. Daraufhin setz-te ein Wettrennen weiterer Schwergewichte des stationären Einzelhandels um das neue Marktpotenzial dieses Vertriebskanals ein. Das hatte zur Folge, dass analog zur zunehmen-den Verbesserung der Internetzugangsmöglichkeiten auch die Verfügbarkeit an Online-Shops zunahm und sich das Interesse für diese Einkaufsalternative auf immer mehr Käu-fertypen ausweitete. Nicht zuletzt waren es die Aktivitäten der Ladeneinzelhändler, die durch ihre Präsenz im Internet das Online-Wachstum ankurbelten. Heute erzielen einzelne, ursprünglich ausschließlich stationäre Bekleidungseinzelhändler 15-30 % ihrer Umsätze über das Internet.

Professionalisierung Die voranschreitende Durchdringung des Online-Markts wäre nicht möglich gewesen, hätte sich dieser nicht zur gleichen Zeit auch professionalisiert. Unsicherheiten hinsichtlich Online-Bezahlung wurden durch Services wie PayPal schrittweise ausgeräumt, die Pro-duktdarstellung optisch und informativ aufgewertet, Liefermöglichkeiten ausgeweitet und kostenlose Retourenangebote eingeführt. Die damit einhergehende, vom Kunden geforder-te Zuverlässigkeit und Beschleunigung der Lieferung brachte zugleich starken Wettbe-werbsdruck unter den Online-Händlern hervor.

Abb. 5 Wachstumstreiber des Online-Handels Quelle: GfK (2015)

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Diese drei Treiber stehen in einem wechselwirkenden Kreislauf. Der wachsende Grad an Professionalisierung erhöht den Wettbewerbsdruck derart, dass die nächste Stufe der Evolution wiederum den Online-Händlern Vorteile beschert, die innovative Lösungen für bestehende Servicelücken bieten (z. B. in Hinblick auf Schnelligkeit, Branding, Zuverläs-sigkeit, Preisvorteil & Bezahlung sowie Logistik) und damit ihre Reichweite (regional, nach Zielgruppe oder Sortiment) ausbauen können.

Erste Anzeichen dafür, dass diese Dynamik mit zunehmendem Reifegrad nachlässt, sind bereits am Gesamtmarkt für den Online-Handel erkennbar, der zuletzt „nur noch“ eine Wachstumsrate von 11 % im Vergleich zu 20–30 % aus den Vorjahren aufweisen konnte. Es steht allerdings außer Frage, dass es durch Innovationen ausgelöste Wachstumsschübe geben wird, die wir in unserer Prognose berücksichtigen.

1.2.2 Wachstumsgrenzen Online

Wir gehen aus den folgenden Gründen von einer natürlichen Wachstumsgrenze des eCom-merce aus:

Sättigungstendenzen bei Online-Sortimenten erster Stunde Erste Anzeichen einer Trendverlangsamung; so stagnierte etwa der Online-Anteil für Bü-cher/Medien von 2013 auf 2014; ebenso verlangsamte sich das Wachstum im Segment Technik & Medien.

Anpassungsmaßnahmen stationärer HändlerWettbewerbsreaktionen unausweichlich; stationäre Händler reagierten vielerorts mit einer Verbesserung der Ladengestaltung und Erhöhung des Einkaufserlebnisses am Point of Sale.

Fehlende haptische und emotionale AspekteDer stationäre Handel kann mit haptischen und emotionalen Aspekten punkten, die im Online-Handel nicht oder nur schwierig umsetzbar sind: Haptik, Erlebnis, Atmosphäre, Beratung, Service oder Produkterlebnis sind nur einige der stationären Pluspunkte. Dazu verleitet der stationäre Laden zu Spontan- und Zusatzkäufen und bietet die Möglichkeit, die Ware sofort mitzunehmen.

Lange oder undurchsichtige KaufprozesseDie Warenverfügbarkeit kann häufig mit dem offerierten Angebot nicht mithalten, Preis-vorteile gegenüber stationären Anbietern gehen zunehmend verloren. Zudem sind Online-Bezahl-Strukturen häufig noch kompliziert oder nicht ausreichend vertrauenswürdig, was viele Konsumenten Käufe abbrechen lässt.

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33Einzelhandel in Läden – Ein Auslaufmodell? 33

Mindere oder fragliche ProduktqualitätFrische, höherwertige und vor allem erklärungsbedürftige Produkte werden überwiegend stationär gekauft. Denn die Kontrolle des Produkts, sei es über die Haptik oder durch das im Verkaufsgespräch vermittelte Verständnis, das eigentlich ein anderes Produkt passender wäre, entfällt online. Der Handel setzt hier bereits an und bietet virtuelle Beratung oder Produkttest-Möglichkeiten. Auch wenn diese in den Kinderschuhen steckenden Innovati-onen massenfähig gemacht werden, ist aufgrund des begrenzten Zusatznutzens keine Re-volution des Einkauf-Verhaltens abzusehen.

Unterschiedliche KonsumententypenDer Trend zur Betonung der Individualität ist zwar einerseits Wachstumstreiber für den eCommerce – so ist der Vertrieb von Nischenprodukten eher online lukrativ, da Marktein-tritts-Barrieren eher gering sind. Andererseits gibt es aus Alters-, Budget- oder Ideologie-gründen nach wie vor viele „Online-Verweigerer“. Dass auch Massenphänomene nie alle Verbraucher erreichen können, zeigt beispielsweise ein Vergleich mit der Nutzung von TV-Geräten, wo es bis heute Personen gibt, die bewusst auf einen Fernseher in der Woh-nung verzichten. Auch dem Online-Handel sind hinsichtlich der verschiedenen Zielgrup-pen (Alter, Einkommen, Konsumententypen) gewisse Grenzen gesetzt.

1.2.3 Online-Wachstumsprognose bis 2025 nach Sortimenten

Im Jahr 2014 hatte der eCommerce einen Anteil von 8,5 % am gesamten Einzelhandelsum-satz. Insgesamt betrachtet ist der deutsche Einzelhandelsmarkt als weitgehend gesättigt zu

Abb. 6 Motive für den Offline- sowie den Online-Einkauf Quelle: GfK (2015)

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bezeichnen, weshalb Marktanteilszuwächse zulasten anderer Formate gehen. Dieser Ver-drängungswettbewerb hat durch den eCommerce an Fahrt gewonnen. Auch wenn sich die Wachstumsraten aufgrund von Sättigungstendenzen abschwächen werden, also von einem langsameren Vordringen auszugehen ist, erwarten wir bis 2025 nahezu eine Verdopplung des Online-Anteils am gesamten Einzelhandels-Umsatz (d. h. Food und Nonfood) auf rund 15 %. Auch dann gilt noch: Werden Lebensmittel & Drogerieartikel ausgeklammert, schät-zen wir den Online-Anteil sogar auf rund 25 %, also rund ein Viertel im Nonfood-Segment.

Fasst man die Lage der einzelnen Sortimente auf der Diffusionskurve zusammen, so sehen wir einen zunehmenden Reifegrad des eCommerce. In dem Maße, in dem dieser Reifezyklus voranschreitet, werden ab einem bestimmten Maximalanteil die Anteilszu-wächse abflachen. Ursächlich dafür ist neben den zuvor genannten Gründen auch die In-novationskraft des stationären Handels, der bereits heute erfolgreich mit neuen Konzepten und Omni-Channel-Lösungen auf den intensivierten Wettbewerb reagiert.

Anteile der Sortimente am gesamten Online-Handelsvolumen Wenngleich zwar alle Branchen bis zum Prognosehorizont 2025 absolut weiter wachsen werden und Technik & Medien auch künftig den Löwenanteil ausmachen wird, verschie-ben sich die Gewichte zugunsten der Online-Einsteiger im Bereich Lebensmittel & Dro-gerie, Einrichten & Wohnen sowie Garten & Heimwerken. Im Detail sieht dies wie folgt aus:

Abb. 7 Umsatzprognose 2025 für alle Einzelhandelskanäle Quelle: GfK (2015)

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35Einzelhandel in Läden – Ein Auslaufmodell? 35

Technik & Medien wird – nach den Peaks schon in 2008 und 2013 – am stärksten Anteile am Online-Gesamtumsatz einbüßen: von 38 % in 2015 auf 31 % in 2025. Ursächlich dafür ist nicht ein geringeres Online-Volumen in diesem Segment, sondern ganz einfach, dass andere Sortimente im gleichen Zeitraum stärker zulegen werden.Fashion & Lifestyle hat aktuell seinen Peak-Anteil von 25 % am Online-Volumen bereits erreicht. Bis 2025 wird der Anteil in etwa konstant bei rund 24 % liegen.Lebensmittel & Drogerie wird den größten Anteilszuwachs erlangen: Das Sortiment dürfte sich von derzeit 8 % auf 16 % am Online-Gesamtumsatz verdoppeln, was deutliche Innovationsschübe in der Logistik bereits impliziert.Einrichten & Wohnen wächst marginal von 9 % auf 10 %.Garten & Heimwerken entwickelt sich im Zeitverlauf mit stabilen Anteilen am Online-Gesamtumsatz.Sport & Freizeit hat aktuell einen Anteil von 10 % – danach wird der Anteil bis 2025 leicht zurückgehen, auf 9 % Anteil am gesamten Online-Umsatz.

1.2.4 Learnings

Wettbewerb fördert InnovationNach Lage der Fakten werden sich die Gewichte in den Kanälen des Einzelhandels weiter verschieben. Der Online-Handel stellt eine disruptive Innovation für den Einzelhandel dar, die manche der heutigen Player entweder in die Insolvenz oder in die nächste Entwick-lungsstufe „zwingen“ wird.

Einen ersichtlichen Grund, den stationären Handel abzuschreiben, gibt es jedoch nicht. Im Gegenteil: eCommerce wird den stationären Handel nicht verdrängen, sondern als neuer evo-

Abb. 8 Entwicklungsprognose der Online-Marktanteile nach Warengruppen Quelle: GfK (2015)

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lutionärer Wettbewerbsimpuls zu insgesamt angepassteren – d. h. in Hinblick auf Effizienz des Geschäftsmodells und Attraktivität für die Konsumenten verbesserten – Handelsangeboten führen. Dieser Vergleich aus der Evolutionsbiologie ist dabei keine rhetorische Analogie, son-dern Abbild der engen Verwandtschaft von Märkten mit biologischen und natürlichen Wachs-tumsprozessen (und deren ebenso natürlichen Sättigungsgrenzen und isolierten Biotopen).

Antworten führen stets zu neuen Fragen Die soziale Interaktion, der direkte Kontakt sowie das miteinander „handeln“ wollen, bleibt Verbrauchern auch künftig erhalten. Denn Handeln ist viel mehr als eine anonyme Kauf-transaktion. Menschen wollen Waren kaufen und verkaufen und dabei mit anderen Men-schen interagieren, manche wollen cleverer wirken durch geschicktes Handeln, manche sich mit „Federn“, sprich besonderen Lifestyle-Produkten schmücken, dabei sehen und gesehen werden, spontan entdecken und mitnehmen, etc. Und sie wollen die räumliche Nähe und Besonderheit von Handelsangeboten nutzen.

Die Frage für den Handel ist dabei nicht „ob“, sondern „wo“ diese Begegnungsorte künftig sein werden und wie sie zu gestalten sind, damit sie attraktiv für die Konsumenten und zugleich profitabel für die Anbieter sind.

1.3 Entwicklung der Verkaufsfläche im Einzelhandel

1.3.1 Situation

Der bisherigen Entwicklung des Einzelhandels in seinen beiden Vertriebsschienen online und stationär steht die Entwicklung der physischen Verkaufsfläche gegenüber. Trotz erheb-licher Marktanteilsgewinne des Online-Handels kann bisher keine direkte Auswirkung auf die Verkaufsfläche nachgewiesen werden. Flächen durch Neuprojekte kompensieren über-wiegend Flächenabgänge durch Ladenschließungen oder Insolvenzen.

Zwischen 2002 und 2011 stieg die Verkaufsfläche im deutschen Ladeneinzelhandel noch per Saldo kontinuierlich um 0,4 % bis 1,4 % p.a. an. Anschließende Flächenfreiset-zungen waren allerdings der Schleckerpleite (Jahr 2012) und der Praktiker/Max Bahr-Insolvenz (Ende 2013) zuzuschreiben, die beide nicht im direkten Zusammenhang mit der Dynamik im Online-Handel standen. Seit 2013 sind leichte Flächenrückgange von rd. 0,1 % p. a. auf aktuell rd. 117,8 Mio. m² zu verzeichnen. Der Expansion im Lebensmitte-leinzelhandel sowie einigen Neuentwicklungen oder Erweiterungen, insbesondere bei Shopping-Centern, steht die Aufgabe von Geschäften, beispielsweise im Möbel- und Bekleidungssegment gegenüber. Die Marktbereinigungen betrafen dabei vor allem klei-nere, regional agierende Möbelfachgeschäfte sowie Textilanbieter in ländlichen, wenig agglomerierten Gebieten. Ebenso drückten Warenhausschließungen sowie die verbreite-ten Filialverkleinerungen von Elektrofachmärkten und Buchkaufhäusern auf die Flächen-statistik.

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Im laufenden Jahr 2015 rechnet GfK wiederum mit einem Anstieg der Einzelhandels-verkaufsfläche um 0,2 % (0,2 Mio. m²) auf rund 118 Mio. m², womit knapp das „Vor-Schleckerpleiten-Niveau“ aus dem Jahr 2011 erreicht wird. Getrieben wird das Flächen-wachstum durch die anhaltende Neuentwicklung von Flächen in Einkaufs- und Fachmarkt-zentren, die anhaltende Nachfrage von Einzelhändlern aus dem Ausland, die Großflächen-expansion im Möbel- und Baumarktsegment, aber auch durch den aktuell sehr expansiven Drogeriemarkt bzw. die Tendenz zu größeren Filialen im Lebensmitteleinzelhandel.

Insbesondere Nahversorgungsangebote profitieren schon heute vom laufenden Zuzug von Migranten. Nach Angaben der Bundesregierung wird der Zuzug auf voraussichtlich rd. 800.000 Menschen jährlich ansteigen und zumindest in den Hauptzuzugsgebieten die amtlichen Bevölkerungsprognosen außer Kraft setzen.

Allein die Verkaufsfläche der deutschen Shoppingcenter ist in den letzten 10 Jahren um 3 % p. a. gewachsen. Somit gehörten die Shoppingcenter zu den Wachstumstreibern der Verkaufs-flächenentwicklung. Auch wenn die Projektpipeline weniger stark befüllt ist, als in der Vergan-genheit, geht GfK auch zukünftig von einer weiter steigenden Centerverkaufsfläche aus, da zukünftig die Erweiterung von bestehenden Centern im Fokus der Betreiber stehen dürfte.

Ebenso zählt die Verkaufsfläche in den zentralen städtischen Einkaufslagen zu den Wachstumspolen im Einzelhandel. In den Innenstädten der 82 bundesdeutschen Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern ist die Verkaufsfläche im Zeitraum von 2010–2014 um ca. 7 % gestiegen.

Für die kommenden Jahre geht GfK deshalb insgesamt von einem anhaltenden, aller-dings gebremsten Flächenwachstum aus, das durchschnittlich bei rund 0,1 % p. a. liegen

Abb. 9 Entwicklung der Verkaufsfläche 2005 – 2015 Quelle: GfK (2015)

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dürfte. Dabei wird es insbesondere an starken, etablierten Handelsstandorten zu deutliche-ren Flächenzuwächsen kommen, womit sich die Polarisierung der Flächenstruktur fortset-zen wird. Dies betrifft neben den Top-7 Standorten auch kaufkraftstarke Mittelstädte mit über die Stadtgrenzen hinausreichenden Einzugsgebieten oder ausstrahlungsstarke, autoo-rientierte Fachmarktstandorte. Überproportional verlieren werden benachteiligte Klein-städte, periphere und wenig verdichte ländliche Räume sowie Nebenlagen in allen Städte-kategorien, in denen die Erosion des Einzelhandelsbesatzes schon seit Jahrzehnten zu be-obachten ist.

1.3.2 Prognose

Ganz wesentlich für den Bedarf an Verkaufsfläche ist die Raumleistung des Handels in seinen verschiedenen Sortimenten. Mit Prognosen zum Umsatz im stationären wie im Online-Handel lassen sich somit auch künftige Verkaufsflächen grob prognostizieren. Zu-sätzlich lassen sich aus vorliegenden georeferenzierten Daten zur Online-Affinität von Verbrauchern auch regionale Aussagen zu bestehenden bzw. perspektivischen Umsatzan-teilen – und damit zum effektiven Verkaufsflächenbedarf – ableiten.

Nach einer langen Rückbildungsphase hat sich die durchschnittliche Flächen-produktivität im stationären Einzelhandel in den letzten Jahren zwischen 3.400 und 3.500 Euro pro Quadratmeter eingependelt. Aufgrund der weitgehend ausgeschöpften

Abb. 10 GfK Verkaufsflächenprognose 2025 Quelle: GfK (2015)

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Effektivitätspotenziale bei Personal und Logistik in weiten Bereichen des stationären Einzelhandels erwartet GfK, dass die Flächenproduktivität nicht wesentlich weiter absin-ken wird.

Wenngleich der Umsatz im Online-Handel seit Jahren deutlich stärker als der Umsatz im stationären Handel steigt, werden seine hohen Wachstumsraten von über 30 Prozent in 2012 und 2013 ohne massiven Innovationsschub bis auf weiteres nicht wieder erzielt wer-den können und dürften auch für die Zukunft absolute Spitzenwerte darstellen. Das Wachs-tumsplus von etwa 11 % im Jahr 2014 und die Prognose eines Anstiegs von 13 % für 2015 sind dennoch beachtlich, berücksichtigt man den mittlerweile erreichten absoluten Umsatz-wert.

Auf Basis der GfK Umsatzprognose 2025 für den Online- und stationären Handel sowie der Annahmen zur weiteren Entwicklung der Flächenproduktivitäten wird sich nach einem Basisszenario der GfK für den deutschen Einzelhandel eine Flächenerweiterung per Saldo von knapp 1 % bis 2020 und von knapp 0,5 % in den Folgejahren bis 2025 ergeben. Die Verkaufsfläche dürfte somit auf rund 119 Millionen im Jahre 2020 und rund 119,5 Millio-nen Quadratmeter im Jahre 2025 anwachsen.

Wie sich in den letzten Jahren bereits abzeichnete, wird sich das Flächenwachstum weiterhin recht ungleich in Deutschland entwickeln und bestehende Disparitäten verstär-ken. Diese zeigen sich nicht nur in den vom Online-Handel unterschiedlich betroffenen Sortimenten, sondern auch in der unterschiedlichen Entwicklung der Betriebstypen und Standortlagen. GfK geht von folgenden Trends in den nächsten 10 Jahren aus:

Abb. 11 Auswirkungen auf Flächenbedarf und Leerstandsentwicklung Quelle: GfK (2015)

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1.4 Konsumtrends – neue Anforderungen an den Einzelhandel

1.4.1 Verhalten und Einstellungen der New Shoppers

Aktuelle GfK-Umfragen bestätigen, dass die „New Shopper“, d. h. die heranwachsenden und damit zukunftsbestimmenden Konsumenten, als „Digital Natives“ keinesfalls allein auf Online setzen. Wenngleich Online-Informationen oder der Online-Kauf ganz selbstver-ständliche Optionen sind, wird den klassischen analogen Angeboten nach wie vor eine hohe Bedeutung beigemessen. Während die Fülle, aber auch die Widersprüchlichkeit von Infor-mationen im Internet auch Vertrauen kostet, genießen analoge Kanäle, ob Laden oder Printmedium, einen grundsätzlich hohen Verbindlichkeitsstatus. Aus dem Verhalten und den Einstellungen der New Shopper lassen sich die Anforderungen an den Einzelhandel von morgen wie folgt ableiten:

New Shopper glauben das Richtige zu tunDurch ihr duales Informations- und Einkaufsverhalten, indem sie Online- und Offline-Kanäle gleichermaßen für Suche, Vergleich und Kauf nutzen, sind sie immer „connected“, haben alle Produktinformationen zur Hand und vergleichen proaktiv Preise. Zudem geben sie in sozialen Netzwerken Bewertungen ab, sodass sie als Multiplikatoren von hoher Re-levanz für den Handel sind.

New Shopper bringen ethische Auswahlkriterien in den HandelMoralisch-ethnische Auswahlkriterien – Bio-/Öko- Orientierung, Fair Trade, Regionalität, Bewusster Kauf, bereit für fair gehandelte Produkte auch mehr Geld auszugeben

New Shopper denken und fühlen kontextbezogenIn Zeiten unbegrenzter Produkt- und Serviceverfügbarkeit gewinnt der immaterielle Zu-satznutzen. Daraus ergeben sich für Marken und Einzelhandel neue Marketing-Grundsätze jenseits von Preis und Positionierung. Um den Kunden von morgen zu begeistern, muss der Einzelhandel Teil seines Lebens, seiner Gefühle und seiner Identitäten werden, indem Verknüpfungen zu weiteren Lebensbereichen hergestellt werden.

New Shopper brauchen den SpaßfaktorDas knappe und wertvoll erachtete Zeitbudget soll möglichst sinnvoll, aber auch freudvoll genutzt werden. Erfüllen die Rahmenbedingungen die hohen Erwartungen nicht, sinkt mit der Zufriedenheit auch die Einkaufshäufigkeit.

New Shopper können Äpfel von Birnen unterscheidenNicht jede Einkaufstätigkeit muss zwingend mit den neusten Trends aufgeladen sein. Im Gegenteil –das Einkaufen unterscheidet sich nach Einkaufsmotiven, die in einer Bandbrei-te zwischen Routine und innovativen Erlebnissen liegen. So unterliegt der kurzfristige bzw.

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preisorientierte Versorgungseinkauf einer wenig geänderten Einkaufsroutine, in der der funktionale Nutzen, Kontinuität sowie die Bequemlichkeit und Erreichbarkeit die Haupt-rolle spielt. Der trendige, von kurzwelligen POS Innovationen sowie dem Ladendesign und wechselnden Zusatznutzen geprägte Fashion- und Lifestyle-Einkauf dagegen muss auf dem neuesten Stand sein.

New Shopper erwarten GlaubwürdigkeitUm Menschen, die alles haben, in Läden zu ziehen, bedarf es Konzepte, die auf individu-elle und glaubwürdige Ansprache setzen. Grundsätze des Handels, die aber lange im Ein-zelhandel ignoriert wurden, sind Grundsätze wie den Kunden seriös zu informieren, ihn zu unterhalten, gut aussehen zu lassen, zu inspirieren und es ihm leicht zu machen. Bei alledem muss das Preis-Leistungsverhältnis angemessen sein.

New Shopper lieben mobile AnwendungenGetrieben durch die technischen Innovationen bei mobilen Endgeräten – Notebook, Tablet, Smartphone, Wearable – verzeichnen mobile Anwendungen die höchsten Wachstumsraten. Neben die grundsätzlich bessere Informationslage der Konsumenten tritt somit die jeder-zeitige Verfügbarkeit von Informationen. Mit der Auflösung der Ortsunabhängigkeit ver-schiebt sich auch der Zeitpunkt des Online-Einkaufs, und zwar in die Morgen- und Abend-stunden des Tages.

1.4.2 Ausdifferenzierung von Lagen und Konzepten

Die gestiegenen Anforderungen des Verbrauchers an die Einkaufsstätte, die Qualität und die Verfügbarkeit der Produkte führt zu Anpassungsprozessen in Form von neuen Lageaus-prägungen sowie neuen Ladenkonzepten. Nach Beobachtungen der GfK reagiert der stati-onäre Einzelhandel mit folgenden Maßnahmen:

Nutzung von Synergien und Kopplungseffekten Die Zeiten der „Einzelkämpfer“ sind weitgehend vorbei. Händler suchen vermehrt die Nähe zu anderen Branchen, um von Agglomerationseffekten zu profitieren. Je besser der Branchen- und Markenmix abgestimmt ist, desto attraktiver ist das Angebot für den Kon-sumenten. Dieser Trend begünstigt die Entwicklung von zentral gemanagten Standortge-meinschaften. Aktuell profitieren hiervon insbesondere Fachmarktzentren, die den Mietern oftmals ein günstiges Preis-Leistungsverhältnis bieten.

Einkauf als Erlebnis- und FreizeitangebotDer überwiegende Teil des Einkaufs kann schon heute nicht mehr als Versorgungseinkauf erklärt werden, sondern liefert Zusatznutzen, der eher im Bereich Genuss als Bedarf einzu-ordnen ist. Einkaufsstätten, die insbesondere in Kombination mit Gastronomie, Kultur- und Unterhaltungsangeboten einen Mehrwert hinsichtlich der Erlebnis- und Aufenthaltsqualität

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sowie der Treffpunkt- und Freizeitfunktion bieten, profitieren von einer höheren Aufmerk-samkeit und Frequentierung und sind zudem weniger anfällig für Online-Wettbewerb.

Läden als IdentifikationsraumVon entscheidender Bedeutung, ob der Kunde einen Laden wahrnimmt, ist das Image des Betreibers bzw. der Marke. Mono-Markenanbieter wie auch Multilabel-Häuser investieren zunehmend hohe Summen in die Ausgestaltung des Laden- und Einrichtungskonzeptes. Dieses muss das Image des Händlers adäquat unterstreichen – also etwa „Coolness“, „Nachhaltigkeit“ oder „Exklusivität“ ausstrahlen. Eine weitere Dimension ist die Aufla-dung von Marken und Ladenkonzepten mit Geschichten und Inhalten, die eine Kommuni-kationslinie zu den Communities der anvisierten Zielgruppen herstellen.

Aufgabenteilung von Lage- und StandortkategorienDie vorgenannten Maßnahmen führen sowohl zur Ausdifferenzierung von Lagen als auch von Konzepten. Dabei ist grundsätzlich eine Vereinheitlichung der jeweiligen Besatzstruk-turen zu beobachten – ob in den innerstädtischen Hauptlagen der Metropolen, in den Trend-lagen großstädtischer Stadtteile, in den regionalen Shoppingcentern oder den Nahversor-gungszentren. In diesen Bereichen bilden sich genre- und kundenseitig weitgehend einheit-liche, aber stabile und anziehungsstarke Angebotsprofile heraus, die in ihrem jeweiligen Segment die Erwartungshaltung des Publikums in hohem Maße treffen. Standorte, die den Erwartungshaltungen der Konsumenten nicht mehr entsprechen, lösen sich unweigerlich auf.

Abb. 12 Showroom von Mini als Ersatz für einen Autoverkaufsraum Quelle: GfK (2015)

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1.5 Anforderungen an einen modernen POS

1.5.1 Omni-Channeling-Fähigkeit

Schon vor dem Eindringen des Online-Handels hatte der Konsument eine Reihe von Be-rührungspunkten mit einer Marke oder einem Produkt, bevor er sich zum Kauf entschied. Hierzu zählten nicht nur die direkten Kontakte zwischen Kunden und Unternehmen in Form von Anzeigen oder Werbespots, sondern auch die indirekten Kontaktpunkte, an denen die Meinung Dritter z. B. im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz eingeholt wurde, die nicht in unmittelbarem Einflussbereich des Unternehmens lag. Da sich dieser Bereich durch das Anwachsen der Online-Infrastruktur erheblich vergrößert hat, ist eine zielgerichtete Beein-flussung Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Marketing- und Vertriebsausrichtung im Einzelhandel.

Initiativen kommen immer wieder aus dem Ausland. Viele der neuen Konzepte strecken ihre Fühler zunächst in Form von Online-Stores aus, bevor sie in Form von Filialen statio-när sichtbar werden. Andere gehen genau andersrum vor. Grundsätzlich verfolgen alle modernen Konzepte eine duale Strategie. Der plötzliche und manchmal auch überraschen-de Erfolg von Marken und Konzepten, die lange Zeit allgemein als kaum bekannt galten, zeigt, wie effektiv auch in dem als schwierig bezeichneten deutschen Markt mit geschick-ter Strategie schnell Aufmerksamkeit erzeugt werden kann. Dabei ist zu beachten ist, dass Online-Anwendungen nicht allein auf das Angebot eines Online-Shops zurückgeführt wer-den dürfen. Im Rahmen einer Omni-Channel-Strategie kommen Online-Anwendungen eine Reihe von Funktionen zu, die neben dem Service und der Warenbestellung auch dem „Brand-Building“ dienen. Immer wichtiger wird darüber hinaus auch die Verknüpfung des physischen Besuchs eines Ladenlokals mit Online-Anwendungen sowie sonstigen techno-logischen Innovationen.

Die wichtigsten Schlagworte sind:

StorytellingKommunikationsstrategie von Händlern und Marken, die explizites, aber vor allem impli-zites Wissen in einer bilderreichen Sprache an die Zielgruppen sendet. Die Geschichten sind in der Weise konzipiert, dass potenzielle Kunden sich in der erzählten Geschichte eingebunden oder mindestens angesprochen fühlen. Dies bewirkt, dass der Gehalt der Botschaft leichter verstanden und angenommen wird. Die Kommunikationsstrategie um-fasst das Produkt selbst, das Ladengeschäft, aber vor allem die Räume in den werblichen sowie sozialen Medien. Durch die bessere Steuerung von Informationen im Internet lassen sich Kampagnen deutlich effektiver und preislich günstiger als in klassischen Medien verbreiten. Beeindruckende Storytelling-Kampagnen konnten insbesondere kleinere Un-ternehmen wie Camper oder Birkenstock platzieren, die beide auf ihre Handwerkstradition, ihren Nachhaltigkeitsanspruch und das Wohl ihrer Kunden abzielten.

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Click & CollectDie Ware wird online bestellt und im Ladengeschäft abgeholt oder retourniert. Vorteil: Anders als bei der Haustürzustellung gewinnt der Kunde Autonomie, die Ware entgegen-zunehmen, Zusatzberatung einzuholen und ggf. sofort zu retournieren. Ausgehend von Zahlen aus Großbritannien, könnte schon in wenigen Jahren dieser Umsatzanteil am Ge-samtladenumsatz auf rund 20 % anwachsen und damit mögliche Rückgänge der reinen Ladenumsätze ausgleichen. Gravis beziffert die Pick-up-Rate seines Abholkonzeptes auf knapp 30 %, MediaMarkt und Saturn in den deutschen Läden sogar auf 40-45 % der Online-Bestellungen.

Augmented Reality Virtuelle Regale und Anproben, ob Bekleidung, Schuhe oder Möbel. Das Online-Angebot kann im Ladengeschäft über QR-Codes betrachtet und über Video-Kinetic-Scans in Form von Bewegtbildern des eigenen Körpers oder einer gewählten Umgebung angepasst und überprüft werden. Wurden virtuelle Anwendungen bisher noch als technische Spielereien angesehen, treibt die technische Innovation den Nutzwert an. In Deutschland testet z. B. Görtz das Virtual Shoe Fitting, Adidas die Virtual Shopping Wall und Lego die Digital Box.

Online goes offlineEine Omni-Channel-Strategie verknüpft im Idealfall die Stärken des Offline- mit denen des Online-Handels. Mit Ladengeschäften erreicht der Online-Händler auch online-kritische Kunden, schafft mit der Abholung im Laden einen Servicevorteil und erleichtert den Um-tausch. Daneben verstärkt die Offline-Präsenz das Vertrauen in die Marke. Und diese ver-ankert sich durch die erhöhte Wahrnehmung zusätzlich im Mindset der Verbraucher. Bei-spielhaft zu nennen sind Bonobos in New York und Boston oder in Deutschland die ser-viceorientierten Konzepte von notebooksbilliger.de in München und Cyberport in Ham-burg und Berlin. Amazon und Redcoon erwägen ebenfalls die Eröffnung eines Stationärgeschäfts.

iBeaconsSender, die mittels BLE (Bluetooth Low Energy) Besucher in oder in der Nähe von bewor-benen Läden lokalisieren und ihnen ortsabhängige Angebote auf das Smartphone oder Tablet senden. So wird der Kunde mittels Smartphone- oder Tablet-App gezielt auf Läden und Angebote in seiner augenblicklichen Nähe aufmerksam gemacht. PayPal plant mit dieser Technologie darüber hinaus die automatische Bezahlung, ohne mit der Kasse in Berührung zu kommen.

3D Wayfinding / Infogates / Google Indoor mapsBeliebte Service-Bausteine, die insbesondere in Shoppingcentern und gemanagten Ein-kaufsquartieren Anwendung finden. Alle Elemente erlauben das selbstständige Navigieren in 2D- und 3D-Kartensets zum leichteren Auffinden von Shops und Angeboten in einem Quartier. Die Anwendungen werden oftmals kombiniert mit Werbebotschaften.

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Mobile PaymentSmartphone-Apps ermöglichen neben der bargeldlosen Paypal Bezahlung ebenso die mo-bile Online-Bestellung von Waren und Mahlzeiten.

Local Inventory / Center-AppsTeilnehmende Unternehmen eines Einkaufsviertels oder eines Shoppingcenters schließen ihre Warenwirtschaftssysteme an eine Inventurzentrale und machen ihre aktuellen Waren- und Artikelbestände für Kundenabrufe an öffentlich zugänglichen Log-ins bzw. über Cen-ter-Apps sichtbar.

CouponingBei Eintritt Rabatt. Auch online-affine Schnäppchenjäger werden wieder zum stationären Einkäufer. Mittels Smartphone-App nimmt der Nutzer an einem Belohnungsprogramm für den stationären Einkauf teil. Über die Vergabe von Treuepunkte bei bestimmten Verhaltens-weisen, z. B. Eintritt in den Laden, Ansteuerung eines Regals, Prüfung eines Produktes und schließlich dem Kauf. Die App macht dem Kunden zudem maßgeschneiderte Angebote. Die Anwendungen setzen Sender in den kooperierenden Stores voraus. In den USA setzen

Abb. 13 E-Shop-Zugang bei Comme de Garcons Quelle: GfK (2015)

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46 Manuel Jahn46

die Nutzer der App Shopkick bei den beteiligten Händlern über 100 Mio. Dollar um, die ansonsten im Laden nicht umgesetzt worden wären. Kürzlich hat der Anbieter Mastercard als Partner gewonnen, was zeigt, wie sich eine vermeintliche Spielerei zu einem ernsthaften Geschäftsmodell entwickelt.

Mobile-/ Online-Beratung Online-Stationen und Ladenpersonal mit Smartphones oder Tablets ergänzen das Laden-angebot um das größere Online-Angebot. Ware kann online im eigenen Webshop bestellt werden, ohne den Kunden fortschicken zu müssen. Der Verkauf mit mobilen Endgeräten erfordert gut ausgebildete Fachkräfte.

1.5.2 Funktionszuweisung von Shops innerhalb des Vertriebsnetzes

Regelmäßige Umfragen der GfK bestätigen, dass Menschen auf den Besuch physischer Läden nicht verzichten wollen, gleichwohl auch die Vorteile des Einkaufs im Netz zu schätzen wissen. Der Online-Kauf ist besonders praktisch, je vergleichbarer und austausch-barer Waren sind. Verblüffend ist dagegen, wie in gut gemachten Ladenkonzepten Kunden Spontaneinkäufe tätigen, die vorher nicht geplant waren. Der Online-Kanal ersetzt also per se nicht das Ladengeschäft, er macht den Markt – wie jeder strukturelle Wandel zuvor auch – enger. Umsatzverschiebungen ins Netz treffen die Branchen und Anbieter aber nicht gleichermaßen. Vielmehr wird der Unterschied zwischen guten und schlechten Konzepten verstärkt: Sehr erfolgreiche Pure-Online-Stores wie Amazon stehen sehr erfolgreichen Pure-Offline-Stores wie Primark gegenüber.

Grundsätzlich vielversprechend stellt sich die sinnvolle Verknüpfung der jeweiligen Vorteile beider Sphären, Offline und Online, dar. Zu beobachten ist, dass Omni-Channel-Konzepte insgesamt an Bedeutung zulegen. Dort, wo Omni-Channeling sinnvoll ist – und das ist es nicht für jedes Produkt und jede Marke – können Online-Anwendungen den Absatz stationärer Produkte fördern und umgekehrt.

Nach GfK-Umfragen sieht der Kunde als größten Benefit des Omni-Channeling die Entscheidungsfreiheit, wann, wo und wie eingekauft werden kann. Händler, die dem Kun-den die Wahl des bequemsten bzw. vorteilhaftesten Einkaufs überlassen, können auch zu-rückgehende stationäre Umsätze durch Online-Bestellungen überkompensieren. Die künf-tige Umsatzstruktur eines traditionellen Retailers nach erfolgreicher Einführung einer Omni-Channel-Strategie könnte sich wie folgt darstellen:

Daraus ergibt sich, dass eine der wichtigsten Ausgangsfragen der modernen Standort-wahl ist, welche Rolle oder Funktion der neue Standort im Gesamtbild der Marke erfüllen soll. GfK geht davon aus, dass die Filialnetzplanung der Zukunft Ladengeschäften noch differenziertere Funktionen als heute zuweist. Schon heute ist erkennbar, welche Läden repräsentativen Show Room-Charakter haben, welche Filialen als Flagship die volle Sor-timentskompetenz zeigen, welche Lagen durch Standardkonzepte belegt werden und wel-che eher als Abholstationen für die Online-Bestellung fungieren.

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47Einzelhandel in Läden – Ein Auslaufmodell? 47

Jeder Filialtyp hat dabei also eine eigene, klar umrissene Aufgabe und ein eigenes Pro-fil. Dieses muss durch weitere Detailüberlegungen zur jeweils passenden Verkaufsfläche und Lage ergänzt werden. Die Frage des modernen Expansionsmanagers lautet also nicht nur: Wo lohnt sich ein neuer Standort? Sondern: Welcher Standort benötigt welche Shop-konzepte, um den höchstmöglichen Nutzen für die gesamte Vertriebsstruktur – offline wie online – zu erzielen? Dabei muss ein kanalübergreifendes Denken in den Vordergrund rü-cken. Die Maxime muss lauten, den Umsatz eines Unternehmens insgesamt und nicht nur den eines separaten Kanals zu optimieren.

1.5.3 Flächenbedarfe

Unter dem zunehmenden Einfluss von Omni-Channel-Trends unterscheiden sich die Aus-stattungs-, Lage- und Flächenanforderungen von Filialen erheblich:

Click & CollectDie Filialen benötigen Flächen zur Einrichtung von Delivery Stations. Dies kann den Flä-chenbedarf erhöhen, vor allem wenn durch die Attraktivität der Raumgestaltung Up-Sel-ling-Effekte (Zusatzeinkäufe beim Abholen) generiert werden sollen. Die Filialen benöti-gen weniger Flächen, wenn sich das Geschäftsmodell auf ein fokussiertes stationäres Kern-angebot konzentriert. Es werden mehr kleine Filialen nachgefragt, um ein dichtes Netz an Abholstationen zu weben, in teuren Haupteinkaufslagen können ggf. zusätzlich oder er-satzweise reine Abholstationen eingerichtet werden. Einige Filialen benötigen größere Lagerflächen für die Bereitstellung online-bestellter Waren.

Abb. 14 Umsatzanteile eines Fashion-Retailers nach Kanälen Quelle: GfK (2015)

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48 Manuel Jahn48

Augmented RealityEs werden größere Filialen nachgefragt von Einzelhändlern, die Ware mit hoher Emotio-nalisierung und starkem Markeninhalt verkaufen, somit auch virtuelle Anwendungen ent-sprechend großzügig räumlich-gestalterisch inszenieren. Es werden kleinere Filialen nach-gefragt von Einzelhändlern, die Ware mit geringer Emotionalisierung möglichst effizient anbieten und verkaufen wollen und virtuelle Darstellungen lediglich zur Einsparung von Fläche nutzen.

Online goes OfflineOnline-Händler fragen Ladenflächen in verschiedenen Lagequalitäten nach. Stationäre Konzepte, bei denen der Marketing-Aspekt im Vordergrund steht und die Miete nicht über den Umsatz erwirtschaftet werden muss, sind in der Lage, auch innerstädtische Bestlagen zu belegen. Online-Händler fragen Ladenflächen in Neben-, Gewerbegebiets- und Outlet-lagen nach, um Restanten und Rückläufer kontrolliert in den Markt zurückgeben zu kön-nen. Online-Händler werden insgesamt auf dem Immobilienmarkt voraussichtlich kaum als Player sichtbar werden, da Filialen nur vereinzelt und dann eher unter Marketing-As-pekten eröffnet werden.

CouponingStationäre Händler, die mobile Applikationen z. B. für Couponing aktiv in den stationären Verkaufsprozess implementieren, werden tendenziell eher mit höherer als mit geringerer Besucherfrequenz zu rechnen haben, da das Marketing über Smartphone-Apps eine höhe-re Zielgruppentrefferquote als klassische Werbemedien erzielt. Für bestimmte Einzelhänd-ler können auch wieder gute B- oder Nebenlagen als Standort attraktiv sein, wenn über die digitalen Hinweisschilder oder die Steuerung der Apps in höherem Maße Zielkunden ge-wonnen werden. Allerdings: Die verkaufsfördernden Effekte mobiler Anwendungen ste-cken in Deutschland noch in den Kinderschuhen und werden sich nicht kurzfristig auf die Flächenproduktivität oder die Standortwahl von Einzelhändlern auswirken.

1.6 Fazit – das Ladengeschäft der Zukunft

Das stationäre Ladengeschäft wird auch in Zukunft das wichtigste Vertriebselement im Einzelhandel darstellen. Der Online-Handel wird von angepassten Unternehmen nicht zuvorderst als Wettbewerber, sondern als Option zur Erweiterung der eigenen Reichweite angesehen. Der Kunde wird bei ausgefeilten Omni-Channel-Konzepten ohnehin nicht zwi-schen den Kanälen unterscheiden, sondern von Fall zu Fall die bequemste oder angenehms-te Bezugsform wählen.

Im Vergleich der Kundentypen sind die Ausgabebeträge „dualer“ Kunden, die online wie offline einkaufen, mit Abstand die Größten. Der gemanagte Handelsstandort bietet zudem günstige Voraussetzungen für die Implementierung und Verknüpfung der Omni-Channel-Konzepte seiner Mieter.

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49Einzelhandel in Läden – Ein Auslaufmodell? 49

Omni-Channeling wird die Anforderungen an Professionalität auf der Immobilien- wie auch Händlerseite erhöhen. Die Customer Journey – der Entscheidungs- und Kaufprozess des Kunden – muss bekannt sein, um nahtlos an seine Bedürfnisse andocken zu können.

Die Ladengeschäfte werden vor diesem Hintergrund noch stärker unterschiedliche Funktionen innerhalb der Omni-Channel- sowie der Filialnetzstrategie wahrnehmen. Ob Showroom, Flagship, Standardfiliale oder Abholstation: Die Funktionen werden sich noch mehr an den Erwartungshaltungen der Kunden an unterschiedliche Standorte richten müs-sen. Je nach Ausstattungsanforderungen wird das Ladengeschäft von morgen jene digitalen Innovationen implementieren, die den Besuch, das Einkaufserlebnis und schließlich den Kauf aus Kundensicht am besten unterstützen. Der Kauf muss dabei nicht zwingend im Laden abgeschlossen werden. So wandelt sich der stationäre Handel vom „Point of Sale“ hin zum „Touch Point“.

Mit der Ausdifferenzierung der Ladenkonzepte verändern sich auch Aufgaben und Cha-rakter der Handelsstandorte. Neben verkehrsorientierten Versorgungsstandorten werden sich anspruchsvolle Erlebnisbereiche mit hohem kulturellen Gehalt ausbilden, die in ihrer jeweiligen Zusammensetzung noch homogener als heute ausfallen werden. Grundsätzlich werden nur jene Konzepte und Standorttypologien überlebensfähig sein, die die Erwar-tungshaltungen der besser denn je informierten Konsumenten nicht enttäuschen. In diesem Zusammenhang gewinnt die Bedeutung von aktuellen politischen Restriktionen im statio-nären Einzelhandel wie bei der Sortimentsgestaltung oder den Öffnungszeiten eine neue Relevanz: Liberalisierung, wo der Kunde Flexibilität wünscht, führt zu Mehrumsatz; Li-mitierung dagegen zur Abwanderung, z. B. ins Internet.

Der Verkaufsflächenbedarf wird somit in unangepassten Segmenten – geografisch wie konzeptionell – durch den Rückzug des stationären Einzelhandels zurückgehen, aber in angepassten Bereichen durch erhöhten Flächenbedarf umfangreicherer Konsumwelten auch wachsen. Per Saldo kann dann mit einer noch leicht wachsenden Verkaufsfläche ge-rechnet werden.

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50 Manuel Jahn50

AutorManuel Jahn leitet den Bereich Consulting bei GfK GeoMarketing. Er bringt eine gut 15-jährige Berufserfahrung in der Analyse und Entwicklung von Einzelhandelsimmobilien mit. Seit 2004 ist er bei GfK tätig und berät die Handelsimmobilienwirtschaft in ganz Eu-ropa eine umfassende Kenntnis der Situation des Einzelhandels sowie der Handelsimmo-bilienwirtschaft erlangt. Zuvor war er im Verbund einer deutschen Immobilien- und Invest-mentbank mit der Entwicklung und Konzeption von Handelsimmobilien befasst, nachdem er eine Ausbildung zum Bankkaufmann und Studiengänge in Architektur und Stadtplanung abgeschlossen hatte. Manuel Jahn stellt der Immobilienwirtschaft seine Erfahrung und Vernetzung auch in der Lehre sowie in zahlreichen Beiratstätigkeiten und Fachbeiträgen zur Verfügung. Er ist Mitglied im Rat der Immobilienweisen. In der GfK betreut Manuel Jahn insbesondere Handelsunternehmen, Banken und Investoren im Rahmen anstehender Investitionsentscheidungen bei der Prüfung, Konzeption und Optimierung von Handelsim-mobilien sowie der Beurteilung von Standorten und Distributionsnetzen.

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The Big Change. Auswirkungen der neuen Technologien von  Industrie 4.0.

Neue Wertschöpfungsketten für den Handel

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. August-Wilhelm ScheerGesellschafter und Beiratsvorsitzender Scheer GmbH, Uni-Campus Nord, Saarbrücken, Deutschland [email protected], CC an: [email protected]

1.1 Einleitung

Der Terminus Industrie 4.0 (I4.0) ist aus einer Arbeitsgruppe der Forschungsunion zur Erarbeitung der Vision einer zukünftigen Industriegesellschaft unter Einfluss des Internets hervorgegangen. Insbesondere ist er von den Leitern dieser Gruppe Prof. Dr. Henning Kagermann, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlster sowie Prof. Dr. W.-D. Lukas geprägt worden. (Die Forschungsunion ist eine vom BMBF eingerichtete Gruppe von Vertretern aus Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft zur Erarbeitung von Leitlinien für die High-Tech-Strategie der Bundesregierung gewesen, der auch der Verfasser angehörte).

Der Begriff soll die durch das Internet ausgelöste vierte industrielle Revolution beschrei-ben. Die Zählweise wird dabei mit der Erfindung der Dampfmaschine, der Fließbandorga-nisation, der Automatisierung und nun dem Interneteintritt in die industrielle Organisation begründet.

Der Begriff Industrie 4.0 (Kurzform I4.0) hat sich rasend schnell verbreitet und in Wis-senschaft und Praxis als ein herausforderndes Schlagwort durchgesetzt. So haben sich z. B. die großen Wirtschaftsverbände ZVEI, VDMA und BITKOM unter dem Dach des BDI zur Erarbeitung einer gemeinsamen Plattform für I4.0 zusammengetan und in nahezu jedem größeren Industrieunternehmen ist I4.0 ein aktuelles Diskussionsthema. In der USA wird das Thema von dem Industrial Internet Consortium (IIC), dem die wesentlichen großen Industrie- und IT-Unternehmen angehören, behandelt. Auch deutsche Unternehmen arbei-ten im IIC mit.

Die Definitionen für I4.0 sind vielfältig und komplex. Viele erstrecken sich auf über eine halbe DIN A4 Seite Text und sind sehr technisch ausgerichtet. Häufig wird der Schwer-punkt einseitig auf die Automatisierung der Fertigung gerichtet, obwohl das Unternehmen als Ganzes betroffen ist. Die Nutzung neuer Informationstechniken unter Führung des In-ternets (insbesondere des Internets der Dinge) betrifft aber nicht nur die Industrie, sondern

R. Gläß, B. Leukert (Hrsg.), Handel 4.0, DOI 10.1007/978-3-662-53332-1_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

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führt in allen Branchen zu völlig neuen Geschäftsmodellen und Prozessen. Diese Entwick-lung wird auch als Digitalisierung der Wirtschaft bezeichnet.

Mit dem Begriff „Internet der Dinge“ wird ausgedrückt, dass nicht nur Menschen über das Internet kommunizieren, sondern auch alle „Dinge“ wie Materialien, Produkte und Maschinen. Aufgrund der möglichen Vielfalt wird deshalb in diesem Zusammenhang auch vom „Internet of everything“ gesprochen.

Im ersten Teil dieses Aufsatzes beschreibt der Verfasser anhand des Y-Modells (s. Abb. 1) grob die Auswirkungen der neuen Technologien in der Industrie (Industrie 4.0), um dann aufbauend darauf im zweiten Teil zu beleuchten, wie sich Prozesse und Geschäfts-modelle im Handel durch die neuen Informationstechniken verändern werden (Handel 4.0).

1.2 Auswirkungen der Technologien in der Industrie 4.0

In Abb. 1 bezeichnen die am äußeren Rand des Y-Modells angeordneten Worte die Funk-tionen und die Balken enthalten die betriebswirtschaftlichen Treiber von I4.0. Außerhalb sind die wesentlichen mit I4.0 verbundenen Technologien aufgeführt. Der linke Zweig des Y-Modells kennzeichnet die durch Aufträge getriebenen Geschäftsprozesse eines Indust-riebetriebes (Vertriebs-, Beschaffungs- und Produktionsaufträge), im Folgenden als Logis-tik bezeichnet. Der rechte Zweig des Y-Modells bezeichnet die durch das Produkt getrie-benen (Entwicklungs-) Prozesse. Im unteren Teil des Y-Modells (der Fabrik) finden die logistischen und produktbezogenen Prozesse zusammen; hier erfolgt die Zuordnung der zu produzierenden Teile zu den Ressourcen, die zeitnahe Steuerung und die Durchführung der Fertigung. Auf die drei Prozessbereiche Fabrik, Produktentwicklung sowie Logistik wird im Weiteren kurz eingegangen.

Abb. 1 Industrie 4.0: The Big Change Quelle: Eigene Darstellung

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53The Big Change 53

Die wesentliche neue I4.0-Technologie in der Fabrik sind sogenannte Cyber Physical Systems (CPS). Dieses sind softwareintensive Produktionssysteme, die mit dem Internet verbunden sind und untereinander sowie mit intelligenten Materialien kommunizieren können. Materialien werden als intelligent bezeichnet, wenn sie ihre Eigenschaften wie Qualität und benötigte Fertigungsschritte auf einem Datenträger (chip) mit sich führen. Über Nutzung von RFID–Technologien können dann die Materialien quasi selbstständig den Weg durch die Fertigung finden. Fällt ein CPS plötzlich aus, so übernimmt ein anderes System automatisch dessen Aufgabe. Die hohe Flexibilität der CPS ermöglicht eine starke Individualisierung der Fertigung, da das Umrüsten des Systems ohne Zeitverlust und damit ohne Kosten erfolgt. Im optimalen Fall ist damit die Fertigung vom Mengen mit Los-größe = 1 zu den Kosten der Massenproduktion möglich.

Eine weitere wesentliche Technologie ist die kostengünstige Speicherung von Massen-daten in der Fertigung (big data). Sie wird durch den Preisverfall von Speichermedien und durch neue „In memory“-Datenbanktechnologien ermöglicht. Durch Sensoren können Maschinen-, Material- und Umfeldzustände in Echtzeit (realtime) erfasst werden. Analyti-sche Auswertungsverfahren wollen nicht nur das Verhalten in der Vergangenheit erklären, sondern den Gegenwartszustand zum sofortigen Eingreifen nutzen und darüber hinaus Hinweise über ein zu erwartendes zukünftiges Systemverhalten geben. Bekanntestes Bei-spiel ist das predictive maintenance, bei dem aus dem gegenwärtigen Verhalten des Systems auf Anomalitäten geschlossen wird, die z. B. zum baldigen Auswechseln einer Komponen-te raten. Insgesamt führt die Kombination der Technologien zu der Vision der realtime sich selbst steuernden, extrem dezentralisierten Fabrik (smart factory).

Der rechte obere Teil des Y-Modells kennzeichnet die Entwicklung von Produkten sowie produktnahen Dienstleistungen. Die gezeigte stärkere Flexibilisierung der Fertigung unter-stützt eine stärkere Individualisierung der Produkte. Dieses bedeutet, dass die Varianten-zahl von Erzeugnissen gesteigert werden kann bis hin zur rein kundenindividuellen Ferti-gung.

Neue Technologien wie 3D-Druck erhöhen die Entwicklungsgeschwindigkeit neuer Produkte durch die schnellere Entwicklung von Prototypen (rapid prototyping). Konzepte wie speedfactory von adidas erlauben sogar die kundenindividuelle Fertigung des Lauf-schuhs nach Scannen der Passform. In einer I4.0 Umgebung mit intelligenten Materialien und Bearbeitungseinheiten können über die gesamte Lebenszeit eines Produktes alle vor-genommenen Aktivitäten wie Reparaturen, Wartungen, Änderungen etc. sowie die Einsät-ze und Einsatzbedingungen des Produktes automatisch erfasst und gespeichert werden. Dieses führt zum Konzept des transparenten Product Lifecycle Managements (PLM). Die Auswertung der PLM-Daten durch den Hersteller bringt neue Möglichkeiten für produkt-nahe Dienstleistungen. Bei der Erfassung von Maschinendaten in der Fabrik wurde bereits auf die predictive maintenance hingewiesen.

Eine extreme Weiterentwicklung von Wartungsdienstleistungen ist die Übernahme des Betriebs der produzierten Anlagen durch den Hersteller selbst. Dieses Konzept wird als BOO = Build, Own, Operate bezeichnet. Der Hersteller kennt seine Maschinen und Anla-gen am besten und kann über die PLM-Daten ihr Verhalten in Abhängigkeit aller Einsatz-

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bedingungen analysieren und ihren Einsatz optimieren. Deshalb liegt es nahe, dass er den Betrieb der Systeme beim Kunden oder in von ihm eingerichteten Produktionsstätten selbst vornimmt. Der Kunde kauft dann kein Aggregat mehr, sondern erhält und bezahlt eine Dienstleistung.

Auch der linke obere Teil des Y-Modells, also die Logistik, wird durch I4.0 stark verän-dert. Zunächst kann ein Kunde über vielfältige Kanäle (Multi-Channel) wie Standardcom-puter, Laptops oder Smartphones seinen Auftrag erteilen, stornieren oder ändern. Alle Kanäle müssen durcheinander benutzbar sein. Der leichte Zugang des Kunden zum Liefe-ranten führt zusammen mit der Individualisierung zu einem verstärkten Änderungsanfall und damit zu höheren Anforderungen an die Flexibilität in Fertigung und Produktentwick-lung. Der Kunde kann dann praktisch bis kurz vor dem Beginn der Fertigung noch seinen Wunsch gegenüber seiner ursprünglichen Produktdefinition ändern. Die Individualisierung der Produkte durch höhere Variantenzahl und kundenindividueller Fertigung erhöht die Zahl der Zulieferer und verringert die Fertigungstiefe des Unternehmens. Das bedeutet, dass das Logistiknetzwerk des Unternehmens schneller reagieren muss. Die gegenwärtig anzutreffenden Informationsbeziehungen von Abrufen zwischen Zulieferer und Abnehmer reichen dann nicht aus. Vielmehr muss das gesamte Liefernetzwerk (supply chain) trans-parent sein.

Die Beschreibung der drei Ansatzpunkte für I4.0, also Fabrik, Produkt und Logistik, zeigt deutlich, wie tief die betriebswirtschaftlichen Treiber Individualisierung, Dezentrali-sierung, Selbststeuerung, Dienstleistungsorientierung und Transparenz Industrieunterneh-men verändern werden. Nachhaltige Veränderungen durch die neuen I4.0 Technologien ergeben sich aber auch in vielen anderen Sektoren, wie etwa im Handel. Geschäftsmodelle im Handel befinden sich bereits seit einiger Zeit im Umbruch. Die Digitalisierung der Wirtschaft hat durch die Entwicklung des e-commerce sehr früh erste Auswirkungen in der Branche gezeigt. Weiterhin gilt, dass ausgesuchte Zielgruppen von Kunden mit ihren Be-dürfnissen hinsichtlich Sortiment, Qualität, Zeit, Verfügbarkeit und Preis im Mittelpunkt der Aktivitäten eines Händlers stehen. Die Definition von Zielgruppen und deren Bedürf-nisse haben sich jedoch gravierend verändert.

Der gesellschaftliche Wandel, Änderungen in der Lebensführung und eine zunehmende Mobilität haben zu einem veränderten Konsumentenverhalten geführt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „hybriden Konsumenten“. Die steigende private Verfüg-barkeit von mobilen Endgeräten und des Internets verstärkt diesen Trend, da deren Nutzung Raum für situationsbezogene Aspekten wie Spontanität und Selektivität bieten. Im Ergeb-nis kann der Handel das „beste Angebot“ nicht mehr fest einem Kunden zuordnen. Diesel-be Person wünscht je nach aktueller persönlicher Situation bedarfsgerechte Angebote über unterschiedliche Absatzkanäle. Kann der Händler dies nicht bedienen, dann wechselt ein Kunde schnell zu einem anderen Anbieter.

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55The Big Change 55

1.3 Big Data Anwendungen revolutionieren den Handel

Die geschilderte Situation stellt etablierte Geschäftsmodelle im Handel in Frage und be-gründet den aktuellen Trend zum Multi-Channel-Commerce und zu individualisierten An-geboten. Zur Bewältigung der geschilderten Herausforderungen kann die Anwendung der Technologien von Industrie 4.0 einen erheblichen Nutzen generieren. Zu einem Großteil werden Geschäftsmodelle dadurch erst möglich. Die im Handel am stärksten beachtete Technologie im Rahmen von Industrie 4.0 ist die Anwendung von Big Data Lösungen. Sie bietet vor allem im linken Teil des Y-Modells (Logistik) viele Anwendungsgebiete. In die-sem Bereich findet auch der größte Teil der Wertschöpfung eines Händlers statt.

Moderne Big Data Anwendungen mit InMemory Technologie ermöglichen eine Echt-zeit Integration von Daten zu Abverkäufen, Warenbewegungen, Produkt-Lebenszyklen und Kundenverhalten über alle Vertriebskanäle eines Unternehmens. Diese Integration ist eine zentrale Voraussetzung für erfolgreichen Multi-Channel-Commerce mit der Flexibilität, zwischen den Absatzkanälen wechseln zu können. Durch sie wird eine Echtzeit-Steuerung im operativen Betrieb erst möglich. Herkömmliche Technologien mit tagesaktuellen Batch-Läufen können dies nicht leisten.

Sind Daten erst einmal zentral und in Echtzeit verfügbar, bilden Sie die Grundlage für weitere Anwendungsgebiete. Informationen zu Abverkäufen, Individualaufträgen und Be-standsdaten bilden die Basis für eine automatische Disposition und Beschaffung. Hier bietet die InMemory Technologie den Vorteil hoher Geschwindigkeit. In Verbindung mit der Anwendung automatischer Analysen und Prognosen von zukünftigen Verbräuchen, kommt man so der Vision eines sich in Echtzeit selbst steuernden Unternehmens ein großes Stück näher. Als kritischer Erfolgsfaktor ist allerdings die Ausgestaltung der Zusammen-arbeit mit Lieferanten zu sehen. Dieser Punkt wird seit langem unter dem Begriff CPFR – Collaborative Planning and Forecasting diskutiert.

Für traditionelle Handelsunternehmen ist die Umstellung im Kundenbeziehungsma-nagement von einer Zielgruppenbetrachtung (1:n) zu einer individuellen Kundenbeziehung (1:1) ein dramatischer Paradigmenwechsel mit zum Teil erheblichen Anpassungen des Geschäftsmodells. Als „Best Practice“ kann der Handel das in der Konsumgüterindustrie entstandene Konzept des Social CRM anwenden, welches auf direkte individuelle Kunden-beziehungen abzielt.

Hier liegt ein weiteres bedeutendes Anwendungsfeld von Big Data Technologie im Handel. Neben einer leistungsfähigen Analytik, bieten neue InMemory basierte CRM Sys-teme die Möglichkeit zur Simulation von Kundenverhalten und Verfahren zur Analyse unstrukturierter Informationen z. B. aus Sozialen Netzwerken. Eine besondere Herausfor-derung bildet die Komplexität der verschiedenen Kommunikationskanäle in Kombination mit verschiedenen Absatzkanälen sowie die relativ große Menge an Kundendaten. Trotz-dem lohnt sich der Aufbau einer systembasierten Plattform für Social CRM, denn Sie bietet die Möglichkeit für eine persönliche Ansprache und Interaktion mit Personen. Vor allem die Bereitstellung von Lösungen für Bewertungen, Empfehlungen sowie die Schaf-fung einer Community wirken sich auf die Kundenbindung aus.

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Das Angebot, sich als Kunde personenbezogen über einen festen „Account“ zu identi-fizieren, ist für den Händler ein wichtiger Baustein um smarte, individuelle Serviceleistun-gen und personalisierte Produkte anzubieten. So kann sich ein Kunde im Online-Kanal des Händlers zu einem angebotenen Produkt in Ruhe informieren, um sich dann über seine ID direkt einen persönlichen Vorführungstermin mit einem Fachverkäufer in der nächstgele-genen Filiale zu reservieren. In einem anderen Fall könnten beispielsweise einmalig vom Kunden aufgenommene Daten zu Körpermaßen und Passform für die Nachbestellung von individuell gefertigten Textilien genutzt werden, um die Abwicklung beim Hersteller für alle Beteiligten komfortabler zu gestalten. Der Vielfalt an interessanten Serviceangeboten sind damit letztlich keine Grenzen gesetzt.

Als Gegenbewegung zu standardisierten Massenprodukten besteht bei den Verbrau-chern eine steigende Nachfrage an individualisierten Produkten. Ein sehr einfaches und bekanntes Beispiel ist die Mischung einer Wandfarbe in einem ganz bestimmten Farbton direkt im nächstgelegenen Bau-Fachmarkt. Für andere Produkte ist die Herstellung und Beschaffung mit herkömmlichen Produktions- und Logistikverfahren meist zu aufwendig und teuer. Dies wird sich durch konsequente Anwendung von Industrie 4.0 Technologie im Produktionsumfeld verändern. Zunehmend wird es möglich sein, Produkte in Kleinstmen-gen zu vergleichbaren Kosten einer Massenproduktion zu fertigen. Dies eröffnet sowohl für Händler als auch für Hersteller neue Möglichkeiten im Markt. Der Handel kann diese zur Kundenbindung nutzen und gleichzeitig über spezielle Angebote eine Differenzierung zum Wettbewerb erzeugen.

Hier schlagen wir die Brücke zum rechten Teil des Y-Modells (Produkt), in das Pro-duktdesign. Zielstellung des Händlers ist es, die Individualität zum Verbraucher zu bringen und für eine korrekte Auftragsannahme, Warenausgabe und Abrechnung zu sorgen. Aus Sicht des Herstellers ist der zulässige Grad der Produkt-Individualisierung ein entscheiden-der Faktor. Das Ausmaß an Individualisierung kann z. B. von der Erzeugung einer einfa-chen Gravur auf einem Standard Objekt bis hin zu einer vollständigen individuellen Ferti-gung per 3D-Drucker variieren. Je größer die Freiheitsgrade des Kunden beim Design des Produktes, umso komplexer die Konfiguration. Die Bereitstellung eines nutzerfreundlichen Produkt-Konfigurators und die korrekte automatische Übertragung in das Fertigungssys-tem des Herstellers sind damit ganz wesentlich für den Erfolg. Im Rahmen der Forschung für Industrie 4.0 Anwendungen wird bereits an solchen nutzerfreundlichen Konfiguratoren gearbeitet.

Ein weiterer Effekt der Anwendung von Industrie 4.0 ist die breitere Verfügbarkeit von virtuellen Produktdaten oder auch 3D Daten. Diese, ursprünglich für Produktentwicklung und Product Lifecycle Management erzeugten Daten können zusätzlich zur Visualisierung auf elektronischen Medien in den Bereichen Marketing und Vertrieb genutzt werden.

Für den Handel eröffnet dies Möglichkeiten für eine bessere Beratung und Kundenbe-treuung. Selbst gut geschultes Fachpersonal kennt nicht alle Details zu jedem Produkt. Der Einsatz von virtualisierten Produktinformationen auf Displays oder Mobilgeräten in den Filialen kann in Verbindung mit einer persönlichen Beratung einen deutlichen Mehrwert für Kunden bieten. Gerade bei komplexen Produkten ist dies sinnvoll.

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Ein Handelsunternehmen betreibt zwar keine Produktion, dessen ungeachtet lassen sich Ansätze von Industrie 4.0 aus dem unteren Teil des Y-Modells (Fabrik) darauf anwenden. So wird die Nutzung von intelligenten Materialien nicht auf die Fertigung in einem Indus-triebetrieb beschränkt bleiben. Durch sinkende Kosten und starke Miniaturisierung werden zunehmend Funk-Chips (RFID-Tags) an Konsumgüterprodukten angebracht sein, um ne-ben produktbeschreibenden Attributen auch kontinuierlich Daten zum Lebenszyklus des einzelnen Produktes wie Transport-, Qualitäts- oder Kontrollinformationen zu speichern. Man spricht in diesem Zusammenhang vom „digitalen Produktgedächtnis“. Diese Daten-basis können Händler gemeinsam mit Herstellern, Logistikunternehmen und anderen Ser-vicepartnern zur schnellen Identifikation und Nachverfolgung von Produkten nutzen.

Weitere sinnvolle Anwendungen ergeben sich im Bestands- und Warenmanagement. Bereits die Durchführung einer Inventur auf Basis von Produkten mit RFID-Tags bringt positive Effekte. Sie wird bei einigen Textilhändlern bereits heute im Filialbereich ange-wendet. Werden die Daten des digitalen Produktgedächtnis wie oben beschrieben über Big Data Lösungen in Echtzeit verarbeitet, ergeben sich hohe Nutzenpotentiale für die Steue-rung des gesamten Unternehmensnetzwerks im Sinne einer „operational excellence“.

Bei komplexen Individualprodukten ist sogar die sichere Speicherung ausgesuchter Kunden-, Service- und Nutzungsdaten denkbar. Über dieses Instrument können Fachhänd-ler, z. B. in Zusammenarbeit mit dem Hersteller, einen smarten Kundenservice bieten. Bei einigen teuren, langlebigen Produkten, wie z. B. dem Automobil, gibt es dies bereits. Ab-schließend sei hier darauf hingewiesen, dass inzwischen eine Vielzahl von Handelsunter-nehmen in ausgesuchten Warengruppen vertikal wachsen und somit auch als Hersteller tätig ist. Führende Lebensmittelhändler stellen z. B. selbst eigene Backwaren, Fleischpro-dukte, Süßwaren oder auch Getränke her. Auch im Textilhandel gibt es seit langem einen Trend zur Vertikalisierung. Unternehmen mit solchen vertikalen Geschäftsmodellen kön-nen ganz besonders von Technologien und Lösungen für Industrie 4.0 profitieren, da sie die Umsetzung neuer Konzepte sowohl als Fertiger als auch als Händler selbst gestalten können.

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AutorProf. Dr. Dr. h. c. mult. August-Wilhelm Scheer Vordenker und Wegbereiter der Digitalen Transformation. Prof. Dr. Dr. h. c. mult. August-Wilhelm Scheer ist einer der prägendsten Wissenschaftler und Unternehmer der deutschen Wirtschaftsinformatik und Softwareindustrie. Seine Bücher gehören zu den Standardwer-ken des Geschäftsprozessmanagements; die von ihm entwickelte Managementmethode ARIS für Prozesse und IT wird in nahezu allen DAX-, vielen mittelständischen Unterneh-men und auch international eingesetzt. Er ist Gründer erfolgreicher Software- und Bera-tungsunternehmen, die er aktiv begleitet. Zu den Unternehmen der Scheer Gruppe zählen Scheer GmbH, imc AG, Scheer e2e, IS Predict, Backes SRT und Okinlab. Zur Förderung des anwendungsorientierten Forschungstransfers hat er in 2014 das AWS Institut für digi-tale Produkte und Prozesse gGmbH gegründet. Als Unternehmer und Protagonist der Zu-kunftsprojekte „Industrie 4.0“ und „Smart Service World“ der Bundesregierung arbeitet er aktiv an der Ausgestaltung der Digital Economy. Seit September 2015 ist Prof. Dr. Dr. h. c. mult. August-Wilhelm Scheer zusammen mit Bundesministerin Prof. Dr. Wanka Vorsitzen-der der vom BMBF gegründeten IT-Gipfel-Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wis-senschaft“.

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Die Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodelle

Prof. Dr. Tobias Kollmann Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Lehrstuhl für E-Business und E-Entrepreneurship, Essen, [email protected]

Simon Hensellek, M.Sc.Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Lehrstuhl für E-Business und E-Entrepreneurship, Essen, [email protected]

1.1 Einleitung

Das relative Kräfteverhältnis in der modernen Geschäftswelt hat sich schon lange von analog zu digital verlagert und die digitale Transformation erfasst heute sämtliche Ge-schäftsbereiche vom hoch innovativen Hightech-Sektor bis hin zur klassischen Industrie. Zahlreiche der aktuell wertvollsten Unternehmen der Welt sind gar sogenannte „Pure Play-er“, also rein digital ausgerichtete Unternehmen mit ausschließlich elektronischen Wert-schöpfungsprozessen (z. B. Google, Facebook oder Alibaba). Viele dieser Unternehmen waren vor nicht zu langer Zeit noch ein Start-Up und konnten seit ihrer Gründung ein enormes Wachstum generieren. Davon abgesehen haben diese Unternehmen eine Sache gemein: Ein gut entwickeltes, differenziertes und klar artikuliertes digitales Geschäftsmo-dell basierend auf elektronischen Wertschöpfungsprozessen als zentraler Punkt ihrer Ge-schäftsstrategie und somit als Treiber ihres Wettbewerbsvorteils in einer immer komplexer und dynamischer werdenden Umwelt, die in stetig kürzer werdenden Zyklen durch Inno-vationen neu geordnet wird.

Eine solch andauernde rapide Entwicklung innovativer Geschäftsmodelle aufgrund neuer Technologien und smarter Ideen – im besten Sinne von sChumPeters (Ansatz zur Ressourcenrekombination und kreativen Zerstörung) sowie Christensens Überlegun-gen zu disruptiven Innovationen – übt jedoch auch enormen Druck auf etablierte Firmen und deren etablierte (analoge) Geschäftsmodelle aus. Unternehmen müssen sich der Herausforderung der digitalen Transformation stellen. Zahlreiche etablierte Theorien und Indikatoren zur Wertschöpfung von Unternehmen müssen aufgrund des Entstehens von E-Business hinterfragt und neu gedacht werden. amit und zott argumentierten daher bereits im Jahr 2001, dass das Konstrukt Geschäftsmodell als Analyseebene die Wertschöpfung über multiple Quellen hinweg vereinigt und daher explizit dazu geeignet ist, die grundlegende Transformation von analog zu digital erfassen und ausdrücken zu können.

R. Gläß, B. Leukert (Hrsg.), Handel 4.0, DOI 10.1007/978-3-662-53332-1_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

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Konsequenterweise ist die hier präsentierte Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodel-le nicht nur für neuartige Geschäftsmodelle im Rahmen von Neugründungen, sondern auch für die Rekonfiguration bestehender Geschäftsmodelle in einer zunehmend vernetzten und digitalen Umwelt unverzichtbar. Durch den modularen Ansatz dieser Basisarchitektur kön-nen beide Arten der Generierung von Geschäftsmodellen gemeistert werden und dieses Rahmenwerk ferner als Blaupause zur Lehre von EEntrepreneurship in Schulen und Uni-versitäten genutzt werden. Damit wird ein umfassendes Rahmenwerk vermittelt, wie ein erfolgreiches digitales Geschäftsmodell basierend auf Wertschöpfungsprozessen durch innovative Informationstechnologie (IT) verstanden, entworfen, implementiert und konti-nuierlich (re)evaluiert werden kann. Entrepreneuren und Vorständen wird damit ein wirk-sames Tool an die Hand gegeben, dass sie befähigt, auf einfache Art und Weise die Wert-schöpfungslogik ihres Unternehmens zu erfassen, zu analysieren, zu artikulieren, zu teilen und letztlich auch zu verändern. Dabei können diese Aktivitäten entweder das gesamte Geschäftsmodell oder nur spezifische Teile dessen umfassen und sowohl innerhalb der Firma als auch über das gesamte Stakeholder-Netzwerk hinweg erfolgen. Dabei werden, ausgehend von einem realen Problem und einer Idee zur Lösung dieses Problems als Start-punkt, die Entwicklung des konkreten Produkts, die Generierung von Nachfrage hierfür und die anschließende Implementierung geeigneter Geschäftsprozesse anhand der Techno-logien, Prozesse und Maßnahmen dargestellt, welche essenziell für ein erfolgreiches digi-tales Geschäftsmodell sind.

1.2 Hintergrund

IT ist der entscheidende Treiber von ökonomischem und sozialem Fortschritt im 21. Jahr-hundert, da durch IT-Innovationen und deren intelligente Nutzung völlig neue Wege der Geschäftigkeit und Wertschöpfung erschlossen werden können, die über die klassische Wertschöpfungskette nach Porter (1985) hinaus gehen (Amit, Zott 2001, Kollmann 2014). Diese neuen Möglichkeiten der Wertschöpfung mittels systematischer Sammlung, Verar-beitung und Verwertung von Informationen – teilweise oder vollständig unabhängig von physischen Wertketten – führte zur Entstehung des Konzepts der Net Economy Value Chain (Weiber, Kollmann 1998) und einem Trend, der die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen neu ordnet: EBusiness. Der Begriff E-Business kann dabei sowohl aus theoretischer als auch praxisorientierter Sicht definiert werden (Kollmann 2013b, S. 51):

„E-Business ist die Nutzung der Informationstechnologien für die Vorbereitung (Informati-onsphase), Verhandlung (Kommunikationsphase) und Durchführung (Transaktionsphase) von Geschäftsprozessen zwischen ökonomischen Partner über innovative Kommunikationsnetz-werke (theoretische Sichtweise).“

„E-Business ist die Nutzung von innovativen Informationstechnologien, um über den virtuel-len Kontakt etwas zu verkaufen, Informationen anzubieten bzw. auszutauschen, dem Kunden

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eine umfassende Betreuung zu bieten und einen individuellen Kontakt mit den Marktteilneh-mern zu ermöglichen (praxisorientierte Sichtweise).“

Mit der Entstehung solch neuer Möglichkeiten der Wertschöpfung durch die Nutzung des E-Business geht stets die Entstehung neuer Gründungsaktivitäten einher, welche sich am Markt positionieren, um Gewinne durch die Exploration und Exploitation innovativer Geschäftsideen zu generieren (Amit, Zott 2001). Solch neue Gründungsaktivitäten basie-rend auf einer innovativen Idee innerhalb der Net Economy werden als E-Entrepreneurship bezeichnet und spielen eine Pivotrolle für den sozialen und ökonomischen Fortschritt in unserer Gesellschaft (Kollmann 2014). Es ist daher wichtig, diese neuen Wege der Orga-nisation, Durchführung und Etablierung von Geschäftstätigkeiten en détail zu verstehen. Nur so können sie korrekt analysiert, bei Bedarf modifiziert und letztlich erfolgreich über das gesamte Share- und Stakeholdernetzwerks eines Unternehmens hinweg geteilt werden. Für Führungskräfte etablierter Unternehmen ist dieses Wissen ebenso essenziell, da sie besser heute als morgen auf derartige Veränderungen und den steigenden Druck durch neue, innovative Marktteilnehmer proaktiv reagieren müssen. Da bereits Führungskräfte etab-lierter Unternehmen der Real Economy Probleme damit haben, die Wertschöpfungslogik ihres Unternehmens, d. h. ihr Geschäftsmodell, exakt auszudrücken (Linder, Cantrell 2000), wird ihnen dies durch die zunehmende Dynamik mit der Entwicklung des E-Busi-ness nicht leichter fallen.

Darüber implementieren junge Startups nicht nur häufiger rein digitale Geschäftsmo-delle basierend auf elektronischen Wertschöpfungsprozessen mit Fokus auf Informationen (Kollmann 2013b), also digitale Geschäftsmodelle im engeren Sinne, sondern sind auch häufiger in der Lage, die Idee hinter ihrem digitalen Geschäftsmodell klarer zu artikulieren (Linder, Cantrell 2001). Trotz extensiver Nutzung des Begriffs „Geschäftsmodell“ sowohl in der Forschung als auch in der Praxis, fehlt es bis dato aufgrund seiner komplexen Natur an einem exakten, allgemein akzeptierten Verständnis dieses Begriffs (Linder, Cantrell 2000, Casadesus-Masanell, Ricart 2010, Zott, Amit & Massa 2011). Die am häufigsten genutzte Definition beschreibt ein Geschäftsmodell als die Logik eines Unternehmens, wie es agiert und somit wie es nachhaltig Wert für seine Share- und Stakeholder schafft (Zott, Amit & Massa 2011, Chesbrough, Rosenbloom 2002, Morris, Schindehutte & Allen 2005, Teece 2010). Die Fähigkeit, das Geschäftsmodell eines Unternehmens zu verstehen und artikulieren zu können, ist unerlässlich, um Einsicht in die individuellen Strukturen seiner Geschäftstätigkeit und Wertschöpfung zu erhalten, um zu verstehen, ob und wie es kurz-, mittel- oder langfristig einen Wettbewerbsvorteil aufbauen kann. Dies ist insbesondere für solche Geschäftsmodelle wichtig, die auf rein immateriellen, informationsgetriebenen Wertschöpfungsketten basieren. Ein digitales Geschäftsmodell kann daher definiert werden als die Logik, wie ein Unternehmen innerhalb der Net Economy agiert und wie es nachhal-tig Wert schafft durch elektronische, informationsbezogene Prozesse basierend auf und ermöglicht durch innovative Informationstechnologie.

Intuitiv sind daher bestimmte Differenzen zu klassischen Geschäftsmodellen erkennbar, die es notwendig machen, ein Rahmenwerk zu schaffen, das explizit für die Generierung

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von digitalen Geschäftsmodellen nutzbar ist. Ohne eine solche Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodelle ist selbst die innovativste Idee zum Scheitern am Markt verurteilt. Die Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodelle bietet somit ein notwendiges, holistisches Rahmenwerk, das als generisches Tool speziell für E-Ventures, d. h. junge Unternehmen mit einer innovativen Geschäftsidee innerhalb der Net Economy sowie zur Rekonfigurati-on bestehender Geschäftsmodelle im Rahmen hin zur Digitalisierung geschaffen wurde. Es unterstützt sowohl Unternehmensgründer und Führungskräfte bei der Errichtung, Kontrol-le und Weiterentwicklung ihrer digitalen Geschäftsmodelle als auch Investoren und andere Stakeholder dabei, die richtigen Fragen zu stellen, um das Potenzial eines digitalen Ge-schäftsmodells korrekt evaluieren zu können.

1.3 Rahmenwerk

1.3.1 Startpunkt: Problem, Idee und Basis-Informationsprozesse

Der Startpunkt eines jeden digitalen Geschäftsmodells ist eine innovative Idee basierend auf dem Erkennen und Formulieren eines relevanten Problems, das besser mittels elekt-ronischer Prozesse gelöst werden kann, als es durch bestehende reale oder elektronische Prozesse der Fall ist. Bei der Exploration solcher Probleme in der Absicht, innovative Lösungen zu entwickeln, wird jedoch oftmals der Fehler begangen, dass irrelevante Probleme bzw. deren Lösung als Basis eines Geschäftsmodells herangezogen werden.

Abb. 1 Die Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodelle Quelle: Eigene Darstellung

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63Die Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodelle 63

Folglich sind bereits die Basisannahmen eines solchen Modells sowie die darauf aufbau-ende Systemarchitektur falsch, was regelmäßig zu allzu optimistischen Umsatzprogno-sen, welche die korrespondierenden Kosten nicht decken können, führt. Ein erfolgreiches digitales Geschäftsmodell muss dazu fähig sein, ein relevantes Problem in einer superi-oren Art zu lösen, also schneller, leichter (bequemer) oder günstiger. Dieses Ziel kann zum einen erreicht werden, indem der gleiche Kundennutzen zu einem günstigeren Preis oder zum anderen, indem ein höherer Kundennutzen zu einem vergleichsweise identi-schen Preis geliefert wird. Der resultierende Wert sollte idealerweise einzigartig sein und kann in Form einer völlig neuartigen innovativen Idee oder aber, was öfter der Fall ist, in Form einer smarten Idee, die Produkte und Services in einer neuartigen Weise kombi-niert, angeboten werden (Linder, Cantrell 2001, Galunic, Rodan 1998). Eine spezifische Eigenschaft von superioren digitalen Geschäftsmodellen ist Skalierbarkeit, weshalb die dahinterstehende Idee durch ihre Massentauglichkeit ein inhärentes Potenzial aufweisen muss, schnell skalieren zu können. Daher sollte jedes E-Venture stets die Produktakzep-tanz und damit verbundene Zahlungsbereitschaft der Kunden von Beginn an konsequent berücksichtigen.

Die Realisation der Idee erfolgt anschließend mittels der Basis-Informationsprozesse des sog. Informationsdreisprungs, welcher die Informationssammlung, verarbeitung und übertragung umfasst (Kollmann 2013b). Die Informationssammlung bezeichnet den ers-ten Schritt, bei dem relevante Daten als Informationsinput zur weiteren Wertschöpfung gesammelt werden, um einen nutzbaren Datenbestand aufzubauen. Das Ziel der Infor-mationssammlung ist eine Effektivitätssteigerung durch eine einfache, schnelle und um-fassende Gewinnung von Informationen zu den Bedürfnissen potenzieller Kunden. So können Kundeninformationen aktiv zur Angebotsgestaltung genutzt werden und darauf basierend individuelle, auf die Kundenwünsche zugeschnittene, Leistungen angeboten werden. Die Informationsverarbeitung bezeichnet den zweiten Schritt, bei dem die ge-sammelten Daten bearbeitet und in ein entsprechendes Informationsprodukt für den Kunden umgewandelt werden. Das Ziel der Informationsverarbeitung ist eine Effizienz-steigerung, da die einfache, schnelle und umfassende Verarbeitung der Informationen die Prozesse des Unternehmens verbessern und Kosten reduzieren kann. Die Informations-übertragung bezeichnet den dritten Schritt, bei dem die erlangten und verarbeiteten In-formationen gegenüber den Kunden umgesetzt werden und ein wertschaffender Infor-mationsoutput entsteht. Das Ziel der Informationsverarbeitung ist eine Effektivitätsstei-gerung, da die einfache, schnelle und umfassende Übertragung der Informationen die wahrgenommene Vorteilhaftigkeit eines Angebots erhöhen kann. Der Kunde kann dabei als Informationsempfänger die für ihn individuell relevanten Informationen selektieren und aktiv auswerten. So kann der das Kauferlebnis bzw. der Kundennutzen in den Berei-chen Suche, Bewertung (produktbezogen), Problemlösung (dienstleistungsbezogen) er-höht oder die Transaktionskosten gesenkt werden. Entscheidend für diese Basis-Infor-mationsprozesse ist, dass ein permanenter und verlässlicher Informationsfluss von einem Schritt zum nächsten etabliert wird, insbesondere da der Informationsinput stetigen Ver-änderungen unterliegt.

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1.3.2 Angebot: Elektronischer Mehrwert über elektronische  Plattformen

Ausgehend von diesem Startpunkt muss das spezifische elektronische Angebot geschaf-fen werden, das den Kunden den unternehmensindividuellen elektronischen Mehrwert liefert. Der elektronische Mehrwert kann sich dabei unterscheiden hinsichtlich der Fak-toren Zeit (z. B. Aktualität), Inhalt (z. B. Relevanz) und Form (z. B. Detaillierungsgrad). Mithin kann ein elektronisches Angebot einen oder auch mehrere der folgenden Mehr-werte liefern:

Überblick: Ein elektronisches Angebot bietet einen Überblick über eine große Menge an Daten, deren Sammlung andernfalls sehr aufwendig wäre. Es schafft somit einen Struk-turierungswert. Beispiel: google.comAuswahl: Ein elektronisches Angebot bietet die Möglichkeit, gewünschte Informationen, Produkte oder Leistungen effektiver und / oder effizienter mittels Datenbankabfragen zu identifizieren. Es schafft somit einen Selektionswert. Beispiel: amazon.comVermittlung: Ein elektronisches Angebot bietet einen Mechanismus, um Angebot und Nachfrage effektiver und / oder effizienter zu vermitteln. Es schafft somit einen Matching-wert. Beispiel: craigslist.orgAbwicklung: Ein elektronisches Angebot bietet die Möglichkeit, Transaktionen zwischen Parteien effektiver und / oder effizienter abzuwickeln. Es schafft somit einen Transaktions-wert. Beispiel: paypal.comKooperation: Ein elektronisches Angebot bietet Mechanismen, wodurch verschiedene Parteien effektiver und / oder effizienter miteinander kooperieren können. Es schafft somit einen Abstimmungswert. Beispiel: staralliance.comAustausch: Ein elektronisches Angebot bietet Möglichkeiten, die es den Parteien erlauben, effektiver und / oder effizienter miteinander zu kommunizieren. Es schafft somit einen Kommunikationswert. Beispiel: facebook.com

Um seinen unternehmensindividuellen elektronischen Mehrwert an Kunden liefern zu können, benötigt ein E-Venture elektronische Plattformen. Dabei sind verschiedenste Kom-binationen von elektronischem Mehrwert und der jeweils korrespondierenden elektroni-schen Plattform möglich, wie z. B. die Übertragung eines identischen Mehrwerts über verschiedene Kanäle oder unterschiedliche Mehrwerte über einen oder mehrere Kanäle in der Form von Cross- und Up-Selling von Kern- und Nebenleistungen entlang der elektro-nischen Wertschöpfungskette. Elektronische Plattformen bauen im Allgemeinen auf die drei Grundbausteine Information, Kommunikation und Transaktion auf, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Gewichtung dieser einzelnen Bausteine. Dementsprechend werden Sie als Teil des Net Economy Schalenmodells in E-Procurement (Transaktionsebene: Fo-kus auf Einkauf), E-Shop (Transaktionsebene: Fokus auf Verkauf), E-Marketplace (Trans-aktionsebene: Fokus auf Handel), ECommunity (Informationsebene: Fokus auf Kommu-nikation) und E-Company (Informationsebene: Fokus auf Kooperation) rubriziert (Koll-mann 2013b). Diese Plattformen können sich intuitiv zu einem gewissen Maße überschnei-

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den, sodass hybride Formen entstehen, wie z. B. ein E-Marketplace in Kombination mit einer integrierten E-Community.

1.3.3 Nachfrage: Zielgruppen richtig ansprechen

Der Erfolg eines elektronischen Angebots und daraus resultierende Einnahmen können nur durch die passende Nachfrage generiert werden, welche abhängig vom unternehmensindi-viduellen Angebot und der genutzten Plattform(en) adressiert werden muss. Folglich muss die spezifische Zielgruppe mittels einer eingehenden Analyse der Kundenbedürfnisse, -probleme und -segmente identifiziert werden, welche im Ergebnis zu einer Segregation in verschiedene Kundenprofile führt. Als nützliche Charakteristika zur Unterscheidung ver-schiedener Arten von Kunden können anhand des Akzeptanzmodells nach kollmann (2013a) deren Einstellung gegenüber, Interaktion mit und Nutzung von einer elektroni-schen Leistung herangezogen werden. Dem jeweils resultierenden Kundenprofil entspre-chend, können korrespondierende Marketingansätze abgeleitet werden, um jede Kunden-gruppe durch eine möglichst individuelle Kombination aus Marketingmaßnahmen wie Online-Marketing, Suchmaschinenoptimierung (SEO), Suchmaschinenwerbung (SEA), Social Media Marketing, Viralmarketing oder Marketingkooperationen anzusprechen. Da-bei zählen auch klassische Marketingmaßnahmen wie das E-Mail-Marketing oder Coupo-ning zu oft genutzten Optionen, die jedoch gezielt eingesetzt werden müssen, um eine zu hohe Informationsflut gegenüber dem Kunden zu vermeiden. Die Kombinationen der oben genannten Maßnahmen unterscheiden sich generell hinsichtlich ihrer Reichweite, Kosten und Performance. Darüber hinaus liefert dieser Schritt außerdem nützliches Feedback über die eigenen Kunden und die Wirksamkeit der Marketingmaßnahmen, wodurch das Unter-nehmen sein spezifisches Angebot verfeinern und somit die Kundenbedürfnisse in höherem Maße erfüllen kann, was heutzutage immer stärker von Kunden gefordert wird. Die zent-ralen Fokusbereiche im Marketing eines digitalen Geschäftsmodells korrespondieren wie folgt in Abhängigkeit von der genutzten elektronischen Plattform(en): E-Procurement: Supplier Relationship Management und WissensmanagementE-Shop: Kundengewinnung, Kundenbewertung und KundenbindungE-Marketplace: Kundengewinnung, Kundenmatching und KundenbindungE-Community: Mitgliedergewinnung, Mitgliederbewertung und MitgliederbindungE-Company: Marktmanagement und Wissensmanagement

Das Marketing im E-Procurement verlangt z. B. einen starken Fokus auf das Supplier Re-lationship Management (SRM) und Wissensmanagement. Im Gegensatz dazu liegt der Fokus z. B. im E-Shop Marketing auf Kundengewinnung, -bewertung und -bindung. Kom-men für die Kundengewinnung allgemein die bereits oben genannten Marketingmaßnah-men in Frage, nimmt heute auch die Kundenbewertung einen wichtigen Stellenwert ein. Mittels innovativer und stark informationsgetriebener Methoden wie Data Warehousing (Aufbau eines Datenpools), Data Mining (multidimensionale Analyse des Datenpools) und

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Database-Marketing (Umsetzung von Marketing- und Verbesserungs-Aktivitäten auf Basis des Datenpools) können aussagekräftige Kundenprofile erstellt und genutzt werden. Daran anknüpfend kann durch unmittelbare Personalisierung ein höherer Mehrwert geliefert wer-den, da die Kundenpräferenzen besser befriedigt werden, sodass ein wiederholter Kauf oder eine wiederholte Nutzung wahrscheinlicher ist und die Kundenloyalität erhöht wird. Im Rahmen der Kundenbindung kann ferner eine individualisierte Reaktivierung von Kunden angestrebt werden. Der Datenpool kann außerdem auch im Beschwerdefall ein präzises und kundenfreundliches Beschwerdemanagement unterstützen.

1.3.4 Implementierung: Technologien und Kerngeschäftsprozesse

Mit einem elektronischen Angebot und entsprechender Nachfrage an der Hand, muss ein EVenture in der Lage sein, die notwendige Implementierung im Backend und Frontend vorzunehmen, um eine Bestellung auf allen Ebenen erfolgreich abwickeln zu können. In diesem Zusammenhang bezeichnen Geschäftsprozesse die Implementierung von elektro-nischer Wertschöpfung, ermöglicht durch reale Ressourcen eines E-Ventures. Da digitale Geschäftsmodelle in hohem Maße informations- und prozessgetrieben sind, müssen solche Geschäftsprozesse implementiert werden, die optimal der genutzten Plattform(en) und Technologie(n) gerecht werden. Diese wesentlichen Technologien umfassen Internet, Mo-bilfunk und interaktives Fernsehen (ITV). Geschäftsprozesse werden unterteilt in Kernpro-zesse und assoziierte Prozesse, welche wiederum jeweils standardisiert oder individuell gestaltet sein können, aus deren Kombination superiore Performance resultieren kann. Hochstandardisierte Prozesse können insbesondere Kostenreduktionen bieten. Individua-lisierte Prozesse können insbesondere höheren Kundennutzen aufgrund von erfolgreicher Differenzierung zu Wettbewerbern bieten. Solche Prozesse umfassen die Bereiche E-Sales, E-Trading, E-Networking, E-Request und ECustomization.

Herausragende digitale Geschäftsmodelle verfügen über leicht skalierbare, erweiterba-re und anpassbare Softwarearchitekturen, welche es ermöglichen, Skaleneffekte mit nur einem oder wenigen Basisprozess(en), wie es z. B. bei online Auktionsplattform der Fall ist, auszunutzen. Dieser Vorteil resultiert daraus, dass insbesondere elektronische Angebo-te in der Lage sind, mit nur wenigen Basisprozessen eine nahezu unbegrenzte Anzahl an Nutzern bzw. Kunden zu bedienen. Potenzielle Limitationen bestehen für digitale Ge-schäftsmodelle in der Regel durch reale Ressourcenbeschränkungen (z. B. Server) sowie durch Kundengewinnung und betreuung. In der mittleren und langen Frist sind diese jedoch ebenfalls skalierbar sowie durch innovative Möglichkeiten des Outsourcings (z. B. Web-hosting, Full-Service-Dienstleister oder Affiliate-Marketing) sogar in gewissem Maße in der kurzen Frist. Die Komplexität der Wertschöpfung, im Speziellen in langen Wertschöp-fungsketten über Firmen hinweg, erhöht die Wichtigkeit einer expliziten Fokussierung auf eine reduzierte Anzahl an wesentlichen Kernprozessen zur Erhöhung des Kundennutzens nochmals. Dies wiederum erleichtert zudem auch eine Identifizierung von Schwächen in-nerhalb der Kernprozesse eines Unternehmens. Eine solche Identifizierung und sukzessive

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Verbesserung sind essenziell für den Erfolg eines digitalen Geschäftsmodells, da elektro-nische Prozesse zum Großteil nahezu oder vollständig automatisiert ablaufen und somit bereits kleine Fehler einen erheblichen Einfluss auf den Unternehmenserfolg haben kön-nen. Letztlich nehmen auch die Kunden mindestens die Prozesse im Frontend aktiv wahr und beurteilen ein Unternehmen anhand dessen Prozesssicherheit und qualität. Diese bei-den Faktoren determinieren somit maßgeblich das Nutzungsverhalten durch die Kunden. Getrieben von der Virtualität elektronischer Angebote, entsteht durch elektronische Prozes-se das reale Qualitätsbild eines Unternehmens in der Öffentlichkeit. Kunden beurteilen ein Unternehmen heutzutage anhand der Prozesskompetenz, welche aus einer erfolgreichen Implementierung und damit erfolgreichen Transformation der ersten Idee in ein elektroni-sches Angebot als Kern eines digitalen Geschäftsmodells resultiert.

1.3.5 Finanzen: Digitale Wertschöpfung monetisieren

Jeder der oben behandelten Bereiche eines digitalen Geschäftsmodells ist über seine Im-plikationen für die Erlös- oder Kostenseite direkt oder indirekt mit der Finanzlage eines Unternehmens verbunden. Beide Dimensionen sind dabei simultan als integrale Bestand-teile einer Profitabilitätsanalyse zu berücksichtigen.

Erlöse werden im E-Business sowohl primär durch Kernleistungen (direkt) als auch sekundär durch Nebenleistungen (indirekt) generiert. Der jeweiligen Produktstrategie eines Unternehmens entsprechend, resultiert eines der drei folgenden Erlösmodelle: Singular-Prinzip: Hier existiert eine bezahlte Kernleistung (z. B. Verkauf über EShop) mit direkt zurechenbaren Erlösen. Eine Nebenleistung ist nicht vorhanden bzw. wird explizit nicht erzeugt oder monetisiert. Die im Zuge der elektronischen Wertschöpfung generierten Informationen werden über die Kernleistung hinaus nicht wirtschaftlich genutzt. Plural-Prinzip: Hier existiert sowohl eine bezahlte Kernleistung (z. B. Vermittlung über einen E-Marketplace) als auch eine vermarktbare Nebenleistung (z. B. Verkauf von Markt-daten). Die im Zuge der elektronischen Wertschöpfung generierten Informationen werden auch über die Kernleistung hinaus nicht wirtschaftlich genutzt. Symbiose-Prinzip: Hier existiert, ähnlich des Plural-Prinzips, eine Kern- und Nebenleis-tung, wobei die Kernleistung (z. B. Nutzung einer E-Community) jedoch kostenlos ange-boten wird, um so die notwendigen Informationen für die Nebenleistung (z. B. personali-sierte Werbung) zu erhalten. Die im Zuge der elektronischen Wertschöpfung generierten Informationen werden ausschließlich über die Nebenleistung wirtschaftlich genutzt.

Unabhängig davon, ob es sich um eine Kern- oder Nebenleistung handelt und welches Erlösmodell gewählt wird, können für digitale Geschäftsmodelle drei typische Erlössyste-matiken identifiziert werden. In Abhängigkeit von der elektronischen Plattform und dem unternehmensindividuellen Leistungsangebot (Wirtz 2001), werden diese wie folgt klassi-fiziert:Margenmodell: Dieses Modell wird für direkte Verkäufe eigener Leistungen an Kunden genutzt. Die für die Leistungserstellung notwendigen Kosten werden kalkuliert und um

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eine Gewinnmarge erhöht. Diese Summe bildet den Preis der elektronischen Leistung und ist so zu wählen, dass die Gewinnmarge neben den variablen Kosten auch langfristig die Fixkosten deckt. Ein typisches Beispiel ist der E-Shop. Provisionsmodell: Dieses Modell wird insbesondere genutzt, wenn Fremdleistungen an Kunden über die elektronische Plattform vermittelt werden. Die Erlöse werden hier über eine erfolgsabhängige Provision erwirtschaftet. Ein typisches Beispiel ist der EMarket-place. Häufig genutzt wird dieses transaktionsabhängige Modell auch von Affiliate-Pro-grammen.Grundgebührmodell: Dieses Modell wird für transaktionsunabhängige elektronische Leistungen genutzt, bei denen ein Entgelt in Form einer Grundgebühr erhoben wird (z. B. Registrierungsgebühr, Bereitstellungsgebühr etc.). Dabei kann die Grundgebühr alleinig oder in Kombination mit transaktionsabhängigen Provisionen (s. o.) als Erlösquelle genutzt werden. Ein typisches Beispiel ist die E-Community, aber auch neu entstehende Geschäfts-modelle wie der Abo-Commerce (monatliches Entgelt für wiederkehrende Lieferungen) im Rahmen von E-Shops nutzen dieses Modell.

Eine eindeutige und präzise Artikulation, wie ein Unternehmen seine Erlöse anhand der vorgestellten Erlösmodelle und systematiken strukturiert, um stabile Einkommensströme zu generieren, ist integraler Bestandteil eines erfolgreichen digitalen Geschäftsmodells und wird daher von Investoren und anderen Stakeholdergruppen regelmäßig verlangt.

Wie intuitiv klar wird, sind die Einkommensströme eines Unternehmens inhärent mit korrespondierenden Kosten verknüpft, z. B. für das Generieren von Klicks und somit po-tenziellen Kunden oder das Ausführen eines Auftrags. Die entscheidende Frage „wie viel kostet uns ein zahlender Kunde?“ impliziert bereits die untrennbare Verbindung zwischen der Umwandlung von Klicks in einen Kauf mit einem bestimmten Umsatz auf der einen Seite und die damit verbundenen Kosten für die Generierung der Klicks und Abwicklung dieses Kaufs auf der anderen Seite. Im Allgemeinen muss ein E-Venture auf der Kostensei-te sowohl unterscheiden zwischen Startup-Kosten und laufenden Betriebskosten als auch zwischen fixen und variablen Kosten. Startup-Kosten sind notwendig, um die digitalen Basissysteme und technologien des (neu gegründeten oder neu ausgerichteten) Unterneh-mens initial aufzusetzen und sind somit einmalige Kosten. Dahingegen fallen Betriebskos-ten regelmäßig an, um den laufenden Geschäftsbetrieb aufrecht zu erhalten. Ein wesentli-ches Merkmal digitaler Geschäftsmodelle besteht darin, dass diverse Formen von klassi-schen Fixkosten in variable Kosten, die proportional zum Leistungsoutput des Unterneh-mens sind, transformiert werden können (z. B. EFullfillment oder Web-Traffic). Dies wiederum führt im Vergleich zu klassischen Geschäftsmodellen zu einer höheren Degres-sion der Fixkosten sowie zu unterschiedlichen Kostenstrukturen, Kostenbestandteilen und Kostentreibern. Der positive Effekt durch die Verteilung von fixen Kosten auf einen immer größeren Output wird als Kostendegressionseffekt bezeichnet und kann zu einem signifi-kanten Kostenvorteil von digitalen Geschäftsmodellen führen. Dies geht außerdem eng einher mit der bereits oben beschriebenen Prozesssicht bei der Implementierung einer di-gitalen Geschäftsidee. Für bestimmte Nicht-Kernprozesse kann ein Unternehmen ferner

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Make-or-Buy Entscheidungen bzw. Outsourcing in Erwägung ziehen, wobei Kernaktivitä-ten stets als unternehmensspezifische Quelle der Wertschöpfung im Unternehmen selbst verbleiben sollten. Während der kurzfristige Fokus junger Unternehmungen auf Größen wie dem Deckungsbeitrag pro Kunden liegen kann, muss jedes Unternehmen langfristig jedoch auch seine Fixkosten erfolgreich decken und so den Betriebserfolg nachhaltig si-chern können. Da der Gewinn oder Verlust eines Unternehmens auch in der digitalen Ge-schäftswelt weiterhin die Zahl ist, die letztlich über ein nachhaltiges Bestehen am Markt entscheidet, erleichtert ein – anhand der hier dargestellten Basisarchitektur – sorgfältig entwickeltes, differenziertes und klar ausgedrücktes digitales Geschäftsmodell das Identi-fizieren und Quantifizieren der unternehmensspezifischen Kosten- und Erlöstreiber auf allen relevanten Ebenen.

1.3.6 (Re-)Evaluation: Wettbewerbsvorteile erlangen und bewahren

Das spezifische Geschäftsmodell bildet den Mittelpunkt der Strategie und Geschäftstätig-keit eines jeden Unternehmens, kann jedoch über die Zeit aufgrund von Wettbewerbern oder Technologie und Marktveränderungen abnutzen (Linder, Cantrell 2000). Passiert dies, schwindet damit auch der aus einem erfolgreichen Geschäftsmodell ursprünglich hervor-gegangene Wettbewerbsvorteil. Daher müssen Unternehmen mit neuen Entwicklungen Schritt halten und sich diesen möglichst früh stellen. Ein weit verbreiteter Fehler bei der Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen ist, dass die eigenen Annahmen als selbst-verständlich und richtig gelten, was zu einem zu engen Blick auf die komplexe digitale Welt führt. Zu hohe Umsatz- und zu geringe Kostenschätzungen sind die natürliche Folge und führen letztlich zum Scheitern vieler innovativer Ideen. Als Gegenmittel und gleichzeitig Best Practice, sollte jedes E-Venture sorgfältig und stetig sein eigenes digitales Geschäfts-modell mittels Sensitivitäts- und / oder Szenarioanalysen (re-)evaluieren, um die Effekte von Variationen interner und externer Parameter auf den Output des Unternehmens aufzu-decken – sowohl ceteris paribus als auch in Kombination. Der Startpunkt sollte auch hier wieder die konkrete Idee und Lösung zu einem relevanten Problem stehen, für die Kunden zu einer Gegenleistung bereit sind. Eine solche Analyse ist insbesondere wichtig für die Kernprozesse eines Unternehmens, welche dessen spezifische Wertschöpfung ausmachen. Sie ermöglicht dem Unternehmen somit, kritische Parameter ex ante zu identifizieren sowie ihre Wirkung zu verstehen und trägt somit der komplexen, dynamischen und unsicheren Umwelt Rechnung, in der sich jedes digitale Geschäftsmodell heutzutage unweigerlich bewegt. Manchmal macht lediglich eine kleine, aber smarte Veränderung – z. B. während solch einer (Re-)Evaluation entdeckt – den Unterschied und lässt ein digitales Geschäfts-modell einzigartig, innovativ und erfolgreich werden (Kollmann 2014).

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1.4 Trends und zukünftige Perspektiven

Es existiert kaum ein Bereich in der Wirtschaft, der so dynamisch ist, wie die Net Econo-my. Die Entwicklungen im E-Business können veranschaulicht werden anhand der kon-sekutiven Konzepte des Web 1.0, Web 2.0 und Web 3.0 sowie deren jeweils korrespondie-rendem Fokus auf spezifische elektronische Plattformen und Arten der Wertschöpfung. Obwohl Web 1.0 und Web 2.0 bereits recht weit verbreitete Begriffe und der Literatur sind, befindet sich die Entwicklung von neuen Möglichkeiten, die Einfluss auf unser Leben nehmen, noch immer in der Beschleunigungsphase (Kollmann, Lomberg 2010). Darüber hinaus spielt auch die allgemeine Akzeptanz für innovative Angebote digitaler Geschäfts-modelle auf Anbieter- und Nachfrageseite eine entscheidende Rolle (Kollmann 2001) 0. Informationen sind nunmehr als eigenständiger, unerlässlicher Produktionsfaktor anzuse-hen und die Gesellschaft vollzieht einen neuen Strukturwandel hin zur Informationsge-sellschaft. Vielversprechende Fokusgebiete beziehen sich insbesondere auf die sogenann-te Informationsexplosion und den daraus resultierenden Informationswettbewerb (Koll-mann 2013b).

Dieser Klassifikation entsprechend ist das Web 1.0 der reifste Bereich und umfasst vor-wiegend die Handelsformen E-Offer, E-Sales und E-Trading auf den Plattformen E-Procu-rement, E-Shop und E-Marketplace. Neue und innovative digitale Geschäftsmodelle sind hier nur noch selten anzutreffen. Nichtsdestotrotz existiert auch weiterhin Potenzial, zur Exploitation mittels verbesserter, nachfrageorientierter Systeme in Bezug auf individuali-sierte Such- und Matchingprozesse, die Transaktionen unter den Marktteilnehmern effek-tiver und / oder effizienter gestalten.

Web 2.0 bezieht sich auf Netzwerk- und Beziehungsaspekte und umfasst üblicherweise ENetworking-Prozesse über E-Community und (kombinierte) E-Marketplace Plattformen. Die zentrale Problemstellung ist die Ermöglichung von Kontakt zwischen privaten und / oder geschäftlichen Nutzern. Erfolgreiche Web 2.0 Geschäftsmodelle umfassen Wert-schöpfungsprozesse im Bereich nutzergenerierter Inhalte (z. B. Facebook, LinkedIn oder YouTube). Allerdings macht die beständig wachsende Informationsflut, welche von und für Nutzer generiert wird, es hier mithin schwierig für diese, die gewünschten Informatio-nen zu finden. Folglich sind solche neuen Technologien und Prozesse vielversprechend, die den gezielten Zugang zu gewünschten Informationen über individuelle Selektionspro-zesse anhand von umfassenden Kundenanalysen vereinfachen. Zukunftsfähige digitale Geschäftsmodelle in diesem Bereich liegen daher im sogenannten Semantic Web.

Die jüngste Entwicklung, das Web 3.0, baut auf dieser Herausforderung mit nachfrage-orientierten Systemen und Prozessen auf, die explizit die Bedürfnisse der Kunden mitein-beziehen. Solche Prozesse umfassen E-Request und E-Customization, die über spezifische E-Desks und kontext-basierte Plattformen abgewickelt werden. Notwendige Elemente, um ein nachfageorientiertes System aufzusetzen, sind die Identifikation und Spezifizierung der Nachfrage über passende Such- und Selektionsmechanismen als Basis des unternehmen-sindividuellen Angebots (Kollmann 2013b). Dies wiederum trägt dazu bei, die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage immer weiter zu vermindern.

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Weitere vielversprechende Felder, die über rein digitale Geschäftsmodelle hinausgehen, liegen in der Fusion von Internet und elektronischen Geräten zum sogenannten Internet der Dinge sowohl im privaten als auch kommerziellen Bereich. Webbasierte Leistungen, die nahezu alles über seinen Nutzer oder aber auch einen Produktionsprozess lernen, können Informationen sammeln und diese zur kontinuierlichen Verbesserung eines intelligenten elektronischen Geräts bzw. gesamten Produktionsprozesses nutzen. Zukünftige Perspekti-ven, die sich aus diesen Möglichkeiten ergeben, sind Industrie 4.0, E-Health oder Augmen-ted Reality.

1.5 Fazit

Die Relevanz des E-Business für die heutige Gesellschaft und Wirtschaft steht außer Frage, machen doch die Umsätze im E-Business mittlerweile einen signifikanten Teil der gesam-ten Wirtschaftsleistung aus und wachsen weiterhin mit zweistelligen Wachstumsraten (Quinn, Biondi & Penmetcha 2014). Die Digitalisierung der Geschäfts- und Privatwelt bringt großartige Möglichkeiten mit sich und eröffnet neue Wege zur Exploration und Exploitation innovativer Ideen, die zunehmend unser tägliches Leben verändern. Gleich-zeitig baut sie jedoch auch einen enormen Druck auf etablierte Unternehmen auf, die sich der Herausforderung gegenübergestellt sehen, in einer sich schnell verändernden, komple-xen Umwelt mit immer kürzeren Produktzyklen zu bestehen. Disruptive Geschäftsmodelle junger Startups bergen nicht selten das Potenzial, existierende Wettbewerbsvorteile nahezu über Nacht verschwinden zu lassen und so den Wettbewerb neu zu ordnen. Heute noch etablierte Geschäftsmodelle können bereits morgen erodieren und Unternehmen – unge-achtet ihrer Branche, ihres Alters oder ihres Erfolgs – müssen daher die Herausforderung des E-Business annehmen, um überhaupt Schritt halten zu können.

Literatur

Amit, R.; Zott, C. (2001): Value creation in E-business, in: Strategic Management Journal, Jg. 22, Nr. 6-7, S. 493-520.

Casadesus-Masanell, R.; Ricart, J.E. (2010): From Strategy to Business Models and onto Tactics, in: Long range planning, Jg. 43, Nr. 2–3, S. 195-215.

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Page 83: Handel 4.0: Die Digitalisierung des Handels – Strategien, Technologien, Transformation

73Die Basisarchitektur digitaler Geschäftsmodelle 73

AutorenProf. Dr. Tobias Kollmann ist Inhaber des Lehrstuhls für E-Business und E-Entrepreneur-ship an der Universität Duisburg-Essen. Seit 1996 befasst er sich mit wissenschaftlichen Fragestellungen rund um die Themen Internet, E-Business und E-Commerce. Als Mitgrün-der von AutoScout24 gehörte er mit zu den Pionieren der deutschen Internet-Gründerszene und der elektronischen Marktplätze. Er ist Autor zahlreicher Bücher, Fach- und Praxisbei-träge zu den Bereichen „E-Entrepreneurship“, „E-Business“ und „Akzeptanz/Marketing bei neuen Medien“. Als Business Angel finanzierte er über die letzten 15 Jahren zahlreiche Startups in der Net Economy, wofür er 2012 vom Business Angels Netzwerk Deutschland e.V. zum „Business Angel des Jahres“ gewählt wurde. Seit 2013 ist er der Vorsitzende des Beirats „Junge Digitale Wirtschaft“ im BMWi. 2014 beruft ihn der Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen Garrelt Duin zum Beauftragten für die Digitale Wirtschaft in NRW. Er ist vor diesem Hintergrund ein gefragter Speaker für die Themen „Digitale Wirtschaft“, „Digitale Transformation“ und „Digitaler Wandel“. Laut dem Magazin Business Punk (Ausgabe 02/2014) gehört er zu den 50 wichtigsten Köpfen der Startup-Szene in Deutsch-land.

Simon Hensellek, Master of Science, ist Doktorand am Lehrstuhl für E-Business und E-Entrepreneurship von Prof. Dr. Tobias Kollmann an der Universität Duisburg-Essen. Er studierte Management and Economics an der Ruhr-Universität Bochum mit den Schwer-punkten Accounting, Finance und Controlling. Während seines Studiums absolvierte er eine Summer School zum interkulturellen Management am Chinesisch-Deutschen Hoch-schulkolleg der Tongji Universität in Shanghai sowie im Masterstudium ein Auslandsse-mester an der Utrecht University School of Economics in den Niederlanden mit den Schwerpunkten Strategie, Corporate Entrepreneurship und Innovationsmanagement. Be-reits während des Studiums sammelte Herr Hensellek praktische Erfahrungen u. a. im Strategic Group Controlling der Deutsche Telekom AG, im Bereich Assurance bei der PricewaterhouseCoopers AG WpG sowie durch die Gründung eines E-Commerce Unter-nehmens. Er präsentiert aktuelle Forschungsprojekte regelmäßig auf renommierten natio-nalen und internationalen Konferenzen wie der BCERC oder AOM. Gemeinsam mit Prof. Dr. Kollmann bietet er außerdem Seminare und Workshops rund um die Themen „E-Business“, „Digitale Transformation“ und „elektronische Geschäftsmodelle“ an.

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75

Analyse des Digitalisierungspotentials von  Handelsunternehmen

Prof. Dr. Reinhard SchütteUniversität Duisburg-Essen, Campus Essen, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Integrierte Informationssysteme, Essen, [email protected]

Dr. Thomas VetterDevelopment Consumer Industries, SAP SE, Walldorf, [email protected]

1.1 Informationstechnik: Relevanzdiskussion

Die aktuelle Diskussion um die „Moden“1 der „Digitalisierung“ und der „Disruption“2 durch neue Technologien ist aus einer wissenschaftlichen Perspektive als kritisch zu beur-teilen. Es wird mitunter der Eindruck erweckt, dass es einen kategorischen Unterschied von digitalen und „analogen“ Unternehmen gibt. Dabei werden seit Jahrzehnten Unternehmen oder Betriebe als sozio-technische Systeme in der Betriebswirtschaftslehre verstanden.3 Dieses Verständnis von Unternehmen hat auch weiterhin Bestand und es bedarf keiner Anpassung dieser Definition: es gibt kein ausschließlich digitales Unternehmen. In jedem Unternehmen sind mindestens die Anteilseigner Individuen oder Institutionen. Somit gibt es weiterhin in jedem Unternehmen Systemelemente technischer und sozialer Natur. Ers-tens ist jedes Unternehmen immer auch ein digitales Unternehmen, wenn es auch nur ein Systemelement technischer Prägung hat. Zweitens ist jedes Unternehmen auch ein soziales System, da es nicht nur digitale Elemente in einem Unternehmen gibt. Die mittlerweile

1 Unter diesem Rubrum hatten Mertens (1995) und Kieser (1996) Diskussionen in den jeweiligen Disziplinen (Wirtschaftsinformatik und Betriebswirtschaftslehre) angestoßen, um die durch Be-rater induszierten Moden von den langfristigen Trends, die für eine Wissenschaft relevant sind, zu unterscheiden. Vgl. auch als eine neuere Quelle zu der Thematik Steininger, Riedl, Roithmayr, Mertens (2009). Bei den auch nachfolgend unterstellten Trends ist darauf hinzuweisen, dass die Verwendung des Worts immer präsupponiert, dass es sich ausschließlich um die Entwicklung in eine Richtung handelt. Je nach Dauer dieser Entwicklung werden dann Meta-, Mega-, Techno-logie-, sozio-kulturelle, Konsumtrends (Marketing-Trends) und Mikrotrends unterschieden, vgl. hierzu u. a. Horx (2010) sowie die dort zitierte Literatur.

2 Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erhob das Wort „Disruption“ zum Manager-Wort des Jahres 2015, vgl. Meck, Weiguny (2015).

3 Vgl. zum Grundverständnis von soziotechnischen Systemen Sydow (1988) und exemplarisch im Kontext von Informationssystemen Rudow (2014), S. 67f.

R. Gläß, B. Leukert (Hrsg.), Handel 4.0, DOI 10.1007/978-3-662-53332-1_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

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76 Reinhard Schütte • Thomas Vetter

üblich gewordene Rede von den „digitalen Unternehmen“, den „digital players“, etc. kann daher als kontrafaktisch deklariert werden.

Ungeachtet der wissenschaftlichen Betrachtung, ab wann ein Unternehmen vorrangig digitaler Natur ist oder nicht, ist das Phänomen der Digitalisierung selbst sehr alt. Jede zusätzliche Ausdehnung von technischen Elementen im Unternehmen ist der Überlegung gefolgt, dass die Automatisierung eine betriebswirtschaftliche Zielsetzung von Unterneh-men ist. mertens hatte 1995 die „sinnhafte Vollautomatisierung“ als denkmögliches Leit-bild der Wirtschaftsinformatik propagiert. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung wird die Digitalisierung (im Sinne der Substitution analoger Elemente oder manueller Tätigkeiten) der Unternehmen voranschreiten, sofern die ökonomischen Ziele der Unternehmen damit besser erreicht werden können. Nur aus diesem Grund investieren Unternehmen in die Veränderung des eigenen Geschäftssystems. Die Digitalisierung ist weniger ein technisches als ein ökonomisches Phänomen, welches technisch induziert ist.

Sofern die Definition eines Unternehmens auch die sogenannten digitalen Unternehmen klassifikatorisch mit den nicht digitalen Unternehmen gleichsetzt, so stellt sich die Frage, ob es einen relevanten Unterschied in der Realität gibt. Die Autoren sind der Überzeugung, dass es erhebliche Unterschiede gibt. Eine Differenzierung wird erst dann praktikabel, wenn eine Messung des Digitalisierungsgrades erfolgt, um auf dieser Basis festzulegen, ab wann ein Unternehmen zu den digitalisierten Unternehmen im engeren Sinne gehört.4 Sämtliche Unternehmen sind – der Definition folgend – mit digitalen Elementen ausgestat-tet. Die Differenz besteht darin, dass sich die sogenannten digitalen Unternehmen auf ei-nem signifikant höheren Digitalisierungsgrad befinden als „traditionelle“ Unternehmen.

Der Unterschied zwischen einem weiter und weniger weit digitalisierten Unternehmen sei durch den Vergleich von Mercedes Benz und Tesla verdeutlicht. Bei Tesla sind die Produkte, die Autos, so in eine Plattform eingebunden, dass die Fähigkeiten des Autos je-derzeit durch Softwareupdates verändert werden können. Bei Mercedes Benz ist das nicht der Fall. In diesem konkreten Fall ist der prozessuale und der produktbezogene Digitalisie-rungsgrad von Tesla höher als der von Mercedes Benz.

Unter einem digitalen Unternehmen (i. e. S.) verstehen die Verfasser solche Entitäten, die über ein Geschäftsmodell verfügen, welches von aktuellen oder potenziellen Wettbewerbern durch digitale Eigenschaften bedroht werden kann. Somit ist ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung der Situation, ob Produkt- oder Prozessinnovationen die wettbewerbliche Situation des Unternehmens erheblich beeinflussen können. Am offensichtlichsten wird dies

4 Denn im weiteren Sinne gehören sämtliche Unternehmen, die überhaupt ein digitalisiertes Ele-ment aufweisen, zu den digitalen Unternehmen. Bezüglich der Überlegungen, einen Digitalisie-rungsgrad zu ermitteln, ist auf die zumeist aus der betrieblichen Praxis stammenden Arbeiten zu verweisen. Beispielsweise hat McKinsey ein Konzept entwickelt, welches als „digital coef-ficient“ ermitteln soll, wie das analysierte Unternehmen bezüglich des Digitalisierungsgrades eingeschätzt werden kann, vgl. McKinsey (2015). Die Ermittlung von Digitalisierungsgraden ist auch erforderlich, um auf dieser Basis die Distanz zu Wettbewerbern im Rahmen des Benchmar-king aufzuzeigen (woran die Beratungsbranche ein evidentes Interesse hat).

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77Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

für die nachfolgend zu betrachtenden Handelsunternehmen dabei in der Art und Weise, wie die Unternehmen Kunden in ihren Systemen abgebildet haben. Neben der Digitalisierung von Prozessen und Produkten existiert damit ein weiteres, gleichfalls den Digitalisierungsgrad immanent erhöhendes Unterscheidungsmerkmal, welches für die Marktbearbeitung eine enor-me und daher herausgehobene Rolle spielt: die digitale Repräsentanz des Kunden. In einem digitalisierten Unternehmen gibt es keine unbekannten Kunden, sondern der Kunde wird mit seinen Merkmalen, seinen Verhaltensweisen und der Einbindung in einen sozialen Kontext „virtuell“ repräsentiert. Die virtuelle Repräsentanz führt in den Unternehmen zu umfassenden Analyseunterfangen, die weit über diejenigen von nicht digitalen Unternehmen hinausgehen.

Die Messung des Digitalisierungsgrads und die damit verbundenen wissenschaftlichen Probleme können hier nicht erörtert werden.5 Bei den Überlegungen zur immer weiter voranschreitenden Durchdringung von Institutionen mit Informationssystemen bedarf es auch einer Perspektive auf das Fundamentalproblem einer jeden Investition; ist die Inves-tition wirtschaftlich? In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wurde in den letzten drei Jahrzehnten die Frage diskutiert, warum sich die Investitionen in Informationstechno-logien nicht positiv oder deutlich positiver in den Produktivitätsstatistiken niederschlagen.

Aus einer makroökonomischen Perspektive soll auf die Arbeiten von BrynJolFFson und mCaFFee am MIT verwiesen werden, die aufgezeigt haben, dass ab Mitte der neunziger Jahre die Investitionen in IT pro Mitarbeiter signifikant angestiegen sind und es in Folge dessen auch zu erheblichen Veränderungen im Wettbewerb zwischen Unternehmen mit einer hohen IT-Intensität gekommen ist. Bei den Untersuchungen ist es wesentlich, dass mit zunehmender IT-Intensität einer Branche auch der Wettbewerb zwischen diesen Unter-nehmen schärfer und volatiler wird (Vgl. Brynjolffson, McAfee 2011; Brynjolfsson, McA-fee 2014). Angesichts der vorgelegten empirischen Daten, auch wenn sich diese auf die USA beziehen, lässt sich die strategische Reichweite von Investitionen in Informationssys-teme erkennen. Die Ausführungen der Autoren werden auch als Indiz für die mögliche Bedeutung der Informationstechnik gewertet.

Bei einer einzelwirtschaftlichen Betrachtung der Wirkung von Hard- und Softwaresys-temen sind die Zweifel bei den Entscheidungsträgern noch längst nicht beseitigt. Dabei beziehen sie sich – ohne dies vielleicht immer zu wissen – auf das Produktivitätsparadoxon der Informationstechnik.6 Die zwei Jahrzehnte andauernde Diskussion zum Produktivitäts-paradoxon können nicht als abgeschlossen gelten, allerdings weisen auch hier die Arbeiten von BrynJolFFson in eine bemerkenswerte Richtung und deuten darauf hin, dass die Pro-duktivität durch die IT gesteigert werden kann. Allerdings ist die Wirkung von Informati-onstechnologien auf die wirtschaftlichen Fähigkeiten eines Unternehmens und damit letzt-

5 Zu dem Digitalisierungsgrad sei auf Forschungsarbeiten zur Ermittlung von Innovationsgraden verwiesen, denn die Digitalisierung kann als Spezialfall der Innovation verstanden werden. Vgl. exemplarisch die wissenschaftliche Literatur zur Innovationsgradforschung, Schlaack (1999) .

6 Vgl. beispielhaft die Diskussion zur Produktivität der Informationstechnik bei Krcmar (2014), S. 1ff.

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78 Reinhard Schütte • Thomas Vetter

lich auch die Gewinnsituation noch nicht hinreichend erforscht und in der Praxis zu selten problematisiert.

Es ist das Kernproblem der Informationstechnologie bei Investitionsentscheidungen, dass i. d. R. schlechtstrukturierte Entscheidungsmodelle mit Wirkungsdefekten vorlie-gen.7 Im Regelfall dominieren „Plan-Investitionsentscheidungen“, d. h. es werden Inves-titionen mit einer pauschalen und fiktiven Wirtschaftlichkeit freigegeben. Daher sind auch Referenzbesuche in der Praxis so beliebt, da ein Analogieschluss von einem Unternehmen auf das nächste angenommen wird, auch wenn dieser aus einer situativ-organisationsthe-oretischen Perspektive kaum zulässig sein dürfte. Dabei ist, unabhängig von der Annahme zur Wirtschaftlichkeit, bei Projektbeginn und den zugrundeliegenden Softwareprodukten, vor allem eine Erkenntnis wichtig: Informationssysteme sind im Sinne der Produktions-faktorenlehre ein Potenzialfaktor. Somit liegt der wirtschaftliche Erfolg des Softwarepro-dukt-Potenzials in der Nutzungsfähigkeit von Unternehmen und nicht in der potenziellen Fähigkeit der verfügbaren Technik begründet (und daher kann der soziotechnische Cha-rakter nicht überbetont werden, denn die technischen Systemelemente alleine führen nicht zu einem Mehrwert). Es gilt immer, dass das Projekt neben dem Produkt mindestens gleichrangig ist,8 letztlich wird nach den Erfahrungen der Autoren das Projekt an Bedeu-tung das Produkt überragen, denn das Produkt ist die notwendige und das Projekt die hinreichende Bedingung für eine erfolgreiche Einführung eines Softwareproduktes. Vie-le erfolglose Projekte leiden insbesondere darunter, dass das ausgewählte Produkt am Ende des Prozesses förmlich deformiert wurde. Dabei könnte auch die Schlussfolgerung gezogen werden, dass das falsche Produkt ausgewählt wurde. Es handelt sich dabei in der Regel um Unternehmen, die auch bei anderen Produkten gleichartige Probleme besitzen, so dass die Vermutung naheliegt, dass in der Projektdurchführung Mängel vorhanden sind.

7 Zum Problem wirkungsdefekter Entscheidungsmodelle vgl. Adam (1996), S. 10ff.; Rieper (1992), S. 57ff.

8 Dabei wird hier unter einem Produkt ein Softwareprodukt verstanden, welches im Rahmen eines Projektes eingeführt werden soll. Im Rahmen eines Projektes erfolgen dann Anpassungen und Modifikationen an den Produkten, die i. d. R. Standardsoftware umfassen und in der neueren Literatur als Enterprise Systems bezeichnet werden. Nur für den Fall, dass in einem Projekt Individualsoftware entwickelt wird, fallen Projekt und Produkt zusammen, da erst am Ende des Projekts das Produkt zur Verfügung steht. Bei der Einführung von Enterprise Systems hingegen wird das am Beginn des Projektes existente Enterprise Systems Standardprodukt nach Beendi-gung des Projektes ein anderes sein. Diese Abweichung ist das Ergebnis des Projektes und diesem zuzuschreiben.

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79Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

1.2 Digitalisierung im Handel

1.2.1 Der Kunde als Treiber der Digitalisierung

Sofern ein Unternehmen aus einer produktions- und systemtheoretischen Perspektive be-trachtet wird, stellt es ein Throughput-System dar, welches eingebettet in Beschaffungs- und Absatzmärkte agiert (vgl. hierzu Abb. 1).

Bei der Digitalisierung ist zunächst zu beachten, dass die Kunden durch die intensive Nutzung von Smartphones und anderen Geräten einen Anpassungsdruck auf Unternehmen ausgeübt haben. Vor 25 Jahren gab es noch keine digitale Fotografie, keine Assistenz- und Navigationssysteme im Auto, kein World Wide Web und das Smartphone war noch keine

Abb. 1 Das Unternehmen als System Quelle: In Anlehnung an Zelewski (2008, S. 63)

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80 Reinhard Schütte • Thomas Vetter

Lebensrealität. Die Lebenswelt9 hat sich erheblich verändert, ohne dass dies den Menschen vielleicht immer bewusst ist. Die Kommunikations- oder Informationskosten in privaten Haushalten haben in den letzten Jahrzehnten in ihrer Struktur Verschiebungen erfahren. Die Leistungsfähigkeit der Kommunikationstechnologien hat enorm zugenommen, weltweite Telefonate waren früher kaum möglich und mit enormen Kosten verbunden. Heute ist ein Telefonat oder auch ein videobasiertes Telefonat zu geringen Kosten über das Internet möglich. Allerdings ist der zeitliche Umfang der Kommunikation über Smartphones im Allgemeinen (Telefon, Messages, Video, Mail, etc.) angestiegen, so dass die absolute Höhe der Telekommunikationskosten in vielen – wenn auch nicht sämtlichen – Fällen zugenom-men hat. Somit drücken die Konsumenten in ihrer Zahlungsbereitschaft auch den Nutzen aus, den die neuen Technologien mit sich bringen.

Auf diese Entwicklung in privaten Haushalten haben die Unternehmen reagiert, in dem die Leistungsangebote von ihnen auch immer informationsintensiver geworden sind und vollständig neue Leistungen offeriert werden, die in der Vergangenheit nicht möglich ge-wesen, zu teuer oder einfach nur nicht bedacht worden sind. Die Digitalisierung ist damit über den Kunden zum Veränderungstreiber für die Unternehmen geworden. Hervorzuhe-ben ist dabei auch die Tendenz der Kunden zur Individualisierung von Produkten,10 die durch neue Informationstechnologien gefördert wird und weitreichende Herausforderun-gen für Industrie- und Handelsunternehmen mit sich bringt.

Auf der Ebene der Unternehmen ist die Digitalisierung noch nicht zu Ende, denn auch die Gesellschaft insgesamt wirkt in ähnlicher Art und Weise auf die Kunden. Somit reicht die Digitalisierung von einer individuellen Ebene über eine Unternehmens- bis hin zur gesellschaftlichen Ebene, so dass sich die Spielregeln nicht nur einmalig verändert haben. Sie werden sich laufend weiter entwickeln, wobei die Veränderungsgeschwindigkeit der digitalen Ebene höher ist als die der materiellen. Es besteht damit aus Wettbewerbs-Pers-pektive die Chance einer schnelleren durchschnittlichen Veränderungsgeschwindigkeit des soziotechnischen Systems Handelsunternehmen. Ob aus Möglichkeiten auch Realitäten werden, ist dabei offen und obliegt den Change-Management-Fähigkeiten des Manage-ments und der Mitarbeiter.

Auf der der Individuen und Unternehmen übergeordneten Gesellschaftsebene sind die Herausforderungen durch die Digitalisierung besonders dramatisch. Dies liegt an zwei hier besonders hervorzuhebenden Entwicklungen. Erstens erlaubt die jedem zugängliche Infor-

9 Der Begriff der Lebenswelt hat in der Philosophie eine lange Tradition, beginnend vor allem in der Phänomenologie Husserls. Hier wird der Begriff der Lebenswelt im Habermaschen Sinne verwendet: vgl. Habermas (1998), S. 348f.

10 Zur Individualisierung der Nachfrage vgl. Reichwald, Piller (2009), S. 23ff. Zur damit verbunden Anforderung an die Produktion, die in der Literatur unter Mass Customization diskutiert wird, vgl. ebenda, S. 225ff. Da es sich bei Mass Customization um ein Oxymoron handelt, sei an dieser Stelle nicht diskutiert, ob die Kombination von Massenfertigung und Individualisierung überhaupt möglich ist. Unstrittig dürfte in jedem Fall der Wunsch der Nachfrager sein, ein aus ihrer Sicht individualisiertes Produkt zu erwerben, welches aus Sicht des Anbieters auf möglichst kostengünstige Weise hergestellt werden sollte.

Page 90: Handel 4.0: Die Digitalisierung des Handels – Strategien, Technologien, Transformation

81Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

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11 Zweitens sind die im

bereits Automatisierungsdividenden oder das bedingungslose Grundeinkommen in die 12 Die Reichweite der unterschiedlichen gesellschaftli-

chen Diskussionsfelder, die von der Digitalisierung induziert werden, deuten an, wie sehr die Digitalisierung auch die gesellschaftliche Ebene betrifft.

1.2.2 Digitalisierung als Chance für Handelsinstitutionen

--

aus (vgl. Abb. 2 -

11

12

-

Abb. 2 Quelle: Eigene Darstellung

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82 Reinhard Schütte • Thomas Vetter

onen Transportieren und Umschlagen, die Überbrückung der Zeit durch die klassische Funk-tion des Lagerns, die Überbrückung der Mengen durch die Funktion des Umschlagens und die Überbrückung der Qualität durch die Manipulation oder Veredelung der Ware.

Bei den Informationen, die für die Digitalisierung in besonderem Maße geeignet sind, gilt es zunächst zwischen denen, die das Handelsobjekt oder das Entgeltobjekt begleiten, und den sonstigen Informationen zu unterscheiden. Letztere Informationsklasse soll hier zunächst nicht näher betrachtetet werden. Bei den Informationen im Kontext der Beglei-tung von Handelsobjekten, sind die Überbrückungszwecke, die Handelsunternehmen mit den die Handelsobjekte begleitenden Informationsobjekten, in jedem Fall digitalisierbar. Es ist lediglich eine ökonomische Frage, ob es auch faktisch zur Digitalisierung kommt. Die mitunter geringen Umsetzungsgrade von EDI deuten an, dass es auch nach Jahrzehnten der Möglichkeiten zur Automatisierung von Prozessen noch nicht hinreichend dazu gekom-men ist.

Auf der Ebene Geld, den Entgeltobjekten, die den Güterstrom begleiten, gibt es zwar auch Bereiche, in denen noch analog verfahren wird, allerdings sind bereits heute digitale Lösungen verfüg- und einsetzbar, so dass der weitgehenden Digitalisierung von Zahlungs-prozessen jeder Art zur Überwindung von Raum, Zeit, Menge und Qualität dauerhaft keine Grenzen gesetzt sind. Es deutet sich bereits heute an, dass die Institution Bank aufgrund der Digitalisierung immer mehr von anderen Institutionen substituiert werden kann.

Sofern die Ebenen Informationen und Geld gleichermaßen der Digitalisierung zugängig gemacht werden können, bedeutet dieses zunächst, dass einige Ebenen, die traditionell Handelsunternehmen wahrgenommen haben, zukünftig auch von vielen anderen Unterneh-men übernommen werden können.

Die dritte und bedeutendste Ebene repräsentiert die originären Zwecke von Handelsun-ternehmen: die Distribution der Realgüterströme, das Management des Objekts Ware. Die Zwecke, die Handelsunternehmen in diesen Bereichen weithin zugeschrieben werden, sind vor allem logistikgeprägt. Dies wird in Abb. 2 durch die Kürzel TUL – für die klassischen Funktionen Transportieren, Umschlagen, Lagern ausgedrückt. Lediglich bei der Überbrü-ckungsfunktion „Qualität“ kommt eine spezifische „Warenmanagement“-Aufgabe als Zweck von Handelsunternehmen zum Ausdruck.

Die Gefahr der Elimination der diversen Überbrückungsfunktionen wurde im Großhan-del seit Jahrzehnten durch die Definition umfassenderer Leistungsbündel entgegnet (En-gelhardt, Kleinaltenkamp, Reckenfelderbäumer 1993, S. 399ff.). Leistungsbündel sind die Kombination von Produkten mit Services, die zusammen genommen für den Kunden des Großhändlers einen Mehrwert darstellen und daher eine wettbewerbsdifferenzierende Wir-kung entfalten sollen.

Zusammenfassend lässt sich aus einer Makro-Betrachtung feststellen, dass erstens be-reits wesentliche Zwecke von Handelsunternehmen digitalisiert oder durch diese maßgeb-lich beeinflusst werden. Zweitens wird deutlich, dass Handelsunternehmen vor allem durch die Art und Weise ihrer Logistik Markteintrittsschranken errichten können, bei einer ver-änderten Konsumentensituation aber wiederum (z. B. beim Online-Handel) die Marktein-trittsschranke gleichsam zu einer gefährlichen Marktaustrittsschranke werden kann. Aus

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83Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

der Perspektive des Innovationsmanagements ist sowohl eine zunehmende Digitalisierung von Prozessen und Produkten zu erwarten. Der mittlerweile erreichte Digitalisierungsstand führt aus einer prospektiven Perspektive betrachtet zu der Fragestellung, ob die Digitali-sierung damit „beendet“ sei, weil das erreichte Niveau bereits so hoch ist, oder ob es mög-licherweise erst der Anfang ist. Dabei unterstellt das Wort Digitalisierung bereits, dass es um den Veränderungsprozess geht, bei dem ein ehemals „nicht digitaler Zustand“ in einen „digitalen Zustand“ übergeht.13

Für eine detailliertere Analyse, die nicht nur die Zwecke, sondern die einzelnen Aufga-benbereiche von Handelsunternehmen in die Analyse einbezieht, wird nachfolgend ein möglicher Analyserahmen entwickelt, anhand dessen die Digitalisierungspotentiale iden-tifiziert und eingeordnet werden können.

1.2.3 Digitalisierung im Handel: grundsätzliche Betrachtung

Zunächst sei die Digitalisierung von Unternehmen aus einer produktionsfaktorbezogenen Perspektive demonstriert. Bei einer nach Gutenberg vorgenommenen Klassifikation wer-den die Produktionsfaktoren in die Klassen „dispositiver Faktor“ und „Elementarfaktoren“ differenziert (vgl. Abb. 3) (Vahrenkamp 2009, S. 2f.; Salman 2004, S. 18ff.).

Bei den Elementarfaktoren werden die Werkstoffe, Betriebsmittel und der an Objekten zu vollziehenden menschlichen Arbeitsleistung unterschieden. Die Digitalisierung ist tra-ditionell in der Epoche der Industriegesellschaft erforderlich gewesen, die Produktivität zu erhöhen, indem zunächst die an den Objekten (den zu erstellenden Produkten oder Leis-tungen des Unternehmens im Allgemeinen) zu verrichtenden Arbeitsleistungen durch Ma-schinen ersetzt werden sollten. Die Maschinen wiederum konnten diese Aufgabe nicht ohne Informationen erfüllen. Diese wurden in einem ersten Schritt über die Hardware bereitge-stellt, in einer zweiten Phase übernahm dann die Software die Aufgabe, die ausführenden Operationen einer Maschine durch Informationen zu steuern.

Im Ergebnis sind die Bestrebungen, die objektbezogene menschliche Arbeitsleistung durch Maschinen zu ersetzen, seit Beginn der Industrialisierung die dominante Strategie in unserer Gesellschaft gewesen, um den steigenden Kosten des Produktionsfaktors Arbeit entgegen zu wirken. Die Digitalisierung im engeren Sinne bringt nun zwei Effekte mit sich: einen prozessualen und einen produktbezogenen.

Erstens werden immer mehr Maschinenfunktionen verfügbar, die die menschliche Arbeitsleistung substituieren, wie dies besonders eindrucksvoll bei der Robotertechnik zu

13 Es sei der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass auch ein vorher digitaler Zustand, der später auf einem „höheren digitalen Niveau“ etabliert wurde, unter das Wort Digitalisierung subsumiert werden soll. Es geht bei vielen Digitalisierungsprojekten nicht nur darum, dass ein ehemals „analoger“ Zustand digitalisiert wird, sondern stattdessen auch die Art und Weise der Digitalisierung unterschiedlich sein kann. Ein elektronisch eingescanntes Dokument ist für Ar-chivierungszwecke hinreichend, für eine automatische prozessuale Bearbeitung jedoch nicht, hierzu sind weitergehende Informationen des Dokuments der Maschine verfügbar zu machen.

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84 Reinhard Schütte • Thomas Vetter

beobachten ist. Die Weiterentwicklung maschineller Fähigkeiten, die durch das Zusam-menwirken von Kinetik, Sensorik, Robotik, Bio-Genetik, Nanotechnologie, usw. entste-hen, sind beeindruckend. Die ineinander wirkenden Informationen sind dabei in geson-derten Systemen für die Steuerung der Maschinen erforderlich und nehmen eine immer größere Bedeutung in der industriellen Fertigung ein. Somit wird im eigentlichen Ferti-gungsprozess die Rolle und die Wertschöpfung (in der Produktion selbst) durch Anwen-dungssysteme immer wichtiger.

Zweitens werden die von einem Unternehmen offerierten Absatzleistungen in Form von Produkten, Services, etc. immer informationsintensiver. Besonders prägnant wird der in-formationstechnisch induzierte Wertschöpfungsanteil beispielsweise in der Automobilin-dustrie. Ob ABS-Systeme, Einspritzmotoren, Navigationssysteme, Assistenzsysteme, die Einbettung von Smartphones in die Steuerung, etc., der Umfang an Embedded Systems beim Produkt Auto hat längst dazu geführt, dass es sich um ein Leistungsbündel aus infor-mationstechnischen und traditionell mechanischen Elementen handelt.14

Aus einer Informationssystemperspektive sind die unterschiedlichen Systeme, die im Kontext der Digitalisierung eine Rolle spielen zu differenzieren. Zunächst ist ein Informa-tionssystem die Zusammenfassung von einem Organisations- und einem Anwendungssys-tem, wobei das Anwendungssystem den automatisierten Teil des Informationssystems dar-

14 Diese Tendenz wird besonders in Formulierungen wie „Software with Wings“ für Flugzeuge und „Code on the road“ für Kraftfahrzeuge deutlich, entnommen Hoch et al. (1999, S. 5) und der dort zitierten Literatur.

Produktionsfaktoren

Dispositiver Faktor Elementarfaktoren

originär derivativ (immer originär)

Geschäfts-leitung

PlanungBetriebsmittel

objektbezogene menschliche

ArbeitsleistungWerkstoffe

Organisation

Abb. 3 Die Produktionsfaktorsystematik nach Gutenberg Quelle: In Anlehnung an Zelewski (2008, S. 57)

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85Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

stellt. In diesem Sinne ist, wie es auch aus Abb. 4 hervorgeht, der erste Schritt zu einem Organisati-

onssystem

-

--

talisieren.15

Die Analyse der heute noch nicht in einem Anwendungssystem vorhandenen Informa-

eine Aktivität gibt, in der ehemals analoge Informationen durch die Informationstechnik digitalisiert werden oder die bereits vorhandene digitale Information, die ehemals nur di-

der Digitalisierung gilt es dann, die Effektivität oder Effizienz des Betriebs zu steigern.

-

15

-

-kation, der Kennzeichnung, der Kommunikation und der Prozessgestaltung unterschieden, vgl.

Abb. 4 Abgrenzung von Informations- und Anwendungssystem

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86 Reinhard Schütte • Thomas Vetter

keine andere Aufgabe als die, wie Unternehmen im Zeitalter von zunehmend in digitaler Form gespeicherten Daten ihre Effizienz erhöhen können. Hierzu gehören Strukturen für die Datenablage auf Fileservern, bei der Mailablage, bei der Bereitstellung der Informati-onen von wichtigen Sitzungen, der besonders geschätzten PowerPoint-Präsentationen, etc. Erstaunlicherweise ist der Softwaremarkt für die effiziente Büroorganisation in einer ar-beitsteiligen Welt nicht besonders umfangreich.

Als Potenzialfaktoren der IT, die eine bessere Zielerreichung von Unternehmen ermög-lichen, sind die Automatisierung operativer Prozesse (im Sinne der objektbezogenen Ar-beitsleistung), die Verbesserung der Informationsqualität bei Entscheidungen, die Paralle-lisierung von Prozessen, die Aufhebung von Restriktionen bei der Aufgabenerfüllung unter Raum- und Zeitgesichtspunkten sowie die Integration zu nennen (Vgl. Petrovic 1994, S. 583; Becker, Schütte 2004, S. 50f.). Über diese Wirkungen hinaus gewinnen die mittler-weile erreichten Fähigkeiten der Anwendungssysteme an Relevanz. Zunehmend lassen sich Aufgaben von ehemals dem dispositiven Faktor zuzurechnenden Menschen auch der Ma-schine übertragen, so dass die ehemals unter dem Terminus Automatisierung stehenden Überlegungen eine besondere Bedeutung erlangt haben, möglicherweise führte dieses auch zur Verbreitung des Begriffs der Digitalisierung.

Die Möglichkeiten der Informationstechnologie, die wirtschaftlichen Handlungen in Betrieben zu unterstützen, sind aber weit umfassender. Denn die Technologie führt dazu, dass auf der Absatzseite neue Leistungen oder vollständig neue interne Leistungserstel-lungsprozesse möglich werden. Diese Technologien haben dann das Potential, dass sie disruptiv wirken (Vgl. Christensen 1997). In derartigen Situationen kommt es zu neuartigen Strukturen und Prozessen. Die Wirkung der Technologien ist dann entweder effektivitäts-steigernd, wenn ein bestehender Unternehmenszweck auf einem höheren Niveau umgesetzt wird, oder es wird ein neuer Unternehmenszweck möglich, so dass wirtschaftliche Hand-lungen neu auszurichten sind, denn nur anhand des Unternehmenszwecks ist die Bewertung der Handlungen möglich.

Als Fiktion soll folgende Situation unterstellt werden: Alle Informationen der Welt seien digitalisiert.16 Es seien die Rohdaten, als denkmöglich verfügbare Informationen der Realität in Systemen zu speichern, wobei die Daten einerseits in eine Klasse von Informa-tionen und in eine Klasse von Nichtinformationen aufgespaltet werden können (vgl. Abb. 5). Insbesondere Redundanz- und Qualitätsprobleme wären sicherlich massenhaft vorhanden, wie dies heute bereits im Internet sichtbar wird. Mit immer weitergehenden Bestrebungen wäre eine Abnahme der Klasse der Nichtinformation möglich, so dass der Bereich potentieller Anwendungen in Anwendungssystemen immer weiter ausgedehnt wird. Die Systeme werden damit für die Menschen die Brillen, mit denen Sie die Welt se-hen. Dabei wird auch deutlich, dass die technische Separierung unterschiedlicher Datener-

16 Die wissenschaftstheoretischen Probleme bei dieser naiv-realistisch anmutenden Annahme seien in diesem Artikel nicht gewürdigt, denn es soll sich lediglich um ein fiktives Denkmodell han-deln, welches einer härteren wissenschaftlichen Prüfung nicht standhalten würde. Trotzdem ist der Entwicklungspfad, der aus diesem Modell abgeleitet wird, sehr realistisch.

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87Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

scheinungsformen, beispielsweise strukturierte und unstrukturierte oder transaktionale und analytische Daten verfehlt ist. Es wird zudem an dieser Darstellung deutlich, worauf es zukünftig ankommt. Die Plattform, die die Bewältigung dieser Datenmengen ermöglicht, wird wichtiger werden als die Ausprägung einzelner Funktionen.

Neben der Entstehung neuer Leistungsangebote, neuer Wettbewerber und neuer Märkte ist es für viele Unternehmen wichtig zu verstehen, wie die Leistungserbringung einerseits und die am Absatzmarkt offerierten Leistungsbündel andererseits durch die Digitalisierung einer Veränderung unterworfen werden. Zu diesem Zweck sollen die nachfolgenden Aus-führungen dienen, um anhand der strukturierten Analyse der Aufgaben von Handelsunter-nehmen zu untersuchen, welche Veränderungsbedarfe oder neuen Aufgaben durch die Digitalisierung entstehen können.

Realität

Rohdaten

Daten

Information Keine Information

Redudanz-probleme

Qualitäts-probleme

Die Möglichkeiten der IT führen zu mehr konstruierten Informationen über die Welt

Abb. 5 Digitalisierung der Rohdaten der Welt Quelle: Eigene Darstellung

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88 Reinhard Schütte • Thomas Vetter

1.3 Analyse des Digitalisierungspotentials

1.3.1 Entfaltung einer Architektur für Anwendungssysteme im Handel

-dimensionalen Strukturierungsmuster. Die erste DimensionSchalenmodells eine Unterscheidung der Aufgabenart vor, die im Kern bei den Stammda-

geht, die sehr maschinennah sind, bis hin zu drei unterschiedlichen betriebswirtschaftlichen -

scheidungsorientierte Aufgaben) reicht.Eine zweite Dimension -

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onaler Anforderungen Rechnung getragen, so dass sich sämtliche funktionale Anforderun-

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Abb. 6 Den IS-Architekturen zugrundeliegendes Schalenmodell

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89Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

men wurde beispielsweise für die gesamte Wertschöpfungskette von Industrieunternehmen bis zum Kunden entwickelt (vgl. Abb. 7, Abb. 8, Abb. 9) (Schütte 2011).

Für sämtliche der nach dem skizzierten Schalendmodell entworfenen IS-Architekturen ist die Modellierung der Stammdaten als dem Kern der Systeme, wirtschaftsstufenübergrei-fend, hervorzuheben. Stammdaten haben entgegen den Anfängen integrierter Informations-systeme in den 80er und 90er Jahren für die Systemgestaltung und die prozessuale Nutzung eine weitergehende Bedeutung erlangt. Während in den Anfängen noch einige hundert Attribute zur Beschreibung von Artikeln, Produkten, Dienstleistungen, etc. genügten, so werden heute nicht nur strukturierte Daten, sondern auch sehr viele unstrukturierte und vor allem sehr speicherzehrende Informationen wie Bilder, Videos, Audiodateien sowie sons-tige Informationen erforderlich. Darüber hinaus haben sich die IT-Systeme von einer auf Wirtschaftsstufen fokussierten Applikation zu einem Wertketten-übergreifenden Lösungs-ansatz entwickelt. Dies erhöht noch einmal die Komplexität der Aufgabenstellung, aus Unternehmenssicht wird dann auch eine einmalige Speicherung sämtlicher Stammdaten für die Produktionssysteme und die Handelssysteme gefordert, während diese in der Rea-lität noch zumeist redundant gespeichert werden.

Bei der Gestaltung der Architektur für Informationssysteme von Industrieunternehmen hat eine Anlehnung an das Y-CIM-Modell von sCheer stattgefunden (Scheer 1990; Scheer 1998). Anhand des Schalenmodells werden die Stammdaten in einem industriellen Infor-mationssystem als Kern aufgefasst, im Gegensatz zur Darstellung bei sCheer, der die Stammdaten (Kunden, Produktdaten, Arbeitspläne, Betriebsmittel, etc.) erst später als über-geordnete „Satelliten“ veranschaulicht hat. Damit wird die Bedeutung der Stammdaten für die operativen Prozesse deutlicher und die Abhängigkeit von den Stammdaten bei Einfüh-rungsprojekten nachvollziehbarer dargestellt. Im Vorgriff zu den Überlegungen bei Han-dels- und Kundeninformationssystemen wird zugleich die gleichgeartete Darstellung von Stammdaten in sämtlichen Informationssystemen als wiederverwendbarer Architekturbe-standteil erkennbar und damit auch die Abbildbarkeit vieler Stammdaten-Eigenschaften außerhalb einer Einordnung in eine konkrete Informationssystem-Architektur deutlich. Derartige Überlegungen spielen für die Gestaltung von übergreifenden Informationssyste-men bei vertikal agierenden Handelsunternehmen, die beispielsweise im Bereich von Han-delsmarken17 selbst produzieren oder produzieren lassen, oder bei Industrieunternehmen, die ihre Stammdaten mit Handelsunternehmen austauschen wollen, eine bedeutende Rolle. Des Weiteren wird die besondere Abhängigkeit von Stammdaten durch deren Anordnung als Nexus von Informationssystemen veranschaulicht, denn die als besonders wichtig de-klarierten Stammdatenobjekte limitieren in besonderer Weise die prozessuale und funkti-onale Mächtigkeit von Systemen.

Neben den Stammdaten wird aufgrund der Anordnung der Prozesse in Kreisen dem Kerngedanken von sCheer, die beiden Schenkel des Y-CIM-Modells im unteren Teil des Ys zusammenzufügen, besonderer Ausdruck verliehen (vgl. Abb. 7).

17 Zu Handelsmarken vgl. Bruhn (2001); Ahlert et al. (2001a); Ahlert, Kenning (2005); Ahlert et al. (2001b); Ahlert et al. (2009)

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90 Reinhard Schütte • Thomas Vetter

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tung der Prozesskreis der technischen Produktentwicklung und Produktumsetzung ober-halb der Stammdaten angeordnet (2. Ebene),18 und auf diesen Informationen basierend

18

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Abb. 7

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91Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

werden die planerischen und steuernden Aufgaben der Produktionsplanung und -steuerung positioniert (3. Ebene). Damit wird anhand der räumlichen Anordnung der technischen und betriebswirtschaftlichen Aufgaben erkennbar, welche Aufgaben inhaltlich und zeitlich mit-einander verwoben sind.

Der vierte Kreis repräsentiert die betriebswirtschaftlich-administrativen Aufgaben der Personalwirtschaft, der Finanzbuchhaltung und der Kosten- und Leistungsrechnung.19 Die-se Aufgaben nehmen vor allem eine wertmäßige Betrachtung des Ressourcenverbrauchs der operativen Prozesse vor. Daher besteht bei vielen realen Informationssystem-Land-schaften zwischen den die operativen Prozesse unterstützenden Systemen und den die be-triebswirtschaftlich-administrativ unterstützenden Systemen ein Bruch, dessen Auswirkun-gen anhand des Schalenmodells unmittelbar ersichtlich wird.

Im äußersten, fünften Kreis werden sämtliche Informationen für die übergreifende Ko-ordination und Steuerung eines Unternehmens dargestellt, die darüber hinaus auch viele Detailinformationen für einzelne betriebswirtschaftliche Entscheidungsprobleme in Indus-trieunternehmen umfassen können.

Für Handelsunternehmen wurde nach dem Schalenmodell eine Strukturierung sämtli-cher Funktionen für die Einzel- und Großhandelsstufe vorgenommen, die zur Durchfüh-rung der Aufgaben im Handel erforderlich sind. Es lässt sich gut verwenden, um den un-terschiedlichen Funktionen einen einheitlichen Rahmen zu geben. Die Entwicklung einer Architektur von Informationssystemen für Aufgaben auf einer Großhandelsstufe20 (vgl. Abb. 8, untere Teil) basiert zunächst auf den Stammdaten, die die Rahmenbedingungen des operativen Geschäfts betreffen, insbesondere Artikel, Lieferanten, Kunden, Betriebe und Konditionen (1 Kreis).

Auf Basis der Stammdaten werden die technischen Aufgabenbereiche abgebildet (2. Kreis). Dies sind bei Großhandelsunternehmen die Energiesteuerung, die Lagersteue-rung, die Transportsteuerung, die Instandhaltung und die Qualitätssicherung.21

Auf den Stammdaten basieren auch die betriebswirtschaftlich-operativen Prozesse (3. Ebene) eines Handelsunternehmens, die aus einer taktischen und operativen Perspekti-

19 Im Rahmen der Architekturentwicklung wurden mit der Finanzbuchhaltung, der Kosten- und Leistungsrechnung sowie der Personalwirtschaft „alte“ Termini der Betriebswirtschaftslehre ver-wendet, da der mit den Begriffen intendierte Fokus begrenzt ist. Hingegen wäre beispielsweise die Verwendung des Wortes Controlling hinsichtlich seiner Extensionalität auf Aufgaben in den unterschiedlichen Architekturen nicht klar abgrenzbar gewesen.

20 Die Aufgaben auf Großhandelsstufe werden entweder von eigenständigen Großhandelsunterneh-men wahrgenommen, von in einem Konzernverbund eingeordneten Großhandelsunternehmen oder innerhalb von Konzernen durch eigene Bereiche (vor allem Logistik, Einkauf, Rechnungs-wesen).

21 Somit werden aus der Architektur für Industrie-Informationssystemen die Qualitätssicherung, die Instandhaltung, die Lager- und die Transportsteuerung übernommen. Die Lager- und die Transportsteuerung wurden bewusst nicht zusammengenommen wie in der Industrie-Informa-tionssystemarchitektur – in Anlehnung an Scheer – abgebildet. Im Handel sind die Lagersteue-rung und die Transportsteuerung zwei funktional ausgeprägte Bereiche, die mit vielen mitunter unterschiedlichen Systemen unterstützt werden.

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92 Reinhard Schütte • Thomas Vetter

ve heraus im Warenmanagement starten. Das Warenmanagement bündelt Einkaufs- und Vertriebsüberlegungen und bildet die Vereinigung dieser beiden ehemals im Handels-H-Modell (Becker, Schütte 2004) getrennten Aufgaben. Der Einkaufspreis in einem Handels-unternehmen ist nur im Zusammenhang mit dem von den Handelsunternehmen zugesagten Leistungen zu bewerten und zu verhandeln.22 Eine Trennung der Einkaufs- und Vertriebs-perspektive ist daher aus Sicht des Objekts „Ware“ nicht möglich. Da die Ware in Form des Objekttyps Artikel das Wesensmerkmal von Handelsunternehmen ist, wird eine Trennung der beiden Bereiche abgelehnt. Das Warenmanagement ist den beiden Prozessen Beschaf-fung und Distribution gleichermaßen vorgelagert und in Abhängigkeit von der jeweiligen Ausprägung der Ware kann ein getrennter oder simultaner Startzeitpunkt für den Beschaf-fungs- und den Distributionsprozess gegeben sein. Im Aktionsprozess werden beide Pro-zesse unmittelbar zeitlich und inhaltlich miteinander synchronisiert, während bei einem normalen Lagergeschäft die beiden Prozesse durch die Wahrnehmung der Bestandsfunkti-on eines Lagers entkoppelt werden. Bei der Vorbestellung von Saison-Ware beispielsweise im Non Food-Geschäft oder auch bei Import- und Kontraktware, in Verbindung mit der logistischen Abbildung im Rahmen eines Cross-Docking-Prozesses, gilt die Kopplung analog. Bei vertikal agierenden Händlern im Textilbereich gibt es beinahe ausnahmslos diese Geschäftsabwicklung, da nur in geringem Umfang die Bestandsfunktion eines Lagers existiert, sondern es vor allem die Bereitstellung modischer und sich den Anforderungen der Kunden stetig anpassender neuer Sortimente gibt.

Der Beschaffungsprozess mündet in der Kreditorenbuchhaltung und der Distributions-prozess in der Debitorenbuchhaltung, die als Nebenbuchhaltung die unmittelbare Verbin-dung zur Hauptbuchhaltung im Rahmen der Finanzbuchhaltung darstellen. Beide Prozesse bilden das Ende des Beschaffungs- und Distributionsprozesses, daher gibt es keine prozes-suale Verbindung zwischen den beiden Aufgabenbereichen, was durch den Strich innerhalb des Kreises dargestellt wird.

Die betriebswirtschaftlich-administrativen Aufgaben werden in der Architektur für In-formationssysteme für Großhandelsaufgaben auf der vierten Ebene dargestellt und sind als wertmäßige Abbildung der den operativen Prozessen zugrundeliegenden Ressourcenver-bräuche zu verstehen.

Die Informationen für die Steuerung des Unternehmens, die im Rahmen des Control-lings oder für einzelne Entscheidungsprobleme benötigt werden, sind einheitlich in einer Schicht „Business Intelligence“ abgebildet,23 die für Entscheidungsprobleme die Informa-

22 Die Leistung des Handelsunternehmens besteht darin, den Regalplatz und die Fläche sowie den Raum innerhalb des Sortiments für Artikel des Lieferanten einzuräumen. Ergänzt werden diese Kernleistungen durch absatzfördernde Maßnahmen wie Aktionspolitik, Werbung etc. Der Ein-kaufspreis EKnn (netto netto), der alle sofortigen und nachträglichen Vergütungen beinhaltet, kann daher nur vor dem Hintergrund der erbrachten Leistungen des Handelsunternehmens aus Sicht des Industrieunternehmens bewertet werden.

23 Dies wird bewusst so konzipiert, damit die Informationen auch unabhängig von einzelnen Funk-tionsbereichen verfügbar sind. Andererseits wäre aus architektonischen Gesichtspunkten eine ausschließlich prozessuale Ordnung zu unflexibel.

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93Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

Abb. 8 Aufgaben in einem Groß- und Einzelhandelsinformationssystem Quelle: In Anlehnung an Schütte (2011, S. 50+53)

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94 Reinhard Schütte • Thomas Vetter

tionen bereitstellen und im Idealfall algorithmiert eine Entscheidungsempfehlung ermit-teln.

Die Aufgaben auf einer Einzelhandelsstufe24 lassen sich angelehnt an die Überlegungen auf der Großhandelsstufe strukturieren (vgl. hierzu Abb. 8 oberer Teil). Es wäre auch denk-bar, dass die beiden Architekturmodelle für Informationssysteme integriert in einer Archi-tektur abgebildet werden, wobei die Vereinigungsmenge der Aufgaben dann den Architek-turrahmen determinieren würde. Hier wird eine andere Gestaltungsentscheidung getroffen, indem die beiden Architekturen für den Einzel- und den Großhandel differenziert werden. Zwei wesentliche Argumente haben diese Vorgehensweise motiviert. Erstens ist bei einer auch auf der Einzelhandelsstufe ausgeprägten Informationssystemnutzung stets eine eige-ne Architektur erforderlich, so dass selbst bei einer auf Typebene erfolgenden Architektur-gestaltung auf der Instanzenebene zwei Architekturen zum Einsatz kommen. Dies ent-spricht der Vorgehensweise in der Praxis. Da es in diesem Fall immer noch zu einem spe-zifischen Ausprägungsvorgang kommt, ist es für die Betrachtung auf einer Wertschöp-fungskettenebene zielführender, bereits auf der Typebene eine Differenzierung vorzunehmen.

Die Basis der Informationssystem-Architektur im Einzelhandel bilden die Stammdaten (1. Ebene), insbesondere die über Artikel, Lieferanten, Kunden, Konditionen, Betriebe und Lager.25

In der zweiten Ebene sind die technischen Aufgaben in Einzelhandelsunternehmen angeordnet,26 die sich in die Klassen Peripheriesteuerung und Anwenderzugriffstechnolo-

24 Aufgaben auf der Einzelhandelsstufe werden entweder von eigenen Unternehmen wahrge-nommen, die kaum Verpflichtungen gegenüber der Großhandelsstufe besitzen, wie dies bei autonomen Einzelhändlern eines Großhandelsunternehmens der Fall ist. Eine etwas höhere Ab-hängigkeit haben Einzelhändler, die in einem Kooperationsverbund eingebunden sind, wie Ein-zelhändler bei der EDEKA oder der Rewe. Die geringste Eigenständigkeit besitzen Filialbetriebe von mehrstufigen Handelsunternehmen, die zumeist an konzernale Vorgaben gebunden sind und für die das Koordinationsprinzip der Anweisung – als Wesensmerkmal eines Unternehmens – gilt. Zur Differenzierung der unterschiedlichen Koordinationsformen, in Abhängigkeit von den institutionellen Grundformen Markt und Unternehmen (Hierarchie) vgl. Williamson (1990) sowie als Standardliteratur für die Institutionenökonomie Erlei et al. (2007); Richter, Furobotn (1999) und in seiner Anwendung auf Organisation und Management Kräkel (1999).

25 Dabei wären die Objekte Kunden, Lieferanten, Betriebe und Lager durchaus mit überlappenden Attributen und Funktionen in einem Handelsinformationssystem auszuprägen. Vgl. hierzu die Generalisierungsüberlegungen von Becker, Schütte (2004), S. 240 ff.

26 Die Differenzierung der Elemente der technischen Aufgabenebene ist abhängig von der aktu-ellen Gestaltung der verfügbaren Systeme sowie dem technischen State-of-the-Art. So wäre es beispielsweise auch denkmöglich, dass es nur eine Online-Kasse gibt und eine Zuordnung zu der hier vorgenommenen Systemklasse „Kasse“ nicht erforderlich wäre. Aufgrund der Anforderung an einer ubiquitären Nutzung der Architektur wird davon aber abgesehen, denn die unterschiedli-chen Einsatzsituationen in der Welt lassen eine derartige Gestaltung noch nicht in jedem Fall zu. Die hier skizzierte Einteilung der Architektur orientiert sich dabei an einer logischen und nicht technischen Sicht auf die Aufgaben von Handelsunternehmen.

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95Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

gie unterteilen lassen.27 Diese beiden technischen Aufgabenarten sind zwingend zu unter-scheiden, da es im Einzelhandel Technologien gibt, die mit Daten und Applikationen von einem zentralen System versorgt werden müssen (sog. Peripherieeinheiten, Kasse, MDE, Waage, Leergutautomat, Elektronische Regaletiketten, Infoterminals, Advanced Displays etc.), damit diese von den Anwendern genutzt werden können. Dabei werden die Periphe-reinheiten Offline, d. h. Applikationen und Daten stehen auf dem Peripheriegerät lokal zur Verfügung, so dass Stamm- und Bewegungsdaten mit dem führenden System zu synchro-nisieren sind. Eine Alternative zur Offline-Anbindung wäre die Online-Anbindung, bei der die Applikationen und Daten nur über ein zentrales System bereitgestellt werden. Eine Zwischenform stellt eine Quasi-Online-Anbindung dar, bei der die Applikationen und Daten wie im Offline-Fall zur Verfügung stehen und eine Verbindung immer dann online hergestellt wird, wenn dies aus prozessualen Gründen geboten ist. Somit werden die Vor-teile von Online-Anbindungen mit der Notwendigkeit einer von zentralen Systemen auto-nomen Verfügbarkeit von Applikationen verbunden.

Neben den eingesetzten Technologien im Einzelhandel ist zu berücksichtigen, wie der Anwender auf das zentrale System sowie auf die Peripherieeinheiten zugreift. Somit wer-den als zweite Klasse technischer Aufgaben die hier als Anwenderzugriffstechnologien bezeichneten Technologien subsumiert, mit denen Anwender die Funktionalitäten von Aufgabenbereichen mittels Systemen nutzen. In einer Idealwelt wäre dies nur eine Ober-fläche wie ein Web-Browser oder eine GUI, über die die Anwender auf die Funktionalitäten zugreifen. In der Realität werden aber Funktionen auf diversen Endgeräten bereitgestellt, vor allem auf Mobile Devices, die in den Betrieben mittlerweile umfassende warenwirt-schaftliche Funktionen wahrnehmen und entweder Online oder Offline gesteuert angebun-den werden können. Zusätzlich wird es bei größeren Märkten erforderlich, über eine Por-taloberfläche (idealtypisch) oder diverse Anwendungsoberflächen der unterschiedlichen Systeme (Warenwirtschaftssystem, Kassensystem, Finanzbuchhaltung, etc.) auf deren Funktionen zuzugreifen.

Aufgrund der heute üblichen Trennung zwischen Kassensystemen und sonstigen Peri-pheriegeräten wird hier die technische Anbindung der Kassen an die betriebswirtschaftli-chen Aufgaben der nächsten Schalenebene auch in einem eigenen Prozessbereich angeord-net, denn die unterschiedliche Handhabung der Kasse in der informationstechnischen Re-alität grenzt die Kasse von anderen Peripheriegeräten ab. Aus einer logischen Strukturie-rungsperspektive heraus wäre aber auch die Kasse nur eine weitere Peripherieeinheit. Bei den aktuellen Installationen sind die Lösungspakete jedoch zumeist zwischen Peripherie-steuerung und Kasse getrennt.

Die wesentlichen betriebswirtschaftlich-operativen Aufgaben auf der Einzelhandelsstu-fe bestehen darin, im Rahmen des Warenmanagements die Einkaufs- und die Vertriebssei-te im Sinne eines ganzheitlichen Marketings zusammenzuführen (3. Ebene). Es ist auch auf der Einzelhandelsstufe möglich, und bei selbständig agierenden Unternehmen ohne jede

27 Unter Peripheriesteuerung wird die (daten-)technische Anbindung und Steuerung von Hard-waresystemen verstanden, die i. d. R. auch über eine eigene Applikationslogik verfügen.

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96 Reinhard Schütte • Thomas Vetter

Großhandelsbindung zwingend erforderlich, das Sortiment festzulegen, die Lieferanten auszuwählen, die Einkaufspreise zu verhandeln und die Verkaufspreise und die Absatzleis-tungen festzulegen. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben im Kontext einer engeren Anbindung an die Großhandelsstufe ist die Ausgestaltung der Aufgaben des Warenmana-gements different zu denen bei selbständig agierenden Unternehmen, da diverse Aufgaben-elemente bereits von der Großhandelsstufe übernommen wurden. Aus diesem Grund ist auch die Kopplung der einzelnen Systeme (Groß- und Einzelhandel) bei einer organisato-risch engeren Bindung ausgeprägter.

Ausgehend von den Aufgaben im Warenmanagement, die entweder vorgegeben oder selbst wahrgenommen werden, kommt es zu einem Beschaffungs- und Distributionspro-zess auf der Einzelhandelsstufe. Die Ausgestaltung der Beschaffungsseite setzt sich – auf Basis von Rahmenbedingungen des Warenmanagements – aus den Funktionen „disponie-ren“, „bereitstellen“ (Wareneingang, Regalverräumung, Lagerhaltung, platzieren) und „Rechnung prüfen“ zusammen, bevor der Prozess in der Kreditorenbuchhaltung als offener Posten endet und die Schnittstelle zur Hauptbuchhaltung im Rahmen der Finanzbuchhal-tung geschaffen wird. Auf der Distributionsseite, die auch als Verkaufsprozess im Einzel-handel bezeichnet werden könnte, beginnt auf den Vorgaben des Warenmanagements mit dem „Bedienen“, sofern eine Bedienung zur Konzeption des Handelsunternehmens gehört (auch wenn sie nicht dazu zählt, wird eine rudimentäre Form der Bedienung in jeder Ein-kaufsstätte des Handels angeboten – sofern es nur die Nachfrage eines Kunden nach der Platzierung der Ware oder im Online-Handel die Beratungsfunktion eines Avatars ist). Nach dem Bedienen des Kunden wäre der nächste sachlogische Prozessschritt das Kassie-ren. Nach dem Kassiervorgang oder zeitgleich wird die Fakturierung begonnen, die folge-richtig in der Debitorenbuchhaltung mündet. Nach der Fakturierung erfolgt der Transport der Ware zu den Kunden (durch diesen selbst im Abholfall oder im Online-Fall durch Zu-stellung). Die Aufgabe des Transportierens wird in der Architektur für Einzelhandelsunter-nehmen bewusst neu mit aufgenommen, da für die Fälle des Zustellgeschäftes eine solche Aufgabe in bestehenden Informationssystem-Architekturen keine Berücksichtigung gefun-den hat. Auch in einem C+C-Geschäft, welches bei der hier vorgeschlagenen Informations-system-Architekturgestaltung auch der Einzelhandelsstufe zuzurechnen wäre, ist diese Aufgabe zwingend für das Geschäft erforderlich.28

Nach den operativen Prozessen mit der Buchung in der Kreditoren- oder der Debitoren-buchhaltung werden in der Hauptbuchhaltung, der Finanzbuchhaltung, die betriebswirt-schaftlich-administrativen Prozesse angestoßen (4. Ebene). Es kommt somit auf der nächs-ten Schalenebene zu den drei Grundprozessen Finanzbuchhaltung, Kosten- und Leistungs-

28 Es mag an dieser Stelle verwundern, warum der Zustellgroßhandel mit einer Architektur für Einzelhandelsaufgaben abgebildet werden soll. In der Praxis ist das C+C-Geschäft jedoch nur mit den Aufgaben des Einzelhandels, welche aus Zustellung und Abholung bestehen, abzudecken. Im Großhandel dominiert die Zustellung meist über die Abholung, auch wenn Abholfunktionen zu berücksichtigen sind. Im C+C-Bereich sind jedoch auch Verkaufsvorgänge wie im Einzelhan-delsbereich – bis hin zu vielfältigen Anforderungen an den Kassenprozess sowie die Bedienauf-gaben – ausgeprägter.

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97Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

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Die fünfte Ebene

oder Koordinationsaufgaben im Unternehmen. Eine weitere Neuerung der mehrstufigen Architektur von Informationssystemen als Wei-

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teme (vgl. Abb. 9). Die Zielsetzung der Kunden-Informationssystemarchitektur besteht darin, sämtliche Informationen und denkmögliche Anwendungen, die im weitesten Sinne

Zudem wird der Kunde dabei nicht nur als Individuum betrachtet, sondern auch als sozialer Akteur, der in unterschiedlichen sozialen Netzwerken agiert. Da diese sozialen Netzwerke zum einen an ökonomischer Relevanz gewonnen haben, zum anderen aber auch besondere

Abb. 9 Architektur eines Kunden-Informationssystems

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Anforderungen an das Informationssystem stellen, erscheint es zweckmäßig, dieses erwei-terte Verständnis des Kundenbegriffs zu wählen.Auch im Kern von architektonischen Kundeninformationssystemen stehen die Stammda-ten (vgl. Abb. 9, 1. Kreis), die sich aus Artikelstammdaten, den Kundenstammdaten mit-samt der Verwaltung der Kontakte – und damit des sozialen Netzwerkes – eines Kunden zusammensetzen.29 Als ein Beispiel könnten hier die auf der jeweiligen Kundenkarte ge-speicherten Daten, die eine Identifizierung des Kunden erlauben, genannt werden. Darüber hinaus wären hier ggfs. soziodemografische Daten abgelegt (Alter, Geschlecht etc.). Und auch Informationen über das vom Kunden präferierte Kaufverhalten würden für den Kun-den selbst gespeichert, beispielsweise die präferierten Einkaufsstätten des Kunden, die Kaufaktintensität in bestimmten Einkaufsstätten, die Abschöpfungsquoten etc. Im Kontext der bereits erwähnten Rolle des Kunden als sozialem Akteur gewinnen darüber hinaus Informationen an Bedeutung, die Hinweise auf die Nutzung entsprechender Technologien geben (z. B. ob der Kunde ein Smart-Phone besitzt und welche Applikationen darauf ge-speichert sind). Dabei ist zu beachten, dass die Bereitstellung dieser Informationen auch in einer integrierten Form durch entsprechende Dienstleister – analog zu den Artikelstamm-daten – erfolgen könnte. Hier wären dann jeweils auch die entsprechenden rechtlichen Aspekte zu beachten.

Viele Funktionen sind heute für die Kunden in Form von Apps nationaler und internati-onaler Industrie- und Handelsunternehmen bereits üblich,30 allerdings fehlen übergreifen-de Informationen an einer Stelle, denn Apps sind stets isolierte Anwendungen ohne jede Nutzung einheitlicher Stammdaten. Insbesondere werden bei den Kundenstammdaten au-ßerökonomische Informationen, wie sie bei Facebook, Twitter, etc. von den Kunden selbst veröffentlicht werden, wichtiger (Marandi et al. 2010). Die Verbindung von ökonomischen Informationen mit außerökonomischen Informationen führt zu einer anderen Sicht auf Kunden als dies heute der Fall ist (Casteleyn et al. 2009; Zeisser 2010, Poynter 2008, Tru-sov et al. 2009).

Aufbauend auf diesen Grundinformationen werden die technischen Aufgaben bei einem Kunden-Informationssystem abgebildet (2. Ebene), die sich aus den Klassen Peripherie-steuerung und Kundenzugriffstechnologie zusammensetzen.

Auf der dritten Schalenebene werden die Informationsphase, die Anbahnungsphase, die Vereinbarungsphase und die Abwicklungsphase als die vier Schritte eines Kunden bis zur Umsetzung des Kaufvorganges unterschieden (Vgl. z. B. Kenning et al. 2011b). Diese prozessuale Differenzierung, die der für die Handelsbetriebslehre bedeutsamen Transakti-onskostentheorie folgt (Vgl. Picot 1986; sowie grundlegend Williamson 1985, S. 184), ist insbesondere auch bei integrierten Multikanalüberlegungen wichtig, denn es gibt viele Angebote, die eine Online Suche mit einer Offline-Abwicklung im Store vereinigen und mittlerweile als RoPo-Modelle (Research online, Purchase offline) bezeichnet werden. Durch die allgemein anerkannten vier Phasen einer Transaktion wird in der Architektur eine

29 Derartige Funktionen werden von Google, Facebook, Kundenkartenanbietern etc. angeboten.30 vgl. bspw. die Apps der Rewe, der EDEKA, der Metro (real,-), von dm etc.

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weithin wissenschaftlich akzeptierte Ordnung des Kaufprozesses als Ordnungsraster ge-wählt.31

In der äußersten Schale der Architektur werden die Daten zum Kundenmanagement aus allen operativen Kaufprozessen integriert und im Zeitablauf aktualisiert, damit sowohl der Kunden-Life-Cycle als auch die für einzelne betriebswirtschaftliche Entscheidungen zum Kundenmanagement erforderlichen Informationen verwendet werden können. Gelänge ein entsprechend effizientes Informationsmanagement würde dies zudem die systematische Beobachtung vorökonomischer Variablen erlauben. So wäre es bspw. für den jeweiligen Händler möglich, die auf ihn bezogene Kommunikation in sozialen Netzwerken zu beob-achten und darauf aufbauend entsprechende Managementmaßnahmen zu entwickeln. Das Management dieser Informationen hat dabei zum einen eine hohe Bedeutung für etwaige Reaktionen des Händlers (z. B. dann, wenn im Internet entsprechende Gerüchte kursieren). Zum anderen kann der Händler die entsprechenden Kanäle aber auch aktiv für eigene Marketingzwecke nutzen. Die daraus entstehenden positiven Effekte könnten u. a. (1) in der Entwicklung neuer Vertriebskanäle, (2) der kundenindividuellen Differenzierung der jeweiligen Handelsleistung sowie (3) einer effizienteren Kundenansprache bestehen und somit insgesamt einen positiven Beitrag zur Marketingeffizienz leisten. Die Etablierung eines entsprechenden Kundeninformationssystems in die Systemarchitektur scheint insbe-sondere für die Händler wichtig zu sein, deren Geschäftsmodell auf einer leistungsorien-tierten Wettbewerbsdifferenzierung besteht, denn für eine erfolgreiche Differenzierungs-strategie im Handel wird es nicht mehr genügen, pauschale Angebote zu unterbreiten. Bei den Kostenführern im Handel ist die Notwendigkeit einer differenzierten Kundenansprache nicht ausgeprägt, da diese mit ihrem Angebot sämtliche denkmögliche Kunden adressieren. Insofern wären die jeweilige Ausprägung sowie der Umfang des entsprechenden Kunden-informationssystems wohl auch von der jeweiligen Wettbewerbsstrategie des Händlers abhängig.

1.3.2 Architekturebenen-orientierte Analyse des Digitalisierungspotenzials

Die nachfolgende Analyse widmet sich dem Problem, in unterschiedlichen Bereichen von Handelsinformationssystemen bereits heute vorhandene und von den Autoren erwartete Potenzial zu identifizieren. Es wird dabei präsupponiert, dass zwischen dem aktuellen und dem möglichen Digitalisierungszustand eines Handelsinformationssystems eine Diskre-panz besteht, d. h. ein Digitalisierungspotenzial größer null existiert (Problem-Präsupposi-tion). Außerdem wird davon ausgegangen, dass es Technologien gibt und geben wird, die

31 Vgl. hierzu Ahlert et al. (2010/2011). Aus diesem Grund wird auch auf eine weitere Entfaltung des Kundenkaufprozesses und alternativer Strukturierungsraster im Rahmen von Kundenent-scheidungen verzichtet. Dies gilt insb. auch vor dem Hintergrund, dass für die Architekturen von Industrie-, Handels- und auch Kundeninformationssystemen eine prozessorientierte Perspektive gewählt wurde, die für die Gestaltung von Informationssystemen von besonderer Bedeutung ist.

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-gang gefunden haben, sollen vor der Diskussion der Digitalisierungsfelder skizziert wer-

-nimmt: Die zwischen der Wirkungstiefe der Technologie und der mittel- und langfristigen

werden hier vor allem 3D Printings, Internet of Things, Advanced Robotics, Big Data (damit auch die in der Abbildung geson-

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Dabei werden diese Entwicklungen als Primärtrends identifiziert. Zur Umsetzung wie-

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Abb. 10

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101Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

lungspfade sich relativ zeitnah erfüllen werden, auch wenn die für die Gestaltung der Systeme bekannten Konzepte wissenschaftlich keine neuen Erkenntnisse darstellen. Aller-dings kommt es nun aufgrund der neuen Möglichkeiten und des erreichten Digitalisierungs-niveaus zu umsetzbaren Lösungen. Am deutlichsten wird sich diese Differenz möglicher-weise bei der Künstlichen Intelligenz zeigen. Eine Teildisziplin der Informatik, die eine lange Tradition hat und viele Methoden und Lösungsprinzipien bereits in der Vergangenheit entwickelte, die in naher Zukunft in vielen Anwendungsdomänen einen Durchbruch errei-chen kann.

Ein Basistrend ist dabei, dass Information und Objekt zusammenwachsen. Dies erfor-dert auch die Berücksichtigung von ganzheitlichen Ansätzen bei der Anwendungssystem-gestaltung, wie sie insbesondere in der Integration von Systemen in der Wirtschaftsinfor-matik zum Ausdruck kommt.

Die Zielsetzung der Integration von Anwendungssystemen hat eine lange Tradition, allerdings bedarf es zunächst einer begrifflichen Präzisierung was unter Integration ver-standen werden kann. Integration ist entweder der Prozess des Herstellens eines Ganzen oder das Ergebnis, das Ganze an sich (Rosemann 1999, S. 5f.). Dabei kann das Ziel der Integration durch eine Integration im Sinne des Verbindens oder eine Integration im Sinne der Vereinigung – in unterschiedlichem Maße – erreicht werden.

Bei der Integration im Sinne des Verbindens werden ehemals unverbundene Systeme durch – die in der Regel – nachträgliche Herstellung von logisch bestehenden Beziehungen zwischen Systemen hergestellt. Somit liegt vor allem eine datentechnische Kommunikati-on vor, indem die Systeme über Schnittstellen miteinander verbunden werden, in ihrer Unabhängigkeit bleiben die Systeme hingegen bestehen. Die Integration im Sinne der Vereinigung nimmt eine Vereinheitlichung gleichartiger Elemente oder Beziehungen eines Systems vor, so dass es zu einer Reduktion der Anzahl an Elementen kommt. Die mit der Integration verbundenen Zielsetzungen sind grundsätzlich: • Redundanzen reduzieren • Konsistenz erhöhen • Aktualität der Information verbessern (und damit die Entscheidungsqualität)

Bei einer Differenzierung zwischen einer Integration im Sinne der Vereinigung und einer Integration im Sinne des Verbindens einerseits und den unterschiedlichen Integrations-graden bei einer Wertschöpfungsstufenbetrachtung (vgl. Abb. 11) andererseits gelangt man zu einer betriebswirtschaftlich-motivierten Perspektive auf den Gegenstandsbereich der Gestaltung, der für die weitere Analyse auch im Vordergrund stehen soll. Dies ver-deutlicht dabei auch einmal mehr, analog zu den Ausführungen im Kontext von Abb. 5, dass die Idee einer einheitlichen Datenbasis nichts an Gültigkeit verloren hat. Dies ist insbesondere im SAP-Kontext der historischen Entwicklung integrierter Anwendungs-systeme von R/2 bis zu ERP 6.0 und der technologischen Entwicklung der Hana-Daten-bank wesentlich, denn die Plattform gestattet nun auch die Speicherung von Massenda-ten, so dass die ehemals an technischen Limitationen zu scheitern drohende Integrations-idee neu belebt wird.

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Abb. 11 Integration von In-dustrie- und Handelsinformati-onssystemen Quelle: In Anlehnung an Schütte (2011, S. 61)

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103Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

1.3.2.1 Überlegungen zur Stammdatenebene bei einer zunehmenden  Digitalisierung

Eine wertschöpfungsorientierte Analyse exemplarischer Digitalisierungspotenziale soll dem Schalenmodell folgend zunächst den Kern sämtlicher Anwendungssysteme fokussieren: den Stammdaten. Durch das Internet der Dinge wird es möglich, dass Informationen und Objekt quasi eins werden. Auch die Daten über Umgebungsbedingungen des Objekts sowie der Interaktionsbedingungen der Kunden, die sich laufend verändern, werden dokumentierbar. Diese neue Realität wird die Stammdatensituation in den Anwendungssystemen fundamental verändern. Es werden strukturierte und unstrukturierte Objektinformationen zusammen-wachsen. Diese werden auch für den Kunden und dessen Informationsbedürfnisse immer relevanter und noch heute vorhandene Grenzen zwischen den Anwendungssystemen von Industrie und Handel gilt es zu durchbrechen, denn fehlerhafte Informationen über Produkte, auch in Form von Bildern zu Produkten oder Marken, sind heute in den Prozessen viel zu häufig das Ärgernis für enorme Ineffizienzen und mangelhafte Kundeninformationen.

Neben der Ausdehnung der Stammdatenperspektive auf die gesamte Wertschöpfungs-kette und die gestiegenen Qualitätsanforderungen an die Stammdaten, nimmt aber auch der Umfang der Stammdaten weiterhin zu. Neben den immer umfangreicheren Informationen, die der Gesetzgeber einfordert, sind es auch Lokationsinformationen, Transportweginfor-mationen, CO2-Foodprints, etc., die durch das Zusammenkommen von Objekt und Infor-mation neue Informationsmöglichkeiten über sämtliche Leistungsobjekte in der Wirtschaft eröffnen, die damit nicht nur für das System Unternehmen, sondern auch für die diversen Umsysteme des Unternehmens (vgl. Abb. 1) relevant werden.

Somit haben Stammdaten erstens bezogen auf die Integrationsperspektive Wertschöp-fungskette und zweitens, auf den Umfang der Informationen einen Bedeutungszuwachs zu erwarten. Drittens, und das erscheint den Verfassern eine besonders nachhaltige Verände-rung im Stammdatenmanagement mit sich zu bringen, stellt sich die Frage, ob Stammdaten in der Vergangenheit bezüglich des Charakters der repräsentierten realen Objekte in Syste-men adäquat abgebildet wurden. Stammdaten sind diejenigen Daten zu einem realen oder gedachten Objekt, welches immer nur in einem Raum-Zeit-Kontinuum existiert. Die Mo-dellierung der Zeit im Zusammenhang mit den Stammdaten hat aber eine geringe Tradition, denn zumeist werden die Preisinformationen (einkaufs- und verkaufsseitig) zeitabhängig in den Systemen behandelt, allerdings die Informationen zu dem Objekt selbst nicht. Dies betrifft auch die Gruppierungs- oder Klassifikationslogiken, die in Systemen verwendet werden. Beispielsweise ist ein Materialstamm der Industrie in Standardhierarchien einge-bettet, in Handelsinformationssystemen ist die Warengruppe die typische Gruppierung von Artikeln zu Kategorien, die sich i. d. R. an Produkteigenschaften ausrichtet (z. B. Warengrup-pen Joghurt, Butter, Schokolade). Parallel werden die Artikel einer externen Produktklassi-fikation zugeordnet, wie dem Global Product Classification Code von GS1, die auch dazu dient, einen Umsatzvergleich zwischen den Handelsunternehmen vornehmen zu können.

Diese Gruppierung von Artikeln führt in Enterprise-System-Architekturen mit Data Warehouse-Systemen dazu, dass bei Veränderungen in der Gruppenzuordnung Re-Klassi-fikationen vorgenommen werden müssen, die für den Systembetrieb problematisch sind,

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da Millionen von Datensätzen erneut aufgebaut werden müssen. Dies hat seinen Grund in einer methodisch fehlerhaften, in der Vergangenheit jedoch zwingenden Modellierung bzw. Nicht-Modellierung der Zeit bei den Stammdaten. Die einzelnen Objekte sind für sich genommen und besonders in der Zuordnung zu einer Gruppe zeitabhängig. Dies gilt umso mehr, wenn die Versprechungen des Internet of Things erfüllt werden. Die Eigenschaften eines Objekts sollten dann immer auch zeitabhängig verfügbar sein in einer informations-technischen Welt ohne systemtechnische Restriktionen. Die Systeme würden bei der ernst-haften Berücksichtigung von Anforderungen zu Sensoren und Aktuatoren zu einer vollstän-dig anderen Abbildung von Stammdaten kommen, da der charakteristische Unterschied von Stamm- und Bewegungsdaten – mindestens auf der Ebene der Objekte – so entfallen würde. Diese fundamentale Modifikation von Stammdaten in den Systemen würde auch eine andere Perspektive auf Kunden ermöglichen, denn auch bei diesen gilt, dass ein Kun-de nicht zeitunabhängig abgebildet werden sollte, sondern viele seiner Attribute nur zeit-abhängig interpretiert werden dürften.

1.3.2.2 Digitalisierungspotential auf der technischen Aufgabenebene Auf der zweiten Ebene der jeweiligen IS-Architekturen sind die technischen Aufgaben angeordnet, die dazu dienen, sehr maschinennahe Informationen in Applikationen zu Steu-erungs- und Kontrollzwecken oder direkt in Maschinen als Embedded Systems zu integ-rieren. Diese Applikationen werden im Kontext von Internet of Things, Ubiquitous Com-puting, Mobile World, etc. eine Integration herstellen, die bislang in dieser Form nicht üblich war. Diese neu verfügbaren Informationen erlauben neuartige Prozesse zu etablie-ren. Beispielsweise lassen sich in Handelsunternehmen für eine Vielzahl von technischen Geräten, von den Tiefkühltruhen, den Frischebereichen, den Kassen im stationären Handel bis hin zur Lagertechnik und zu Flurförderfahrzeuge sowie LKWs zukünftig auf Basis von Maschinendaten sinnvoller Wartungsintervalle oder Wartungsbedarfe ermitteln (predictive maintenance) anstelle diese im Vorhinein zu planen. Auf diese Weise können erhebliche Wartungskosten eingespart werden, denn die heutige Praxis, Wartungsintervalle ex ante zwischen den Investitionsgüterherstellern und den Handelsunternehmen zu vereinbaren, ist sehr häufig für Handelsunternehmen unwirtschaftlich.

Neben dem Beispiel der Optimierung der Wartungskosten ist die Energiesteuerung ein zweiter wichtiger Bereich, in dem sich durch die Digitalisierung und damit verfügbare Steuerung von elektronischen Geräten erhebliche Verbesserungsmöglichkeiten eröffnen. Dies betrifft zunächst die grundsätzliche Fähigkeit, dass eine Steuerung und Kontrolle der Geräte in Abhängigkeit von Sensoreninformationen über Temperaturen, Luftbedingungen, etc. eine differenzierte Steuerung von Kühlungsanlagen und anderen stromverzehrenden Geräten eröffnet. Des Weiteren ist für die Handelsunternehmen bei der Vertragsgestaltung mit Energieversorgern auch festzulegen, welche maximale Energie zu welchen Uhrzeiten (oder bis zu welchen Uhrzeiten) abgerufen wird. Diese Spitzenlasten wiederum sind für die Kosten der Verträge verantwortlich.

Während die beiden skizzierten Beispiele dazu dienen, die erstmalige Verfügbarkeit von Informationen zu einer verbesserten Kostensituation zu nutzen, gibt es auf der technischen

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105Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

Ebene in Handelsunternehmen neue Möglichkeiten zur Verzahnung der technischen mit der betriebswirtschaftlichen Aufgabenebene. Die in Industrieunternehmen traditionelle Verzahnung der sogenannten CAx-Bereiche mit den betriebswirtschaftlichen Aufgaben der Produktionsplanung und -steuerung, die unter anderem im Y-CIM-Modell von sCheer zum Ausdruck gekommen sind und in der im vorhergehenden Kapitel skizzierten Architektur für Industrie-Informationssysteme zwischen der zweiten (technischen) und dritten Ebene (operativen) wiedergegeben wird, wird in Handelsunternehmen nun auch zunehmend an Bedeutung gewinnen. Beispielsweise werden die Hochregallagersysteme, die Anliefersi-tuationen beim Wareneingang im Groß- und im Einzelhandel, etc. dazu genutzt werden können, dass eine verstärkte planerische Integration dieser Ressourcen neue Kapazitätspla-nungen von Menschen und Maschinen ermöglicht. Eine integrierte Ressourcenplanung unterschiedlicher Kapazitätsarten, wie sie in MRP II-Systemen unüblich sind, werden da-mit auch in Handelsunternehmen zukünftig einsetzbar. In der Vergangenheit lagen die In-formationen mitunter nicht vor. Insbesondere die Aufgaben der Supply Chain werden in erheblichem Umfang von bisher nicht verfügbaren oder integrierten Informationen verän-dert werden, um eine bessere Abstimmung von Kapazitätsangebot und Kapazitätsnachfra-ge auf einer Stufe der Wertschöpfungskette und vor allem auch zwischen den Stufen der Wertschöpfungskette (aus Sicht der Handelsunternehmen vor allem zwischen Einzel- und Großhandelsstufe) zu ermöglichen.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die skizzierten Prozessinnovationen ein enormes Potential in wesentlichen Ressourcenbereichen von Handelsunternehmen, denen im Lager einerseits und denen in den Einzelhandelsbetrieben andererseits eröffnen.

1.3.2.3 Digitalisierungspotential auf der operativen Aufgabenebene Bei den operativen Aufgaben handelt es sich definitionsgemäß um diejenigen, die für die Wertschöpfung von Handelsunternehmen ausschlaggebend sind. Die Kernaufgabe eines Handelsunternehmens besteht darin, dass Produkte in einer Kombination zu Sortimenten mit wettbewerbsfähigen Preisen in hinreichender Verfügbarkeit angeboten werden. Die damit erforderlichen Kernfähigkeiten eines Handelsunternehmens sind die Produktion oder der Einkauf von Artikeln zu möglichst günstigen Preisen (Produktions-, Einkaufs-, Be-schaffungs- und Vertriebsfunktion). In der „Konstruktion“ guter Artikel, dem günstigen Einkaufspreis, der Definition von Sortimenten und deren Platzierung in den Regalen oder auf Web-Seiten sowie der Festlegung wettbewerbsfähiger und gewinnträchtiger Verkaufs-preise. Darüber hinaus ist das Promotions- oder Aktionsgeschäft mit der eigenständigen Definition von Sortimenten, Preisen und Platzierung sowie den besonderen Herausforde-rungen an die Logistik zu nennen.

In den letzten Jahrzehnten hat sich in den skizzierten Funktionen, die sich sämtlich dem zentralen Objekt der Ware in Handelsunternehmen widmen, nur wenig verändert. Der starke Qualitäts- und Preiswettbewerb in Deutschland hat dazu geführt, dass eine vorrangig personenorientierte Ressourcenpolitik verfolgt wurde, d. h. es wurde von den Oligopolisten der Versuch unternommen, durch die Qualifikation der Mitarbeiter oder auch deren Ein-stellung von Konkurrenten die Aufgaben bestmöglich erfüllen zu lassen. Anwendungssys-

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teme haben dabei eine nur untergeordnete Rolle eingenommen, denn die Definition der Anforderungen hat sich vor allem an den Kundenbedürfnissen ausgerichtet, die eine Auto-matisierung nur in Teilbereichen zugelassen hat. Diese Automatisierungsmöglichkeit ope-rativer Aufgaben (Preispflege, Listungsanlage und -pflege, etc.) wird zukünftig immer mehr mit der Entscheidungsautomatisierung einhergehen, die auf der fünften Kreisebene der IS-Architekturen angeordnet ist. Je mehr Technologien wie der von SAP verfolgte Ansatz einer In-Memory-Datenbank mit den vielen begleitenden Optimierungsmaßnah-men umgesetzt werden, desto weniger wird die operative Ebene eine eigenständige Berech-tigung ohne die Entscheidungsebene besitzen. Daher können die operativen Aufgaben und die Entscheidungsaufgaben zusammengenommen, erstens einen enormen Effektivitäts-sprung ermöglichen, der vor allem der Entscheidungsebene (eine Automatisierung der Entscheidung, des Denkens sozusagen) zuzuordnen wäre. Zweitens wäre der Effizienz-sprung für die operativen Aufgaben im engeren Sinne möglich, die vor allem aus einer Automatisierung des Tuns realisiert werden.

Neben den Parametern des Marketing-Mixes gilt ein besonderer Fokus der Logistikpro-zessoptimierung im Sinne von Supply Chain Steuerungen. Die Logistikkosten vom Liefe-ranten bis ins Regal des Handelsunternehmens bzw. bis zum Kunden stellen neben den sonstigen Personalkosten und der Miete die wichtigste Kostenart in Handelsunternehmen dar. Im Zuge zunehmender Mehrkanalangebote steigt die Bedeutung dieser Kostenkompo-nente weiter an, denn die Zustellung der Ware zu den Kunden tritt als weitere Kostendi-mension hinzu (und die Miete wird stattdessen gegenüber einem stationären Handelsunter-nehmen weniger bedeutend). Die Aufgaben der Logistik in Handelsunternehmen sind lo-gisch in die beiden Hauptprozesse Beschaffungs- und Distributionslogistik zu differenzie-ren, die bei einer zeitlichen Synchronisation auch miteinander verwoben sein können.

Bei der distributionslogistischen Prozessgestaltung hat in stationären Handelsunterneh-men ein statischer – nur in Sonderwochen veränderter – Tourenplan eine besondere Bedeu-tung. Der Tourenplan wirkt als die logistischen Prozesse steuernder Rahmen, innerhalb dessen die Optimierung stattfindet.

Neben der Optimierung der taktisch-strategischen Rahmenbedingungen, innerhalb de-rer die einzelnen Logistikprozesse abgebildet werden, ergeben die Digitalisierungsmög-lichkeiten durch mobile Technologien, das Internet of Things, Big Data for operations, etc. eine zeitlich bessere Synchronisationsmöglichkeit von Prozessen zwischen den Handels-stufen bis hin zu den Endkunden. Auf diese Weise werden beispielsweise in den Einzelhan-delsbetrieben Personal-Leerkosten vermeidbar, da die Abstimmung von Anlieferung und Einräumung der Ware in Echtzeit möglich wird. Auch die Art und Weise der Personalein-satzplanung kann sich viel stärker an den tatsächlichen Erfordernissen in den Betrieben ausrichten. Die Prozesskette von der Kommissionierung, den Warenausgang und den Transport bis hin zum Wareneingang im Einzelhandel, der Verräumung der Ware und der Lagerung dort wird viel bedarfsorientierter und zugleich zielorientierter erfolgen können. Die Vision, dass die einzelnen Lagerplätze im Einzelhandel genauso verwaltet werden können wie im Großhandel ist nicht mehr zu weit entfernt und wird die Effizienz der Ein-räumprozesse verbessern.

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107Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

1.3.2.4 Digitalisierungspotential auf der administrativen Aufgabenebene Bei den administrativen Aufgaben, die als Querschnittsaufgaben zunächst keine eigene Wertschöpfung besitzen, sind zunächst keine radikalen Prozessveränderungen zu erwarten. Allerdings haben die administrativen Aufgaben durch die zeitnäher verfügbaren Informa-tionen und die echtzeitorientierteren Prozesse eine Beschleunigung zu erwarten. Die heu-tige Praxis bei Periodenabschlussarbeiten entsprechen nicht dem Erfordernis einer zeitna-hen Berichterstattung des Managements über die wirtschaftliche und finanzielle Situation des Unternehmens.

Die weitergehende Digitalisierung jahrzehntelanger Bemühungen im elektronischen Datenaustausch, die zunehmende Verfeinerung der Information von der Belegebene auf die Positionsebene, die Möglichkeiten des Datenaustausches mit der Industrie sowie der Zwang, die Stammdaten aktuell und qualitativ auch zu Konsumentenzwecken bereitstellen zu können, werden in den nachgelagerten Bereichen enorme Effizienzpotentiale und eine deutlich aussagekräftigere Auswertebasis ermöglichen, Automatisierungen in der Buchhal-tung werden möglich und Auswertungen flexibler erstellbar.

Darüber hinaus sind Vereinfachungen erreichbar, die nicht durch neue Technologien, sondern neues Nachdenken über alte Probleme erreichbar werden. So wird beispielsweise im neuen S/4 Finance der SAP auf ein Zweikreisrechnungswesen zugunsten eines Einkreis-systems verzichtet, um die aufwendigen Abstimmprozesse zwischen internem und exter-nem Rechnungswesen zu vermeiden. Dies bringt zwar die Verringerung von Flexibilität in den Auswertungssystemen mit sich, auch wird das interne Rechnungswesen nicht für jeden Zweck theoretisch angemessener, allerdings reduziert sich der prozessuale Aufwand erheb-lich. Dies einfache Beispiel soll eines veranschaulichen. Auch wenn die Technologie Mög-lichkeiten eröffnet, die Logik der Softwareingenieure und der Anwendungsunternehmen entscheidet darüber, was mit den Technologien an Potentialen umgesetzt wird.

1.3.2.5 Digitalisierungspotential auf der entscheidungsorientierten Aufgabenebene

Es existierten einige Versuche mit Instrumenten der Künstlichen Intelligenz, beispielswei-se die Preispolitik zu optimieren, ganzheitliche strategische Wettbewerbsmodelle oder gar ausgefeilte spieltheoretischen Anknüpfungspunkte existierten hingegen nicht. Dabei wurde vor allem auch der Aspekt der Sortimentsbildung für die Handelsunternehmen in den Sys-temen vernachlässigt.

Zukünftig eröffnen die neuen Digitalisierungsmöglichkeiten insbesondere in den Wert-schöpfungsbereichen enorme Verbesserungspotentiale. Zunächst werden echtzeitorientier-te Simulationen die Akzeptanzbarriere des Systemeinsatzes in dem bedeutendsten Bereich von Handelsunternehmen reduzieren können. Die simultane Optimierung – für ein vorge-gebenes Ziel des Handelsunternehmens – der unterschiedlichen Parameter des Marketing Mixes in Handelsunternehmen gehört die Zukunft, denn die heute verfügbaren Daten er-möglichen es intelligenten und handelserfahrenen Nutzern Hypothesen zu formulieren und diese anhand von Echtdaten zu falsifizieren, um durch permanente Überprüfung zu immer verfeinerten Erkenntnissen über das Kunden- und Wettbewerbsgeschehen zu gelangen.

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Aufgrund der verfügbaren Daten lassen sich bereits heute oligopolistische Verhaltensan-nahmen (in Form der Preisführerschaft und des damit verbundenen Verhaltens) bestätigen. Die heute übliche Verhaltensweise bei Handelsunternehmen, Preise und Sortimente in der vorhandenen Dimension als durch Menschen beherrschbar einzuschätzen, widerspricht der tatsächlichen Situation in Handelsunternehmen. Die Verantwortung von vielen tausend Artikeln in einem Sortimentsbereich ist durch einzelne Verantwortliche nicht wirtschaftlich möglich, selbst die Verantwortungsreichweite bei Discountern widerspricht den Erkennt-nissen über die menschlichen Verarbeitungsfähigkeiten. Es wird zumeist unter Verweis auf die Verhaltensweisen des Unternehmens aus der Vergangenheit oder die Referenzierung auf den Wettbewerb argumentiert, wobei beide Argumentationsketten nicht zwingend zu einem optimalen Angebotspreis führen. Die heutige Praxis in Handelsunternehmen ist nicht rational begründbar und entscheidend dürfte zukünftig sein: es gibt viel effektivere und effizientere Möglichkeiten unter Einbeziehung intelligenter Algorithmen und der sie unter-stützenden Applikationssysteme. Ob eine Simulation der Einkaufspreise basierend auf den Inhaltsstoffen, verknüpft mit der Rohstoffpreisentwicklung, die Kalkulation von Einkaufs- und Verkaufspreisen für unterschiedliche Mengeneinheiten bei differenten Vertriebsschie-nen oder eine mengengewichtete Verkaufspreisanalyse der Konkurrenz ist, um eigene Verkaufspreisnotwendigkeiten der Industrie zu offerieren, die Beispiele sind vielfältig. Die Sortimentspolitik als, nach Erkenntnissen der Autoren, wirtschaftlich relevanteste Aufgabe wird ohnehin zu wenig von Systemen unterstützt und es gibt insbesondere für diese Auf-gabe zu wenig Experten.

Ein weiteres Beispiel für das enorme Potenzial aus der Kombination von Verfügbarkeit von qualitativ hochwertigen Daten einerseits und der maschinellen Verarbeitbarkeit ande-rerseits besteht in der Relaxation der Strukturbedingung – beispielsweise in der Logistik, die wiederum dem taktisch-strategischen Bereich zuzurechnen ist. Die Veränderung der Strukturbedingungen der Logistik erscheinen den Autoren ein großes Potenzial für die zukünftige Logistikoptimierung zu bieten, denn die Wirtschaftlichkeit wird bis dato stets nur im Rahmen der gegebenen Strukturen optimiert, ein darüber hinaus gehendes Opti-mum ist aktuell vor allem Gegenstand von Analysen von Unternehmensberatungen. Die modernen IT-Architekturen, wie die der SAP mit ihrem SAP Hana-Ansatz, erlauben aber auch die gleichzeitige Simulation und Auswertung von großen Datenmengen, die bei-spielsweise bei einer Variation von Strukturbedingungen entstehen. Somit wird es zukünf-tig nicht nur vorgegebene Rahmen-Tourenpläne geben, sondern auch – wie beispielswei-se im SAP Transportation Management vorgesehen – eine strategische Optimierung der Tourenpläne.

Dabei sind die denkmöglichen Analyseszenarien von Belieferungsplänen, Mindestbe-ständen, der Veränderung der Sortimente mit Kartongröße und Sortierung, Displays, etc. kaum Grenzen gesetzt. Dies deutet aber auch zugleich die Radikalität an, mit der die Digi-talisierung bisherige Arbeits- und vor allem auch Denkweisen in Handelsunternehmen verändern kann. Der dispositive Faktor, der bisher ausschließlich vom Menschen wahrge-nommen wird, gerät zukünftig auch in Reichweite der Maschinen. Die Handelsmanager sollten dies anerkennen und es sich zugleich zu Nutze machen.

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109Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

1.4 Fazit

Seit geraumer Zeit wird von der Digitalisierung quasi als Allzweckwaffe der Zukunft ge-sprochen, auch wenn die klassischen Aufgaben in Handelsunternehmen keine Veränderung erfahren haben. Es geht in den nächsten Jahren darum, die bisherige Aufgabenerfüllung auf ein höheres Niveau zu heben, welches nur mit modernen Instrumenten der Informations-technologie möglich sein wird. Solange die Handelsunternehmen, die sich wettbewerblich zumeist in einem Oligopol bewegen, diese Notwendigkeit kollektiv verneinen, so gibt es für die einzelnen Akteure auch kein Problem. Es sei denn, dass auch außerhalb des Oligo-pols Wettbewerber existieren, die zu potentielle Konkurrenten werden können. Auch wenn die Einschätzung in einem engen Oligopol naheliegen könnte, dass eine Warteposition rational sein könnte, ist dies bei dem auch infolge der Informationstechnologien möglichen Veränderungsgeschwindigkeit vielleicht zu existenzgefährdend. Erstens sind die Wettbe-werber, die man (noch) nicht sieht, vielleicht besonders gefährlich und zweitens besteht die Gefahr, das auch nur ein relevanter Systemwettbewerber die wirtschaftlichen Situationen im Oligopol erheblich verändern kann. Es verbleibt somit bei der Erschließung des tech-nologiebedingten Digitalisierungspotenzials keine Alternative zur – durchaus auch fehler-behafteten – Innovation, denn die Unterlassensalternative dürfte aus Risikoüberlegungen keine Alternative sein.

Die Digitalisierung führt dazu, dass die traditionellen Funktionen des Handels (räumli-che Überbrückungsfunktion etc.) nicht als Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen Wettbewerbern ausreichen – deshalb erscheint es umso wichtiger für Handelsunterneh-mens, die fundamentalen strategischen Fragen zu beantworten: wer sind meine Kunden und wie ist eine Differenzierung zur „Online-Konkurrenz“ möglich. Dabei eröffnen die digita-len Möglichkeiten auch für bestehende Handelsunternehmen bisher nicht erschlossene Potenziale. Viele neue Entwicklungen im Handel und in der Kundenansprache werden je-doch technologie-induziert sein – unabhängig, ob es ein stationärer oder ein Online-Händ-ler ist. Somit bedarf es einer Technologiekompetenz, die entweder zugekauft (Outsour-cing), eingekauft (Insourcing) oder entwickelt werden muss (Aufbau). Diese Technologie-kompetenz wird perspektivisch zu den Kernkompetenzen der Handelsunternehmen wer-den. Neben der Technologiekompetenz werden auch die Stammdatenprozesse (sowohl Kunden- als auch Produktdaten) bedeutsamer, qualitative und umfassende Stammdaten sind sowohl für die Effizienzsteigerung bestehender als auch die Effektivität neuer, die Kundenansprache fokussierender Prozesse wichtiger.

Wenn ein Handelsunternehmen diese notwendigen Voraussetzungen (Technologiekom-petenz und Stammdatenverbesserung) erfüllt hat, dann bedarf es vor allem der kulturellen Anpassung, um von einer produktzentrierten zu einer kundenzentrierten Perspektive zu gelangen und damit auch die hinreichende Voraussetzung für ein erfolgreiches Handelsun-ternehmen in einer digitalisierten Welt zu schaffen.

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113Analyse des Digitalisierungspotentials von Handelsunternehmen

Autoren

Prof. Dr. Reinhard Schütte ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsinformatik und in-tegrierte Informationssysteme an der Universität Duisburg-Essen. Er hat an der Westfäli-schen Wilhelms-Universität Münster in Wirtschaftsinformatik promoviert und habilitiert sowie an den Universitäten Münster, Essen, Koblenz und Friedrichshafen geforscht und gelehrt. Er setzt sich seit 1992 mit der Entwicklung und Einführung von Handelsinforma-tionssystemen sowie der prozessualen Gestaltung von Handelsunternehmen auseinander. Er ist Verfasser und Herausgeber diverser Bücher und hat in nationalen und internationalen Journalen publiziert. Seine Arbeitsgebiete sind Enterprise Systems, die Digitalisierung von Institutionen, Informationsmodellierung und Wissenschaftstheorie.

Dr. Thomas Vetter, Senior Vice President, leitet die globale Produktmanagement- und Entwicklungsorganisation für die Bereiche Konsumgüterindustrie, Einzelhandel, Großhan-del und Life Science bei der SAP SE, dem weltgrößten Anbieter für Unternehmenssoftware mit Sitz im badischen Walldorf. Nach seiner Promotion in Theoretischer Physik kam Dr. Thomas Vetter 1994 zur SAP. Er repräsentiert SAP auch im „Arbeitskreis Organisation der Schmalenbachgesellschaft“, einer angesehenen gemeinnützigen Forschungsgesellschaft. In dieser Funktion hat er als Mitautor eine Reihe von Publikationen zum Thema Organisa-tion veröffentlicht.

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Teil II: Technologien für die Digitalisierung des Handels

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Vom Barcode zu Mobile Commerce – Moderne Handels-IT stellt Kundennutzen in den Mittelpunkt

Michael GerlingGeschäftsführer, EHI Retail Institute e.V., Köln, Deutschland [email protected]

1.1 Einleitung

Die Bedeutung der Informationstechnik für den Handel ist heute so hoch wie nie zuvor. Mittlerweile gibt es kaum noch Bereiche, welche die IT nicht durchdringt. Und auch die strategischen Aufgaben der IT haben sich geändert. Während bis zur Jahrtausendwende die Rationalisierung im Mittelpunkt der IT-Nutzung stand, steht heute immer mehr der Kun-dennutzen im Vordergrund. Themen, wie Omni-Channel, Mobile Commerce oder mobiles Bezahlen stehen heute ganz oben auf den Prioritätenlisten der Handels-IT. Damit reagiert der Handel auf ein neues Konsumentenverhalten, das in enger Verbindung mit einer immer stärkeren Nutzung von IT-Systemen durch die Menschen selbst steht.

Jeder Euro kann bekanntlich nur einmal ausgegeben werden. Daher ist es von größter Wichtigkeit, die richtigen Investitionsentscheidungen bezüglich der Technologien zu tref-fen. Dabei müssen gegebenenfalls heute schon die Weichen für kommende Technologien gestellt werden, indem die Infrastruktur entsprechend vorbereitet wird. Bezahlterminal ohne NFC-Fähigkeit wären heute sicher ein hohes Investitionsrisiko. Wichtig ist, klar zu unterscheiden, welche Technologien lediglich Strohfeuer sind und welche für das Unter-nehmen in Zukunft möglicherweise sogar überlebenswichtig sein könnten.

Das EHI beobachtet und dokumentiert seit vielen Jahrzehnten die IT-Trends im deutsch-sprachigen Handel, seit Beginn dieses Jahrtausends mit einer im zweijährigen Turnus stattfindenden persönlichen Befragung der IT-Verantwortlichen des Einzelhandels. Mit jeweils rund 100 persönlichen Interviews zu den wichtigen Themen und Trends rund um den IT-Einsatz im Handel dokumentiert das EHI damit die jeweils aktuellen Prioritäten und Investitionsschwerpunkte. Ein Blick zurück zeigt, wie sich die Aufgabe der IT in der Han-delsbranche verändert hat.

R. Gläß, B. Leukert (Hrsg.), Handel 4.0, DOI 10.1007/978-3-662-53332-1_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

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118 Michael Gerling118

1.2 Barcode und artikelgenaue Warenwirtschaft

Nachdem die Handels-IT in ihren Anfangsjahren auf die Rationalisierung von Massenda-tenverarbeitung fokussiert war, begann in den siebziger Jahren mit der Entwicklung der Artikel-Numerierungssysteme für die Handelsbranche eine neue Zeit. Die Entwicklung des EAN-systems und die Entscheidung für den Barcode als maschinenlesbares Identifikati-onssystem waren viele Jahre lang prägend für die IT-Projekte im Handel. Die Einführung der Scannerkassen hat die Branche nachhaltig geprägt. Der Wegfall der Einzelpreisaus-zeichnung war eine große Errungenschaft und ein erheblicher Rationalisierungsschritt.

Eng mit dem Scanning verbunden waren aber auch die vielen Möglichkeiten der arti-kelgenauen Warenwirtschaft, von der Abverkaufsanalyse bis hin zur Bestandsführung. Sortimentsentscheidungen konnten endlich mit fundierten Daten unterstützt werden, Ab-satzprognose und automatische Bestellsysteme wurden möglich. Nicht weniger als zwei Jahrzehnte standen Scanning und die damit verbundenen IT-Themen damit im Mittelpunkt der IT in der Handelsbranche. Erst zur Einführung des Euro im Januar 2002 entschieden sich dann auch die Discounter für die Installation von Scannerkassen. Mit steigenden Sor-timentszahlen entstanden auch im Discount neue Anforderungen an die warenwirtschaftli-chen Grundlagen.

1.3 Efficient Consumer Response und Vertikalisierung

In den neunziger Jahren verlagerte sich der Fokus der Handels-IT dann auf die vertikale Optimierung der Lieferkette. Efficient Consumer Response (ECR) war das Schlagwort dieses Jahrzehnts. Dabei ging es vor allem um Effizienzsteigerungen durch eine optimale Verzahnung der IT-Systeme und der Logistik in der Handelsbranche. Im Lebensmittelhan-del war hier Wal-Mart der Vorreiter für optimal abgestimmte Informations- und Warenströ-me zwischen Industrie und Handel und auch für die Nutzung von Daten zur Steuerung der Geschäftsprozesse. Wal-Mart verfügte Anfang der 90er Jahre über eine Data Warehouse mit einem Datenvolumen von mehr als 10 Terrabyte. Heute wird man über diese Speicher-kapazität nur müde lächeln, damals war das aber eine Sensation. Wal-Mart speicherte nicht nur artikelgenaue Absätze pro Tag und Filiale, sondern auch komplette Bondaten und hinterlegte für einzelne Artikel Soll-Absatzverläufe mit automatisierten Alarmsystemen bei Abweichungen von den erwarteten Absatzkurven. Das war der Beginn einer zunehmenden analytischen Entscheidungsfindung in der Handelsbranche.

Elektronischer Datenaustausch (EDI) war eines der ganz großen Themen der Branche. Heute ist der elektronische Austausch von Bestell-, Liefer- und Rechnungsdaten für viele Unternehmen gängige Praxis, viele andere elektronische Nachrichtenstandards wie zum Beispiel zur Lieferavisierung sind aber bis heute immer noch kaum verbreitet, obwohl alle dafür notwendigen Standards seit langem vorhanden sind.

Im Fashionbereich waren es H&M oder die Inditex-Gruppe (Zara u. a.), die mit ihrer vertikalen Integration vom Rohstoff bis zum Laden den Ton angaben, und dies auch heute

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119Vom Barcode zu Mobile Commerce 119

noch tun. Sie haben gezeigt, dass die Geschwindigkeit der Lieferkette durch geschickte Organisation erheblich erhöht werden kann. Die Zeit wischen Kollektionsentwicklung und Filialbestückung konnte erheblich verkürzt, das Risiko von Überbeständen deutlich ge-senkt werden. Während in der Branche von der Produktidee bis zur Filialbestückung im Durchschnitt noch 18 Monate vergingen, schafften die führenden Unternehmen es, eine Produktidee innerhalb von 14 Tagen in die Läden zu bringen. Bis heute setzen diese Un-ternehmen weltweit die Maßstäbe in Sachen vertikale Integration.

1.4 RFID – die große Hoffnung

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war dann nach einer kurzen Phase der Interneteuphorie die Radiofrequenzidentifikationstechnik (RFID) das vorherrschende Thema. Die Ablösung der Barcodes durch Chip und Antenne versprach gravierende Vorteile. Allen voran stand hier natürlich die Vision des automatischen Checkouts, besonders in Branchen wie dem Lebens-mittelhandel. Nur den prallgefüllten Einkaufswagen durch eine Schleuse schieben, die Registrierung der Artikel vollkommen ohne Kassenkraft, Check-Out in Sekundenschnelle, so die Vision der Branche.

Doch die große Euphorie war bald verschwunden. Die Massentauglichkeit von RFID auf geringwertigen Artikeln konnte bisher nicht hergestellt werden und ist auch auf abseh-bare Zeit nicht zu erwarten. Zwar ist heute technisch fast alles möglich, wirtschaftlich lassen sich RFID-Tags aber nur auf entsprechend hochwertigen Produkten sinnvoll nutzen. Heute findet sich diese Technologie vor allem im Bereich logistischer Anwendungen, also als Kennzeichnung von Containern oder Paletten, oder aber auf hochwertigen Einzelarti-

12%

11%

6%

71%

RFID im Einsatz

RFID getestet und wieder eingestellt

RFID in Planung

RFID nicht relevant

Abb. 1 Planungen des RFID-Einsatzes ab 2015 Quelle: EHI Retail Institute

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keln, also zum Beispiel im Handel mit Bekleidung. So sehen heute 70 Prozent der Unter-nehmen keine Einsatzmöglichkeiten für die RFID-Technik, im Bereich höherwertiger Gü-ter liegt dieser Anteil bei rund 60 Prozent. Vor allem die Kombination aus Warensicherung und Identifizierung mit Hilfe einer Technik ist hier sehr vorteilhaft. Im Bereich Lebensmit-tel oder anderer schnell drehender Konsumgüter beschränken sich die wenigen Anwendun-gen auf logistische Prozesse im Hintergrund.

1.5 IT für mehr Kundennutzen

Mit Beginn dieses Jahrtausends veränderte sich der Fokus der IT-Projekte im Handel radi-kal. Nicht mehr Rationalisierung und Effizienzsteigerung waren das Hauptziel des IT-Einsatzes, vielmehr rückte der Kundenutzen von IT-Projekten stärker in den Vordergrund. Sehr deutlich wurde diese Trendwende in den Jahren 2006 und 2007. Hier formulierten die IT-Verantwortlichen erstmals, dass die Erschließung neuer Absatzchancen, der Ausbau von Kundenservices oder die Ausrichtung von Vertriebskonzepten auf die Anforderungen von Zielgruppen im Fokus der IT-Projekte stehen.

Diese Ausrichtung der Handels-IT auf den Kundennutzen hat sich in den letzten Jahren immer weiter verstärkt. Heute steht die Integration von stationären Geschäften mit der Online-Welt ganz oben auf der Prioritätenliste der IT-Verantwortlichen. Omni-Channel und Mobile Commerce werden als die mit Abstand wichtigsten technologischen Trends der nächsten Jahre gesehen. Big Data bzw. Analytics und InMemory-Technologie werden gleichzeitig stark an Bedeutung gewinnen. Auch Cloud-Computing wird zunehmend als wesentlicher Trend der kommenden Jahre identifiziert.

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26

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0 10 20 30 40 50 60 70

Profilierung Vertriebskonzepte

Zentralisierung / Standardisierung

Optimierung der Sortimente

Ausweisen Kundenservice

Profilierung der Vertriebskonzepte

Prozessoptimierung / SCM

Nennungen in Prozent / Mehrfachnennungen möglich

Abb. 2 Strategische Aufgaben der IT – EHI Erhebung 2007 Quelle: EHI Retail Institute

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121Vom Barcode zu Mobile Commerce 121

23

5666

89

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3134

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0 10 20 30 40 50 60 70

IP TelefonieSOA

VirtualisierungRFID

BeaconsSocialising

Digital SignageIT Security

Internet of Things / M-to-M-KommunikationIn-Memory-Technologie / Realtime Analytics

Mobile PaymentCloud

Big Data / AnalyticsMobile Devices / Mobile Anwendungen

Omni-Channel

Nennungen in Prozent / Mehrfachnennungen möglich

Abb. 3 Technologische Trends 2015 – Einschätzung der wichtigsten technologischen Entwicklun-gen der kommenden zwei Jahre Quelle: EHI Retail Institute

Abb. 4 Wichtige IT-Projekte 2015 – Anstehende wichtige IT-Projekte in den nächsten zwei Jahren Quelle: EHI Retail Institute

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122 Michael Gerling122

Die Verknüpfung von Informations-, Beratungs-, Kauf-, Bestell-, Liefer-, Abhol- und Bezahlprozessen zwischen den stationären Geschäften und den Online-Shops ist heute Kern der strategischen IT-Projekte im Handel. Die Investitionspläne vieler Handelsunter-nehmen werden in den nächsten zwei Jahren durch diese Aufgabe dominiert. Dies gilt al-lerdings vor allem für die mittleren bis großen Unternehmen der Handelsbranche. Für sie wird es zukünftig üblich sein, die Kunden über Geschäfte, aber auch über Online-Shops zu bedienen, und die Prozesse werden nahtlos miteinander verzahnt sein.

Allerdings werden die Kernelemente der Handels-IT dadurch nicht ersetzt, sie werden vielmehr verändert beziehungsweise ergänzt. Die Erneuerung und Optimierung der Waren-wirtschaft steht also nach wie vor im Fokus der IT-Abteilungen. Gleiches gilt für Stamm-daten- und Supply Chain Management (SCM) und Customer Relationship Management (CRM)-Projekte, für die Erneuerung von Kassensoft- und -hardware.

Im Rahmen der Omni-Channel-Strategien wird die Optimierung der Kanalintegration aus organisatorischer Sicht von 51 Prozent der Unternehmen als wichtigste Herausforderung angesehen, gefolgt von technischer Systemverknüpfung, Realtime-Anbindung und Stamm-datenmanagement. Hier gibt es allerdings aktuell noch viel zu tun. Nur jedes zehnte Unter-nehmen ist heute mit dem Stand der Integration der Geschäftsprozesse zwischen Läden und Online-Shops zufrieden, knapp jedes zweite Unternehmen sieht sich aber auf gutem Wege.

In dem Kontext ist auch die Wechselwirkung mit Big Data/Analytics und In-Memory-Technologie/Realtime Analytics zu sehen. Denn durch Omni-Channel und mobile Techno-logien fallen immer mehr unstrukturierte Daten – bspw. aus sozialen Netzwerken – in im-mer kürzerer Zeit an. Um die Kundenbedürfnisse besser zu verstehen und zeitnah auf diese zu reagieren, müssen die anfallenden Datenmengen analysiert werden. Die Ergebnis-se dieser Analysen müssen dann auf unterschiedlichen Kanälen bereitgestellt werden. Dies bedeutet große Anforderungen an die entsprechende Infrastruktur und Technologien, um Realtime-Verarbeitung zu ermöglichen.

Es sollte aber beachtet werde, dass der Begriff „Big Data“ nicht nur die Verarbeitung von großen Datenmengen bedeutet. Warenkorbanalysen werden bspw. seit Jahren vom Handel durchgeführt. Entscheidend ist vielmehr, dass es sich um unstrukturierte Daten aus unterschiedlichen Quellen handelt, um ggfs. vorausschauende Analysen des Kundenver-haltens zu generieren.

1.6 IT-Budgets leicht steigend

Die IT-Budgets im Handel wurden in den vergangenen Jahren tendenziell erhöht. Die IT-Budgets in Prozent vom Nettoumsatz sind im Vergleich zu 2013 deutlich auf durchschnitt-lich 1,24 Prozent angestiegen. Auch im Rückblick der letzten 5 Jahre kann deutlich beob-achtet werden, dass der Anteil der Unternehmen mit sehr niedrigen IT-Budgets stark zu-rückgeht, während immer mehr Unternehmen über Budgets von mehr als 1,25 Prozent vom Nettoumsatz verfügen. 40 Prozent der Unternehmen erwarten auch in den kommenden Jahren steigende IT-Budgets.

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123Vom Barcode zu Mobile Commerce 123

Die wachsende Durchdringung aller Unternehmensbereiche durch Technologie hat nicht nur Einfluss auf die Budgets, sie beeinflusst auch auf die Position und Bedeutung der IT-Abteilung. 62 Prozent der IT-Verantwortlichen definieren die wesentliche Rolle der IT als Enabler mit enger Einbindung in die Prozessorganisation. Für 38 Prozent ist IT darüber hinaus auch zentraler Innovationstreiber innerhalb des Unternehmens.

Bedingt durch diese Entwicklung hat sich das Anforderungsprofil an Mitarbeiter der IT-Abteilung stark in Richtung Prozess- und Businessorientierung gewandelt. 66 Prozent der Handelsunternehmen haben aufgrund akuten Fachkräftemangels Schwierigkeiten, Po-sitionen adäquat zu besetzen. Zu beobachten ist daher ein steigendes Engagement der Unternehmen im Hinblick auf die Rekrutierung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Es kann nicht überraschen, dass jeder vierte IT-Verantwortliche Personalengpässe als größte Hürde bei der Implementierung von IT-Innovationen ansieht. Nicht ausreichende Budgets sind allerdings noch bedeutender und werden von jedem dritten Unternehmen als Innovationsbremse genannt. Jedes fünfte Unternehmen tut sich vor allem mit der Priorisie-rung und Selektion von Innovationen schwer.

1.7 Standard oder Individualentwicklung

Verändert hat sich in den letzten Jahrzehnten sicherlich auch der Einsatz von Standardsoft-ware im Handel. Jedes dritte Unternehmen hat heute noch eine eigenentwickelte Waren-wirtschaftslösung im Einsatz. Dieser Anteil wird künftig voraussichtlich auf etwa 20 Pro-zent zurückgehen. Nur jedes fünfte Unternehmen wird dann noch eine selbstentwickelte Warenwirtschaftslösung im Einsatz haben.

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0,3 % - 0,5 % 0,5 % - 0,8 % 0,8 % - 1,25 % über 1,25 %

2011

2013

2015

Nennungen in Prozent / IT-Budget in Prozent vom Nettoumsatz

Abb. 5 Entwicklung der IT-Budgets von 2011 bis 2015 Quelle: EHI Retail Institute

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124 Michael Gerling124

Bei den übrigen IT-Systemen betreiben 34 Prozent der Firmen noch mindestens eine Kernapplikation in Eigenentwicklung, auch hier ist mit einem sich fortsetzenden Trend in Richtung Standards zu rechnen. Damit setzt sich zunächst fort, was schon seit vielen Jahren an der Tagesordnung ist. Wo immer es möglich ist, soll Standardsoftware eingesetzt wer-den. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass sich die Softwareentwicklung natürlich auch mit großem Tempo weiterentwickelt. So könnte in einigen Jahren auch eine Trendum-kehr zu Gunsten von Eigenentwicklungen einsetzen.

1.8 Cloud im Aufwind

Sehr zurückhaltend war der Handel über viele Jahre im Hinblick auf den Einsatz von Cloud-Lösungen. Dies scheint sich nun allerdings zu ändern. Cloud-Computing im Handel gewinnt an Bedeutung. Für 14 Prozent der Handelsunternehmen sind Cloud Services be-reits jetzt ein wichtiger Bestandteil der IT-Strategie, weitere 34 Prozent gehen von einer stark steigenden Bedeutung in den kommenden Jahren aus. Bei kritischen Prozessen sind die Unternehmen generell aber weiter zurückhaltend gegenüber Cloud-Lösungen, bei An-wendungen wie zum Beispiel E-learning sind Cloud-Lösungen dagegen heute quasi Stan-dard.

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Heute Künftig

Kein signifikanter AnteilEigenentwicklung

Mindestens eine KernapplikationEigenentwicklung

Hoher Anteil Eigenentwicklung

Nennungen in Prozent

Abb. 6 Standard vs. Eigenentwicklung – IT-System ab 2015 Quelle: EHI Retail Institute

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125Vom Barcode zu Mobile Commerce 125

1.9 Geschäfte treiben Innovationen

Vor allem in den Geschäften wird deutlich, dass der Handel die IT immer stärker nutzt, um dem Kunden mehr und bessere Services bieten zu können. Viele Technologien, die schon seit Jahrzehnten im Markt sind, stehen jetzt vor dem Serieneinsatz. Jeder dritte Händler mit schnell drehenden Konsumgütern bietet bereits heute Self-Checkout oder Self-Scanning in zumindest einigen Pilotmärkten an. Diese Unternehmen werden die Zahl der Installationen weiter ausbauen und weitere 13 Prozent der Unternehmen planen einen erstmaligen Ein-satz. Damit bestätigt sich hier der Trend einer langsamen aber stetigen Marktdurchdrin-gung, auch, wenn die meisten Projekte heute noch Einzelinstallationen sind.

Ähnliches gilt für Elektronische Regaletiketten (ESL). Diese sind bei 13 Prozent der Händler mit schnell drehenden Konsumgütern im Einsatz, konkrete Projektplanungen gibt es bei weiteren 10 Prozent. Bei 37 Prozent der Firmen steht die Technologie unter ständiger Beobachtung, ein zukünftiger Einsatz ist dort durchaus denkbar. Auch diese Technik scheint also weitere Verbreitung zu finden.

Kostengünstig und einfach zu installieren ist die Beacon-Technik. Beacons sind kleine Sender, die Signale über kurze Entfernungen hinweg übertragen können. Diese Signale starten dann zum Beispiel Informationsprozesse auf Mobiltelefonen und informieren so über besondere Leistungen oder Angebote in unmittelbarer Nähe zum Standort des Kun-den. Einige Unternehmen haben bereits konkrete Anwendungen im Einsatz (15 Prozent), andere planen dieses (11 Prozent).

Auch die Verknüpfung von Ladengeschäften und Online-Shops beeinflusst die Technik-investitionen in den Geschäften. Mobile Endgeräte spielen dabei eine wesentliche Rolle, auf Seiten der Kunden, aber auch beim Personal im Handel. Zum einen müssen die Mitar-beiter der Unternehmen Zugang zu kanalübergreifenden Informationen erhalten (Verfüg-barkeiten, aktuelle Konkurrenzpreise, Produktdetails). Andererseits müssen Beratungsleis-tungen und Bestellungen im Webshop auf mobilen Geräten ermöglicht werden. Dies kann auch mit Escorted Shopping kombiniert werden, bei dem der Mitarbeiter den Kunden ab-teilungsübergreifend begleitet.

Gleichzeitig sind die mobilen Geräte der Kunden bereits heute wichtige Berater. Die Smartphones und Tablets werden bei einer Kaufentscheidung zu Rate gezogen – sei es um Produktdetails oder Konkurrenzpreise abzurufen oder aber die Rezensionen anderer Käufer bzw. die Meinung der Freunde über soziale Netzwerke einzuholen. Selbstverständlich kann das Bezahlen am Checkout ebenfalls über das mobile Gerät des Kunden abgewickelt wer-den. Damit all diese Services in Zukunft reibungslos genutzt werden können, werden die Geschäfte ihren Kunden in Zukunft zwingend ein leistungsfähiges und frei zugängliches WLAN anbieten müssen.

Das dabei auch die Kasse ihr Aussehen verändert, ist unbestritten. Die Kasse wird mo-biler und sie wird immer mehr Funktionen übernehmen. Jedes zweite Unternehmen arbei-tet zurzeit an einer mobilen Kassenlösung. Touchscreens werden die Kasse der Zukunft bestimmen, egal, ob stationär oder mobil, egal ob Lebensmittel oder Schuhe. Ausgestattet mit NFC-Schnittstellen sind die Kassen schon heute auf berührungsloses Bezahlen, per

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Karte oder per Mobiltelefon eingestellt. Und auch der Kassenbon wird so in Zukunft viel-leicht nicht mehr gedruckt, sondern direkt als Datensatz zum Kunden gelangen.

Die Handelsunternehmen sehen sich mit dem Thema „Always Online“ konfrontiert. Die dafür genutzte Technologie (Tablet, Smartphone, Wearable) ist für den Verbraucher dabei zweitrangig. Dies gilt zunehmend auch für nicht menschengesteuerte Devices - SmartHome, Autos, Parkplätze etc. Permanent werden Informationen aus der Umwelt übermittelt und auch überall erwartet. Gleichzeitig werden aber auch Informationen von der Umwelt abge-fragt. Bspw. können mittels der WLAN-Funktion der Smartphones die Laufwege der Kun-den im Store schon heute verfolgt werden. Was früher Alleinstellungsmerkmal der Online-händler war, ist nun in allen Verkaufskanälen möglich.

1.10 IT-Sicherheit

Doch die zunehmende Vernetzung birgt auch Risiken. Auf die Frage nach den technologi-schen Trends führen neun Prozent aller Unternehmen das Thema IT-Security auf. Nicht erst durch die Omni-Channel-Strategien der stationären Händler wird diesem Thema immer mehr Bedeutung beigemessen. Längst sind nicht mehr nur Finanzdaten bzw. Kundendaten für Hacker von Interesse. Begehrlichkeiten wecken mittlerweile auch Produktinformatio-nen, Preis- und Konditionsinformationen, Strategiepapiere oder Personaldaten. Auch das von der Bundesregierung verabschiedete IT-Sicherheitsgesetz verstärkt – zumindest im Lebensmittelhandel – die Fokussierung auf Fragen der IT-Sicherheit im Unternehmen. Dies ist ein gewaltiges Gebiet, das die Branche in den nächsten Jahren sicher sehr intensiv be-schäftigen wird.

23%

38%

39% Business-Tablets im Einsatz

Consumer-Tablets im Einsatz

Einsatz mittelfristig nicht vorgesehen

Abb. 7 Tablets am POS 2015 – Verteilung von Consumer-Geräten und Business-Tablets Quelle: EHI Retail Institute

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AutorMichael Gerling, geboren 1964, arbeitete nach seinem sein Studium an der Universität Münster mit Abschluss zum Diplom-Kaufmann ab, in Unternehmen und Institutionen der Handelsbranche, u. a. Edeka, DHI-Deutsches Handelsinstitut, EHI Retail Institute. Seit 1999 ist Michael Gerling Geschäftsführer EHI Retail Institute. Er ist hat zahlreiche ehren-amtliche Tätigkeiten, u. a.: Geschäftsführer, MLF – Mittelständische Lebensmittel-Filial-betriebe e.V., Mitglied des Beirats von EuroShop und EuroCIS, Vertreter des EHI im Aufsichtsrat von GS1 Germany und Jurymitglied „Supermarkt des Jahres“ sowie Vorstand der EHI-Stiftung.

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Der technologische Fortschritt im Handel getrieben durch Erwartungen der Kunden

Von der Digitalisierung im Handel zur kundenorientierten Cyber-Physischen Handelsumgebung mit Beispielen aus dem Innovative Retail Laboratory

Prof. Dr. Antonio KrügerScientific Director Innovative Retail Laboratory (IRL) DFKI, DFKI GmbH, Campus D3_2, Saarbrücken, Deutschland [email protected]

Dr. Gerrit Kahl DFKI GmbH, Campus D3_2, Saarbrücken, Deutschland [email protected]

Getrieben durch die allgegenwärtige Bestellmöglichkeit und die Möglichkeit der Akquise spezifischer Produktinformationen unterschiedlichster Artikel im Onlinehandel, sind die Erwartungen an Datentransparenz und Dienstleistungen deutlich gestiegen. Dies zeigt sich unter anderem auch daran, dass Kunden heutzutage bereits vor dem Betreten eines Ge-schäfts sich über das gewünschte Produkt im Internet informieren und somit teilweise mehr Produktinformationen als die Verkäufer im Geschäft aufweisen. Dennoch möchten sie auch dort weitere qualifizierte Informationen und eine individualisierte Beratung erhalten. Um diesen Kundenbedürfnissen gerecht zu werden, müssen immer mehr auf den jeweiligen Kunden zugeschnittene Dienstleistungen und vorselektierte Produktinformationen im Markt zur Verfügung gestellt werden. Zu diesem Zweck müssen die Märkte digitalisiert werden, um einerseits Kundeninteraktionen zu erfassen und darüber potenzielle Kunden-bedürfnisse abzuleiten und um andererseits eine Schnittstelle zu Daten und Diensten be-reitzustellen, wie sie aktuell zum Teil im Online-Handel vorzufinden sind. Betrachtet man den Einkaufsprozess als Gesamtkonzept, gibt es für die einzelnen Aktionen unterschiedli-che technologische Umsetzungsmöglichkeiten, die abhängig von der technischen Ausstat-tung des Ladens und der Kunden in mobilen Applikationen eingesetzt werden können. Hierzu muss die Kundenapplikation interoperabel in die Infrastruktur des Geschäfts einge-bunden werden. Welche Vorteile eine solche Integration mit sich bringen und wie ein durchgängiges Einkaufserlebnis mittels einer instrumentierten Einzelhandelsumgebung geschaffen werden kann, wird im Innovative Retail Laboratory prototypisch umgesetzt und evaluiert. Durch die Vernetzung der integrierten Sensoren und Aktuatoren können neuarti-

R. Gläß, B. Leukert (Hrsg.), Handel 4.0, DOI 10.1007/978-3-662-53332-1_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

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130 Gerrit Kahl • Antonio Krüger130

ge Dienste für den Handel der Zukunft realisiert werden, die dem Kunden einen erlebnis-reichen Einkauf ermöglichen.

1.1 Grundsätze der Digitalisierung des Einzelhandels

Die kommerzielle Verwendung von Sensoren und Aktuatoren in privaten und öffentlichen Umgebungen schreitet rasant voran. Dies ist unter anderem der Miniaturisierung und stei-gender preislicher Attraktivität geschuldet. Durch den intelligenten Einsatz dieser Techno-logien sollen primär Menschen in ihrem Alltag unterstützt und Prozesse soweit wie möglich automatisiert werden. Sensoren und Aktuatoren werden dabei miteinander verknüpft und durch Dienste angesteuert, welche außerdem die erfassten Informationen auswerten. Eine solche Umgebung, welche mit Sensoren und Aktuatoren instrumentiert ist, wird als Smar-te Umgebung bezeichnet. Die erfassten Sensordaten werden hierbei mittels entsprechender Dienste verarbeitet, welche daraufhin die jeweiligen Aktuatoren ansteuern. Neben der in-strumentierten Umgebung müssen auch Produkte erfasst werden, um auf Kundenaktionen adäquat reagieren zu können. Insbesondere stellt hier eine eineindeutige Produktidentifi-kation des Internet der Dinge einen Vorteil dar, um eine transparente und instanzspezifische Informationsaufbereitung und -darstellung zu gewährleisten. Eine zusätzliche Informati-onsquelle stellt Daten zur Herstellung, Transport und der Lagerung solcher individuell erfassbaren Produktinstanzen dar. Als Möglichkeit für die Speicherung solcher Daten kann das Konzept digitaler Produktgedächtnisse herangezogen werden, welche alle produktspe-zifischen Informationen umfassen.

1.1.1 Smarte Umgebungen

Eine Smarte Umgebung zeichnet sich dadurch aus, dass sie Wissen über die Umgebung und deren Nutzer erfassen kann, um dieses erlebnisfördernd anzuwenden. Der Begriff kann daher folgendermaßen definiert werden:

Eine smarte Umgebung hat die Fähigkeit, Wissen über die Umgebung und deren Einwohner zu erwerben und dieses anzuwenden, um deren Erlebnis in dieser Umgebung zu steigern (Cook un Das 2004).

Eine Illustration einer solchen Smarten Umgebung ist in Abb. 1 am Beispiel einer Super-marktumgebung zu sehen. In der Grafik sind diverse Sensoren und Aktuatoren, welche bereits heute oder in naher Zukunft eingesetzt werden, dargestellt. Als Sensoren in der Umgebung sind hierbei exemplarisch Kamerasysteme und Schranken, basierend auf Funk-technologie, zu nennen. Beide Sensoren werden beispielsweise zum Diebstahlschutz ein-gesetzt. Ein instrumentierter Einkaufswagen kann alle Produkte erfassen, welche sich in seinem Korb befinden sowie seine Position ermitteln und weiter kommunizieren. Für die

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Informationsübertragung kann hierbei auf WLAN oder andere Funkprotokolle, wie Blue-tooth Low Energy (BLE) zurückgegriffen werden. Eine spezielle Form der Informations-übertragung via BLE stellen iBeacons dar, welche durch Apple entwickelt wurden (New-man 2014). Diese ermöglichen eine Notifikation der Geräte, die sich in ihrem Umkreis befinden und ermöglichen dadurch eine Positionierung oder können als Informationstrig-ger dienen. Des Weiteren sind auf Seiten der Aktuatoren Licht, Lautsprecher, Bildschirme, Drucker, funkende Produkte und elektronische Preisauszeichnung zu nennen. Die Displays werden oftmals als Werbemöglichkeit verwendet. Funkende Produkte können beispiels-weise mit einem RFID-Tag oder einem Temperatursensor ausgestattet sein. Neben der In-strumentierung der Umgebung können auch Kunden Sensoren und Aktuatoren mit in den Markt einbringen. Neben Smartphones, welche über mehrere Sensoren und Aktuatoren verfügen sind auch Smart Watches und Smart Glasses immer mehr im Kommen.

Als Erweiterung von Smarten Umgebungen durch die Verknüpfung der Sensor-Aktua-tor-Netzwerke mit dem Cyberspace entstehen Cyber-Physische Systeme (CPS). Dies be-deutet, dass von den Sensoren erfasste Daten in Kombination mit weltweit verfügbaren Informationen und Diensten ausgewertet und gespeichert werden. Basierend hierauf inter-agieren die CPS aktiv oder reaktiv mit der physischen sowie mit der digitalen Welt (acatech 2011). Unter anderem werden CPS als Weiterentwicklung im industriellen Umfeld gese-hen, was unter dem Begriff Industrie 4.0 bekannt ist (Kagermann und Wahlster 2011; Ka-germann et al. 2012). Die Möglichkeit des Datenaustauschs zwischen den Maschinen, die Einbeziehung von weltweiten Informationen und die neuartigen Mensch-Maschine-Kom-

Abb. 1 Illustration einer smarten Handelsumgebung Quelle: DFKI GmbH

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munikationsschnittstellen erlauben eine gezielte Steuerung von Produktionsanlagen. CPS sind daher Technologien, welche innovative Anwendungen möglich machen und beispiels-weise zur Ressourcenschonung beitragen und eine individuelle Produktion auf Losgröße 1 ermöglichen. Durch Zusammenschluss aller in der Umgebung befindlichen CPS entstehen sogenannte Cyber-Physische Umgebungen. Analog hierzu entstehen Cyber-Physische Handelsumgebungen durch die Integration der Sensor-Aktuator-Netzwerke auf der Han-delsfläche mit dem Cyberspace. Hierbei kann der Cyberspace beispielsweise aus aufge-zeichneten historischen Daten oder mittels Big Data Technologien ermittelter Smart Data bestehen. Basierend auf dem Einsatz von energie- und kostensparenden Sensoren und Aktuatoren können bestehende Prozesse optimiert und damit Geld eingespart werden. Zu den Aktuatoren zählen beispielsweise digitale Preisauszeichnungen (Electronic Shelf La-bels, ESL) oder digitale Werbeschilder in Form von Bildschirmen (Digital Signage). Der Einsatz dieser Aktuatoren ermöglicht es, Preise automatisch zu ändern, ohne dass ein weiterer manueller Eingriff erfolgen muss, bzw. schnell Werbung im Geschäft anzupassen. Zudem werden in der Einzelhandelsdomäne optische Sensoren zur Messung von Personen-strömen verwendet, die beispielsweise am Ein- und Ausgang angebracht, eine Ermittlung der Kundenanzahl im Geschäft erlauben. Diese Erkenntnis kann anschließend zu einer optimierten Planung der Mitarbeiter verwendet werden. Gleichzeitig dienen solche Anpas-sungen auch dem Kunden. Beispielsweise wird durch die Synchronisation der Preise am Regal und an der Kasse keine Irritation bzw. Verärgernis und ein möglicherweise einher-gehender Vertrauensverlust riskiert, was durch Preisdifferenzen zu Ungunsten des Kunden entstehen kann.

Mittels der Sensor-Aktuator-Vernetzung und intelligenter Verarbeitung können zudem Optimierungen erfolgen, um Kunden ein möglichst entspanntes und erfolgreiches Ein-kaufserlebnis zu bieten, was gleichzeitig einen monetären Vorteil des Geschäfts darstellt. Ein großer Optimierungsbedarf besteht beispielsweise bei der Befüllung von Regalen. Ist ein Produkt abverkauft, entstehen Gewinneinbußen des Geschäfts, was unter dem Begriff „Out-of-Stock“ (OoS) bekannt ist (Grün et al. 2012). Zum einen verliert das Geschäft beim OoS die Gewinnmargen, da vor der nächsten Lieferung keine weiteren Produkte mehr verkauft werden können. Zum anderen führt dies zur Verärgerung der Kunden und schlimmstenfalls auch dazu, dass diese zukünftig in einem anderen Geschäft einkaufen gehen. Der Gewinnverlust und die Reaktion der Kunden auf OoS-Situationen wurden in mehreren Studien untersucht. Unter anderem wurde dabei festgestellt, dass 32 % der Kun-den in diesem Fall eine andere Größe oder ein anderes Produkt des gleichen Herstellers gekauft haben (Emmelhainz und Emmelhainz 1991). 41 % der Kunden kauften ein Kon-kurrenzprodukt, 14 % sind zu einem anderen Händler gegangen, um das Produkt zu kaufen. Die restlichen 13 % verschoben den Kauf des Produkts auf einen späteren Zeitpunkt. Des Weiteren wurde gezeigt, dass eine dauerhafte OoS-Problematik dazu führte, dass eine hohe Prozentzahl an Personen künftig in einem anderem Geschäft einkaufen geht (Verbeke et al. 1998). Hierbei ist es auch nicht relevant, ob in der Nähe kein weiterer Einzelhändler mit einem vergleichbaren Produktsortiment vorhanden ist, da die Kunden heutzutage sehr mobil sind.

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Um eine aufkommende OoS-Situation frühzeitig zu erkennen und diese durch entspre-chende Maßnahmen zu verhindern, können Sensoren eingesetzt werden (Krüger et al. 2011). Hierzu ist oftmals die Radiofrequenz Identifikation (RFID) Technik in Studien eingesetzt worden (Metzger 2009). Diese Technologie ermöglicht eine automatisierte In-ventur, bei welcher der Warenbestand auf der Verkaufsfläche erfasst und mit einem Soll-Bestand abgeglichen wird. Neben der theoretischen Diskussion und Darstellung von pro-totypischen Umsetzungen gibt es auch erste Ansätze der Umsetzung in realen Einzelhan-delsumgebungen (Thiesse et al. 2009). Beispielsweise wurde in Form eines Pilotprojekts der Textilbereich eines Marktes der Firma Kaufhof mit RFID-Antennen ausgestattet. Unter anderem wurden die Kleiderkabinen, die Verbindung zwischen Lager und Verkaufsraum, Rollgleiten und Aufzüge instrumentiert. Als Dienste wurden mehrere Assistenzsysteme für die Kunden angeboten, welche eine Darstellung der vorrätigen Größen und Farben von ausgewählten Produkten ermöglichten. Die Waren wurden anhand von RFID-Labels iden-tifiziert und somit automatisch an den entsprechenden Positionen im Markt erkannt. Zudem wurde mittels der Instrumentierung eine automatisierte Inventur und ein Diebstahlschutz umgesetzt. Die Instrumentierung von Kleidungsstücken mittels RFID-Tags ist aufgrund der physikalischen Gegebenheiten – keine Abschirmung durch Metall und Flüssigkeit – sowie der erzielten Gewinnmargen interessant. Die Zusatzkosten für RFID-Etiketten rech-nen sich bei billigerer Ware heutzutage noch nicht, weshalb neben RFID auch weitere Möglichkeiten der Erkennung einer OoS-Situation erprobt werden. Ein Beispiel hierfür stellen drucksensitive Oberflächen dar, die das Gewicht der Ware erfassen und mittels mathematischer Modelle eine Regalauslastung ermitteln können (Metzger 2009). Ebenso gibt es digitale Vorschubsysteme, die einen möglichen Abverkauf von Waren frühzeitig erkennen, um darauf reagieren zu können. Des Weiteren existieren auch intelligente Soft-warelösungen, die aus einem plötzlich sinkenden Abverkauf eines Produkts eine potenziel-le OoS-Problematik ableiten können.

1.1.2 Eineindeutige Produktidentifikation

Für die Verknüpfung von Objekten mit Informationen aus dem Cyberspace wird eine ein-deutige Identifikation der physischen Objekte benötigt. Die Grundbausteine hierzu werden im Internet der Dinge (Internet of Things, IoT) behandelt. Das Ziel des IoT liegt darin, dass man von überall zu jeder Zeit auf alle Daten aller Objekte zugreifen kann (Infso D.4 Net-worked Enterprise & RFID et al. 2008). Dabei steht im Vordergrund, dass die Informatio-nen der Objekte miteinander verknüpft werden können, um smartere Systeme zu erhalten, die darauf aufbauend autonomes und adaptives Verhalten aufweisen können. Das IoT ist in drei Ansätze unterteilt, welche sich orientieren nach: dem Ding, dem Internet und der Se-mantik (Atzori et al. 2010). Die Dinge bedürfen hierbei einer eindeutigen Identifizierung mit Hilfe geeigneter Technologien, die entweder mit optischen Verfahren arbeiten (z. B. zweidimensionale Barcodes) oder mittels Funktechnologie (z. B. RFID). Um eine mög-lichst allgemeingültige Identifizierung zu erreichen, müssen entsprechende Standards ent-

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wickelt werden, die die Adressierungsproblematik thematisieren. Beispiele für eindeutige Identifikationsmechanismen stellen unter anderem URN (Uniform Resource Name) oder IPv6 dar. Anhand einer solchen eindeutigen Identifizierung können sich Objekte gegensei-tig referenzieren und untereinander kommunizieren (Gubbi et al. 2013).

In den letzten Jahren sind funkbasierte Erfassungstechnologien, wie beispielsweise Radiofrequenz Identifikation (RFID) oder Nahfeldkommunikation (NFC), in immer mehr Geschäftsbereichen eingeführt worden. Dies ermöglicht die Erfassung der Produkte auch auf eine größere Distanz ohne Sichtkontakt. Des Weiteren bieten solche Erfassungssysteme die Möglichkeit, jedes Objekt mit einem eindeutigen Identifikationsschlüssel auszustatten und zu referenzieren. Diese Eindeutigkeit muss gewährleistet werden, um das Objekt ein-eindeutig detektieren zu können. In Bezug auf das Internet beschäftigt sich das IoT mit den Übertragungs- und Zugriffsmechanismen durch die Entwicklung geeigneter Middleware-Architekturen. Durch die allgegenwärtige Verfügbarkeit der Daten spielen Mechanismen zum Schutz von Sicherheit und Privatsphäre eine wichtige Rolle. Darüber hinaus müssen die ermittelten Informationen miteinander verknüpft werden, weshalb die Semantik eben-falls ein Hauptthemengebiet im Bereich des IoT ist. Ein Schwerpunkt beim IoT sind Stan-dardisierungen, durch die es erst ermöglicht wird, die Eindeutigkeit und den allgemeinen Zugriff auf Daten zu gewährleisten. Neben der Zugänglichkeit zu Daten von Objekten gibt es auch die Bestrebung, Verarbeitungslogiken und Dienste zur Verfügung zu stellen. Aus diesem Grund gibt es neben dem IoT die Bestrebung des Internets der Dienste. Dabei stehen die gleichen Ziele im Vordergrund, dass die Dienste zu jeder Zeit von überall erreichbar sind und mittels Semantik – idealerweise automatisch – ihre Funktionsweise erfasst werden kann. Erst eine solche eindeutige Produktreferenzierung ermöglicht die Umsetzung inno-vativer, produktinstanzspezifischer Assistenzfunktionalitäten und einer von Kunden ge-wünschten umfänglichen Produkttransparenz.

1.1.3 Digitale Objektgedächtnisse

Mit Hilfe einer eineindeutigen Identifikation, wie sie mit dem Internet der Dinge angestrebt ist, können alle Informationen, die zu einem Objekt während seines Lebenszyklus erfasst werden, diesem zugeordnet und digital persistent gespeichert werden. Beispielsweise ist dies relevant, um Kunden Informationen zur Herkunft und Verarbeitung anzubieten. Hier-durch entstehen sogenannte digitale Objektgedächtnisse, die in Form eines Tagebuchs alle auftretenden Informationen zu einem Objekt speichern (Kröner et al. 2013). Durch diese Zugriffsmöglichkeit wird gleichzeitig eine Transparenz geschaffen, die es ermöglicht, alle objektspezifischen Informationen zu jeder Zeit einzusehen, insofern ein Zugriff auf das digitale Objektgedächtnis gewährt ist. Dadurch entsteht eine Verknüpfung der physischen Instanz mit virtuellen Informationen (Kim et al. 2009). Einen solchen Ansatz verfolgt bei-spielsweise fTrace1 bereits in der Praxis. Über diesen Ansatz können produktspezifische

1 http://www.ftrace.com/de/de

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Informationen, wie Herkunft, Schlachtung, Zerlegung, Fanggebiet und -methode standar-disiert digital erfasst und sofern gewollt dem Kunden zur Verfügung gestellt werden. Die Transparenz solcher Produktinformationen kann zu einem gesteigerten Kundenvertrauen in das Produkt und die Marke führen.

Bei der objektbezogenen Speicherung der Daten können zwei Varianten voneinander unterschieden werden. Bei der ersten Variante werden die Informationen in einem Speicher hinterlegt, welcher sich direkt am jeweiligen Objekt befindet. Bei der zweiten Variante wird ein externes Speichermedium verwendet, in dem die Informationen hinterlegt werden. Bei der Speicherung am Objekt sind die Informationen zu jeder Zeit verfügbar und erreichbar, sofern man im Besitz des Objekts ist. Zudem bietet diese Methode einen Vorteil bezüglich der Sicherheit der Daten, da ein Zugriff auf diese nur mit Besitz des Objekts erfolgen kann. Ein Nachteil dieser Variante ist jedoch, dass ein Speicher an einem Objekt in der Regel stark größenbegrenzt ist. Zudem können zusätzliche externe Dienste nicht ohne Weiteres auf die Informationen des Objekts gemäß dem IoT-Gedanken zugreifen. Werden die Daten in ei-nem externen Speicher gehalten, so muss eine eindeutige Referenzierung vom Objekt zum Speicherort bestehen. Zudem muss dieser Speicherort von überall erreichbar sein, von wo die Informationen benötigt werden. Hinsichtlich Sicherheit müssen des Weiteren geeigne-te kryptografische Verfahren angewendet werden, da die Daten theoretisch von überall ausgelesen und eventuell verändert werden können. Bei beiden Varianten dient das Objekt als Schlüssel zu den entsprechenden Daten. Die Fortschreibung solcher digitalen Objekt-gedächtnisse sowie eine Möglichkeit zum Abrufen und der aufbereiteten Darstellung for-dert eine entsprechende Digitalisierung des Marktes.

1.2 Assistenzfunktionalitäten für den Kunden

Während die Digitalisierung oftmals vorwiegend im Blick auf positive Effekte in den Pro-zessen der Händler umgesetzt wird und darüber einen Einfluss auf die Kundenzufriedenheit mit sich bringt, können auf Basis einer solchen Infrastruktur neuartige Dienste entwickelt werden, die dem Kunden einen direkten Mehrwert bieten. Wie bereits in Abb. 1 dargestellt, sind viele Sensoren und Aktuatoren in der Befugnis der Händler. Jedoch bringen auch die Kunden ihre eigenen Geräte mit und stellen durch ihre Bedürfnisse die Händler vor immer schwierigere Aufgaben. Die Bedürfnisse reichen von der Voraussetzung, dass der Handel einen kostenlosen Internetzugang bereitstellt, den der Kunde nutzen kann, bis hin zu mög-lichst personalisierten Dienstleistungen, wie beispielsweise einer Navigationsanwendung. Neben der Dienstbereitstellung stellt auch die Nutzung und Speicherung von Kundendaten durch den Händler einen wichtigen Aspekt dar, der offensiv dem Kunden transparent dar-gestellt werden sollte, um ein höchstmögliches Kundenvertrauen aufzubauen. Betrachtet man in diesem Fall einen Einkaufsprozess, so kann man entsprechende Module identifizie-ren, welche mittels entsprechender Technologien umgesetzt werden können. Eine systema-tische Übersicht über die Abhängigkeiten zwischen Prozessschritt, Modul und Technologie kann dem Händler als Entscheidungsgrundlage dienen, welche Digitalisierung er umsetzen

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möchte. Durch die allgegenwärtige Zugriffsmöglichkeit auf Informationen sowie der In-ternetpräsenzen der Händler werden Brüche zwischen der Online- und Offline-Welt einfach von den Kunden erfasst und können zu Verärgerungen führen. Um solche Brüche zu ver-meiden und dem Kunden ein ganzheitliches Einkaufserlebnis über alle angebotenen Kanä-le zu bieten, müssen diese miteinander verschmolzen werden.

1.2.1 Unterstützung entlang des Einkaufsprozesses

Die Einführung von technischen Innovationen im Handel verschafft neben der innerbe-trieblichen Optimierung auch dem Kunden viele Vorteile während des gesamten Einkaufs-prozesses. Dies fängt bereits bei der Nutzung der Einkaufsliste an und endet bei der Bezah-lung. Insgesamt wurden sieben verschiedene Aufgaben identifiziert, die durch den Einsatz von technologischen Innovationen maßgeblich verbessert werden können (Paradowski und Krüger 2013). In Frage kommen hierfür die Technologien RFID, NFC, Barcode, kabellose Netzwerke und Bilderkennungsverfahren (siehe Abb. 2). Bluetooth ist hierbei unter den kabellosen Netzwerken subsumiert und daher nicht explizit aufgeführt.

Die Erstellung der Einkaufsliste kann automatisch aus Informationen in einem digital erfassten Haushaltsbuch (Altmeyer et al. 2016) generiert und beispielsweise im Markt an einen Einkaufsassistenten des Händlers übermittelt werden (Shopping List Management). Im Markt können Lokalisierungsverfahren dem Kunden helfen, sich im Markt zu orien-tieren und Produkte einfacher zu finden (Orientation). Am Produkt selber können mittels verschiedenster Technologien wie Barcode, RFID/NFC oder Bilderkennung Produktin-formationen abgerufen werden (Product Information Procurement). Das anschließende

Abb. 2 Prozesse im Einkaufsszenario Quelle: DFKI GmbH

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Scannen des Warenkorbes erfolgt analog zur Produktinformationsbeschaffung (Shopping Basket Management). Vor der Bezahlung hat der Kunde in vielen Geschäften die Mög-lichkeit, Coupons einzulösen oder an einem Kundenbindungsprogramm teilzunehmen und hierdurch zum Beispiel einen Rabatt zu bekommen oder „Punkte“ zu sammeln. Coupons können beispielsweise digital auf dem Kundensmartphone vorliegen und dem Händler per angezeigten, scanbaren Barcode oder NFC übermittelt werden (Coupon Redemption). Für die Teilnahme an einem solchen Kundenbindungsprogramm ist eine Authentifizierung notwendig, welche beispielsweise durch die Übertragung einer Kunden-ID und der Ein-gabe eines Passwortes durchgeführt werden kann (Customer Loyalty Reward). Die Be-zahlung am Ende des Einkaufs ist ebenfalls mit Hilfe verschiedener Technologien möglich und wird bei mobilen Bezahlverfahren häufig mit QR-Codes oder NFC Technologie rea-lisiert.

Einen exemplarischen Einkaufsprozess unter Verwendung verschiedener Technologi-en stellen kahl und ParadoWski (2013) vor. In ihrem Einkaufsszenario kommen sowohl ein Kundenhandy als auch ein Einkaufsassistent des Händlers – der instrumentierte Ein-kaufswagen IRL SmartCart (Kahl et al. 2011) – zum Einsatz, welche miteinander kom-munizieren ohne dabei private Daten auszutauschen. Der beschriebene Einkaufsprozess umfasst dabei mehrere der zuvor beschriebenen Module. Zu Beginn des Einkaufsprozes-ses befindet sich bereits eine zuvor erstellte Einkaufsliste auf dem Kundenhandy. Im Markt kann der Kunde diese Einkaufsliste nun per NFC an den intelligenten Einkaufswa-gen des Händlers übertragen. Der IRL SmartCart verfügt neben einem NFC Empfänger unter anderem zusätzlich über einen Touchscreen und einen RFID Leser, welcher den Inhalt des Einkaufswagens scannt. Basierend auf der Einkaufsliste des Kunden, bietet der Einkaufswagen verschiedene Services, wie z. B. einen Navigationsdienst, an. Durch das Anklicken eines Listeneintrages, wird der Kunde zu dem gewählten Produkt navigiert. Um das Produkt zu scannen, legt der Kunde es in den Einkaufswagen, welcher dieses anhand des am Produkt angebrachten Tags automatisch erkennt. Informationen zu den im Einkaufswagen befindlichen Produkten werden auf dem Display dargestellt. Nachdem die gewünschten Produkte im Einkaufswagen platziert wurden kann der Bezahlvorgang gestartet werden. Hierzu fordert der Kunde eine Liste der im Einkaufswagen befindlichen Produkte inklusive Preise an. Dies wurde durch das Scannen eines QR-Codes mit dem Kundenhandy realisiert, welcher auf dem Display des Einkaufswagens erscheint, sobald der Bezahlbutton gedrückt wurde. Nach erfolgreich ausgeführter Transaktion des Betra-ges mit dem Handy, erhält der Kunde einen Schlüsselcode, welcher per NFC an den Einkaufswagen übermittelt werden muss. Gleichzeitig wird der transferierte Betrag dem Kundenkonto und damit dem Kundenbindungsprogramm zugeschrieben, über welches automatisch Coupons für den nächsten Einkauf generiert werden. Hierdurch wird die Bezahlung verifiziert und der Diebstahlschutz für die bezahlten Produkte, welche durch die angebrachten RFID Tags eindeutig identifiziert werden können, deaktiviert.

Das oben beispielhaft beschriebene Einkaufsszenario zeigt wie komplex die Integration verschiedener nutzerzentrierter Dienste werden kann. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Loslösung einzelner Dienste, z. B. der Bezahlfunktion von der Vergleichs- oder Coupon-

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funktion, Risiken in sich birgt, da der Verkaufsprozess einem Bruch unterworfen wird. Die Wertschöpfung entsteht erst durch die Kombination verschiedener digitaler Dienste, die über das mobile Gerät dem Kunden zur Verfügung stehen.

1.2.2 Vom stationären und Online-Handel zum Omni-Channel

Um eine größere Kundengruppe zu erreichen bauen Händler mittels entsprechender On-lineportale, den Webshops, einen weiteren Kanal auf. Im Online-Handel kann man sich den Vorteil der Digitalisierung zunutze machen, indem man adaptive Werbung und Vorschläge abhängig vom aktuellen Benutzerverhalten anzeigt, z. B. abhängig davon, welche Produk-te der Benutzer sich anschaut und welche sich in seinem Einkaufswagen befinden. Die meisten Webshops weisen ein ähnliches Design auf, wodurch Kunden die Strukturen schnell verstehen und sich einfach orientieren können. Ebenso gibt es oftmals explizit auf mobile Endgeräte angepasste Darstellungen, so dass der Wechsel zwischen einem statio-nären Computer und einem mobilen Endgerät problemlos erfolgen kann. Durch die einfa-che Möglichkeit des Einkaufens und den Zugang zu angebotenen Dienstleistungen, wie beispielsweise die Bereitstellung von Produktvideos oder Kundenerfahrungen, ist der Online-Handel für viele Kunden zu einem favorisierten Einkaufsmedium geworden. Der stationäre Handel ist daher in Zugzwang geraten, durch entsprechende Gegenmaßnahmen die Attraktivität des Offline-Einkaufens zu steigern. Neben der Digitalisierung spielt hier auch die moderne Gestaltung der Geschäfte eine wichtige Rolle. Dadurch sollen Wohl-fühloasen geschaffen werden, um den Einkauf als ein entspanntes Erlebnis zu verwirkli-chen. Um Kunden möglichst individuell zu beraten, zeichnen sich aktuell zwei Möglich-keiten in der Umsetzung ab: zum einen werden verstärkt soziale Netzwerke und Empfeh-lungen aus dem unmittelbaren Freundeskreis der Kunden einbezogen oder zum anderen können technische Lösungen, die Empfehlungen aufgrund von historischem und aktuellem Kundenverhalten und -profilen aussprechen, angeboten werden. Solche Systeme werden als Empfehlungssysteme (Recommender Systems) bezeichnet (Resnick und Varian 1997).

Wichtig bei der zusätzlichen Errichtung von Webshops zu stationären Läden ist, dass eine Harmonisierung der angebotenen Kanäle erfolgt und somit eine Unterstützung für die Kunden realisiert wird. Dies ist unter den Begriffen Omni-Channel, Multi-Channel, Cross-Channel oder No-Line-Commerce bekannt (Fost 2014). Eine solche Vernetzung zeigt sich unter anderem daran, dass Käufe online begonnen und offline abgeschlossen werden (z. B. Click and Collect) oder umgekehrt, indem ein Verkäufer oder der Kunde selbst im physi-schen Geschäft die Bestellung über dessen Webshop umsetzt. Eine durchgängige Umset-zung geht jedoch noch weiter. Während die Kundenidentifikation im Webshop durch Coo-kies und Login-Bereiche verhältnismäßig einfach und bereits in einem frühen Stadium des Einkaufs erfolgen kann, ist eine Identifikation im Offline-Store oftmals erst am Ende um-gesetzt, indem eine entsprechende Kundenkarte verwendet wird. So können im Webshop bereits frühzeitig dem Kunden personalisierte Informationen zur Verfügung gestellt wer-den, was im normalen Geschäft nicht so einfach umsetzbar ist. Jedoch gehen die Kunden-

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bedürfnisse auch hier so weit, dass dem Kunden möglichst auf ihn zugeschnittene Ange-bote und Informationen bereitgestellt werden. Um dies ebenfalls zu realisieren, muss die Digitalisierung des Ladens so weit vorangeschritten sein, dass eine persönliche Ansprache, wie sie früher in den kleineren Geschäften in örtlichen Gebieten stattgefunden hat, auch mittels der verwendeten Technologie ermöglicht werden kann.

Aufgrund der fortlaufenden Entwicklung kostengünstiger Sensoren wird die stationäre Handelsumgebung auch zukünftig eine Veränderung erfahren. Die Sensoren und Aktuato-ren ermöglichen hierbei Konzepte, welche bereits im Onlinehandel erprobt sind, wie Pro-duktempfehlungen oder -vergleiche auf die physische Fläche zu portieren. Dabei können die Vorteile des „Offlinehandels“, welcher unter anderem in der sozialen Komponente liegt, durch digitale Assistenzfunktionen ergänzt werden. Hierbei ist es auch wichtig, dass eine direkte, personalisierte Kundenansprache erfolgt, da eine Massenkommunikation, wie z. B. mittels Faltblattwerbung, in den letzten Jahren an Attraktivität verloren hat (Krüger et al. 2014). Um eine solche personalisierte Ansprache zu realisieren, bedarf es den aktuellen Kontext des Kunden zu erfassen, was ausschließlich durch eine vernetzte Umgebung rea-lisiert werden kann. Die erfassten Kontextinformationen können anschließend durch indi-viduell angepasste Dienste verarbeitet und zur Nutzung in adaptiven Assistenzsystemen, wie beispielsweise Dialogberatern, oder zur Generierung kontextbasierter Werbeinforma-tionen eingesetzt werden (Kahl et al. 2010). Diese und weitere Ansätze wurden in einer instrumentierten Handelsumgebung prototypisch umgesetzt, dem Innovative Retail Labo-ratory (IRL).

1.3 Das Innovative Retail – Living Lab zum Thema Zukunft des Handels

Das IRL ist eine agile Cyber-Physische Handelsumgebung, welche in Kooperation mit der deutschen Einzelhandelskette Globus SB-Warenhaus Holding GmbH & Co. KG und dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI GmbH) betrieben wird (Spassova et al. 2009; Krüger et al. 2010). Seit dem Beginn im Oktober 2007 wird in einer Laborumgebung eine Supermarktatmosphäre nachempfunden, die mit Sensoren, Aktuato-ren und entsprechenden Diensten angereichert ist. In dieser Laborumgebung werden Fra-gestellungen aufgegriffen, welche den zukünftigen Einkauf umfassen. Insbesondere wer-den neuartige Interaktionsparadigmen in öffentlichen Umgebungen mittels eingebetteter Sensorik in Form von Demonstratoren untersucht und erprobt. Hierbei wird betrachtet, inwieweit Vorteile aus dem Online-Handel mittels geeigneter Sensorik, Aktuatorik und Dienstleistungssysteme auch auf einer physischen Handelsfläche umgesetzt werden kön-nen. Neben der Informationsakquise spielt die personalisierte Aufbereitung und Darbietung von Informationen eine wichtige Rolle, um dem Bedürfnis nach individueller Beratung durch die Kunden gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang werden Grundvorausset-zungen für die Akzeptanz und einen effizienten Einsatz von Assistenzsystemen anhand von Prototypen evaluiert. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass die Systeme Zugriff auf

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alle relevanten Sensorinformationen haben, um den aktuellen Kontext der Umgebung so-wie des Benutzers zu erfassen und damit eine entsprechende Auswertung und Reaktion zu realisieren sowie um alle möglichen Potenziale auszuschöpfen.

Bei der Auswahl der umgesetzten Szenarien werden unterschiedliche Herangehenswei-sen betrachtet. Unter anderem werden identifizierte Probleme durch Händler oder auch Handelspartner aufgegriffen, daraus neuartige Konzepte entwickelt sowie prototypisch umgesetzt, welche mittels geeigneter Digitalisierung eine Minimierung der Problematik ermöglichen. Ein anderer wichtiger Punkt bei der Identifikation und Analyse potenzieller Optimierungspotenziale ist die Betrachtung der aktuellen Einkaufsprozesse aus Kunden-sicht. Basierend auf daraus gewonnenen Erkenntnissen werden wiederum erweiterte Kon-zepte entworfen und in Form von Demonstratoren umgesetzt. Dabei wird jeweils die be-stehende Infrastruktur an Sensoren, Aktuatoren und existierender Dienstleistungen mitver-wendet, um mittels der bestehenden Digitalisierung Synergieeffekte nutzen zu können. Die Evaluation der Prototypen erfolgt in Form von Benutzerstudien, Expertenanalysen und durch Feedback bei der Präsentation an unterschiedlichste potenzielle Nutzer. Aus dem Feedback und Gesprächen können neue Kundenbedürfnisse abgeleitet und bei späteren Konzepterstellungen eingebunden werden.

Betrieben wird das IRL als sogenanntes Living Lab, was bedeutet, dass immer wieder neue Aspekte und Demonstratoren hinzukommen, worauf die existierenden Dienste mög-licherweise angepasst werden müssen. Hierdurch entsteht eine agile Struktur von Kompo-nenten, Daten und Kommunikationskanälen, welche mit der Zeit erweitert und verändert

Abb. 3 Innovative Retail Laboratory (IRL) – Eine Cyber-Physische Handelsumgebung Quelle: DFKI GmbH

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wird. Das IRL umfasst eine Vielzahl von Sensoren und Aktuatoren, die den Kontext der Umgebung und somit auch Veränderungen erfassen bzw. zu Änderungen des Umgebungs-zustands führen. Die erfassten Daten werden durch entsprechende Dienste ausgewertet, welche ebenso die Aktuatoransteuerung übernehmen. Abb. 3 zeigt einige dieser Kompo-nenten. Teilweise umfassen physische Geräte sowohl Sensoren als auch Aktuatoren. Im Speziellen sind hierbei Smartphones zu erwähnen, die als Endgeräte der Kunden sowie der Mitarbeiter betrachtet werden. Aus diesem Grund können sie als persönliche Geräte ange-sehen werden, die unterschiedlichste private Informationen umfassen, welche bei den ent-wickelten Assistenzfunktionalitäten unter Berücksichtigung der Privatsphäre eingebunden werden können.

Um den Handel der Zukunft zu betrachten, wird im IRL eine komplette Customer Jour-ney abgebildet und darüber gezeigt, welche Potenziale eine Digitalisierung des Handels bieten kann. Betrachtet man eine typische Customer Journey, ist festzustellen, dass viele Touchpoints nicht im Geschäft, sondern bereits im Vorfeld, insbesondere zu Hause, vor-kommen. Aus diesem Grund sowie basierend auf den Bestrebungen der Kanalverschmel-zung, muss daher auch das private Umfeld der Kunden betrachtet werden, um den Handel der Zukunft abzubilden. Der Einkauf beginnt mit der Vorbereitung, welche oftmals die Erstellung einer Einkaufsliste umfasst, beinhaltet den eigentlichen Einkauf und die Nach-bereitung, welche die ordnungsgemäße Verstauung der Produkte integriert. Um diese Re-präsentation zu unterstützen, umfasst das IRL neben einer instrumentierten Supermarktum-gebung einen Heimbereich und kann darüber die Verknüpfung zwischen den verschiedenen Phasen einer Customer Journey abbilden.

1.3.1 Personalisierte Angebote und Unterstützung bei der Produktauswahl

Aufgrund der heute existierenden technologischen Möglichkeiten, fordern Kunden auch Dienstleistungen für ihre Einkaufsvor- und -nachbereitung. Dies beinhaltet neben der Bereitstellung produktspezifischer Informationen, personalisierter Angebotspräsentatio-nen angepasst auf die eigenen Vorlieben und bereits im Haushalt befindlicher Produkte, auch individuelle Bestell- oder Kaufmöglichkeiten. Die Kundenbedürfnisse werden hier-bei immer einzigartiger, so dass generelle Dienstleistungen nicht mehr zielführend sind, sondern möglichst maßgeschneidert angepasst werden müssen. Dies führt somit zu einem Bedarf der individuellen Produktion von Konsumgütern. Bekannt ist diese Vorgehens-weise schon des Längeren aus der Automobilbranche, bei der man sein Fahrzeug nach seinen Vorstellungen zusammenstellen kann und dieses dann entsprechend dieser Vorga-ben produziert wird. Mittels der Digitalisierung im Industriebereich soll eine lukrative Produk tion auf Losgröße 1 ermöglicht werden, was unter dem Begriff Industrie 4.0 zu-sammengefasst wird (Kagermann et al. 2011). Analog wird die Digitalisierung inklusive der zugehörigen Mehrwertfunktionalität oftmals als Handel 4.0 bezeichnet. So gibt es im Lebensmittelhandel bereits Konzepte zur individuellen Bestellung, wie beispielsweise

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von mymuesli2, bei dem man die Zusammensetzung des eigenen Müslis eigenständig spezifizieren kann.

Bei der Entscheidung, welche Produkte gekauft werden sollen, spielen zunehmend im-mer spezifischere Parameter mit ein. Beispielsweise möchte sich eine zunehmende Anzahl an Personen gesund und/oder vegetarisch ernähren und zieht sozioökonomische Produkt-kriterien, wie z. B. Regionalität oder menschenwürdige Arbeitsbedingungen, bei der Pro-duktselektion in Betracht. Ebenso spielen soziale Netzwerke und Referenzen weiterer Kun-den sowie kollaboratives Filtern („Kunden kauften auch“) eine zunehmend wichtigere Rolle, um neue, bisher unbekannte Produkte zu explorieren, die zu den eigenen Vorlieben passen könnten. Solche Anwendungen sind unter anderem bei Amazon zu finden, wo bei-spielsweise Buchempfehlungen auf diese Art kundenorientiert generiert und präsentiert werden. Während diese Informationen bei der eigentlichen Produktauswahl relevant sind, spielen sie zunehmend auch bei der Einkaufsvorbereitung eine wichtige Rolle, insbesonde-re, wenn Einkäufe von einzelnen Personen für eine größere Gruppe getätigt werden sollen. Dies umfasst eine möglichst präzise Produktidentifikation auf Einkaufslisten, so dass es beim Einkaufen selbst zu keiner Frage hinsichtlich der richtigen Produktauswahl kommt.

Einen Indikator zur Identifikation von Kundenpräferenzen stellt die Einkaufshistorie dar. Während im Online-Handel aufgrund der Registrierung vor dem Kauf die Zuordnung der Käufe zu den jeweiligen Kunden sichergestellt und diesen als Dienstleistung präsentiert werden kann, wie beispielsweise im Amazon-Konto alle Käufe der vergangenen Jahre nachverfolgt werden können, ist dies im Offline-Handel in der Regel nicht möglich. Be-strebungen aus dem Omni-Channel zeigen jedoch auch in diesem Segment Fortschritte. So können heutzutage Einkäufe im Elektronikmarkt Mediamarkt über deren Applikation ein-gesehen werden. Die Zuordnung der Käufe zum Kundenkonto erfolgt hierbei über die je-weilige Kundenkarte. Jedoch werden im Allgemeinen die Informationen aus den Kunden-karten ausschließlich für interne Verarbeitungen und Statistiken verwendet und nicht dem Kunden wieder zur Verfügung gestellt. Ebenso sperren die aktuellen Geschäftsmodelle die Möglichkeit, Daten kundenkartenanbieterübergreifend zusammenzutragen und verwehren dem Kunden hierdurch die Möglichkeit, seine gesamten Einkäufe zu analysieren.

Ein weiterer Trend, welcher basierend auf Kundenbedürfnissen und -erwartungen mit-tels einer geeigneten Digitalisierung im Wandel ist, ist die Versendung von angepassten Angeboten. Aktuell werden hauptsächlich allgemeine Produktangebote in die Haushalte versendet. Unter Berücksichtigung von einer entsprechenden Zielgruppenanalyse und Pre-cision Retailing nehmen solche Ansätze immer mehr ab. Durch gezielte und personenori-entierte Angebotserstellung werden diese zu einem Mehrwertdienst und nicht mehr als Spam seitens der Kunden angesehen. Ebenso können kundenorientierte Bundleangebote generiert und in Form von individualisierten Coupons zur Verfügung gestellt werden.

Um die Potenziale der Digitalisierung bei der Einkaufsvor- und -nachbereitung zu prä-sentieren, wurde im IRL der Kühlschrank als Demonstratorplattform gewählt. Dieser ist oftmals ein sozialer Knotenpunkt in häuslichen Gemeinschaften, zu dem alle Bewohner

2 http://www.mymuesli.com

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Zugriff haben. Am IRL wurde der Kühlschrank mit einem Touchdisplay, welches in die Tür integriert wurde, und RFID-Antennen im Inneren instrumentiert. Sobald ein Produkt in den Kühlschrank gelegt bzw. aus diesem entnommen wird, wird dies mittels der RFID Sensoren erfasst. Hierzu wurden die Produkte prototypisch mit entsprechenden Tags ausgestattet. Die verbaute Sensorik ermöglicht es, alle im Kühlschrank befindlichen Produkte zu erfassen, die mit mindestens einem RFID-Tag versehen wurden. Zukünftig können anstelle von RFID die Produkte mittels optischer Erkennung, z. B. mittels Watermarking3, erfasst und damit das Szenario realistisch umsetzbar werden. Gemäß dem Konzept von digitalen Ob-jektgedächtnissen können alle Informationen zum Produktlebenszyklus abgerufen werden, sobald das Produkt in den Kühlschrank gelegt wird. Basierend auf diesen Informationen werden Dienste, wie die Darstellung aller im Kühlschrank befindlichen Produkte und die Visualisierung grafisch aufbereiteter digitaler Produktgedächtnisse, angeboten, ohne dass dieser geöffnet werden muss. Ebenso können diese Informationen mittels entsprechender Cloud-Dienste unter Einhaltung eines Zugriffs- und Rechtesystems überall zugänglich gemacht werden. Des Weiteren findet ein automatischer Abgleich der Mindesthaltbarkeits-daten (MHD) mit dem aktuellen Datum statt, dessen Ergebnis ebenfalls visuell auf dem Kühlschrankdisplay dargestellt wird. Neben dem MHD wird auch die empfohlene Lage-rungstemperatur aus dem Objektgedächtnis geladen, um abzugleichen, ob die Produkte in der geeigneten Temperaturzone gelagert werden und andernfalls eine proaktive Warnung anzuzeigen. Zudem kann über eine digitale Version eines Faltblatts eine Einkaufsliste er-stellt und angepasst werden. Diese wiederum wird im entsprechenden Benutzerprofil hin-terlegt, so dass sie von mobilen Endgeräten abgerufen und dargestellt werden kann. Jede Veränderung der Liste wird hierbei im Benutzerprofil automatisch angepasst. Somit ist eine Synchronisation der Einkaufsliste auf unterschiedlichen Endgeräten, wie beispielsweise Kühlschrank und Smartphone, möglich. Bei der Generierung der Liste wird gleichzeitig erfasst, wer den Eintrag ergänzt hat, so dass diese Information bei der späteren Kaufent-scheidung mitberücksichtigt werden kann.

Während die Funktionalität des Kühlschranks vorwiegend für den Kunden relevant ist, können die Daten auch einen Mehrwert für den Handel bieten. Beispielsweise kann eine solche Einkaufsliste auch als Grundlage einer Click and Collect-Variante hergenommen werden oder eine Online-Bestellung samt Lieferung zur Folge haben. Das solche einfachen Möglichkeiten der Bestellung relevant sind, zeigt auch die Entwicklung der Amazon Dash Buttons. Hierüber kann ein Kunde mit nur einem Druck eines entsprechenden Knopfes ein zugehöriges Produkt nachbestellen. Da die Knöpfe keine kabelgebundene Infrastruktur benötigen, können diese dort platziert werden, wo der Bedarf einer Nachbestellung erfasst wird. Beispielsweise kann der Knopf zur Nachbestellung von Waschpulver in der Nähe der Waschmaschine angebracht werden. Dies zeigt das Bedürfnis der einfachen und möglichst schnellen Bestellmöglichkeit.

Im Bereich der Einkaufsnachbereitung wurde im IRL das Konzept eines digitalen Haus-haltsbuchs erstellt und prototypisch umgesetzt. Einem stetig wachsenden Personenkreis

3 https://nrf.com/news/technology/beyond-qr-codes

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reicht es heute nicht mehr aus, Tätigkeiten nur auszuführen ohne weitere Funktionalitäten damit zu verbinden. Stattdessen existiert der Wunsch, diese genau quantifizieren zu kön-nen, Zusatzinformationen abzuleiten und auch nach Monaten noch rückblickend zu be-trachten. Das Ziel dieser „Quantified Self“-Bewegung (Marcengo und Rapp 2013) ist der Erkenntnisgewinn durch Aufzeichnung, Exploration und Analyse dieser Daten, etwa zu den Themen Nachhaltigkeit und Gesundheit. Die (Einzel-) Handelsdomäne nimmt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle ein. Umfrageergebnisse haben gezeigt, dass ein Fi-nanzmanagement in Form eines digitalen Haushaltsbuchs für viele einen attraktiven Mehr-wertdienst darstellen würde, der aktuell trotz vieler Desktop- und mobiler Lösungen nur unzureichend adressiert ist (Hälsig et al. 2015; Kerber et al. 2014). Die Datenerfassung für ein solches Haushaltsbuch ist jedoch sehr aufwändig, da alle Positionen des Einkaufs pri-mär manuell digitalisiert werden müssen, um Analysen durchführen und weitere Dienst-leistungen darauf aufbauen zu können. Um diese manuellen Eingriffe zu minimieren, wurde eine Smartphone-Applikation erstellt, mit welcher der Kunde ein Foto seines Ein-kaufs macht (Altmeyer et al. 2016). Die Software analysiert das Foto und extrahiert Infor-mationen zum Geschäft, der Gesamtsumme und den Einzelpositionen auf der Rechnung mittels Texterkennung (OCR). Da bei Kassenzetteln unterschiedliche Layouts und Schrift-arten eingesetzt werden, ist die automatische Erfassung der Daten relativ komplex. Hinzu kommt, dass die aufgenommenen Bilder oftmals nicht optimal sind. Um trotz dieser schwierigen Voraussetzungen korrekte Ergebnisse zu liefern, wird bei einer unsicheren Erkennung eine Aufgabe an eine „Crowd“ gesendet, die die Verifikation bzw. Korrektur der Daten vornimmt. Durch diesen Ansatz ist man geschäftsungebunden und kann alle Daten seiner Einkäufe bis auf Produktebene digital erfassen. Auf der daraus resultierenden Datenbasis können weitere Mehrwertdienste angeschlossen werden. Neben der Darstellung der Ausgaben kann erfasst werden, wenn Produkte in einem regelmäßigen Turnus gekauft werden, um darüber ein Einkaufslisten-Template zu generieren. Zudem können verschie-dene weitere Analysen repräsentiert werden, wie z. B. eine prozentuale Einteilung der ge-kauften Lebensmittel in die Kategorien der DGE-Ernährungspyramide, zur initialen Re-präsentation eines IST-SOLL-Abgleichs hinsichtlich einer gesunden Ernährung.

1.3.2 Orientierung beim Einkauf

Während in den Webshops die Orientierung über Produktkategorien und Suchmasken funktioniert, gibt es im Offline-Handel aktuell nur wenige Orientierungsmöglichkeiten. Die eine besteht in der Nachfrage bei den Mitarbeitern und die andere über ein vom Ge-schäft etabliertes Kundenführungssystem. Durch die zunehmende Automatisierung im Handel befindet sich zunehmend weniger Verkaufspersonal auf der Fläche, welches für Beratung und zur Produktfindung angesprochen werden kann. Hinsichtlich des Kunden-leitsystems ist aufgrund der Kundenwünsche in den vergangenen Jahren ein großer Um-schwung erfolgt. Waren die Geschäfte früher mit großen Regalen ausgestattet, um viele Produkte unterbringen zu können und existierten durch bauliche Gegebenheiten vorge-

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schriebene Wege, wie es beispielsweise Möbelhäuser oftmals praktizieren, ist eine Verän-derung in Richtung niedrigerer Verkaufsregale und offenerer Strukturen zu erkennen. Dies ermöglicht es den Kunden, sich schneller zu orientieren und kürzere Wege zu nehmen. Der technologische Fortschritt kann jedoch auch in diesem Segment einen weiteren Vorteil bieten. So wurden in einigen Märkten, wie beispielsweise der Toom-Baumarktkette, auto-matisch fahrende Roboter der Firma Metra Labs getestet, die Kunden autonom zu ge-wünschten Produkten führen konnten (Gross et al. 2008). Andere technologische Umset-zungen zielen auf Applikationen ab, die sich die Kunden auf ihren eigenen Smartphones installieren können und die wie ein Navigationssystem für die Kunden in den Märkten fungieren. Neben der genauen Verortung der Produkte und einer digitalisierten Marktkarte muss hierbei die aktuelle Position der Kunden ermittelt werden. Bei den Möglichkeiten der technologischen Umsetzung eines Positionierungssystems sind Faktoren wie Genauigkeit und Kosten zu beachten. Für eine Positionierung auf wenige Meter können Systeme basie-rend auf BLE (Beacon-Technologie) oder WLAN verwendet werden, wobei diese Techno-logien potenziell bereits in den Märkten vorliegen oder mit verhältnismäßig geringen Kos-ten nachgerüstet werden können. Wird jedoch eine genauere Lokalisation benötigt, so müssen kostenintensivere Lösungen eingesetzt werden, wie beispielsweise Quuppa4, ein Positionierungssystem auf Basis von Bluetooth 4.0. Weitere Entwicklungen in diesem Bereich sehen eine Positionierung auf optischer Basis vor. Beispielsweise können über die Frequenz von LED-Leuchten Daten übermittelt werden (Haas et al. 2016). Dies kann ein-gesetzt werden, um über das Smartphone eine Positionierung umzusetzen, welche verhält-nismäßig kostengünstig und gleichzeitig sehr präzise ist.5

4 http://quuppa.com5 http://www.philips.com/a-w/about/news/archive/standard/news/press/2015/20150521-Where-

are-the-discounts-Carrefours-LED-supermarket-lighting-from-Philips-will-guide-you.html

Abb. 4 Instrumentierung des IRL SmartCart Quelle: DFKI GmbH

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Als Plattform zur Präsentation von Technologie und Assistenzfunktionalität zur Orien-tierung im Supermarkt wurde im IRL der Einkaufswagen gewählt. Unter anderem kann man hierbei von Kunden gewünschte Dienste umsetzen, wie die Darstellung der Einkaufs-liste, die Visualisierung der sich im Wagen befindlichen Produkte samt Preisinformationen und ein beschleunigtes Checkout an der Kasse (Kourouthanassis et al. 2002). Der prototy-pisch umgesetzte IRL SmartCart umfasst funkbasierte Sensorik in Form von RFID und NFC, einen Fingerabdrucksensor, einen digitalen Kompass sowie ein Touchdisplay. Diese Sensoren und Aktuatoren sind an ein integriertes Netbook angeschlossen und werden durch Batterien mit Strom versorgt (Kahl et al. 2011). Zudem ist ein Quuppa-Sender zur Positi-onserkennung am Wagen angebracht. Der Prototyp ist in Abb. 4 dargestellt.

Basierend auf dieser Instrumentierung werden mehrere Dienste angeboten. Durch die Verknüpfung mit dem Warenwirtschaftssystem können die Produktpositionen im Markt erfasst werden. In Kombination mit der aktuellen Position des Wagens und einer digitalen Marktkarte kann dies genutzt werden, um eine Navigation zu Produkten im Markt zu rea-lisieren. Hierbei werden die Einträge der am IRL SmartCart geladenen Einkaufsliste als Ziele verwendet. Um die Einkaufsliste auf den Einkaufswagen zu laden, muss der Benutzer sich lediglich an diesem authentifizieren, woraufhin sein Benutzerprofil inklusive der er-stellten Liste automatisch geladen wird. Des Weiteren wird die Position des Einkaufswa-gens mittels des Quuppa-Systems konstant ermittelt. Diese Informationen werden in Diens-ten verwendet, welche dem Benutzer nach dem Einloggen zur Verfügung stehen (siehe Abb. 5 (links)). Gerade in großen Supermärkten, wie beispielsweise Baumärkten, ist das Finden gewünschter Produkte nicht einfach. Hier stellt eine Navigationsanweisung einen gewinnbringenden Vorteil dar. Neben einer aktiven Navigation zu einem Produkt (siehe Abb. 5 (Mitte)) gibt es auch die Möglichkeit einer passiven Navigation. Im letzteren Fall werden keine Pfeile zum Ziel dargestellt. Anstelle dessen wird die Umgebung des Kunden präsentiert, welche mit entsprechenden Markierungen angereichert wird, wenn Produkte seiner Einkaufsliste in diesem Kartenausschnitt zu finden sind. Dies hat den Grund, dass viele Kunden den Markt bereits kennen und wissen, wo sich die Produkte befinden, so dass sie keine Navigationsanweisung benötigen und diese eher als störend empfinden würden. Jedoch kann es auch hier vorkommen, dass an einem Regal vorbeigegangen wird, in dem sich ein zu kaufendes Produkt befindet. Sobald dies festgestellt wird, muss der Kunde

Abb. 5 Benutzeroberfläche beim IRL SmartCart Quelle: DFKI GmbH

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wieder zurückgehen, um dieses Produkt zu kaufen. In diesem Fall dient die passive Navi-gation einer Erinnerungsfunktion, um unnötige Wege zu vermeiden. Diese Navigationsun-terstützung hat zudem den Vorteil, dass die Kunden nicht von der Umgebung abgelenkt werden, da sie nicht ständig darauf fokussiert sind, Navigationsanweisungen zu folgen. In einer Studie wurde gezeigt, dass selbst wenn Produkte oder andere Landmarken als Infor-mationen für die Supermarktnavigation verwendet werden, die Umgebung während der Navigation von den Kunden nicht bewusst wahrgenommen wird (Nurmi et al. 2011). Die-ses ist jedoch für den Handel wichtig, da zusätzliche Umsätze durch Spontaneinkäufe von Produkten gemacht werden.

Als weiteren Dienst bietet der IRL SmartCart die Darstellung des Wageninhalts samt Preisinformationen an, wie in Abb. 5 (rechts) zu sehen. Schließlich existiert das Konzept, Spiele auf dem Display zu ermöglichen (Kahl et al. 2009). Diese können Produkte mit einbeziehen, die sich aktuell im Wagen befinden, und sind für Kleinkinder gedacht, die im Kindersitz des Wagens sitzen. Dies hat den Vorteil, dass die Kinder die Produkte und damit Objekte im Spiel bereits kennen oder spielerisch kennenlernen. Die realistische Umsetzung eines solchen Einkaufswagens ist zu teuer und im aktuellen Prototypenstatus nicht praxist-auglich. Dennoch ermöglicht der IRL SmartCart die positive Evaluation der genannten Dienstleistungen. Aktuell wird an einer analogen Umsetzung geforscht, welche diese Dienste als App auf einem Smartphone oder Tablet bereitstellt, das in eine Vorrichtung am Griff des Einkaufswagens eingeklemmt werden kann.

Abb. 6 IRL Artikelfinder Quelle: DFKI GmbH

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Neben dem IRL SmartCart stellt der Artikelfinder ein weiteres Orientierungssystem für Kunden im Markt dar, welcher bereits seinen Weg aus dem Labor in den richtigen Super-markt gefunden hat. Über eine direkte Anbindung an das Warenwirtschaftssystem des Markts wird die aktuelle Verräumung der Produkte erfasst und mit einer semantisch anno-tierten Karte verknüpft. Über ein großes Touchinterface können Kunden hierüber Informa-tionen zu der Platzierung von Produkten im Markt erhalten (siehe Abb. 6). Dies funktioniert über zwei Varianten: Einerseits können Kunden explorativ den Markt erkunden, indem sie auf einen Bereich in der interaktiven Karte klicken, daraufhin angezeigt bekommen, welche Regale sich darin befinden und nach einem weiteren Klick auf ein Regal, die darin enthal-tenen Produkte durchstöbern. Andererseits kann über eine Suchmaske ein gewünschtes Produkt angegeben werden. Durch einen Klick auf ein gefundenes Ergebnis wird in der Karte angezeigt, wo sich das Produkt bzw. das zugehörige Regal befindet. Jedoch auch ohne eine Interaktion bietet die dargestellte Karte eine Orientierungshilfe, indem die Kun-den eine Übersicht erhalten, wo welche Bereiche im Markt verortet sind. Wird eine Pro-duktplatzierung verändert, wird dies entsprechend im Warenwirtschaftssystem hinterlegt und somit die Darstellung im Artikelfinder automatisch angepasst. Als Weiterentwicklung des Artikelfinders als Kiosk-Anwendung gibt es bereits eine erste Darstellung für mobile Endgeräte.

1.3.3 Von der Darstellung produktbezogener Informationen zur per-sonalisierten Assistenzfunktionalität

Im Online-Handel besteht für Kunden die Möglichkeit, sich zusätzliche Informationen zusammenzutragen, indem sie auf unterschiedlichen Internetseiten Rezensionen anderer Kunden, Feedback aus sozialen Netzwerken, Testberichte, Bilder, Videos und Hersteller-informationen einsehen können. Im Offline-Handel ist dies nur in eingeschränkter Weise durch die Akquise der Daten mittels der eigenen Smartphones umsetzbar. Zudem können Kunden online über entsprechende Suchmaschinen Preise eines Produkts von unterschied-lichen Anbietern abrufen, um dies in ihre Kaufentscheidung mit einzubringen. Neben monetären Kaufgründen spielen zunehmend Vertrauen in die Anbieter, der Umgang mit Retouren und zusätzlich angebotene Dienstleistungen eine wichtige Rolle. Gerade im Om-ni-Channel-Bereich stellen Preise eine schwierige Herausforderung dar. Um im Online-Geschäft wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen die Preise regelmäßig mit denen der direk-ten Konkurrenz verglichen und gegebenenfalls angepasst werden. Kunden hingegen finden einen Preisunterschied zwischen dem Webshop und der physischen Präsenz inakzeptabel, weswegen jede Preisänderung auch in den Märkten nachgezogen werden muss. Ein Aus-tausch von Papieretiketten durch Mitarbeiter am Regal ist dabei nicht lukrativ, da potenzi-ell mehrere Preise zu verschiedenen Zeitpunkten angepasst werden müssen und somit ein hoher Aufwand entstehen würde. Aus diesem Grund und der technologischen Weiterent-wicklung sowie der damit einhergehenden Preisreduktion haben sich elektronische Preis-schilder (ESL) in diesen Bereichen durchgesetzt. Als stromsparende, vollgrafische und

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mittlerweile auch mehrfarbige Etiketten bieten sie einen starken Kontrast und sind dadurch von den Kunden genauso gut erkennbar wie Papieretiketten. Zudem haben ESL den Vorteil, dass diese über das zentrale Warenwirtschaftssystem angesteuert und somit die Preise mit der Kasse synchronisiert werden können. Neben den ESL stellen Werbedisplays in den Märkten einen visuellen Touchpoint zu den Kunden dar. Darüber kann man analog zum Radio zu jeder Zeit anhand der Käufergruppe zielorientierten Inhalt einspielen und damit ein erstes Target Marketing Konzept umsetzen.

Im Lebensmitteleinzelhandel spielt die Mindesthaltbarkeit zum Teil einen Einfluss auf die Preiswahl der Produkte. So werden Produkte, die nur noch kurze Zeit haltbar sind, oftmals vergünstig angeboten. Hierzu werden die Preise manuell auf die Produkte geklebt und manuell im Kassiervorgang eingegeben. Dieser Vorgang kann mittels Digitalisierung und einer individuellen Identifikationsmöglichkeit eines Produkts automatisiert werden. Mittels einer eineindeutigen Identifikation von IoT-Produkten können neben Nährwert-angaben und Inhaltsstoffen auch weitere Informationen, wie z. B. Mindesthaltbarkeitsda-ten (MHD), abgerufen und in den Diensten verwendet werden. Beispielsweise kann dies dazu eingesetzt werden, um die Preise abhängig vom MHD der Produkte dynamisch anzupassen. Um solche Änderungen direkt in die Umgebung zu transferieren, werden im IRL elektronische Preisauszeichnungen (ESL) eingesetzt, welche vom System verändert werden können. Dazu wird von einem Dienst aus dem Warenwirtschaftssystem heraus die Datengrundlage entnommen, die zur Erstellung des Inhalts eines Preisetiketts notwen-dig ist (Kahl 2013). Anschließend wird anhand eines Templates das Etikett erstellt und als Bild zum ESL transferiert. Preisänderungen werden dazu durch einen manuellen Eingriff oder durch Automatismen initiiert, woraufhin automatisch das neue Preisschild generiert und an das entsprechende ESL verschickt wird. Neben der Darstellung von Preisinformationen können ESL auch zur Darstellung weiterer Informationen eingesetzt werden, wie beispielsweise als Navigationshinweis, indem ein Pfeil in Richtung des ge-suchten Produkts visualisiert wird oder indem Bundelangebote nach einer Kundeninter-aktion visuell hervorgehoben werden. Hierfür wird im IRL die Entnahme eines Produkts mittels RFID oder optisch ohne weitere Instrumentierung der Produkte erfasst. Existiert zu dem herausgenommenen Produkt ein Bundleangebot und befindet sich das zugehörige Produkt in direkter Umgebung, wird auf dessen ESL der Spezialpreis angezeigt. Durch die Veränderung im Blickfeld des Kunden wird dessen Aufmerksamkeit zu diesem Pro-dukt gelenkt.

Alternativ zu ESL können auch Displays oder Projektionen der Preisdarstellung dienen. Der Vorteil hierbei liegt darin, dass der Inhalt häufiger gewechselt werden kann. Am IRL wurde eine Obstschräge in der Art instrumentiert, dass sie erkennt, welches Obst bzw. Gemüse an welcher Stelle steht. Hierfür können RFID-Etiketten in den standardisierten Obst- und Gemüsekisten hergenommen werden, die bereits heutzutage zur Wartung ver-wendet werden. Das angeschlossene Display adaptiert sich automatisch, sobald eine Kiste entfernt oder eine neue auf der Obstschräge platziert wird. Dabei wird an der entsprechen-den Stelle die Warenauszeichnung angepasst. Die deklarationspflichtigen Informationen, wie Preis, Herkunftsland, Handelsklasse und Produktbezeichnung werden hierbei kontinu-

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ierlich dargestellt. Daneben gibt es eine Slideshow, die weitere Informationen wie z. B. Abbildungen zur Präsentation der Regionalität, ein Produktquerschnitt und durchschnittli-che Nährwertangaben, umfasst. Neben der Orientierung, um welche Produkte es sich bei der Auszeichnung handelt, stellt dies eine erweiterte Informationsdarstellung und Produkt-transparenz dar, die von vielen Kunden gewünscht ist und ein Kundenbindungsfaktor darstellen kann. Analog zu ESL kann bei einer solchen Darstellung eine automatisierte Adaption auf Preisänderungen umgesetzt werden. Insbesondere im Segment von Obst und Gemüse kann eine automatische Preisanpassung hilfreich sein. Diese Produkte befinden sich auf der Verkaufsfläche in der Regel nicht in ihrer optimalen Lagertemperatur. Erfasst das System kurz vor dem Wochenende, dass noch eine große Menge an Erdbeeren auf Lager ist, die nach aktueller Verkaufsprognose nicht abverkauft werden, kann der Preis durch das System automatisch reduziert und dadurch ein erhöhter Kaufanreiz geschaffen werden. Der richtige Zeitpunkt einer solchen Anpassung muss das System basierend auf historischen Daten sowie der Fusion unterschiedlichster Sensordaten mittels intelligenter Algorithmen der Abverkaufsprognose ermitteln.

Frischetheken stellen eine besondere Form für eine möglichst personalisierte Kunden-ansprache dar, bei der dem Kunden durch Verkäufer Empfehlungen geboten und bei der Produktauswahl geholfen wird. Bei der Kommunikation zwischen Kunden und Verkäufern werden bei Theken oftmals Zeigegesten verwendet, um gewünschte Produkte zu spezifi-zieren. Im IRL werden solche Zeigegesten mittels einer entsprechenden Digitalisierung optisch durch eine 3D-Tiefenkamera erkannt. Basierend auf einem 3D-Modell der Theke, welches auch die einzelnen Produktplatzierungen umfasst, wird das Produkt ermittelt, auf welches der Kunde gerade zeigt. Dieses wird an die elektronische Waage versendet, wor-aufhin das Produkt sowohl dem Kunden als auch dem Verkäufer auf den beiden Displays der Waage präsentiert wird. Neben Produktinformationen bekommt der Verkäufer weiter-führende Daten, anhand derer er den Kunden kompetent beraten kann, wie beispielsweise eine Weinempfehlung zu einem Käse. Neben der Reduktion von Rückfragen, auf welches Produkt der Kunde zeigt, werden hierbei die Verkaufsprozesse verändert. Beispielsweise sieht der Verkäufer bereits beim Zeigen auf ein Produkt zugehörige Informationen und kann diese bei einem Verkaufsgespräch gewinnbringend integrieren und darüber seine Kompe-tenz widerspiegeln. Heutzutage werden solche Informationen erst präsentiert, wenn die zugehörige Identifikationsnummer an der Waage eingegeben wird. Ebenso können dem Kunden passende Informationen, wie Rezeptvorschläge oder weitere Käsevorschläge, an-gezeigt werden. Die Alternativvorschläge können hierbei von der Analyse abgeleitet wer-den, welche Käse oft zusammen gekauft werden. Auch dies erfolgt im IRL zu dem Zeit-punkt, an dem der Kunde seine Aufmerksamkeit auf das aktuelle Produkt legt und sich nicht bereits in der Auswahl des nächsten Produkts befindet.

Während Kunden personalisierte Dienstleistungen fordern, bestehen sie gleichzeitig auf den Schutz ihrer Privatsphäre. Daher muss man bei der Darstellung von Informationen zwischen drei Displayklassen unterscheiden. Während öffentliche Displays die Darstellung von allgemeinen Informationen zulassen, sollten darauf keine privaten personenbezogenen Informationen dargestellt werden, da diese auch für andere sichtbar sind. Bei halböffentli-

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chen Displays, wie beispielsweise einem Display, welches an einem Einkaufswagen ange-bracht ist, können teilweise private Informationen bei der Visualisierung verwendet wer-den. Während Kunden in der Regel die Einzigen sind, die Einblicke auf das Display haben, gibt es auch Zeitpunkte, bei dem andere Personen auf das Display schauen können, wie beispielsweise wenn der Wagen stehen gelassen wird, um ein Produkt aus dem Regal zu nehmen. Schließlich gibt es noch die Klasse der privaten Displays, die in der Regel durch die Smartphones der Kunden dargestellt werden und nicht von Dritten eingesehen werden können. Aus diesem Grund kann ein Abgleich von allgemeinen Produktinformationen mit dem persönlichen auf dem Smartphone hinterlegten Benutzerprofil erfolgen und Zusatzin-formationen mittels erweiterter Realität präsentiert werden, wie in Abb. 7 zu sehen (Löch-tefeld et al. 2010). Im IRL kann man über eine spezielle App sein Benutzerprofil anlegen, in welchem spezifiziert wird, auf welche der 14 ausweispflichtigen Allergene man aller-gisch reagiert. Geht man mit der Kamera über die Produkte, wird als virtuelle Überblen-dung angezeigt, ob man diese bedenkenlos kaufen kann. Wird ein grüner Haken angezeigt, enthält das Produkt kein vom Benutzer selektiertes Allergen. Bei einem orangenen Kreuz sind ausschließlich Spuren mindestens eines angegebenen Allergens enthalten. Bei einem roten Kreuz ist eine Übereinstimmung der Allergieeinstellung gefunden, so dass dieses Produkt nicht vom Kunden gekauft werden sollte. Möchte man nähere Informationen er-halten, warum ein Kreuz dargestellt wurde, kann man die Kamera näher an das Produkt führen, woraufhin eine visuelle Erklärung in Form von eingefärbten Icons als leicht ver-

Abb. 7 Augmented Reality Allergiechecker Quelle: DFKI GmbH

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ständliche Repräsentanten der Allergene dargestellt wird. Geht man noch näher an das Produkt, werden alle enthaltenen Allergene dargestellt. Hintergrund dieser Art der Infor-mationsrepräsentation ist, dass es in der Regel für Kunden ausreichend ist zu wissen, ob das Produkt Allergene enthält, gegen die man reagiert, um seine Kaufentscheidung zu treffen. Hinsichtlich einer Transparenz kann man über die Metapher einer semantischen Lupe auch die Zusammenhänge der Darstellung einsehen.

1.3.4 Beschleunigter Checkout

Der Kassenbereich stellt in der Regel den Abschluss eines Einkaufs im Supermarkt dar und kann nach einem positiven Einkaufserlebnis einen bleibenden negativen Eindruck hinter-lassen, sofern es hier zu ungewünschten Ereignissen, wie beispielsweise lange Wartezeiten, kommt. Aus diesem Grund ist es den Kunden ein Bedürfnis, dass insbesondere dieser Be-reich durch moderne Technologien revolutioniert wird. Seitens der Händler werden hierzu verschiedene Alternativen ausgetestet, welche von Self-Checkout bis zu Self-Scanning reichen. Während beim Self-Checkout die Kunden am Ende des Einkaufs in einem dedi-zierten Kassenbereich alle Produkte noch einmal einzeln scannen, erfassen die Kunden die Produkte beim Self-Scanning bereits während des Einkaufs, indem sie entweder ein vom Geschäft zur Verfügung gestelltes Gerät oder das eigene Smartphone mit einer speziellen App verwenden. Vorteil beim Self-Scanning ist, dass die Produkte im Kassenbereich nicht erneut aus dem Wagen genommen werden müssen. Beide Varianten benötigen in der Regel länger als die standardisierte Methode, bei der ein Kassierer die Produkte scannt. Jedoch ist die gefühlte Dauer kürzer, da keine Wartezeiten entstehen, was somit zu einem positiven Einkaufserlebnis beitragen kann.

Im IRL wurde eine weitere Möglichkeit umgesetzt, welche die Digitalisierung der Pro-dukte verwendet, um eine einfache Produkterfassung an der Kasse zu realisieren. Diese erfolgt am Easy Checkout aufgrund der Instrumentierung der Produkte mit RFID-Tags automatisch. Der Kunde bekommt auf einem Display an der Kasse die gescannten und zu zahlenden Produkte angezeigt. Bezahlt werden kann über biometrische Sensorik (Finger-abdruck) oder über NFC, basierend auf dem Verfahren einer kontaktlosen Kreditkarte, welche beispielsweise im Autoschlüssel des Kunden integriert sein kann. Die unterschied-lichen Bezahlverfahren werden im Hintergrund gleich gestaltet, so dass eine Erweiterung durch zusätzliche Bezahlverfahren einfach möglich ist und für den Kunden keine Hürde darstellt. Nach der Bezahlung werden der Druck des Kassenbons und das Öffnen des Aus-gangstors angestoßen. Neben der Bezahlung in einem festgelegten Bereich (Kassenzone) können die Produkte auch mittels mobiler Bezahlverfahren (Mobile Payment) im Markt bezahlt werden (Kahl und Paradowski 2013). Hierbei wird der zu zahlende Betrag nach expliziter Aufforderung durch den Kunden über die NFC-Schnittstelle vom Einkaufswagen an das mobile Endgerät des Kunden gesendet. Dort kann die Überweisung des entsprechen-den Betrags ausgelöst werden, woraufhin ein Bestätigungscode zurückgeschickt wird, welcher anschließend vom Smartphone an den Einkaufswagen transferiert wird. Daraufhin

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werden die entsprechenden Produkte als gekauft markiert, was in deren digitalen Objekt-gedächtnissen vermerkt wird, und ihre Sicherheitsetiketten deaktiviert, so dass beim Ver-lassen des Marktes kein Alarm ausgelöst wird (Kahl et al. 2013). In diesem Szenario kann zu jeder Zeit und Position im Markt der Kauf abgeschlossen werden, unabhängig von spezifischen Kassenzonen.

1.4 Zusammenfassung

Kunden haben immer größere Bedürfnisse, die zum Teil aus dem Online-Handel her ent-standen sind. Eine Digitalisierung der Märkte kann hierbei unterstützend eingesetzt wer-den, um genau diesen Bedürfnissen nachzukommen. Insbesondere beim aktuellen Trend der Verschmelzung digitaler und analoger Einkaufswelten müssen die Märkte mit unter-schiedlicher Sensorik und Aktuatorik ausgestattet werden, um einen reibungslosen, ka-nalübergreifenden und erlebnisreichen Einkauf zu ermöglichen. Auch wenn die Zahl der Onlinebestellungen stetig steigt, wird der Offline-Handel nicht aussterben. Insbesondere durch die Vorteile einer persönlichen Verkaufsberatung durch einen Mitarbeiter, Erfassung der Haptik von Produkten und der direkten Mitnahmemöglichkeit wird es zukünftig wei-terhin physische Geschäfte geben, die jedoch auch teilweise mit Webshops konkurrieren müssen. Im Online-Handel selbst müssen Händler oftmals in erster Linie ein Vertrauen aufbauen, um eine entsprechende Kundenbindung zu unterstützen. Hier hat der Offline-Handel durch die persönliche Ansprache einen Vorteil. Daher zeichnet sich immer mehr ab, dass der Omni-Channel-Handel zukünftig an Bedeutung gewinnt. Während immer mehr stationäre Händler einen Webshop anbieten, eröffnen immer mehr Online-Händler ein physisches Geschäft, um einen direkten Kundenkontakt zu ermöglichen.

Neben der Produkttransparenz fordern Kunden den Zugriff auf zusätzliche Informatio-nen, wie Testberichte oder Rückmeldungen aus dem eigenen sozialen Netzwerk. Hierzu müssen die entsprechenden Infrastrukturen im Geschäft geschaffen werden, um diese Käu-fergruppe nicht zu verlieren. Des Weiteren werden persönliche Ansprachen mit personali-sierten Dienstleistungen gefordert. Mittels personalisierter Assistenzfunktionalitäten kann ein Mehrwert geschaffen werden, der zu mehr Spaß während des Einkaufens, einer höheren Kundenzufriedenheit und damit zu einer stärkeren Kundenbindung führen kann. Insbeson-dere müssen die Kundenprozesse vereinfacht und in Richtung des Omni-Channels harmo-nisiert werden. Während viele Händler eine Digitalisierung aus Kostengründen eher ableh-nen, können erste zielgerichtete Instrumentierungen bereits einen gewinnbringenden Vor-teil bringen, der in einer weiteren Entwicklungsstufe ausgebaut werden kann. Prototypische Umsetzungen und Evaluationen von Assistenzfunktionalitäten im IRL zeigen, dass eine Digitalisierung einen positiven Einfluss sowohl auf die Märkte als auch die Kunden haben kann. Grundvoraussetzung für solche Systeme ist eine entsprechende Datenbasis, deren Erfassung, Wartung und Erweiterung weiter vorangetrieben werden muss.

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156 Gerrit Kahl • Antonio Krüger156

AutorenDr. Gerrit Kahl – Nach seinem Informatikstudium an der Universität des Saarlandes ist Dr. Gerrit Kahl seit November 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen For-schungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI GmbH) und befasst sich vorwiegend mit Themen rund um den Handel der Zukunft. Er war maßgeblich an der Konzeption und dem Aufbau des Innovative Retail Laboratory beteiligt, welches vom DFKI in Kooperation mit dem Einzelhändler Globus betrieben wird. Als technischer Leiter war er für die System- und Kommunikationsinfrastruktur des Labors zuständig. Seit Mai 2014 hat er die Aufgaben der Laborleitung übernommen und ist insbesondere für das Innovationspartnerschaftspro-gramm zuständig, welches im Juli 2015 etabliert wurde.

Prof. Dr. Antonio Krüger ist wissenschaftlicher Direktor des Innovative Retail Laborato-ry (IRL) des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz GmbH (DFKI) in Saarbrücken. Das IRL wurde 2007 vom DFKI gemeinsam mit der Globus Warenhaus Holding gegründet und hat sich seitdem zu einem der führenden IT-Forschungsinstitute entwickelt, in dem wichtige Zukunftsthemen des Handels untersucht und voraus gedacht werden. Gleichzeitig ist Professor Krüger seit 2009 ordentlicher Professor für Informatik an der Universität des Saarlandes, wo er das Fach „Künstliche Intelligenz im Handel“ vertritt. Davor war er Professor an der Universität Münster und geschäftsführender Direk-tor des Instituts für Geoinformatik (seit 2004). Er ist Mitbegründer der Saarbrücker Tech-nologie-Firma Eyeled GmbH, welche sich auf die Entwicklung mobiler und ubiquitärer Informationssysteme spezialisiert hat.

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157

Die technologische Entwicklung der Digitalisierung im Handel

Dr. Stefan SpangDirector, McKinsey & Company, Inc., Düsseldorf, [email protected], CC an: [email protected]

1.1 Einleitung

Die Digitalisierung schreitet auch im Handel unaufhaltsam voran. Seit jeher hat der Handel auf eine intelligente Nutzung von Technologie gesetzt – die Margen des Geschäfts erfor-dern ein besonders klares Verständnis des Geschäftsnutzens, bevor weitreichende Investi-tionen getätigt werden – und umgekehrt wird gezielt investiert, sobald sich dadurch klare Vorteile in Wettbewerbs- und Kostenposition ergeben. In derselben Weise erfolgt derzeit die Digitalisierung der Geschäftssysteme des Handels. Natürlich besteht im Vergleich zu vorhergegangenen Technologisierungsschritten eine besondere Herausforderung: Die Ge-schwindigkeit, mit der etablierte ebenso wie neue Wettbewerber bestehende Geschäftsmo-delle angreifen und erfolgreich in Frage stellen, ist um ein Vielfaches höher als in der Vergangenheit.

Neben den schrittweisen Verbesserungen in einzelnen Teilen des Geschäftssystems wurde im Handel auch früh ein weiterer, ganz entscheidender Werthebel entdeckt: Die Integration über die gesamte Wertschöpfungskette, die zu wesentlichen Fortschritten in den Kosten von Logistik, Lagerhaltung und Einkauf geführt hat, und über eine schnellere Lie-ferfähigkeit und Warenverfügbarkeit auch ganz entscheidend zu mehr Absatz beigetragen hat. Die dafür notwendigen Investitionen konnten natürlich von großen Unternehmen bes-ser geschultert werden, so dass sich dort tendenziell eine bessere Gesamtintegration findet. In der anstehenden Welle der Digitalisierung bietet dieser höhere Integrationsgrad eine neue Chance für diese Unternehmen: Im Idealfall können sie auf einer weit gehend integ-rierten Datenbasis aufsetzen, die es erlaubt, Geschäftsprozesse aus Kundensicht neu zu durchdenken und eine neue Anwendungslogik schnell zu implementieren, ohne die dafür erforderliche Dateninfrastruktur erst schaffen zu müssen – von den konzeptionellen Anfor-derungen einer unternehmensweiten Datenintegrität ganz zu schweigen. Dies schafft dann die Voraussetzung für die zusätzliche Berücksichtigung externer Daten, die weitere Rück-schlüsse auf Kundenpräferenzen und -verhalten erlauben.

R. Gläß, B. Leukert (Hrsg.), Handel 4.0, DOI 10.1007/978-3-662-53332-1_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

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158 Stefan Spang158

Als Ergebnis dieser Bemühungen steht ein Geschäftsmodell in Aussicht, das auf deutlich verbessertem Kundennutzen basiert und diesen zu sehr wettbewerbsfähigen Kosten zu liefern vermag. Neben der verbesserten Verfügbarkeit eines breiten Warensortiments liegt dabei ein Schwerpunkt des zukünftigen Kundennutzens in einer weiteren Automatisierung der Kundeninteraktion. In der Tat ist die Schnittstelle zum Kunden der zentrale Ausgangs-punkt der meisten Digitalisierungsstrategien und ein wesentliches Merkmal der Digitali-sierung im Vergleich zu bisherigen Technologisierungsschritten ist das konsequente Neu-denken von Geschäftsprozessen aus Kundensicht. Am Fallbeispiel des Lebensmitteleinzel-handels soll dabei eine mögliche Entwicklung skizziert werden, die insbesondere auch die erheblichen Potenziale solcher Verbesserungen aufzeigt.

Allerdings ist zur Erschließung dieser Potenziale eine deutliche Steigerung der Leis-tungsfähigkeit der Informationstechnologie erforderlich – und das von der Basisinfrastruk-tur bis hin zu den IT-internen Abläufen und der Steuerung von Investition im Schulter-schluss von Fachbereich und IT. Im Anschluss an das Fallbeispiel sollen daher die notwen-digen technologischen Voraussetzungen für die weitere Digitalisierung skizziert werden, zusammen mit den kritischen Faktoren für eine erfolgreiche Umsetzung.

1.2 Fallstudie zur Wertschöpfung in der Kundeninteraktion

Im Lebensmitteleinzelhandel wurden in den letzten Jahren vielfältige Visionen zur Gestal-tung des zukünftigen Einkaufserlebnisses entwickelt. Die meisten von ihnen sind an der technischen Machbarkeit und der Höhe der entsprechenden Investitionen gescheitert. Durch die weitere rasante Entwicklung der technologischen Leistungsfähigkeit ist es mitt-lerweile jedoch möglich, einige dieser Visionen zu realisieren. Im Folgenden sollen von einer weit verbreiteten Ausgangslage her Szenarien entwickelt und bewertet werden, die sowohl einen kurzfristig implementierbaren Zwischenstand als auch ein mittelfristiges Zielszenario beschreiben.

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159Die technologische Entwicklung der Digitalisierung im Handel 159

1.2.1 Ausgangslage im Lebensmitteleinzelhandel

Die Ausgangslage in einem typischen kleineren Supermarkt ist heute durch wenig direkte Kundeninteraktion und wenig Hilfestellung beim Einkauf gekennzeichnet (Abb. 1). Es gibt keine Begrüßung; außerhalb spezieller Servicefunktionen stehen Mitarbeiter für Fragen zur Verfügung, die sie neben ihren anderen Tätigkeiten beantworten. Die Produktpräsentation ist statisch, Informationen für den Käufer sind nur schwer erkenntlich. Substanzieller Ar-beitsaufwand entfällt auf die Betreuung der Kassen und auf Verwaltungsfunktionen. Wa-renannahme, Lagerführung und Regalauffüllung machen den Hauptteil des Aufwands aus. Kundeninteraktion und das Betreiben des Markts laufen weitgehend nebeneinander her.

Abb. 1 Ist-Situation Quelle: McKinsey

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160 Stefan Spang160

1.2.2 Zwischenstand der Automatisierung

In einem Zwischenschritt lässt sich auf Basis verfügbarer Technologien die Kundeninter-aktion drastisch verbessern (Abb. 2). Beginnend mit einer persönlichen Begrüßung wird während des ganzen Einkaufsprozesses der Kunde mit zusätzlichen Informationen ver-sorgt, die in direktem Bezug zu seinem persönlichen Profil stehen. Personalisierte Sonder-angebote zielen auf eine verbesserte Kundenausschöpfung. Automatisierte Einkaufswagen bieten eine Navigationshilfe durch den Markt, Produktinformationen werden angereichert dargestellt und um Daten aus dem Netz und Social Media ergänzt. Ebenso können Kunden unmittelbar Feedback zurückspielen. Die Preisauszeichnung erfolgt digital, die Regalbe-füllung ist automatisiert. Automatisiert sind auch Nebentätigkeiten wie die Marktreinigung.

Ein solcher Zwischenstand bringt sicher einen deutlichen Fortschritt in der Gestaltung des Einkaufserlebnisses. Im Grunde handelt es sich jedoch lediglich um eine automatisier-te Variante des althergebrachten Einkaufsprozesses.

Abb. 2 Zwischenstand der Automatisierung Quelle: McKinsey

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161Die technologische Entwicklung der Digitalisierung im Handel 161

1.2.3 Zukunftsbild der Automatisierung

Durch ein Neudenken des Einkaufsprozesses lassen sich jedoch noch wesentlich weiter reichende Verbesserungen erzielen (Abb. 3). Die Waren werden hier weitgehend digital präsentiert, ergänzt um vielfältige Zusatzinformationen. Parallel dazu läuft eine Logistik im Hintergrund, die für den Filialkauf die ausgewählten Waren konfektioniert und dem Kunden an einer Abholstation zugänglich macht. Abrechnung und Bezahlung erfolgen fortlaufend beim Checkout. In einem solchen Modell ist in erster Linie nur noch ca. ein Viertel der Verkaufsfläche erforderlich. Durch die weit reichende Automatisierung der Logistik sind auch wesentlich weniger Mitarbeiter nötig und die verbleibenden können sich intensiver um die direkte Kundeninteraktion kümmern. Für den Kunden verbindet sich die Bequemlichkeit und der Informationsreichtum des Online-Shopping mit der unmittelbaren Verfügbarkeit des stationären Handels.

Abb. 3 Zukunftsbild der Automatisierung Quelle: McKinsey

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162 Stefan Spang162

1.2.4 Auswirkungen der Automatisierung

Die vorgesehenen Verbesserungen haben Auswirkungen auf jeder Ebene – von der einzel-nen Aufgabe bis hin zur Gesamtheit der Kunden.

Auf der Ebene der einzelnen Aufgabe erfolgt die vollständige Automatisierung von Kasse, Regalbefüllung und Reinigung, was allein schon eine Einsparung von 65 % der entsprechenden Arbeitsstunden bedeutet. Die frei gewordene Arbeitszeit kann dann für Aktivitäten mit einem höheren Wertbeitrag genutzt werden, z. B. für direkte Kundenkon-takte.

Auf der Ebene der Prozesse ergibt sich ein um 60 bis 65 % geringerer Personalbedarf für die gesamte Filiale. Damit ergibt sich auch eine geringere Personalschwankung und damit geringere Abhängigkeiten von Teilzeitkräften in Spitzenzeiten. Durch gezielte Nut-zung von Big Data, also Analysen aller zum aktuellen Zeitpunkt verfügbarer Kundeninfor-mationen, lassen sich individuelle Produktempfehlungen und gezielte Aktionen gestalten, die auf einen deutlichen Mehrabsatz abzielen. Und schließlich ergeben sich erhebliche Potenziale aus einer effektiveren Preisgestaltung.

Für das gesamte Unternehmen ergibt sich über ein Portfolio von Märkten eine zwei- bis dreimal höhere Flächenproduktivität und entsprechend um 60 bis 80 % geringere Investi-tionen auf Grund der kleineren Flächen. Bestände lassen sich weiter reduzieren und die Unterscheidung zwischen Filial- und Online-Kauf schwindet weiter.

Für die Gesamtheit der Kunden ergibt sich dadurch zunächst ein einfacheres und beque-meres Kundenerlebnis, mit wesentlich verkürztem Zeitbedarf. Gleichzeitig wird den Kun-den ein besseres Sortiment zu besseren Preisen geboten, mit der jederzeit verfügbaren Möglichkeit, weitere Komfortelemente hinzuzuwählen, wie z. B. die Lieferung nach Hau-se. Und nicht zuletzt eröffnet der geringere Flächenbedarf die Möglichkeit, die Gestaltung des Filialnetzes zu überarbeiten und die Flächenpräsenz zu erhöhen.

Das Fallbeispiel verdeutlicht das beträchtliche Potenzial einer weiteren Digitalisierung des Handels. Allerdings bestehen auch vielfältige Herausforderungen auf dem Weg zu ei-nem solchen Zielzustand. Zum einen sind substanzielle Investitionen erforderlich – und das in deutlich kürzerer Zeit als gewohnt, getrieben durch eine besonders hohe Wettbewerbs-dynamik. Zudem haben sich das Einkaufsverhalten und die Serviceerwartungen der Kun-den drastisch verändert. Dies alles geschieht bei weiter steigendem Margendruck, der auch von der IT einen erkennbaren Beitrag zur Optimierung verlangt. Und die Welle der Inno-vationen trifft oftmals auf eine IT-Funktion, die aus einer Welt schwerfälliger Backoffice-systeme kommt und nicht auf schnelle, iterative Innovation ausgerichtet ist.

Damit ergeben sich drei Hauptschwierigkeiten, die auf dem Weg zu einer erfolgreichen Digitalisierung zu bewältigen sind: Zuvorderst müssen Zeit und Kosten für die Bereitstel-lung neuer Lösungen reduziert werden. Darüber hinaus müssen die neuen Erwartungen an die Servicelevel in der digitalen Ära erfüllt werden. Und schließlich gilt es, die Betriebs-kosten bestehender Anwendungen weiter zu minimieren. Die Summe dieser Anforderun-gen erfordert ein neues Modell, eine „Next Generation IT“.

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163Die technologische Entwicklung der Digitalisierung im Handel 163

1.3 Next Generation IT

Viele IT-Organisationen sind heute nur unzureichend auf die zukünftigen Anforderungen ausgerichtet:

• Qualitätsprobleme bei Projekten und Systemen sind nicht selten.• Die Abhängigkeit von Dienstleistern ist groß.• Die technische Infrastruktur ist heterogen.• Sicherheitsprobleme sind augenfällig.• Die Transparenz der Ausgaben in der IT ist mangelhaft.

Zur erfolgreichen Bewältigung der Digitalisierung ist ein völlig anderes Leistungsprofil erforderlich:

• IT-Investitionen dienen gezielt der Wettbewerbsdifferenzierung und der Leistungsfä-higkeit der Prozesse.

• Innovationen werden effektiv eingesetzt.• Kritische Anwendungen sind leicht verfügbar.• Die Architektur ist hoch flexibel und erlaubt eine schnelle Anwendungsentwicklung

(RAD).• Services werden kontinuierlich verbessert.• Die IT-Organisation wird nach Lean-Management-Prinzipien geführt.• Management und Verrechnung von Kosten und Ressourcen erfolgt serviceorientiert.

Um diesem Profil zu genügen, muss eine Next Generation IT über sechs wesentliche Ker-nelemente verfügen (Abb. 4): Die Basis bildet eine kundenorientierte und flexible Anwen-dungsarchitektur. Diese Architektur muss in der Lage sein, ein Bereitstellungsmodell mit zwei grundlegend verschiedenen Geschwindigkeiten zu unterstützen (die so genannte Two Speed IT). Für klassische Verwaltungsanwendungen im Backoffice mögen die altherge-brachten Verfahren des Waterfall Development noch akzeptabel sein, aber für die neuen Funktionalitäten an der Kundenschnittstelle ist ein wesentlich agileres Vorgehen erforder-lich, das auch die üblichen Einschränkungen von Releasezyklen überwinden kann. Dem-entsprechend müssen neue Prozesse und Verfahrensmodelle in der Anwendungsentwick-lung eingeführt werden, die die Prinzipien von Lean Management und Agile Development gleichzeitig erfüllen. Ebenso muss die Infrastruktur in ein bedarfsorientiertes Modell über-führt werden, das auch eine weit gehend automatisierte Bereitstellung ermöglicht. In die-sem Kontext wird auch die Kenntnis neuer Technologien immer wichtiger, die nicht mehr vollständig allein bereitgestellt, sondern über vielfältige Partnerschaften in den Prozess eingebracht werden. Die betriebswirtschaftliche Basis für die Next Generation IT wird durch einen konsequenten Fokus auf kontinuierliche Kostenoptimierung geschaffen, für die auch alle Möglichkeiten einer dynamischen Finanzierung der erforderlichen Investiti-onen genutzt werden müssen.

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164 Stefan Spang164

Insgesamt lassen sich durch eine solche Next Generation IT nicht nur Zeit und Kosten für die Bereitstellung neuer Lösungen reduzieren, sondern auch die neuen, deutlich höheren Servicelevels der digitalen Ära erfüllen sowie die Betriebskosten bestehender Anwendun-gen minimieren.

Konkret ergeben sich Verbesserungen in allen relevanten Dimensionen der IT-Leis-tungsfähigkeit:

• Wertbeitrag durch die IT: Lag in der Vergangenheit der Fokus vorrangig auf Backofficeanwendungen, so steht nun die im Wettbewerb differenzierende Funktiona-lität im Vordergrund. Dementsprechend steigt auch der Anteil der IT-Ausgaben für geschäftsrelevante Innovationen von unter 5 % auf 10 bis 25 %.

• Agilität: Üblicherweise wurden in großen Systembetrieben bislang ein bis drei Releases pro Jahr eingeführt. Zukünftig lässt sich diese Zahl auf neun bis zwölf Releases im Jahr steigern, mit der gleichzeitigen Möglichkeit, abgegrenzte Funktiona-lität fortlaufend einzuführen. In der Produktionsumgebung lässt sich die Zeit von Code Complete bis zur Produktion auf 1/5 bis 1/10 reduzieren.

• Qualität: Verfügbarkeit, Sicherheit und Skalierbarkeit für kritische Anwendungen werden drastisch verbessert. Die Fehlerrate sinkt auf 20 bis 45 % des Ausgangszu-stands.

• Effizienz: Selbst in gut geführten Organisationen wird zwischen Run und Change selten ein besseres Verhältnis als 70:30 erzielt. Mit einer konsequent umgesetzten Next Generation IT sollte sich dieses Verhältnis in Richtung von 50:50 entwickeln.

Abb. 4 Kernelemente der Next Generation IT Quelle: McKinsey

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165Die technologische Entwicklung der Digitalisierung im Handel 165

Ebenso sollten die IT-Ausgaben insgesamt um 20 bis 40 % gegenüber dem Ausgangs-zustand sinken.

Angesichts solcher möglicher Verbesserungen erscheint die Zielsetzung einer umfassenden Transformation in Richtung einer Next Generation IT lohnenswert. Im Folgenden sollen dazu die einzelnen Elemente der Next Generation IT vertieft betrachtet werden.

1.3.1 Kundenorientierte und hoch flexible Architektur

Eine kundenorientierte Architektur im Sinne der Next Generation IT ist durch vier Haupt-merkmale gekennzeichnet, die die klassische Kern-IT mit Anwendungen und spezieller Infrastruktur ergänzen und erweitern (Abb. 5).

Abb. 5 Kernelemente der Next Generation IT Quelle: McKinsey

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166 Stefan Spang166

• Kanäle: In der Next Generation IT sind alle wesentlichen Kanäle gleichberechtigt integriert. Kunden können nahtlos innerhalb eines Geschäftsvorfalls zwischen den Kanälen wechseln, um den Anforderungen des hybriden Einkaufsverhaltens vollum-fänglich Rechnung zu tragen.

• Digitale Interaktionsservices: Auch wenn die Summe der Kanäle für alle Kunden-segmente übergangslos zur Verfügung steht, ist dennoch ein differenziertes Leistungs- und Serviceangebot für die wesentlichen Kundensegmente (Dienstleister, Händler, Endkunden) erforderlich. Um der zukünftig zu erwartenden Dynamik dieses Leis-tungsprofils gerecht zu werden, wird diese differenzierte Funktionalität nicht statisch in den Kernanwendungen implementiert, sondern über eine eigene Schicht an Interaktionsservices kanalübergreifend zur Verfügung gestellt.

• Digitale Supportservices: Ebenso wie die Interaktionsservices werden bestimmte Unterstützungsleistungen, die über mehrere Kanäle und Segmente hinweg in unter-schiedlicher Ausprägung erforderlich sind, in einer eigenen Schicht der Architektur anwendungsunabhängig bereitgestellt. Dazu gehören etwa eine umfassende Kunden-datenbank, Multimediainhalte für die Darstellung von Produkten und Leistungsange-boten, die Funktionen des Kundenbeziehungsmanagements (CRM) sowie kanalüber-greifende Funktionen zur Sortiments- und Logistiksteuerung.

• Infrastrukturservices: Im Zuge einer weit reichenden Virtualisierung der Infrastruk-tur werden die tatsächlichen Technologiekomponenten über eine Schicht von Infra-strukturservices von den anfordernden Anwendungen entkoppelt.

Eine solche Architektur lässt sich optimal auf das veränderte Kundenverhalten ausrichten. Kanalübergreifendes Shopping hat sich mittlerweile in fast allen Branchen durchgesetzt, zumindest in der simplen Variante Online-Informationsbeschaffung und stationärer Kauf. Immer mehr kommen mobile Plattformen zum Zuge (digital wird zusehends zu „mobile first“) und Social Media sind unmittelbar in den Prozess der Kaufentscheidung eingebun-den. Insgesamt soll der Einkaufsprozess bequemer, schneller und flexibler werden, dabei personalisiert und damit relevant sowie erlebnisorientiert. Die Sicherheit persönlicher Da-ten und Transaktionen ist eine Nebenbedingung, die immer mehr an Gewicht gewinnt. Eine kundenorientierte Architektur erfüllt die sieben Kernvoraussetzungen für ein solches Ein-kaufserlebnis:

• Über alle Kanäle hinweg wird ein einheitliches Bild des Unternehmens für den Kunden geschaffen.

• Services zum Markenerlebnis, die die Kaufentscheidung unterstützen, sind überall bequem zugänglich.

• Personalisierung und Empfehlungen in Echtzeit können auf Basis gebündelter, umfassender Kenntnisse über die Kunden geleistet werden.

• Der Produktkatalog ist komplett digitalisiert.• Bestandsübersichten können kanalübergreifend in Echtzeit erzeugt, Bestellungen und

Retouren darüber flexibel gesteuert werden.

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167Die technologische Entwicklung der Digitalisierung im Handel 167

• Ein wechselseitiger Dialog mit den Kunden hilft dabei, Produkte und die Marke zu bewerben und Feedback sowie Erwartungen abzufragen.

• Leicht verfügbare, sichere Services bieten zu jedem Zeitpunkt ein starkes Markener-lebnis.

Aus einem nach diesen Grundsätzen gesteuerten Technologieeinsatz ergeben sich auch neue Geschäftspotenziale. Über ein „endloses Regal“ können auch nicht bevorratete Pro-dukte verkauft werden, Social Media lassen sich für virales Marketing nutzen, Kundenkon-takte lassen sich kostengünstig vervielfachen und Kundenfeedback kann direkt in die Pro-duktgestaltung einfließen.

1.3.2 Two Speed IT

In einer digitalisierten Welt entscheiden Umsetzungsgeschwindigkeit und Reaktionsfähig-keit über den Erfolg am Markt. Von entscheidender Bedeutung ist es daher, die Beschrän-kungen traditioneller Systementwicklungs- und -betreuungsprozesse zu überwinden. Al-lerdings sind die Anforderungen nicht in allen Bereichen des Unternehmens gleich hoch. Für die Kundenschnittstelle und Auftragsabwicklung gelten andere Zielvorgaben als für die Verwaltungs- und Buchhaltungssysteme. Eine wertoptimale Steuerung differenziert nach den Anforderungen der jeweiligen Bereiche und hält unterschiedliche Entwicklungs-ansätze bereit, die diesen Anforderungen Rechnung tragen (Abb. 6). An der Kundenschnitt-stelle geht es um die schnelle Bereitstellung hochwertiger Funktionalitäten sowie die kon-tinuierliche Verbesserung des Angebots als Reaktion auf Kundenbedürfnisse und Wettbe-werberverhalten. An dieser Stelle wirkt IT differenzierend zum Wettbewerb und für diese 10 bis 20 % der Gesamtlandschaft muss eine High Speed IT bereitgestellt werden, die diesen Anforderungen gerecht wird. Für die verbleibenden 80 %+ der Systemlandschaft geht es in erster Linie um einen effizienten und zuverlässigen Betrieb und um eine drasti-sche Kostenminimierung bei Standardanwendungen, die durch eine nach herkömmlicher Geschwindigkeit liefernde IT bewältigt werden können. Natürlich bewirkt auch in diesem Bereich der technologische Fortschritt eine stetige Verkürzung von Erstellungszeiten und Releasezyklen, aber dennoch auf einem fundamental anderen Niveau als an der Kunden-schnittstelle, wo idealerweise innerhalb von Tagen reagiert werden kann.

Dabei geht es hier unter Two Speed IT nicht zuvorderst um die technischen Verfahren. Vielmehr handelt es sich hier auch um eine organisatorische Abgrenzung, die sowohl die erforderlichen Kapazitäten separat bereitstellt als auch einen grundlegend anderen Satz von Entscheidungs- und Steuerungsgrößen verwendet.

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168 Stefan Spang168

1.3.3 Agile Development

Der entscheidende Vorgehenshebel für die Implementierung einer Two Speed IT sind Agile-Entwicklungsansätze (Abb. 7). Wo nach einem klassischen Wasserfallansatz ein bis drei Jahre für die Bereitstellung wesentlicher Funktionalitätsblöcke benötigt wurden, sollen mit Hilfe von Agile Development produktionsbereite Funktionalitäten schon nach wenigen Wochen übergeben werden können.

Ein wesentlicher Aspekt eines agilen Entwicklungsansatzes umfasst die Einrichtung so genannter DevOps-Teams zur Minimierung der Time to Market. Dabei handelt es sich um funktionsübergreifende Teams über Entwicklung und Produktion hinweg, die gemeinsam kontinuierlich mit Hilfe automatisierter Werkzeuge für Entwicklung, Test und Implemen-tierung kleine Releases bereitstellen. In der Praxis von Unternehmen wie Google, Amazon, Facebook und LinkedIn haben sich dabei als wesentliche Vorteile neben dem höheren Entwicklungstempo und damit kürzerer Time to Market auch stabilere Umgebungen und qualitativ bessere Releases ebenso herausgestellt wie ein verbesserter Automatisierungs-grad und eine höhere Zuverlässigkeit. Quantitativ haben sich über eine Reihe von Unter-nehmen hinweg Verbesserungen in der Anwendungsentwicklung und -wartung von 22 bis 35 % bei der Produktivität, 20 bis 45 % bei der Qualität (gemessen in Events pro Server) und 10 bis 25 % in der Zykluszeit (durchschnittliche Problemlösungszeit) ergeben. Für die

Abb. 6 Two Speed IT für hohe Effizienz und Agilität Quelle: McKinsey

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169Die technologische Entwicklung der Digitalisierung im Handel 169

IT-Infrastruktur und die Implementierung von Standardsoftware zeigen sich vergleichbare Größenordnungen (Abb. 8).

Allerdings erfordert eine solche Verfahrenswelt eine hohe Leistungsfähigkeit der zu Grunde liegenden Datenplattform sowie der anwendungsunabhängigen Steuerung der Sys-temlandschaft, z. B. über einen Enterprise Bus. Auf diese notwendigen Voraussetzungen der Digitalisierung wird an anderer Stelle nochmals eingegangen.

1.3.4 Automatisierte Infrastruktur

Mit der erhöhten Leistungsfähigkeit der Entwicklungsansätze muss auch die Bereitstellung der Infrastruktur Schritt halten. Hierzu ist es unerlässlich, dass die Infrastruktur weitgehend automatisiert bereitgestellt wird und die Entwicklung in vorgegebenem Ausmaß die Bereit-stellung direkt beeinflussen kann (Abb. 9). Entwickler müssen in der Lage sein, aus einer kleinen Anzahl von Optionen von Plattformen auszuwählen, die dann dynamisch bereitge-stellt werden. Diese Umgebungen können von den Entwicklern online konfiguriert werden, um nicht nur optimale Servicelevel anbieten, sondern auch die beste ökonomische Ent-scheidung für die Plattformbereitstellung treffen zu können.

Abb. 7 Agile Development Quelle: McKinsey

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170 Stefan Spang170

Erst das stringente Zusammenspiel der vier bislang beschriebenen Komponenten einer Next Generation IT verspricht Aussicht auf Erschließung der beträchtlichen Potenziale. Damit stellt sich für die meisten Unternehmen die Herausforderung, diese Summe an Neu-erungen mit ihren momentan vorhandenen Fähigkeiten in die bestehende Landschaft ein-zufügen.

1.3.5 Technologien und Partnerschaften

Zur erfolgreichen Umsetzung einer Next Generation IT müssen nicht nur neue Verfahrens-weisen eingeführt werden, sondern es sind auch in der Breite neue Technologien erforder-lich. Von der Datenhaltung bis zur Kundenschnittstelle bieten sich in immer schnellerer Folge neue Werkzeuge an, die jeweils einen wahren Leistungssprung gegenüber etablierten Technologien versprechen. Allerdings lässt sich die Flut an Innovationen nur beherrschen, wenn die entsprechenden Mitarbeiterfähigkeiten in ausreichendem Maß vorhanden sind. Realistisch ist das nur über ein breites Netz von Partnerschaften mit Technologielieferanten und spezialisierten Dienstleistern zu bewerkstelligen. Das Management eines solchen Port-

Abb. 8 Verbesserungen durch Agile Development Quelle: McKinsey (anonymisierte Klientendaten)

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171Die technologische Entwicklung der Digitalisierung im Handel 171

folios von Partnerschaften wird damit zu einer notwendigen Kernkompetenz für eine er-folgreiche Digitalisierung.

1.3.6 Kostenoptimierung

Wie schon bei den einzelnen Elementen angesprochen, bietet die Summe der Optimie-rungshebel ein ganz erhebliches Einsparpotenzial (Abb. 10). Die drei Hauptthemen Be-darfsrationalisierung, Optimierung der Bereitstellung sowie Vereinfachung der IT-Land-schaft sorgen mit Einsparungen von 20 bis 40 % der gesamten IT-Ausgaben dafür, dass die Investition in eine Next Generation IT sich schon allein aus einer Kostenperspektive lohnt – eine hervorragende Ausgangsbasis, um die noch weit darüber hinaus reichenden Vorteile auf der Absatz- und Wareneinstandsseite zu erschließen.

Dabei sind die Potenziale ähnlich über ADM und Infrastruktur verteilt. Hinsichtlich des erforderlichen Zeithorizonts für die Umsetzung lässt sich bereits ein Drittel schon innerhalb des ersten Jahres nach Umsetzung erzielen, was auch die Finanzierung der erforderlichen Anfangsinvestitionen erleichtert. Die kompletten Potenziale sollten nach zwei bis vier Jahren realisiert sein.

Abb. 9 Automatisierte Infrastruktur Quelle: McKinsey

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172 Stefan Spang172

Gerade auf der Anwendungsseite erfordert diese zügige Potenzialumsetzung auch eine gezielte Steuerung des Innovationsportfolios mit einem klaren Schwerpunkt auf schnellem Experimentieren mit minimalen Investitionen. Dazu sollten Mittel außerhalb des üblichen Planungs- und Budgetierungsprozesses bereitgestellt werden, die dann auf der Basis regel-mäßiger intensiver Bewertungen von den Top-Führungskräften freigegeben werden.

1.4 Voraussetzungen für die Automatisierung

Der beschriebene Pfad zur erfolgreichen Digitalisierung im Handel erscheint klar. Dennoch ist für eine erfolgreiche Umsetzung eine ganze Reihe von Voraussetzungen kritisch. Diese Voraussetzungen beziehen sich nicht nur auf die erforderlichen Technologieinvestitionen und die dafür erforderlichen Fähigkeiten und Kapazitäten, sondern auch auf kulturelle und soziale Hürden, sowohl bei den Kunden als auch im Unternehmen.

1.4.1 Technologieinvestitionen

Die technologische Schlüsselvoraussetzung für die Digitalisierung ist die effiziente Integ-ration eines breiten Spektrums von Unternehmens- und Kundendaten in ein Datenmanage-ment-Ökosystem, um den zentralen Zugang, die einheitliche Struktur, die Sicherheit und

Abb. 10 Gesamtpotenzial über alle Optimierungshebel Quelle: McKinsey

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den Datenschutz zu gewährleisten. Dabei soll Ökosystem hier als die Kombination von Technologieplattform und dazugehöriger Managementprozesse verstanden werden. Erst mit einer system- und datenquellenübergreifenden Integration der gesamten Supply Chain lassen sich die Potenziale auf der Anwendungsseite voll erschließen.

Ein weiteres wesentliches Investitionsfeld ist die Technologie an der Kundenschnittstel-le. Mobile Anwendungen und Zugangssysteme, die sich nahtlos in die Erlebniswelt der Kunden einfügen, können hier die Basis für eine echte Differenzierung im Wettbewerb schaffen.

Auf Grund der Dynamik in der technologischen Entwicklung wird es im Sinne des oben beschriebenen Experimentierens erforderlich sein, Ressourcen für den Test vielfältiger Pilotlösungen in diesen beiden Investitionsfeldern systematisch bereitzustellen.

1.4.2 Unternehmensfähigkeiten

Wie bereits ausgeführt, erfordert die erfolgreiche Digitalisierung neue Fähigkeiten und Kompetenzen im Unternehmen. Das erfolgreiche Innovations- und Implementierungsteam der Digitalisierung bringt Technologieexperten als Multiplikatoren für die Einführung extern verfügbarer Systeme und Technologien mit Entwicklern, die in den neuesten ADM-Methoden erfahren sind, und einem speziellen Anwender-Support zusammen, der auf Ba-sis profunder Technologiekenntnisse dafür sorgt, dass die initialen Investitionen auch an-gemessen umgesetzt werden. Erfahrungsgemäß besteht eines der drastischsten Risiken für das Scheitern eines Digitalisierungsprogramms in einer unzureichenden Ausbildung, An-leitung und Einübung der neuen Verfahren und Prozesse. Auf Grund der tief greifenden Veränderungen in der vertrauten Prozesslandschaft ist das Einführungs- und Change Ma-nagement auf Anwenderseite eine der größten Herausforderungen, die leider allzu oft nicht ausreichend berücksichtigt wird.

Und auch wenn die Potenziale der Digitalisierung für alle Spieler erheblich sind, so erfordern doch die notwendigen Anfangsinvestitionen eine Mindestgröße des Unterneh-mens, die es kleinen oder regionalen Spielern erschweren wird, an der Entwicklung voll zu partizipieren. Hier bietet sich für die führenden Unternehmen eine echte Chance, neue Positionen auszubauen; kleinere Spieler müssen für sich geeignete Nischen- und Angriffs-strategien entwickeln.

1.4.3 Kundenakzeptanz

Die Erwartungen und Bedürfnisse der Kunden sind der systematische Ausgangspunkt aller Anstrengungen zur Digitalisierung. Dabei darf aber nicht verkannt werden, dass die ver-schiedenen Kundensegmente sehr unterschiedlich auf die Digitalisierung reagieren. Und werden die Kundenerwartungen nicht erfüllt, besteht im dynamischen Wettbewerbsumfeld ein großes Risiko der Abwanderung von Kunden. Daher ist bei allen Neueinführungen von

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Prozessen, Zugangswegen und Formaten auch neben der technischen Lauffähigkeit der Erfolg bei den Kunden sehr viel systematischer und intensiver zu beobachten als in der Vergangenheit.

Einen wesentlichen Einfluss auf die Kundenakzeptanz hat dabei sicherlich die Frage der Datensicherheit. Spektakuläre Beispiele von Datendiebstählen in jüngster Vergangen-heit und die hohe mediale Aufmerksamkeit für diese Vorfälle lassen erkennen, dass der Schutz vor Missbrauch von Kundendaten eine ganz besondere Priorität bekommen muss. Und auch hier handelt es sich nach aller Erfahrung nicht nur um ein technisches Problem, sondern in mindestens ebenso großem Ausmaß um eine Frage der gesamten Datenarchi-tektur und der Organisation. Dabei sollten die Unternehmen im eigenen Interesse sicher-stellen, dass sie dieses Thema von Anbeginn mit der gebotenen Aufmerksamkeit behan-deln und damit eine solide Grundlage für die Zusammenarbeit mit den Regulatoren schaffen.

Insgesamt zeichnet sich damit ein sehr viel versprechendes Bild für eine Digitalisierung im Handel ab. Allerdings werden Unternehmen auf diesem Entwicklungspfad mit einer Vielzahl neuer Herausforderungen konfrontiert. Die erfolgreiche Umsetzung wird somit davon abhängen, wie gut ein Unternehmen diese Komplexität angehen und beherrschen kann.

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AutorDr. Stefan Spang ist Director im Düsseldorfer Büro von McKinsey & Company. Seit seinem Start bei McKinsey & Company in 1992 hat er führende Klienten aus verschiedenen Industriebereichen zu den Themen Information Technology Strategy, Organisation und Performance Management betreut und zuletzt 8 Jahre lang die weltweite Einheit für IT-Beratung von McKinsey, das Business Technology Office, geleitet. Darüber hinaus hat er eine Vielzahl von Finanzinstitutionen in Europa beraten (neben Deutschland insbeson-dere in UK, der Schweiz und New York) und ist Mitglied im Führungsteam der europäi-schen Banking Practice von McKinsey & Company. Stefan Spang hat am MBA-Programm (1986/87) der University of Michigan, Ann Arbor, teilgenommen, erlangte ein Diplom in Betriebswirtschaft (1989) und promovierte zum Thema Informationssysteme (1992) an der Universität Saarbrücken.

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Ertragsmanagement im Wandel – Potentiale der In-Memory Technologie

Dr. Matthias Uflacker Chair Representative, Chair of Prof. Dr. Hasso Plattner, Hasso Plattner Institute for Software Systems Engineering, Potsdam, [email protected]

Rainer Schlosser Hasso Plattner Institute for Software Systems Engineering, Potsdam, [email protected]

Prof. Dr. Dr. Christoph MeinelDirektor und Geschäftsführer, Hasso-Plattner-Instituts für Softwaresystemtechnik GmbH (HPI) an der Universität Potsdam, Potsdam, [email protected]

1.1 Einleitung

Der rasante Zuwachs an computergestützten Verkaufsmöglichkeiten und die wachsende Bedeutung sozioökonomischer Kommunikation führen zu einem Wandel im modernen Ertragsmanagement und dem elektronischen Handel. Durch die Digitalisierung des Han-dels können Verkaufsdaten in einem stetig wachsenden Umfang erfasst, gespeichert und ausgewertet werden. Damit ist es möglich, automatisierte Verfahren zur Optimierung von Verkaufsstrategien einzusetzen und Verkaufsprozesse effizienter zu gestalten.

Innerhalb dieser Entwicklung gewinnt die schnelle Handhabung sehr großer Datenmen-gen zunehmend an Bedeutung. Die am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam mitentwickelte In-Memory Technologie macht die schnelle und flexible Auswertung riesiger Kunden- und Abverkaufsdaten möglich. Wir beleuchten die wichtigsten Eigenschaften dieser Technolo-gie und zeigen, wie der Digitale Handel von intelligenteren, flexibleren und leistungsstär-keren Anwendungen profitieren kann.

1.2 Die In-Memory Revolution

Kaum eine technologische Entwicklung der letzten fünf bis zehn Jahre hat die Datenverar-beitung in der softwaregestützten Unternehmenssteuerung so radikal beeinflusst wie die In-Memory Technologie. Mit dieser wird ein Verfahren bezeichnet, bei dem sämtliche anfallende Geschäftsvorfälle (Buchungsbelege, Stammdaten, etc.) vollständig im schnellen

R. Gläß, B. Leukert (Hrsg.), Handel 4.0, DOI 10.1007/978-3-662-53332-1_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

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Hauptspeicher eines Datenbanksystems gehalten und somit direkt verarbeitet und ausge-wertet werden können, ohne dass wie bisher auf einen um ein Vielfaches langsameren Festplattenspeicher zurückgegriffen werden muss. Dank Ausnutzung modernster Mehr-kern-Rechnerarchitekturen und einer speziell ausgerichteten Organisation der Datensätze im Hauptspeicher, können komplexe Datenanalysen um Größenordnungen beschleunigt werden. Was vorher Stunden gedauert hat, geht nun in Sekunden.

Doch was sind die Ursachen und Auswirkungen dieses gewaltigen Leistungssprunges? Datenbanksysteme haben als Herzstück software-basierter Unternehmenssoftware in den vergangenen Jahren meist nur inkrementelle Verbesserungen erfahren und sind nicht durch disruptive Neuerungen in den Vordergrund getreten, wie es bei der In-Memory Technologie und der Diskussion um innovative Anwendungen derzeit zu beobachten ist. Hier kamen verschiedene Entwicklungsströme zusammen, die sich gegenseitig potenzieren: Zum einen hochmoderne Hardwaresysteme, die mit Hauptspeichervolumen von mehreren Terabytes aufwarten, Daten mit hunderten von Recheneinheiten parallel verarbeiten können und heute zu vergleichsweise geringen Anschaffungskosten in der Breite erhältlich sind. Zum anderen wurde bei der Entwicklung der In-Memory Technologie radikal mit traditionellen Verfahren der Datenorganisation gebrochen, die über Jahrzehnte hinweg zur Leistungsop-timierung schreib-intensiver Anwendungen (und aufgrund mangelnder Rechenkapazität) Einzug in die Systeme und Lehrbücher gehalten haben, und zu einer oft nur schwer zu beherrschenden Komplexität in der Unternehmenssoftware führten.

1.2.1 Rechnen auf der feinsten Ebene der Datengranularität

So wurden beispielsweise Geschäftsanwendungen seit den frühesten Anfängen unter der Prämisse entwickelt, dass nur mithilfe kontinuierlich fortgeschriebener Summensätze und redundanter Datenhaltung akzeptable Antwortzeiten für die meisten betriebswirtschaftli-chen Anwendungen zu erreichen seien. Bis heute sorgen turnusmäßige Stapelverarbei-tungsläufe in den meisten Unternehmen dafür, dass die Daten aufgelaufener Geschäftsvor-fälle des Vortages (des Vormonats, etc.) aufbereitet werden und für die notwendigsten Berichte zur Verfügung stehen. Die damit einhergehenden Nachteile werden billigend in Kauf genommen: eine hohe Komplexität der verwendeten Datenmodelle und Programme, eine nur eingeschränkte und vorgegebene Sicht auf die Datenauswertung, und nicht zuletzt eine geringe Aktualität der Berichte, die oftmals nur ein reaktives Gegensteuern im strate-gischen Entscheidungsprozess erlaubt.

Als im Jahr 2006 am Hasso-Plattner-Institut damit begonnen wurde, ein neuartiges Konzept einer Hauptspeicher-Datenbank für Geschäftsanwendungen zu entwickeln, war die Tragweite der zugrundeliegenden Idee noch nicht ersichtlich. Diese war so simpel wie revolutionär: keine Summentabellen, kein Fortschreiben aggregierter Kennzahlen. Alle Berichte, Analysen, und Prognosen werden stattdessen direkt und bei Bedarf auf unterster Granularitätsebene, also den transaktionalen Einzeldatensätzen, neu berechnet.

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Unter Ausnutzung modernster Mehrkern-Rechnerarchitekturen und einer Reorganisati-on der Datensätze in eine komprimierte, für den Hauptspeicher optimierten Darstellungs-form konnte die Neuberechnung einer Kennzahl so sehr beschleunigt werden, dass fortan auf das transaktionale Fortschreiben redundanter Summensätze vollständig verzichtet wer-den kann. Beliebige Summensätze können ‘on the fly’, also jederzeit und bei Bedarf auf der höchsten Detailebene direkt auf den aktuellen Einzelposten blitzschnell neu berechnet werden. Durch intelligente Kompressionsverfahren reduziert sich das Datenvolumen ge-genüber traditionellen Unternehmensdatenbanken um einen Faktor 5 bis 20. Entsprechend schrumpfen die benötigten Hauptspeicherressourcen gegenüber einer herkömmlichen Da-tenbank. Aufgrund der Tatsache, dass Summensätze nun jederzeit neu berechnet werden, sind auch keine Tabellen zum Verwalten vorberechneter Kennzahlen mehr notwendig. Anwendungen und Datenmodelle werden stark vereinfacht, das Datenvolumen schrumpft weiter. Die Auswirkungen dessen sind enorm: Datenanalysen unterliegen nicht mehr den Fesseln antizipierter und durch die Anwendung vordefinierter Auswertungen, sondern sind flexibel und interaktiv durchführbar. Und da Anwendungen keine Summensätze mehr verwalten müssen, gibt es so gut wie keine Updates und Einzellesezugriffe auf die Daten-sätze in der Datenbank mehr. Das bedeutet, dass die ursprünglichen Stärken klassischer zeilenorientierter Datenbanken kaum mehr von Bedeutung sind. Das seit Jahrzehnten qua-si als Grundwahrheit in der Datenbankwelt verbreitete Gedankenkonstrukt, demzufolge die transaktionale Verarbeitung von Geschäftsabläufen schreibintensiv sei und daher eine zei-lenbasierte Datenorganisation erfordere, fällt in sich zusammen.

Für eine Reihe weiterer Eigenschaften, wie Skalierbarkeit, Ausfallsicherheit oder die flexible Anpassung des Datenmodells, soll an dieser Stelle auf die weiterführende Fachli-teratur verwiesen werden; siehe z. B. Plattner (2014).

1.2.2 Eine neue Generation von Anwendungen

Mit der In-Memory Technologie steht also eine neue Generation von hauptspeicherbasier-ten Datenbanken zur Verfügung, die die Art und Weise, wie wir aus großen Datenmengen Mehrwert schaffen können, nachhaltig verändern wird. Wie erwähnt ist der maßgebliche Treiber dafür der enorme Zugewinn an Geschwindigkeit, also die Möglichkeit, relevante Kennzahlen aus einer große Datenmenge in Sekundenschnelle zu ermitteln. In der Kon-sequenz können die meisten der bisher aus Performanzgründen getrennt laufenden Sys-teme für Reporting, Planung, oder Optimierung konsolidiert werden und auf einer ge-meinsamen transaktionalen Datenbasis ohne Redundanzen und Inkonsistenzen arbeiten. Allerdings stellt die bloße Beschleunigung existierender Applikationen und Standardaus-wertungen allein oftmals noch keinen großen Mehrwert für ein Unternehmen dar. Die wohl entscheidenden Vorteile der In-Memory Technologie kommen erst dann vollständig zum Tragen, sobald neuartige Anwendungen und Prozesse an die speziellen Eigenschaf-ten dieser Technologie ausgerichtet werden. So werden In-Memory-basierte Anwendun-gen einen bisher nie erreichten Grad an Interaktivität und Flexibilität bieten. Die Art und

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Weise, wie der Nutzer mit der Datenbasis eines Unternehmens interagiert und welche Fragen er stellen kann, wird nicht mehr durch starre und vordefinierte (oftmals nächtliche) Auswertungsläufe limitiert sein, sondern wird die gewohnten Nutzungsmuster von Goog-le und Co. annehmen. Aufgrund der geringen Antwortzeiten liegen zwischen Frage, Ant-wort und Folgefrage nur Sekunden. Ergebnisse sind stets aktuelle, Veränderungen lassen sich beobachten, nachvollziehen und auf Basis mathematischer Modelle vorhersagen. Eine neue Qualität von intelligenten und prädiktiven Anwendungen steht in den Startlö-chern.

Der verbleibende Teil dieses Kapitels stellt einen Ausblick dar, wie Anwendungen und Prozesse im digitalisierten Handel von der In-Memory Technologie profitieren. Ein beson-deres Augenmerk wird dabei auf das Ertragsmanagement gelegt.

1.3 In-Memory Technologie im Einsatz: Perspektiven für ein intelligentes Ertragsmanagement

Das Ertragsmanagement (Revenue Management) repräsentiert eines der sehr erfolgrei-chen Anwendungsgebiete des Operations Research, welches an der Schnittstelle von In-formatik, angewandter Mathematik und quantitativer Betriebswirtschaft liegt. Das Er-tragsmanagement beinhaltet einen Mix aus Methoden zur Nachfrageprognose, Preisdif-ferenzierung und Kapazitätssteuerung und beschäftigt sich mit der Entwicklung und dem Einsatz entscheidungsunterstützender Modelle, vgl. talluri und van ryzin (2004). Übergeordnetes Ziel ist es, Verkaufsprozesse abzubilden und durch die strategische Wahl verschiedener Marketinginstrumente wie Preis, Werbemaßnahmen oder Bestellmengen gewinnoptimal zu steuern. Grundvoraussetzung für die Erstellung geeigneter Verkaufs-modelle sind Informationen über die Nachfrage bzw. das Käuferverhalten, welches auch saisonale, subjektive und zufällige Aspekte beinhaltet. Ziel dieses Abschnitts ist es auf verschiedene aktuelle Herausforderungen des „Revenue Managements“ einzugehen und neue Lösungsansätze – aufbauend auf den Möglichkeiten einer In-Memory Datenbank – vorzustellen.

1.3.1 Analyse von Abverkaufsdaten

Im Zentrum des modernen Ertragsmanagements steht die Analyse der Kunden und ihres Nachfrageverhaltens. Dabei stehen Unternehmen vor der Herausforderung, große Mengen an Abverkaufsdaten zu konsolidieren und zu verwalten. Gesammelte historische Verkaufs-daten werden mit dem Ziel ausgewertet, Rückschlüsse auf das Entscheidungsverhalten von Kunden zu ziehen und somit verlässliche Nachfrageprognosen zu treffen. Dieser Prozess der Informationsgewinnung wird oft als Data-Mining bezeichnet.

Die gespeicherten Informationen darüber, welche Artikel Kunden wann und wo erwor-ben haben machen detaillierte Analysen von Warenkörben möglich, wobei saisonale, geo-

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grafische, bis hin zu tageszeitliche Aspekte untersucht werden können (vgl. Abb. 1). Den-noch geschieht dies bisher vornehmlich auf Basis von vorbereiteten Aggregaten und ent-lang typischer Dimensionen wie z. B. Produktkategorie oder Region. Eine detailliertere Sicht auf Produkt-, Markt-, oder Warenkorbebene oder ein interaktives Erkunden von Zusammenhängen zwischen diesen Dimensionen ist aufgrund der Voraggregation und der damit verloren gegangenen Information nicht mehr möglich. Besonders im Einzelhandel, wo Milliarden einzelner Produktkäufe erfasst und verarbeitet werden müssen, kommen herkömmliche Analyseverfahren schnell an ihre Grenzen.

Am HPI wurde mit Hilfe der In-Memory Technologie ein Prototyp entwickelt, mit dem Abverkaufsdaten interaktiv analysiert und die Planung und Auswertung von Wer-beaktionen im Einzelhandel unterstützt werden können. Hierbei wurde gezeigt, dass auch auf großen Datenmengen mit mehr als 8 Milliarden Einzelposten eine uneinge-schränkte und interaktive Analyse ohne vorberechnete Aggregate in Sekundenschnelle möglich ist.

Die in den Daten enthaltenen Informationen können so auf vielfältige Weise genutzt werden. Händler können z. B. ihre Angebotspalette maßgeschneidert auf die aktuelle Nach-frage der Kunden anpassen. Grundlage dafür sind Warenkorbanalysen und die Information darüber, welche Produkte derzeit oft zusammen gekauft werden (vgl. Abb. 2). Dabei wer-den üblicherweise Assoziationsregeln wie z. B. der apriori Algorithmus eingesetzt. Derar-tige Analysen sind vor allem für die Erstellung von Produktempfehlungen nützlich, erlau-ben aber auch eine optimierte Auswahl und Anordnung der Waren im Geschäft.

Abb. 1 Visualisierung von Produktumsätzen nach Tageszeit und Wochentagen (in Form einer Heat-Map). Quelle: Hasso-Plattner-Institut

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1.3.2 Erfassung von Käuferverhalten

Ein verbreiteter Ansatz für die Erfassung des Nachfrageverhaltens ist es, die heterogene Menge an Kunden anhand von Ähnlichkeiten im Kaufverhalten in bestimmte Klassen einzuteilen (Kundensegmentierung). Dabei werden vor allem sogenannte Clustering-Al-gorithmen eingesetzt. Zu den mathematischen Standardverfahren in diesem Bereich gehö-ren beispielsweise K-means-Verfahren, K-Nearest-Neighbors, Density Search Methods, Tree-Based Methods, und Support Vector Machines. Auf Basis der Zuordnung eines Kun-den zu einem bestimmten Kundensegment kann dann auf sein Kaufverhalten geschlossen werden.

Weiterführende Analysen zielen auf die Quantifizierung des Entscheidungsverhaltens bestimmter Kundengruppen ab. Dabei geht es um die Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten mit denen sich Kunden für Produkte einer bestimmten Klasse entscheiden (vgl. Customer

Product of Interest: EPIC Cola 1.0L

Ice CubesAverage Basket Value: $34,79

LimesAverage Basket Value: $33,7

BreadAverage Basket Value: $33,24

Apple Juice 35% 12 FL OZAverage Basket Value: $107,24

Black Cola 1 GallonAverage Basket Value: $84,44

Vanilla Cola 34 FL OZAverage Basket Value: $18,82

Salted Chips 5ozAverage Basket Value: $106,27

Abb. 2 Beispiel einer Warenkorbanalyse; Darstellung von Produkten welche oft zusammen mit ei-nem bestimmten Produkt gekauft werden und Angabe der assoziierten durchschnittlichen Warenkorb-werte. Quelle: Hasso-Plattner-Institut

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Choice). Dabei werden u. a. logit oder probit Modelle verwendet, vgl. z. B. aCkay et al. (2010). Durch den induzierten Wettbewerb zwischen ähnlichen Gütern hängt die Kauf-wahrscheinlichkeit einzelner Produkte neben dem „eigenen“ Preis auch von den Preisen verwandter Produkte ab. Um das Käuferverhalten zu erfassen und zu antizipieren, gilt es derartige Substitutionseffekte in der Nachfrage ähnlicher Produkte zu messen (vgl. auch Kreuzpreiselastizitäten). Auf Basis der Quantifizierung der Wechselwirkungen zwischen Produkten ist es dann möglich Marketingmaßnahmen gezielt und effektiv einzusetzen, vgl. Abschnitt 1.3.5.

Aktuell beschäftigen sich Wissenschaftler am Hasso-Plattner-Institut mit der Analyse personenbezogener Abverkaufsdaten im Einzelhandel. Ziel ist es, Kundengruppen auf-grund ihrer Kaufhistorie zu identifizieren und ihr Nachfrageverhalten zu beschreiben. So konnten bereits auf Basis der In-Memory Datenbank SAP HANA Verfahren implementiert werden, die direkt auf den vorliegenden Einzelpostendaten aussagekräftige Kundengrup-pen in kürzester Zeit ermitteln und analysieren. Weitere Auswertungen beschäftigen sich mit der Schätzung von Substitutionseffekten und Preiselastizitäten. Mit Hilfe der in SAP HANA integrierten Funktions-Bibliothek „Predictive Analysis Library“ (PAL) können dabei die oben erwähnten Standardverfahren direkt und ohne großen Programmieraufwand angewendet werden.

1.3.3 Personalisierte Daten und Angebote

Ein weiterer Trend im digitalen Handel ist die Auswertung personalisierter Daten (Kunden-konten im Online-Handel, Treueprogramme im Einzelhandel, etc.). Die Möglichkeit der Zuordnung von individuellen Kunden und Verkaufsdaten erlaubt Nachfrageanalysen (vgl. Abschnitt 1.3.1–1.3.2) auf Kundenebene. Für jeden Kunden können charakteristische Grö-ßen bestimmt werden, die das Profil des Kunden bzw. sein typisches Einkaufsverhalten beschreiben.

Diese Informationen können u. a. genutzt werden um Kunden Produkte vorzuschlagen, welche innerhalb der Kundengruppe (Cluster) mit ähnlichem Kaufverhalten beliebt sind. Um Werbeaktionen gezielt einzusetzen, können ebenso Kunden identifiziert werden, wel-che einer bestimmten Zielgruppe angehören.

Darüber hinaus ist es auch möglich, die Effektivität individualisierter Angebote (z. B. Produktempfehlungen, Rabatte, Bonusprogramme, etc.) zu bestimmen und zu optimieren. Auf Basis der Information darüber, welche Angebote von welchem Kundentyp bereits angenommen wurden, können profilspezifische Annahmewahrscheinlichkeiten für ver-schiedene Angebote geschätzt werden (vgl. logit model, demand learning). Aufgrund der individuellen Charakteristik eines Kunden kann dann z. B. das Angebot mit der höchsten Annahmewahrscheinlichkeit oder dem höchsten erwarteten Verkaufsgewinn vorgeschla-gen werden. Von diesen Möglichkeiten können sowohl der Verkäufer als auch der Kunde profitieren.

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Durch die Analyse personalisierter Verkaufsdaten kann ebenfalls die Kundenloyalität untersucht werden. Dabei wird beobachtet welche Produkte/Marken (z. B. Zahnpasta, Waschmittel, Automarke, etc.) von bestimmten Kunden regelmäßig gekauft werden und wann sie sich für alternative Produkte entscheiden. Für verschiedene Produktgruppen und Kundencluster lassen sich so Wahrscheinlichkeiten dafür schätzen, dass Kunden einem Produkt treu bleiben oder zu einem bestimmten anderen Produkt wechseln. Insbesondere lässt sich dabei auch ermitteln, welche Wirkung beispielsweise Preisänderungen oder Wer-bemaßnahmen auf das Wechselverhalten von Kunden haben.

Mit dem Ziel obigen Fragestellungen nachzugehen, wurden am Hasso-Plattner-Institut Daten aus dem Bereich des Einzelhandels mit mehr als 1 Mrd. personalisierter Einzelpos-ten untersucht. Dank der In-Memory Technologie war es für diesen großen Datensatz möglich, einen Prototyp zu entwickeln, mit dem das Einkaufsverhalten auf Kundenebene effizient explorativ analysiert und visualisiert werden kann. Sowohl die Segmentierung von Kundengruppen mit ähnlichem Kaufverhalten als auch die automatisierte Erstellung von individualisierten Produktvorschlägen ließen sich dabei in kürzester Zeit bewerkstelligen. Darüber hinaus konnten durch die Analyse auf Marktebene auch regionale Nachfrageun-terschiede und -besonderheiten nachgewiesen werden. Des Weiteren konnte für ausgewähl-te Produktgruppen auch das Wechselverhalten von Kunden untersucht werden.

1.3.4 Adaptive Nachfrageprognosen

Die Auswertung von Daten hat zusätzlich auch eine dynamische Komponente. Die Tatsa-che, dass stetig (oft sekündlich) neue Verkaufsdaten anfallen, stellt hohe Anforderungen an das Datenmanagement. Ein schnelles, optimiertes Datenmanagement erlaubt aktuelle Ana-lysen und Forecasts bis hin zu selbstlernenden Strategien (vgl. machine learning). Dabei werden stetig aktuellste Daten verwendet um charakteristische Nachfrageparameter zu schätzen. Durch den Einsatz automatisierter adaptiver Schätzungen lassen sich diese Para-meter regelmäßig aktualisieren.

Liegen nur wenige Verkaufsdaten vor, d. h. ist die Nachfrage noch weitestgehend unbe-kannt (z. B. bei Einführung eines neuen Produkts), stoßen diese Verfahren an ihre Grenzen. In diesem Fall besteht ein möglicher Ansatz darin, verschiedene potentielle Nachfragesze-narien zu unterstellen – etwa „gut“, „mittel“ und „schlecht“ – und auf Basis des beobach-teten Abverkaufs Rückschlüsse auf das real vorliegende Nachfrageszenario zu ziehen. Die korrespondierende Wahrscheinlichkeitsverteilung dafür, welches der unterstellten Nach-frageszenarien tatsächlich vorliegt, lässt sich regelmäßig unter Einbeziehung neuer Ver-kaufsdaten aktualisieren (vgl. Bayesian learning). Auch Änderungen im Nachfrageverhal-ten können so erfasst und berücksichtigt werden. Dabei ist es sinnvoll, anstelle der gesam-ten Verkaufshistorie lediglich eine bestimmte zurückliegende Zeitspanne für Schätzungen zugrunde zu legen (vgl. moving average, rolling window).

Alle adaptiven Prognoseverfahren basieren schließlich auf einem Zyklus in dem sich „beobachten“ und „schätzen“ abwechseln. Dabei spielt im Endeffekt die Aktualität der

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Daten und die Geschwindigkeit der Nachfrageprognosen die entscheidende Rolle. Die In-Memory Datenbank-Technologie ist prädestiniert für derartige Aufgaben. Die dynamische Aggregation relevanter Attribute ist extrem schnell und die Algorithmen können direkt auf den Daten angewandt werden. Dafür stehen auch ausgereifte Softwarepakete zur Verfü-gung (z. B. R-Integration in SAP HANA).

1.3.5 Dynamische Preissetzung und Promotionsplanung

Preis und Werbung stellen die wohl wichtigsten Triebfedern des Handels dar. Durch die Wahl von Preisen und Werbemaßnahmen lassen sich Verkaufsanzahlen und Umsätze ent-scheidend beeinflussen.

Während in vielen Anwendungen Preise über die Zeit konstant gesetzt werden (z. B. Lebensmittel), ist es in einer zunehmenden Anzahl von Branchen üblich, Preise über die Zeit hinweg zu ändern. Gerade im elektronischen Handel findet diese dynamische Preis-festsetzung immer mehr Verbreitung, da die Kosten für Preisänderungen vernachlässigbar klein sind. Klassische Beispiele prominenter Branchen, welche dynamische Preissetzung anwenden, sind vor allem Hotels und Fluggesellschaften. Einen Überblick über die aktu-elle Forschungsliteratur im Bereich dynamischer Preissetzungs- bzw. Werbemodelle findet sich z. B. in Chen und Chen (2015) und huang et al. (2012).

Die „richtige“ Wahl dieser Steuerungsgrößen ist jedoch alles andere als trivial. Hinzu kommt, dass der Verkauf von Produkten i. A. über eine gewisse Zeitspanne erfolgt; es gilt somit Verkaufsprozesse geeignet zu steuern. Darüber hinaus sind Verkäufe typischer Wei-se stochastisch, d. h. Verkaufsergebnisse und Gewinne sind nicht exakt vorhersehbar. Im Allgemeinen ist es das Ziel, Preis- und/oder Werbeentscheidungen so zu treffen, dass die zu erwartenden Gewinne möglichst groß sind. Zudem können aber auch Risikoaspekte (Minimalziele, cashflows, value at risk, Risikoaversion, etc.) bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Dass die Nachfrage je nach Anwendung auch noch von der Zeit (saisonale Effekte, verderbliche Produkte, etc.) oder den Verkaufsanzahlen selbst durch Ansteckungs- oder Sättigungseffekte (word-of-mouth, Bass-Modell, etc.) abhängen kann (vgl. z. B. Helmes et al. (2013)), zeigt die Komplexität von Verkaufsproblemen. I. A. ist es daher praktisch kaum noch möglich, Marketing-Entscheidungen ohne die Unterstützung von Modellen zu treffen. Mit dem Einsatz solcher Modelle können etwa Preise in Abhän-gigkeit davon, wie sich (zufällige) Verkaufsprozesse entwickeln, automatisiert an die ak-tuelle „Verkaufssituation“ angepasst werden. Derartige Verkaufssituationen sind dabei u. a. gekennzeichnet durch die Restverkaufszeit und die Menge der noch zu verkaufenden Arti-kel eines Produktes.

Die Analyse des Kaufverhaltens und das Schätzen von Verkaufswahrscheinlichkeiten bilden den Grundstein für theoretische Modelle (vgl. z. B. sChlosser (2015)). Nur auf Basis der Kenntnis wie sich bestimmte Preise oder Werbemaßnahmen auf die Nachfrage auswirken, ist es möglich geeignete dynamische Optimierungsmodelle aufzustellen, mit deren Hilfe koordinierte Preis- bzw. Werbestrategien berechnet werden können. Ausgangs-

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punkt ist dabei auf Basis von Verkaufsdaten die Wirkung von Preisnachlässen oder spezi-ellen Werbemaßnahmen (z. B. in Form von Prospekten, TV/Radio, Internetwerbung, etc.) zu messen und Zusammenhänge zwischen Marketing-Entscheidungen und Absatzmengen herzustellen.

In einem zweiten Schritt gilt es je nach Anwendungsfall maßgeschneiderte Modelle aufzustellen. Diese bilden vornehmlich die Zusammenhänge von potentiellen Entscheidun-gen und deren Wirkung auf den zu steuernden Verkaufsprozess ab. Zumeist werden dabei sogenannte Markovmodelle in diskreter Zeit verwendet, da die Bestimmung optimaler Handlungsstrategien für diese Modelle mittels Standardverfahren möglich ist (vgl. Wert- oder Politikiteration). Je nach Komplexität der aufgestellten Modelle kann deren Lösung numerisch jedoch sehr aufwendig sein, so dass Rechenleistung zu einem wichtigen Faktor wird (Parallelisierung). Generell ist für die Güte der berechneten Handlungsstrategien je-doch die datenbasierte Quantifizierung des zu erwartenden Nachfrageverhaltens bzw. der Verkaufswahrscheinlichkeiten entscheidend.

Aktuelle Arbeiten am Hasso-Plattner-Institut beschäftigen sich mit der Erstellung ent-scheidungsunterstützender Modelle im Bereich der dynamischen Preissetzung. Zur Kalib-rierung werden POS-Verkaufsdaten (vgl. Abschnitt 1.3.1) verwendet. Da diese Phasen enthalten, in denen bestimmte Produkte zu unterschiedlichen Preisen angeboten wurden, können die Auswirkungen von Preisänderungen auf die Verkaufszahlen gemessen werden. Ebenso lässt sich die Wirkung von produktspezifischen Werbemaßnahmen in den Verkaufs-zahlen beobachten und quantifizieren. Wichtige Kenngrößen wie Preis- oder Werbeelasti-zitäten konnten so geschätzt und für die Kalibrierung dynamischer Preissetzungsmodelle genutzt werden. Ziel ist es, diese Modelle weiter zu verfeinern und die berechneten Strate-gien im praktischen Einsatz zu testen.

1.3.6 Entscheidungen unter Wettbewerb

In den meisten Märkten befinden sich Verkäufer in einer Wettbewerbssituation. Durch den digitalen Handel und die wachsende Zahl von Preisvergleichsportalen im Internet ist es für Kunden leichter geworden Preise miteinander zu vergleichen (z. B. Amazon Marketplace). Die Verkaufsergebnisse hängen damit typischer Weise neben den eigenen Preisen auch von den Preisen bzw. Strategien der Konkurrenten ab. Bei der dynamischen Wahl des Verkaufs-preises sind folglich (neben der Größen wie der eigenen Restverkaufsmenge) auch die aktuellen Angebotspreise der Mitwettbewerber zu berücksichtigen (vgl. Verkauf von Flug-tickets). Sowohl die Realisierung eigener Verkäufe als auch Preisänderungen von Konkur-renten können dazu führen, dass der eigene Verkaufspreis angepasst werden muss/sollte. Je länger die Reaktionszeit auf derartige „Events“ ist, desto schlechter passt i. A. die getrof-fene Entscheidung zur dann aktuellen Situation und wirkt sich negativ auf die Verkaufser-gebnisse aus. Die Reaktionszeit und die Berechnung optimaler (Preis-) Reaktionen spielen daher eine entscheidende Rolle. Die Zeitspanne zwischen dem Auftreten eines Events und der zugehörigen Reaktion setzt sich dabei i. A. wie folgt zusammen:

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• Zeit das Event zu beobachten und zu erfassen (Übertragung, Speicherung)• Zeit die Daten zu analysieren (Regressionen, Klassifizierungen)• Zeit für die Berechnung und Umsetzung von Entscheidungen (Optimierung)

Moderne Revenue Management Systeme ermöglichen extrem schnelle Reaktionszeiten: In digitalen Märkten lassen sich Preise der Konkurrenten direkt beobachten. Ebenso ist die Daten- und Analyselatenz bei modernen Datenbanken gering (dies gilt vor allem für die In-Memory Technologie) und erlaubt auf Events wie Preisänderungen von Konkurrenten umgehend zu reagieren. Die Entscheidungen selbst werden dabei zumeist automatisiert mit Hilfe von parameterabhängigen Optimierungsmodellen getroffen. Dabei werden so ge-nannte Feedback-Strategien vorberechnet und eingesetzt; sie beinhalten optimale Antwor-ten für verschiedene potentiell auftretende Verkaufssituationen. Leistungsfähige Daten-banksysteme sowie Modelle zur automatisierten Berechnung geeigneter Reaktionsstrate-gien auf Basis aktueller Daten werden damit zum Wettbewerbsvorteil.

Wissenschaftler des Hasso-Plattner-Instituts beschäftigen sich aktuell mit derartigen Fragestellungen. Das Projekt ist eingebettet in die Kooperation mit einem Internethändler, welcher verschiedene Artikel auf dem Amazon Marketplace verkauft. Die Datenbasis setzt sich aus den Verkaufsdaten des Händlers und beobachteten Angebots- bzw. Konkurrenzsi-tuationen zusammen. Letztere enthält Artikel- und Preisinformationen anderer Marktteil-nehmer über die Zeit. Aus den Beobachtungen unter welchen Bedingungen Verkäufe statt-fanden, lässt sich schätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmter Artikel in einer spezifischen Verkaufssituation verkauft wird (vgl. Customer Choice). Die geschätzten Verkaufswahrscheinlichkeiten sind vor allem von den Preisen und Bewertungsprofilen der verschiedenen Anbieter sowie dem Zustand der angebotenen Artikel abhängig.

Diese Ergebnisse machen bereits einfache Was-wäre-wenn-Analysen möglich. D. h. der Händler ist in Lage, Angebotspreis und zu erwartende Verkaufswahrscheinlichkeiten für spezifische Angebotssituationen ins Verhältnis zu setzen. Dies erlaubt auch automatisiert auf sich ändernde Konkurrenzpreise zu reagieren. Darüber hinaus wurde auf Basis der geschätzten Verkaufswahrscheinlichkeiten auch der Prototyp eines dynamischen Optimie-rungsmodells entwickelt, welches die langfristigen Verkaufsgewinne unter Antizipation gegnerischer Reaktionsstrategien maximiert.

1.3.7 Zusammenfassung und Ausblick

Die Digitalisierung des Handels eröffnet dem Ertragsmanagement neue weitreichende Möglichkeiten und Chancen. Gleichzeitig birgt die Datenflut (Big Data) enorme Heraus-forderungen. Mit der In-Memory Technologie lässt sich die wachsende Komplexität der Datenverarbeitung in den Griff bekommen und bietet damit den Ausgangspunkt für anwen-dungsbezogene Lösungen rund um den digitalen Handel.

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Literatur

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189Ertragsmanagement im Wandel – Potentiale der In-Memory Technologie 189

AutorenDr. Matthias Uflacker ist stellvertretender Leiter des Fachgebiets „Enterprise Platform and Integration Concepts“ von Prof. Dr. Hasso Plattner am Hasso-Plattner-Institut für Softwaresystemtechnik (HPI) an der Universität Potsdam. Er studierte Informatik an der Universität Oldenburg und der Monash University Melbourne mit Schwerpunkten in der Architektur und Spezifizierung komplexer Softwaresysteme. Im Anschluss promovierte er am Hasso-Plattner-Institut unter Leitung von Prof. Dr. Hasso Plattner zu Fragestellungen in der Bewertung und Optimierung global verteilter Softwareentwicklungsprozesse. Mit Abschluss der Promotion wechselte er 2011 an das neugegründete SAP Innovation Center in Potsdam, wo er neuartige Anwendungskonzepte für Unternehmenssoftware voranbrach-te und umsetzte. 2013 kehrte er zurück an das Hasso-Plattner-Institut, wo er am Lehrstuhl von Prof. Plattner die Lehr- und Forschungsaktivitäten im Bereich moderner Unterneh-menssoftware verantwortet.

Dr. Rainer Schlosser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter / Post-Doc am Fachgebiet „Enter-prise Platform and Integration Concepts“ von Prof. Dr. Hasso Plattner am Hasso-Plattner-Institut für Softwaresystemtechnik (HPI) an der Universität Potsdam. Er studierte Mathe-matik und Betriebswirtschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin mit den Schwerpunk-ten Optimierung, Stochastik, Ökonometrie und Risikomanagement. Im Anschluss promo-vierte er im Bereich Operations Research an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der HU Berlin zum Thema dynamischer Preis-Werbemodelle. Im Mai 2015 wechselte er an das HPI in Potsdam. Sein primäres Forschungsinteresse liegt im Bereich Datenanalyse und Revenue Management, insbesondere der Dynamischen Preissetzung. Er nutzt daten-getriebene Analysen um die Wirkung verschiedener Entscheidungen zu quantifizieren. Darauf aufbauend entwickelt er entscheidungsunterstützende dynamische Modelle um Verkaufsprozesse optimiert zu steuern.

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190 Matthias Uflacker • Rainer Schlosser • Christoph Meinel190

Prof. Dr. Dr. Christoph Meinel ist CEO und wissenschaftlicher Direktor des Hasso-Plattner-Instituts für Softwaresystemtechnik (HPI) an der Universität Potsdam und Inhaber des Lehrstuhls für „Internet-Technologien und –Systeme“. Er lehrt in den Bachelor- und Masterstudiengängen „IT-Systems Engineering“ am HPI und auf der von seinem Team entwickelten MOOC-Plattform openHPI, betreut zahlreiche Promotionsprojekte und ist Teacher an der „HPI School of Design Thinking“. Seine besonderen Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Security Engineering, Knowledge Engineering und Web 3.0 – Se-mantic, Social, Service Web. Daneben ist er wissenschaftlich aktiv auf dem Gebiet der Innovationsforschung im Bereich des Design Thinking. Früher standen Effiziente Algorith-men und Komplexitätstheorie im Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Forschungen. Christoph Meinel ist Autor bzw. Co-Autor von 18 Büchern, Anthologien sowie zahlreicher Tagungsbände. Er hat mehr als 450 Publikationen in wissenschaftlichen Journalen und auf internationalen Konferenzen veröffentlicht und hält eine Reihe internationaler Patente. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech, Direktor des HPI-Stanford Design Thinking Research Programms, Gastprofessor an der TU Peking und in zahlreichen wissenschaftlichen Gremien und Aufsichtsräten tätig.

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Teil III: Transformation des Handels zu digitalisierten Unternehmen

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Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen.

Bernd Leukert Mitglied des Vorstands, SAP SE, Walldorf, Deutschland [email protected], CC an: [email protected]

Rainer GläßCEO, GK SOFTWARE AG, Schöneck, Deutschland [email protected], CC an: [email protected]

1.1 Einleitung

„Durch die zunehmende Digitalisierung aufgrund technologischer Innovationen haben sich die Arbeitswelten im Handel grundlegend verändert und werden dies weiter tun“ (Wein-furtner et al. 2015, S. 2). Diese Aussage von WeinFurtner spiegelt exemplarisch eine Vielzahl aktueller Einschätzungen wider, die den fundamentalen Einfluss der Digitalisie-rung auf bisherige sowie zukünftige Prozesse in Handelsunternehmen diskutieren. Darüber hinaus ist aus unternehmerischen Sicht dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Kom-plexität entscheidungsrelevanter Rahmenbedingungen zugenommen hat. Somit ist die Di-gitalisierung als wesentlicher Treiber für Optimierung von Unternehmensprozessen sowie als Grundlage für ein neues Produkt- und Serviceverständnis zu sehen. Sie ist jedoch nicht unabhängig von anderen gesellschaftlichen Trends zu betrachten. Verschiedene Gesell-schaften erleben aktuell, dass sich konventionelle Strukturen im alltäglichen Leben, von der Kommunikation bis zum Konsum, verschieben, verschnellern oder ändern. Neben der Digitalisierung sind weitere Faktoren zu beachten. So empfiehlt die Unternehmensberatung McKinsey eine Analyse von fünf Einflussfaktoren (vgl. McKinsey 2015, S. 3) für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in den nächsten 15 Jahren (siehe Abb. 1).

„We believe companies that want to be on top in 2030 must study emerging trends and begin preparing for them now” (McKinsey 2015, S. 3). Die laut mCkinsey fünf wichtigs-ten Einflussfaktoren, die das Kaufverhalten der Kunden ändern werden, schließen eine neue geopolitische Dynamik, einen Wandel der demographischen Strukturen der Kunden, gänzlich neue Möglichkeiten des Konsums, technologischen Fortschritt und strukturelle Veränderungen der Branche ein.

Die genannten Einflussfaktoren sind nicht neu. Der demographische Wandel in Deutsch-land ist in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft viel diskutiert. Die daraus resultierenden Anforderungen an Handelsunternehmen hingegen wurden bislang noch wenig beleuchtet.

R. Gläß, B. Leukert (Hrsg.), Handel 4.0, DOI 10.1007/978-3-662-53332-1_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

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Kundenbedürfnisse und das entsprechende Kundenverhalten unterliegen steten Trends und gesellschaftlichen Änderungen. Aktuell ist eine enorme Individualisierung der Kun-denbedürfnisse zu erkennen, auch wenn die vollständige Individualisierung durch nach wie vor standardisierte Angebotspakete beschränkt ist. Der starken Tendenz zur Individualisie-rung in westlichen Gesellschaften wirken im B2C-Bereich globale Trends entgegen. Au-ßerdem verschieben sich Kundenbedürfnisse von einem Wunsch des Besitzens zu einem Wunsch der reinen Bedürfnisbefriedigung. Ein Beispiel dafür ist, Produkte, Dienste und Ressourcen zeitlich begrenzt und befristet zu nutzen und in privaten Netzwerken zu teilen, anstatt sie dauerhaft zu erwerben. Konkrete Anwendungen schließen Carsharing – Car2Go, private Taxidienste – Uber, private Unterkünfte – Airbnb und Reiseportale – TripAdvisor1 ein. Gerade diese neuen Geschäftsmodelle basieren insbesondere auf menschlichen und technologischen Netzwerken. Die damit einhergehenden Veränderungen des Nutzungs- und Kaufverhaltens haben einen entscheidenden Einfluss auf Handelsunternehmen.

Ferner müssen sich Handelsunternehmen sichtbarer und unsichtbarer Wettbewerber gewiss sein. Während die Wettbewerbsbeobachtung als unternehmerische Selbstverständ-lichkeit zu verstehen ist, sind sogenannte unsichtbare Wettbewerber ein neues Phänomen. Im Zuge der Digitalisierung entstehen ohne große Investitionen schnell neue Unternehmen, die konventionellen Handelsunternehmen schnell Marktanteile abnehmen. So verändern sich die Spielregeln ganzer Branchen. Beispielsweise haben Produktionsunternehmen über neue Handelsportale die Möglichkeit, ihre Produkte in einfacher Weise direkt an den End-kunden zu verkaufen anstatt herkömmliche Vertriebswege über Händler zu nutzen. Diese

1 Diese Tendenz wird in der Literatur als Shared Economy bezeichnet (vgl. Botsman 2011). In diesem Zusammenhang beleuchtet Riffkin mögliche Konsequenzen einer Gesellschaft „mit Null-Grenzkosten“ (vgl. Riffkin 2014).

Abb. 1 Veränderungen des Kaufverhaltens Quelle: In Anlehnung an McKinsey (2015, S. 4)

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195Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 195

direct-to-consumer Ansätze sowie Konsolidierungen im Markt haben einen großen Ein-fluss auf die Wettbewerbslandschaft. Die Geschwindigkeit, mit der in Zeiten von Niedrig-zins Investitionen in neue Unternehmen getätigt werden, eröffnet ein Wachstum vieler kleiner Unternehmen, die für konventionelle Handelsunternehmen schwerer zu beobachten und damit nicht direkt sichtbar und einschätzbar sind.

Der technologische Fortschritt ist ein weiterer Einflussfaktor, der in den nachfolgenden Ausführungen näher beleuchtet werden soll. Neue Technologien ermöglichen neue Prozes-se, innovative Produkte und unternehmerischen Wandel. „Durch IT-Investitionen in die Optimierung der Geschäftsprozesse erzielen Unternehmen nicht nur Kostensenkungen, sondern in aller Regel auch eine Nutzensteigerung“ (Buchta et al. 2009, S. 27). Die Ein-führung neuer Technologien und damit verbundene Innovationen führen auch zu einer Erneuerung des Unternehmens von innen heraus sowie zu möglichen Änderungen zukünf-tiger Kundenanforderungen und zukünftigen Kundenentscheidungen. Beispiele hierfür sind die Nutzung mobiler Endgeräte, um vor oder während des Einkaufs zusätzliche Kon-textinformationen zu erhalten.

Diese Einflussfaktoren tragen zur Änderungen in der Handelsbranche bei, wobei ein-zelne Trends als Teil der Faktoren einen unterschiedlich hohen Einfluss auf die einzelnen Handelsunternehmen haben. Bei einer detaillierteren Betrachtung der technologischen Trends in Abb. 2 fällt auf, dass einigen Trends bereits eine große Auswirkung auf die ge-samte Branche zugeschrieben wird. Diesen Trends wird außerdem eine hohe Wahrschein-lichkeit zugeschrieben, dass sie mittel- bis langfristig eintreten und auch mittel- bis lang-fristig genutzt werden. Zu diesen Trends gehören Cross-Channel-Commerce, Advanced

Abb. 2 Auswirkungen von technologischen Trends für Handelsunternehmen Quelle: In Anlehnung an McKinsey (2015, S. 14)

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Analytics, Mobile World und Beacons. Das folgende Unterkapitel geht detaillierter auf diese für die Branche am meisten relevanten Trends ein. Darüber hinaus sind weitere Trends zu beobachten und weitere Technologien vorhanden, die ebenfalls Auswirkungen auf die Handelsbranche haben. In unserer Betrachtung beschränken wir uns jedoch bewusst auf die vier genannten Trends, da diese Veränderungen und Innovationen für die gesamte Branche nach sich ziehen werden. Dabei werden jeweils Herausforderungen und Chancen der jeweiligen Technologien betrachtet, um daraus eine Einschätzung für Handelsunterneh-men ableiten zu können. Ziel der Betrachtung ist es, relevante Trends und Technologien herauszuarbeiten und die Bedeutung für Handelsunternehmen darzustellen.

1.2 Technologische Trends

1.2.1 Cross-Channel-Commerce

Die digitale Revolution verändert die Handelslandschaft nachhaltig. Seit Jahren sind stei-gende Um- und Absätze im Online-Handel zu beobachten. Durch die zunehmende Vernet-zung der Konsumenten mit mobilen Endgeräten eröffnen sich neue Möglichkeiten für den Konsum und die Interaktion sowohl zwischen Kunden untereinander, als auch zwischen Kunden und Herstellern oder Händlern.

Daraus resultieren zum Teil neue Geschäftsmodelle, welche mitunter ausschließlich online-basiert gestaltet sind. Die Etablierung dieser neuen Geschäftsmodelle üben einen erheblichen Druck auf konventionelle, stationäre Händler aus, die sich einer neuen Wett-bewerbssituation gegenübersehen und entsprechend agieren und reagieren müssen. Auf-grund dieser anhaltenden Entwicklung kommt es daher zu dynamischen Anpassungspro-zessen, sowohl auf Seiten der Internet Pure Player, als auch auf Seiten des stationären Handels am Point of Sale (PoS). Deshalb investieren stationäre Händler verstärkt in Online-Shops und weiten online-basierte Angebote auf Filialen und Showrooms aus (BITKOM 2015, S. 4). „Ziel dieser Maßnahmen ist, Kunden möglichst immer und überall abzuholen und bis zum Kauf kanalübergreifend zu begleiten“ (BITKOM 2015, S. 4). Da die Kunden heutzutage immer und überall Zugang zu umfassenden Informationen wie beispielsweise Preisvergleiche und Produktbewertungen haben, zwingt diese neue Transparenz die Händ-ler zum Überdenken ihrer bisherigen Geschäftskonzepte.

Um weiterhin am Markt bestehen zu können, ist „ein möglichst nahtloses Ineinander-greifen der eigenen Informations- und Einkaufskanäle [...] dafür unabdingbar, einherge-hend mit Investitionen in verbesserte Fulfillment-Prozesse und ein konsistentes Datenma-nagement für Produkt-, Transaktions- und Kundendaten“ (BITKOM 2015, S. 4).

Durch eine Vielzahl von Begriffen einschließlich Omni- oder Multi-Channel wird ver-sucht, diese Entwicklungstendenzen zu erfassen. Die Autoren schließen sich allerdings dem Tenor des Bitkom Thesenpapiers zum Cross-Channel-Commerce an. In diesem Thesenpa-pier führen die Autoren an, dass die Begriffe „nur unterschiedliche Aspekte des gleichen

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197Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 197

Phänomens betonen“ (BITKOM 2014, S. 1) und sie deshalb „durchgängig den Begriff Cross-Channel-Commerce verwenden“ (BITKOM 2014, S. 1). Der Begriff Cross-Chan-nel-Commerce beschreibt also keine einzelne Technologie, sondern vielmehr „die Verzah-nung von mehreren Marketing-, Verkaufs- und After-Sales-Kanälen zu einem integrierten und nahtlosen Einkaufserlebnis für Kunden“ (BITKOM 2015, S. 32).

Das Ziel ist es, dem Kunden einen „geschlossenen Auftritt der Marke, inklusive konsis-tenter Preise, Produktsortimente und -informationen auf allen Kanälen“ (BITKOM 2015, S. 4) zu bieten und dadurch alle individuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Da die Kunden sehr flexibel in der Inanspruchnahme der unterschiedlichen Kanäle agieren, werden weit-reichende Anforderungen an die Händler gestellt. Das als ‚Research Online, Purchase Offline‘ (ROPO) bezeichnete Verhalten, bei dem die Kunden sich online über die Produk-te informieren, diese jedoch erst im Rahmen einer zusätzlichen individuellen Beratung stationär kaufen, stellt die Händler und insbesondere die Mitarbeiter vor zusätzliche Her-ausforderungen. Da die Informationstransparenz und die Abrufgeschwindigkeit dieser In-formationen noch nie so hoch war wie heutzutage, müssen auch die Mitarbeiter unmittelbar auf entsprechende Informationssysteme zugreifen können. Somit sind „die Herausforde-rungen von Cross-Channel-Commerce für Händler [...] nicht nur technisch-funktionaler Natur, sondern betreffen auch organisatorisch-strukturelle Aspekte eines Unternehmens“ (BITKOM 2015, S. 4).

Um langfristig am Markt bestehen zu können, ist ein ganzheitliches Auftreten der Unter-nehmen den Kunden gegenüber essentiell. „Erst indem ein einheitliches Kundenerlebnis geschaffen wird, welches die Möglichkeiten der digitalen Revolution zu nutzen weiß, können Einzelhändler langfristig wettbewerbsfähig und umsatzstark bleiben“ (BITKOM 2015, S. 5). Diese Aspekte stellen besonders die stationären Händler vor enorme Herausforderungen, denn oftmals sind ihre Organisationsstrukturen über Jahrzehnte gewachsen und daher nur mit großem Aufwand anpassbar, um in angemessener Zeit flexibel auf die massiven Veränderun-gen der Digitalisierung zu reagieren. „Für viele Handelsunternehmen, auch für deren Partner und Dienstleister, bedeutet das tiefgreifende Eingriffe in etablierte interne Prozesse, die Unternehmenskultur und somit in die Unternehmens-DNA“ (BITKOM 2014, S. 2). So ver-fügen sie zudem oftmals nicht über die entsprechenden Ressourcen und das entsprechende Know-How, um ein über alle Kanäle interagierendes System zu schaffen und umfassend zu betreuen. Doch genau dies erwarten Kunden in der heutigen Zeit, denn „mehr denn je domi-niert der Endkunde die Wahl des Kommunikationsweges und nutzt zunehmend digitale Formen der Kontaktaufnahme“ (Agnischock et al. 2015, S. 4). Sollte es bei den kanalüber-greifenden Service-Angeboten zu Komplikationen kommen, werden die Kunden nicht mehr bereit sein, das Vernachlässigen dieser heutigen Basisanforderungen zu tolerieren.

Nach kPmg (2015, S. 9) werden diesen Herausforderungen somit durch große Investi-tionsvorhaben in den nächsten Jahren Rechnung getragen, denn „[h]ier gibt es aktuell und in unmittelbarer Zukunft in nahezu allen Unternehmen bedeutende IT-Projekte“ (KPMG 2015, S. 9).

Mit Hilfe des Cross-Channel-Ansatzes sollen alle anfallenden Daten der jeweiligen Kanäle zusammengeführt werden und somit die Erstellung umfassender Kundenprofile

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ermöglichen. Diese können wiederum für zielgerichtete und individualisierte Marketing-maßnahmen genutzt werden. Das Ziel ist es, das gesamte Potenzial der kanalübergreifen-den Vernetzung zu nutzen, um sowohl einen höheren Kundennutzen als auch eine höhere Wertschöpfung für das gesamte Unternehmen zu generieren.

Hierfür sollten geeignete Informationssysteme zum Einsatz kommen. Um die Chancen zu nutzen, sich durch eine personalisierte und kanalunabhängige Kundenansprache im Wettbewerb zu profilieren und abzuheben, ist hierbei eine kontinuierliche und konsistente Datenerfassung der Kundenaktivitäten unabdingbar. Um die datenschutzrechtlichen Krite-rien zu erfüllen, bieten sich für die darüberhinausgehende Erfassung und Nutzung der Daten nach Bitkom (2015, S. 16) unter anderem „Loyalty-Programme oder Kundenkarten, ggf. in Kombination mit Online-Kundenkonten [an]. [...] Die so gewonnenen Daten helfen dem Unternehmen bei einer zielsicheren Kundenansprache, der Erfolgsmessung von Mar-ketingaktionen und der Bestimmung des Customer Lifetime Value“ (BITKOM 2015, S. 16). deloitte llP (2014, S. 6) führen zudem an, dass sich im Zuge dessen auch Kun-denbindung und Markenbekanntheit insgesamt steigern lassen. Darüber hinaus ließen sich für die Unternehmen durch die vermehrte Online-Präsenz (z. B. mit Anzeigen in Suchma-schinen) zusätzliche Absatzsteigerungen generieren (Deloitte LLP 2014, S. 6).

Die hier dargelegten Ausführungen machen deutlich, dass es aufgrund der voranschrei-tenden Digitalisierung sowohl auf Seiten des stationären Handels, als auch auf Seiten reiner Onlinehändler in den nächsten Jahren zu weitreichenden Veränderungen hinsichtlich der kanalübergreifenden Kundenansprache und Service-Bereitstellung kommen wird.

Die Kunden können sich vornehmlich online umfassend über Produktbewertungen, Testergebnisse und Auswahlalternativen informieren. Sofern Filialisten den Kunden keine Mehrwerte in Form von entsprechender Beratung, zusätzlichen Service-Leistungen und möglichst individuellen Einkaufserlebnissen bieten können, stellt sich für diese Geschäfts-konzepte zunehmend die Frage nach ihrer Daseinsberechtigung (vgl. hierzu BITKOM 2015, S. 10). Da die Mehrheit der Kunden jedoch in naher Zukunft noch überwiegend stationär einkaufen wird, gilt es auch für die reinen Online-Händler in einem ersten Schritt, die Wünsche der jeweiligen Kundengruppen zu identifizieren und sie in einem zweiten Schritt mit einem vernetzten Cross-Channel-Konzept zu befriedigen. Damit geht eine stär-kere Kundenbindung einher. „Einen Königsweg gibt es dabei nicht, es geht vielmehr dar-um, alle bestehenden Aktivitäten intelligent miteinander zu vernetzen“ (BITKOM 2015, S. 10).

1.2.2 Mobile World

Mobile World ist ein weitgefasster Begriff, der sich in weitere Teiltrends aufteilen lässt. Wirtz (2016, S. 76) beschreibt verschiedene Anwendungen, die dem Begriff Mobile World zugeordnet werden können. Dazu gehören Mobile Software, Mobile Browsing, Mobile Search, Mobile Information, Mobile Entertainment, Mobile Navigation, Mobile Commer-ce, Mobile Communication, Location-Based Services, Mobile Payment, Mobile Adverti-

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199Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 199

sing und Mobile Telemetrie (Wirtz 2016, S. 76). Bei genauerer Betrachtung kann zwischen Anwendungen für den Business-to-Customer (B2C), Business-to-Employee (B2E) oder Business-to-Business (B2B) Bereich unterschieden werden. Somit kann die Mobile World „das gesamte Gestaltungsfeld eines Unternehmens umfassen. Dazu gehören die Beziehun-gen zu Endkunden [...], anderen Unternehmen [...] und den eigenen Mitarbeitern“ (Berger und Lehner 2002, S. 86).

Im Bereich B2C kann das Mobile Payment eingeordnet werden. Das beinhaltet „Trans-aktionen, die vom Kunden unter Nutzung seines mobilen Endgerätes initiiert werden“ (BITKOM 2015, S. 18), „wobei der Betrag entweder direkt vom Konto des Konsumenten abgebucht oder zur monatlichen Telefonabrechnung hinzuaddiert wird“ (Berger und Leh-ner 2002, S. 89). Das Ziel im Bereich von B2C ist es, neue Zielgruppen anzusprechen und die bereits vorhandenen Kunden besser an das Unternehmen zu binden (Ivanochko et al. 2015, S. 3).

Bei B2E und B2B sind vor allem mobile Geschäftsanwendungen relevant. Während der B2B-Bereich „zur Unterstützung von Transaktionen zwischen Unternehmen“ (Berger und Lehner 2002, S. 86) dient, wird B2E genutzt, um den internen Arbeitsprozess effizienter zu gestalten (Ivanochko et al. 2015, S. 3). Die zentralen Ziele von mobilen Geschäftsanwen-dungen im Bereich B2B und B2E sind die Verbesserung der Informationsqualität sowie der Informationsverfügbarkeit. Auch die Verbesserung der Prozessgeschwindigkeiten und der Erhöhung der Effizienz sind relevante Ziele für Handelsunternehmen (Ivanochko et al. 2015, S. 3). In diesem Zusammenhang stellen mobile B2B-Marktplätze, Anwendungen für Supply Chain Management und Telemetrie die wichtigsten Anwendungsszenarien dar (Berger und Lehner 2002, S. 88).

Eine zentrale Herausforderung der ,Mobile World‘ liegt vor allem darin, die Akzeptanz der Endkunden für mobile Anwendungen zu stärken. Bisher gibt es bereits zahlreiche An-wendungsszenarien für den Einsatz von mobilen Endgeräten im Handel. Z. B. haben „[i]n Deutschland […] viele Einzelhändler Mobile Payment bereits implementiert“ (KPMG 2015, S. 48). Allerdings haben sich die meisten Versuche von Handelsunternehmen bislang noch nicht bewährt, denn oftmals haben „[d]ie Konsumenten […] Mobile Payment noch nicht in ihren Alltag integriert“ (KPMG 2015, S. 50). Auch Bitkom (2015, S. 18) bestätigt diese Aussage, denn „in Deutschland [hat sich] bis heute keine flächendeckende Nutzung ergeben. Zahlvorgänge mit dem Smartphone sind daher in Deutschland bis heute ein Ni-schenphänomen“. Vor allem in Deutschland sind Vertrauen in Datensicherheit und der Datenschutz wichtige Kriterien bei der Akzeptanz neuer Anwendungen (BITKOM 2015, S. 21). Das Vertrauen der Nutzer in die neuen Anwendungen hängt daher stark von den dahinterstehenden Unternehmen und Technologien ab, die die Sicherheitsbedenken aus-räumen und jegliche Risiken minimieren können. Eine klare Kommunikation des Nutzens und Mehrwerts für den Verbraucher kann darüber hinaus unterstützend wirken, um die Anwendungen attraktiv zu machen. Denn „[h]at ein Produkt einen besonders hohen Mehr-wert, so sind [... die Kunden] bereit, auch sensible Daten preiszugeben“ (KPMG 2015, S. 48). karlsson und taga (2006, S. 73) stimmen dem zu, denn „durch unklares Marketing, nicht ausreichend kommunizierten Nutzen für den Kunden, mangelnder Standardisierung

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der verschiedenen Systeme sowie fehlende Partnerschaften“ auf Seiten der Handelsunter-nehmen ist der Markt für Mobile Payment „bisher hinter den Erwartungen der Analysten zurückgeblieben“ (Karlsson und Taga 2006, S. 73).

Eine weitere Herausforderung für Handelsunternehmen ist, dass „Unternehmen ihre Aktivitäten im Bereich der mobilen Anwendungen und Lösungen eher reaktiv auf Impulse von außen ausrichten als an einer langfristigen ausgerichteten Strategie“ (Böhm 2016, S. 390). Dabei sollte die mobile Strategie des jeweiligen Handelsunternehmens „als Teil-menge der IT-Strategie verstanden werden, die sich mit Entscheidungstatbeständen zum Einsatz von mobilen Lösungen in Unternehmen befasst“ (Böhm 2016, S. 390).

Trotz der genannten Herausforderungen in der Mobile World können Unternehmen bei einem zielgerichteten Einsatz von mobilen Geräten neue Potenziale ausschöpfen. So kön-nen bisherige Medienbrüche vermieden werden, denn „Daten können direkt vor Ort erfasst werden ohne auf stationäre IuK-Technologien angewiesen zu sein [...]. Auf diesem Weg lassen sich die operative und administrative Effizienz erhöhen“ (Berger und Lehner 2002, S. 93). Durch diese Möglichkeit der Flexibilität können Handelsunternehmen „B2B-Ko-operationen unterstützen, wo diese aufgrund von mobile Bestandteilen in den Geschäfts-prozessen bisher nur schwer möglich waren“ (Berger und Lehner 2002, S. 93).

Durch den Erhalt neuer Daten und Informationen anhand der Nutzung mobiler Endge-räte ist auch „eine effizientere, direktere Kundenkommunikation sowie eine Imageverbes-serung möglich“ (KPMG 2015, S. 48). Diese Verbesserung des Kundendialogs kann durch die Möglichkeit eines Einsatzes von „Tablets für eine multimediale und interaktivere IT-Unterstützung“ (Böhm 2016, S. 386) unter anderem im Vertrieb erreicht werden.

Des Weiteren sehen kPmg (2015, S. 48) und Bitkom (2015, S. 19) eine Verbesserung der Durchlaufzeiten am PoS. „Die Transaktionsgeschwindigkeit und die einfache Handha-bung der kontaktlosen Übertragung bringen insbesondere in Umgebungen, in denen es auf einen hohen Durchsatz ankommt, erhebliche Vorteile mit sich, z. B. im Supermarkt zu Stoßzeiten“ (BITKOM 2015, S. 19). Diese effizienteren Durchlaufzeiten führen zu Kos-tenreduzierungen (KPMG 2015, S. 48). Die Erhöhung der Effizienz bildet somit eine weitere zentrale Chance für Handelsunternehmen.

Die Mobile World wurde erst dadurch ermöglicht, dass „Smartphones zu allgegenwär-tigen Begleitern geworden“ (Böhm 2016, S. 377) sind. Für Handelsunternehmen bieten sich somit vielfältige Möglichkeiten für einen Einsatz im B2C-, B2E- und B2B-Bereich. Nichtsdestotrotz existieren einige Herausforderungen, die das Wachstum der Mobile World bisher begrenzt haben. Die Akzeptanzrate neuer Anwendungen kann durch eindeutige, überzeugende Kommunikation des Mehrwerts für den Kunden gesteigert werden. Durch die Integration mobiler Anwendungsszenarien generieren die Handelsunternehmen parallel einen Mehrwert für sich selbst, der sich in neu gewonnener Flexibilität, einer Verbesserung der Kundenbeziehung und einer Effizienzsteigerung äußert.

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201Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 201

1.2.3 Beacons

Bei Beacons handelt es sich um kleine, autarke Sendeeinheiten mit Batteriebetrieb, welche kontinuierlich ein Signal von Informationen aussenden, die eine eindeutige Identifikation der Hardware ermöglichen.

Dabei wird das Wort Beacon als Synonym für die Bezeichnung iBeacon genutzt, ein Markenname der Firma Apple Inc., die unter diesem Namen im Jahr 2013 ein Anwendungs-szenario des offenen Bluetooth Low Energy Standards veröffentliche. Dabei werden beide Begriffe meist sowohl für den technologischen Standard als auch für die Hardware benutzt.

Der Bluetooth Low Energy (BLE) Standard, auch bekannt als Bluetooth Smart, begann als Teil der Bluetooth 4.0 Core Spezifikation. Von Anfang an lag der Fokus darauf, einen Radio Standard mit einem geringstmöglichen Energieverbrauch zu entwickeln, der sehr günstig und unkompliziert ist und eine geringe Bandbreite nutzt (Townsend 2014, S. 3).

Auch wenn der Standard eigentlich mehre Modi der Verwendung vorsieht, ist für die Beacon-Technologie der Modus des Advertising der Wichtigste. In diesem Modus agiert die Hardware als reine Sendestation, daher auch Beacon vom englischen Wort für Leucht-turm.

Die Verbreitung der BLE-Technologie auf mobilen Endgeräten ist inzwischen eine Art Standardmerkmal geworden. So wiesen schon Mitte 2014 alle der zehn meistverkauften Smartphone-Modelle auf dem deutschen Markt Unterstützung für BLE auf (vgl. Hassa 2014).

Die Hardware deckt ihre Stromversorgung meistens mit Batterien. Zudem gibt es Sen-der, die über eine konstante Stromversorgung (über USB oder direkten Anschluss ans Stromnetzt) verfügen. Vorteil dieser Hardware gegenüber anderen ähnlichen Technologien (wie WiFi oder GSM) sind die geringen Kosten der Hardware.

Die BLE-Technologie ermöglicht zahlreiche Anwendungsfälle im Einzelhandel. So nennen dudhane und PitamBare (2015) drei grundlegende Vorteile der BLE Technologie

Abb. 3 Vorteile der BLE-Technologie für den Handel Quelle: In Anlehnung an Dudhane und Ptambare (2015)

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für den Handel: Analyse der Kunden (Customer Analytics), operationelle Analyse (Opera-tional Analytics) und Steigerung des Umsatzes (Revenue Improvement).

Eine konkrete Umsetzung dieser Vorteile findet sich bei BöPPle et al. (2015), wo fol-gende Einsatzmöglichkeiten von BLE Beacons im Einzelhandel beispielhaft vorgeschla-genen werden:

• Aufzeichnen von Kundenverhalten und Verknüpfung dieses mit Profildaten aus dem Onlinegeschäft, ermöglicht eine Analyse der Produktpräferenzen, Einkaufsgewohn-heiten sowie personalisierter Ansprache im Online- und Offlinekanal.

• Personalisierter Einkaufsassistent ermöglicht eine personalisierte Ansprache des Kunden bei Betreten und während seines Weges durch das Ladengeschäft.

• Indoor-Navigationssystem erlaubt es durch ein Lotsensystem den Kunden zu einem gesuchten Produkt innerhalb des Ladens zu führen.

• Kundenbindungsprogramme ermöglichen automatisierte und personalisierte Bonus-punkte und Rabatte, welche eine noch einfachere Teilnahme an Bonusprogrammen für Kunden ermöglichen, als bestehende Programme.

• Kontextsensitive Zusatzinformationen ermöglichen es dem Kunden Produktinformati-onen auszuspielen.

• Gutscheine und persönliche Ansprache außerhalb des Ladengeschäftes sollen zusam-men mit interaktiven Schaufenstern zu spontaner Kundenansprache führen.

Die BLE- oder Beacon-Technologie zeichnet sich aufgrund ihrer zahlreichen Anwendungs-felder, ihrer Einfachheit und der Verbreitung kompatibler Endgeräte für den Einsatz im Einzelhandel aus. Die Technologien bringen drei Risiken mit sich: die Akzeptanz der Technologie auf Seiten der Nutzer, das Investitionsrisiko des Händlers und die Komplexi-tät der Integration in bestehende Systeme.

Nutzer akzeptieren Technologien dann, wenn sie einen Mehrwert erfahren beziehungs-weise der Mehrwert als höher eingestuft wird als Risiken der Nutzung. Daher bietet sich an, die oben genannten Einsatzgebiete für den Handel mit einem Kundenbindungspro-gramm zu verknüpfen. Im datenschutzrechtlichen Aspekt einer solchen Profilbildung ist ein Risiko für alle Beteiligten zu sehen, da die Frage, ob Beacons in datenschutzrechtlich zulässiger Weise eingesetzt werden, nicht pauschal zu beantworten ist (Venzke-Caprarese 2014, S. 544), sondern einer tiefgreifenden Analyse bedarf.

Bei der Investition in eine flächendeckende Ausrollung einer Beacon-Lösung im Handel sind die Kosten der Hardware zu vernachlässigen. Vielmehr muss das Augenmerk auf die Total Cost of Ownership gerichtet werden. Bei einer Gesamtbetrachtung sind vor allem War-tungs- und Unterhaltungskosten zu berücksichtigen, die beispielsweise bei einer batteriebe-triebenen Lösung in einem sechs- bis zwölfmonatigen Rhythmus anfallen. Auch müssen für eine Indoor-Navigation die Prozesse innerhalb der Filialen angepasst werden, damit eine Umlagerung eines Produktes der mobilen Applikation bekannt wird. Dies benötigt beispiel-weise eine Integration in bestehende Warenwirtschafts- oder ERP-Systeme. Diese Integration ist ebenfalls Voraussetzung für Anwendungsfälle, die eine Identifikation der Nutzer erfordert.

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gartner (2014) sieht in der Beacon-Technologie eine von zehn Technologien und Fä-higkeiten, die entscheidend für Organisationen sind, um das volle Potential der Mobilität als Teil ihrer digitalen Geschäftsstrategie auszuschöpfen.

Für den Handel ergibt sich mit der Beacon-Technologie die Möglichkeit, das In-Store-Erlebnis völlig neu zu definieren und zu individualisieren. Die Herausforderung besteht darin, die Technologie in bestehende Systeme und Prozesse zu integrieren.

1.2.4 Advanced Analytics

Die zunehmende Digitalisierung im Kundenkontakt und der Prozessgestaltung wirkt sich direkt auf die Datenbestände der Handelsunternehmen aus. Während das Gesamtdatenvo-lumen von Wal-Mart, dem weltweit umsatzstärksten Handelsunternehmen, im Jahr 2008 noch bei 2500 Terabyte lag (SAS 2012), erreicht das Datenvolumen heute 30000 Terabyte (McMillon 2014). Jährlich verarbeiten die Systeme von Wal-Mart 13 Milliarden Kunden-transaktionen am PoS (Wal-Mart 2014). Diese Masse an transaktionalen Daten steht den stetig steigenden Anforderungen an präzise und gleichzeitig aktuelle Analysen gegenüber. Als Ansatz zur Bewältigung dieser Datenmengen werden seit wenigen Jahren die In-Me-mory-Datenbankmanagement-Systeme (IM-DBMS) diskutiert. Nachfolgend wird kurz auf die mit IM-DBMS verbunden Herausforderungen, denen insbesondere Handelsunterneh-

Abb. 4 Gartners Hype-Cycle-Studie aus dem Jahr 2014 Quelle: In Anlehnung an Gartner (2014)

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204 Bernd Leukert • Rainer Gläß204

men gegenüberstehen, eingegangen. Im Anschluss daran werden die Chancen der In-Me-mory-Technologie im Einzelhandel näher erörtert.

Eine empirische Untersuchung der aBerdeen grouP zum Thema Big Data hat gezeigt, dass etwa die Hälfte der befragten 196 Unternehmen die größten Probleme von Big Data in (1) den niedrigen Verarbeitungsgeschwindigkeiten der Analysesysteme, (2) der Frag-mentierung der Daten in Silo-Systemen sowie (3) der Nicht-Verfügbarkeit von analyserele-vanten Daten sehen (Aberdeen 2012, S. 2). Diese Herausforderungen sind auf die Handels-domäne übertragbar. Während In-Memory-Systeme in IT-Landschaften eingesetzt werden können, um die Datenverarbeitung rapide zu beschleunigen, erfordern sie das Vorhanden-sein einer integrierten Dateninfrastruktur, die den Zugriff auf alle analyserelevanten Daten erlaubt. Vor der Erwägung einer Migration in Richtung In-Memory-Architektur müssen sich Handelsunternehmen daher zunächst mit der Integration der Dateninfrastruktur ausei-nandersetzen.

Im Zuge dessen muss das in Forschung und Praxis vielfach diskutierte Thema der Da-tenqualität beleuchtet werden. Eine Studie im Zentralverband gewerblicher Verbundgrup-pen aus dem Jahr 2008 zeigt, dass die Datenqualität in knapp 75 % der befragten Handels-unternehmen mittelmäßig bis schlecht ist (Becker et al. 2008).

Daher ist es essentiell, dass die IT der Handelsunternehmen, insbesondere im Hinblick auf die Warenwirtschaft, auf ein zeitgemäßes Niveau gebracht wird. Die IM-DBMS erfah-ren in jüngster Vergangenheit zunehmende Aufmerksamkeit durch Forschung und Praxis. In gartners Hype-Cycle-Studie aus dem Jahr 2014 befanden sich IM-DBMS in der Pha-se der Desillusionierung. In-Memory Analytics standen gerade am Beginn der Aufklä-rungsphase (Gartner 2014). Heute nehmen In-Memory Technologien zunehmend konkrete Formen an. IM-DBMS zeichnen sich durch hauptspeicherresidente Datenbanken, Multi-Core-Prozessor-Verarbeitung und analyseorientierte Verwaltungsalgorithmen aus. Durch diese Konstellation technischer Faktoren erlauben sie Datenverarbeitungsgeschwindigkei-ten, die um ein Vielfaches höher sind als die Verarbeitungsraten, die durch die heute vor-herrschenden, traditionellen Datenbankmanagement-Systeme möglich sind. In der Konse-quenz ermöglichen IM-DBMS annähernd in Echtzeit durchgeführte Daten-Analysen und die Aufhebung einer Trennung von analytischen und transaktionalen Systemen, wie es die als Standardkonzept betrachtete Data-Warehouse-Architektur mit dem analytisch ausge-richteten OLAP-System und dem transaktional ausgerichteten OLTP-System vorsieht (Knabke und Olbrich 2015, S. 189–193).

Durch ihre Marktführerschaft im Bereich der betriebswirtschaftlichen Standardsoftware gilt insbesondere die SAP SE mit ihrer In-Memory-Plattform SAP HANA® als Vorreiter dieser Entwicklung (Plattner und Leukert 2015, S. 3–5). In dem Bestreben, die gesamte Business Suite in die SAP Business Suite for SAP HANA zu migrieren, werden zurzeit einige Anwendungen der Handelsdomäne neu konzipiert und entwickelt, darunter das SAP Customer Activity Repository sowie die angegliederte Sortiments- und Bedarfsplanungs-software (SAP SE 2015).

Handelsunternehmen können in mehrfacher Hinsicht von den Potentialen von IM-DBMS profitieren. Einerseits führen die kürzeren Antwortzeiten sowie die Zusammen-

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205Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 205

legung der analytischen und transaktionalen Systeme zu einer allgemeinen Effizienzver-besserung des Berichtswesens im Handel (Piller und Hagedorn 2012, S. 2). Andererseits sind Nutzenpotentiale in spezifischen Aktivitäten von Handelsunternehmen zu identifi-zieren.

1.2.4.1 Potentiale in der Analyse von Verkaufs- und BestandsdatenAuf Grund der Vielzahl an PoS-Transaktionen eigenen sich IM-DBMS insbesondere zur Analyse der Verkaufs- und Bestandsdaten und zur Ableitung entsprechender Gegenmaß-nahmen. Während die Analysen der Abverkaufsdaten bei den heute eingesetzten Systemen im Intervall mehrerer Stunden liegt, erlauben IM-DBMS die annährend kontinuierliche Überwachung der Verkäufe und Bestände (Piller und Hagedorn 2012, S. 4). Eine solche Überwachung würde z. B. Rückschlüsse auf Schwierigkeiten bei der Regalauffüllung zu-lassen, wenn der erwartete Absatz eines vorrätigen Produktes hoch ist, der tatsächliche Absatz aber bei Null liegt. Durch eine Meldung an das Marktpersonal könnte dann eine Auffüllung aus dem Lager in das Regal angewiesen werden (Piller und Hagedorn 2012, S. 5). Entsprechende Analysen könnten auch beim filialübergreifenden Benchmarking von Aktionen vorteilhaft sein. Wird durch eine automatisierte, kontinuierliche Analyse IM-DBMS festgestellt, dass Aktionsware in der einen Filiale wesentlich besser abgesetzt wird, als in einer anderen Filiale kann durch Replatzierung der Ware oder durch zusätzliche Werbung im Markt gegengesteuert werden (Piller und Hagedorn 2012, S. 5).

1.2.4.2 Potentiale in der VerkaufsprognoseWährend sich die vorbenannten Analysen auf tages- oder wochenaktuelle Daten beschrän-ken, stellt die Durchführung von Verkaufsprognosen wesentlich höhere Ansprüche an die zu verarbeitenden Datenmengen, die vergangenheitsbezogene Daten aus mehreren Mona-ten oder Jahren einschließen. Eine entsprechende Verkaufsprognose zeichnet sich durch eine Analyse bisheriger Verkaufsdaten in Kopplung mit statischen Faktoren wie Lagerka-pazität, Artikelhaltbarkeit und Verfügbarkeit von Ersatzprodukten sowie mit dynamischen Faktoren wie Wetterlage oder parallele Werbekampagnen aus. Durch die hohen Datenvo-lumina in Verbindung mit komplexen, statistischen Verfahren bei gleichzeitiger Zeitkriti-kalität versprechen IM-DBMS in diesem Bereich ebenfalls große Verbesserungspotentiale (Piller und Hagedorn 2012, S. 6–9). Heute eingesetzte Systeme führen ähnliche Analysen erst im Rahmen der nächtlichen Batch-Verarbeitung, die teils mehrere Stunden andauern können, durch (Schütte 2011, S. 7). Entsprechend aktuelle Prognosen können dann auch als Basis für die Planung der personellen Schichtarbeitszeiten dienen (Detecon 2013, S. 9).

Abb. 5 zeigt die Potentiale der In-Memory-Verkaufsprognose am Erfolgsbeispiel der Otto Group auf, welche durch den Einsatz der In-Memory-Datenbank-Lösung NeuroBayes das Risiko einer mehr als 20 %igen Verkaufsprognoseabweichung von 63 % auf 11 % redu-ziert hat. Aus den historischen Verkaufsdaten von 16 Saisons sowie die wöchentlich anfal-lenden Daten von ca. 300 Millionen Transaktionen wurden mehr als 1 Milliarde artikelva-riantengenaue, zeitpunktbezogene Verkaufsprognosen gestellt (Detecon 2013, S. 11f.; Scholz und Niemeyer 2015).

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206 Bernd Leukert • Rainer Gläß206

1.2.4.3 Potentiale im Bereich des Internets der Dinge im HandelWenngleich die flächendeckende Bestückung von Artikeln mit Data Carrier- oder Identifi-cation-Systemen, bspw. RFID-Chips, noch nicht gegeben ist, bilden IM-DBMS die Grund-lage für die Nutzung anfallender Ortungs- und Identifikationsdaten für logistische Zwecke und zur Reduktion von Out-of-Stock-Situationen. Darüber hinaus erlauben sie Hinweise zur Umlagerung falsch liegender Produkte oder warnen vor Überschreitungen von Min-desthaltbarkeitsdaten. Vor dem Hintergrund des Datenwachstums durch Kunden in der digitalisierten Welt, die ihre Einkaufserlebnisse durch das Smartphone oder den am Ein-kaufswagen montierten Personal Shopping Assistant verbessern können, bieten IM-DBMS eine Ausgangsbasis zur Verbesserung der Kundenansprache (Piller und Hagedorn 2012, S. 9f.).

Neben den eingangs beschriebenen grundsätzlichen Herausforderungen, die sich aus Datenvielfalt und Datenvolumen ergeben, sind eine Reihe spezifischer Herausforderungen mit der Migration auf IM-DBMS verbunden. Eine Studie von KPMG aus dem Jahr 2014 zeigt, dass 97 % aller befragten Unternehmen das Thema der Advanced Analytics noch nicht soweit umgesetzt haben, wie es eigentlich notwendig wäre. Es bleibt jedoch festzu-halten, dass In-Memory-Lösungen notwendige Technologien der Zukunft sind, damit Han-delsunternehmen mit der digitalen Transformation schritthalten können.

Abb. 5 Relative Abweichung des vorausgesagtem zum tatsächlichen Absatzvolumen Quelle: Sinn (2012), zitiert nach Detecon (2013, S. 11)

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207Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 207

1.3 Die Herausforderung: organisatorische Implementierung

Neben den technologischen Herausforderungen dürfen organisatorische Herausforderun-gen nicht unterschätzt werden. Die Informationstechnologien sind die notwendige Voraus-setzung für die erfolgreiche Anpassung des Unternehmens an das Wettbewerbsumfeld und die mögliche Realisierung von Wettbewerbsvorteilen. Informationstechnologien bieten das Potential. Die hinreichenden Bedingungen, um von Investitionen in Informationstechno-logien zu profitieren, sind strategischer und organisatorischer Natur.

Die Investitionen in Informationstechnologien sind in ihrer Wirkung abhängig von dem Verhalten anderer Wettbewerber. Wenn vorhandene Vorteile von Wettbewerbern aufgrund geringer Markteintrittsbarrieren schnell imitiert werden können, liegt ein einfacher Wett-bewerbsvorteil vor (Piller 1998), der von den Wettbewerbern zeitnah aufgeholt werden kann (aber nicht muss). In diesem Fall erlangt das Handelsunternehmen durch den Einsatz neuer Informationstechnologien keinen strategischen Vorteil, sondern erhöht lediglich IT-Kosten.

Neben der Strategie, in die Investitionen in die Informationstechnologie eingebettet sind, kommt dem organisatorischen Kontext eine besondere Bedeutung zu. Der organisa-torische Kontext muss so ausgestaltet werden, dass die Bedingungen für eine erfolgreiche Potentialausschöpfung gegeben sind. Die Existenz der Informationstechnologie an sich führt zu keiner wirtschaftlichen Verbesserung. Erst die Anwendung der informationstech-nologischen Möglichkeiten in der Unternehmenspraxis ermöglicht, das mit IT-Systemen mögliche Potential zu heben. In den letzten Jahrzehnten haben sich viele Unternehmen erfolgreich durch den Einsatz von neuen Technologien hervorgehoben, während andere Unternehmen nur geringen Nutzen aus dem Einsatz neuer Informations- und Kommunika-tionssystemen realisieren konnten. Die für alle Unternehmen wesentliche Frage ist dabei, wann sollte in neue Technologien investiert werden und – weit wichtiger – wie kann die Investition in Technologien nutzbringend für das Unternehmen eingesetzt werden. Es kann hier keine wissenschaftlich befriedigende Antwort gegeben werden, denn dazu existieren zu wenige Analysen über situative Kontextfaktoren, die erforderlich wären, um kritische Erfolgsfaktoren begründbar vorzutragen.

Die Autoren sehen aufgrund eigener Erfahrungen drei wesentliche Herausforderungen in der betrieblichen Praxis, die mitunter nicht erfüllt sind: Führung, Geschwindigkeit sowie stabile, nutzbringende Softwareprodukte. Die Einführung von Systemen kann nur erfolg-reich verlaufen, wenn die Zeit für die Einführung selbst in einem überschaubaren Rahmen bleibt. Andernfalls besteht die Gefahr unternehmensinternen Widerstands gegen die Neu-erungen, der wiederum den wirtschaftlichen Einsatz der Systeme behindert. Um IT-Inno-vationen schnell einzuführen, bedarf es einer stringenten, die Möglichkeiten der IuK-Technologien langfristig beachtenden, Unternehmensführung, die in Zeiten einer zuneh-menden Digitalisierung immer wichtiger wird.

Die einzuführenden IT-Produkte wiederum müssen eine hohe Stabilität aufweisen und einen unmittelbar in der Organisation erkennbaren Nutzen mit sich bringen. In einer digi-talisierten Welt wird der Einsatz von Systemen erfolgskritischer und geschäftsrelevanter,

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208 Bernd Leukert • Rainer Gläß208

so dass eine hohe Ausfallsicherheit und Stabilität zwingend sind. Außerdem gilt es zu be-achten, dass in Handelsunternehmen die Existenz eines Systems an sich als Mehrwert be-trachtet werden kann. Die Wirtschaftlichkeit von Systemen rückt zunehmend in das Zent-rum unternehmerischen Interesses. Es bedarf somit für die Softwareprodukte einer nach-vollziehbaren Nutzenpotentialeinschätzung, damit eine organisatorisch erfolgreiche Imple-mentierung sichergestellt werden kann.

1.4 Ausblick

Der Einsatz und der Nutzen von bestimmten Trends unterscheiden sich zwischen den Be-reichen der Handelsbranche. Für ein Unternehmen bringt der Einsatz einer ausgewählten Technologie einen größeren Nutzen als für ein anderes Unternehmen. Diese Unterschiede variieren bereits innerhalb einer Branche und können zudem zwischen verschiedenen Län-dern variieren. „Geschäftsmodelle, die in anderen Ländern funktionieren, müssen sich nicht zwangsweise auch hierzulande durchsetzen“ (BITKOM 2015, S. 21). Aus diesem Grund sollten Handelsunternehmen prüfen, ob der Einsatz neuer Technologien die langfristigen Unternehmensziele unterstützt.

Auch wenn die Unternehmen aus einer Vielzahl von innovativen Technologien wählen können, die eine Vielzahl von Potentialen und Nutzungsmöglichkeiten versprechen, kann die Entscheidung für den Einsatz einer Technologie nur individuell für jedes Handelsun-ternehmen getroffen werden. Dabei sollte beachtet werden, welchen Einfluss die Entschei-dung für eine Technologie auf die Strategie eines Unternehmens hat. Insbesondere müssen hierbei Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für die Integration im Sinne einer ein-heitlichen IT-Strategie berücksichtigt werden.

In wenigen Jahren können die heutigen Trends bereits in den Handelsunternehmen etabliert sein, wobei in einigen Ländern die Technologieaffinität ausgeprägter ist. Inwie-weit diese Tendenzen, auch in Form eines veränderten Kundenverhaltens, die Handelsun-ternehmen verändern, ist vom kulturellen Umfeld ebenso abhängig wie vom Wettbewerbs-umfeld. Es ist denkbar und wahrscheinlich, dass sich viele Trends nicht durchsetzen wer-den. Ein Grund dafür kann sein, dass neue Trends entstehen und bestehende abgelöst werden. Diese schwere Prognostizierbarkeit macht es für Unternehmen schwierig, eine Entscheidung für oder gegen eine Technologie zu treffen, denn der Nutzen einer Techno-logie ist kontextabhängig. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass nicht die Entscheidung für eine Technologie die Wirtschaftlichkeit fördert, sondern der Einsatz der Technologie im Unternehmen, bei Kunden und bei Lieferanten. Sowohl Einführung als auch Einsatz brin-gen Hürden für die Organisationen mit sich, die sie Schritt für Schritt überwinden müssen. Dabei müssen sie die strategische Ausrichtung, den organisationalen Kontext und letztlich jeden einzelnen Mitarbeiter und Kunden in Betracht ziehen, und mit hoher Geschwindig-keit. Für diese Aufgaben bedarf es der notwendigen und nachhaltigen Aufmerksamkeit im Unternehmen. Diese Mentalitätsfrage und das Innovationsbewusstsein sowie die Offenheit für Flexibilität scheinen weit wichtiger für den Erfolg zu sein als die einmalige Entschei-

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209Herausforderungen und Chancen für die Digitalisierung von Handelsunternehmen 209

dung für eine bestimmte Technologie. Technologien ermöglichen das Potential, aus dem Unternehmen in einer digitalisierten Wirtschaft den Mehrwert für ihre Kunden und Mitar-beiter schöpfen können. Und das bildet letztlich die Grundlage für wirtschaftliche und gesellschaftliche Weiterentwicklung.

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AutorenBernd Leukert ist Mitglied des Vorstands der SAP SE mit globaler Verantwortung für die Entwicklung und Auslieferung aller Produkte des SAP-Portfolios. Dazu gehören die tech-nologische Grundlage sämtlicher SAP-Produkte und die gesamte Entwicklung von Anwen-dungen für Geschäftsbereiche. Zudem leitet er strategische Innovationsinitiativen und er-schließt gemeinsam mit der Entwicklungs- und der Vertriebsorganisation neue Wachstums-möglichkeiten für SAP, unter anderem in den Bereichen Internet der Dinge, Industrie 4.0 und SAP S/4HANA. Leukert zeichnet außerdem verantwortlich für User Experience und das Design der Benutzeroberflächen von SAP-Software. Neben seiner Tätigkeit für SAP ist er Mitglied des Market Strategy Board der Internationalen Elektrotechnischen Kommis-sion und im Lenkungskreis für Industrie 4.0 der deutschen Bundesregierung.

Rainer Gläß ist CEO der GK Software AG. Er gründete die Firma gemeinsam mit seinem Partner Stephan Kronmüller im Jahr 1990 und führte sie vom kleinen 2-Mann-Startup bis zur heutigen weltweiten Marktführerschaft für integrierte Retail-Software. Das börsenno-tierte Technologieunternehmen ist weltweit tätig und hat mehr als 800 Mitarbeiter. Für seine außerordentlichen Leistungen wurde Rainer Gläß mit zahlreichen Preisen geehrt, unter anderem erhielt er 2010 die Auszeichnung als „Entrepreneur des Jahres“. Seit 2015 ist Rainer Gläß Mitglied des nationalen IT-Gipfels der Bundesregierung zum Thema Digi-talisierung der Dienstleistungsbranchen.

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Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung

Dr. Eva Stüber IFH Institut für Handelsforschung GmbH, Köln, [email protected]

Dr. Kai Hudetz Geschäftsführer, IFH Institut für Handelsforschung GmbH, Köln, [email protected]

Gero BeckerIFH Institut für Handelsforschung GmbH, Köln, [email protected]

1.1 Einleitung

Der Einzelhandel durchlebt im Zuge der Digitalisierung eine fundamentale Transformati-on, die selbst die mit dem Aufkommen der Selbstbedienung einhergegangenen Verände-rungen der Handelslandschaft (Müller-Hagedorn/Preißner 1999, S. 150) in den Schatten stellt. Das Konsumentenverhalten verändert sich in einer enormen Geschwindigkeit. Der Umsatz im Online-Handel konnte 2014 die 40-Milliarden-Euro-Grenze durchbrechen. Damit wird im Einzelhandel heute bereits jeder zehnte Euro online ausgegeben (IFH Köln 2014a, S. 5f.). Bis 2020 wird der online generierte Einzelhandelsumsatz – je nach Szenario – sogar bei rund 15 bis 25 Prozent liegen (vgl. Abb. 1).

Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die verschiedenen Akteure im Handel sind immens: Vor dem Aufkommen der Digitalisierung durchwanderte ein Produkt klassischer-weise die Wertschöpfungsstufen von der Industrie über den Großhandel in den Einzelhan-del, bevor es schließlich zum Endkunden kam. Durch die zunehmende Digitalisierung und dem damit einhergehenden ubiquitären Einsatz von Informations- und Kommunikations-technologien (IKT) wurde diese tradierte Form der arbeitsteiligen Wertschöpfung aller-dings vermehrt durchbrochen. Der Handel kann aufgrund des veränderten Umfelds nicht mehr (ausschließlich) als Mittler zwischen Herstellung und Konsum gesehen werden: Der Wertschöpfungsprozess im Handel muss neu gedacht werden. Insbesondere der mit der rasanten Entwicklung des Internets aufkommende Online-Handel führte mit seiner nach-haltigen Reduktion der Transaktionskosten zu einer Relativierung der Bedeutung klassi-scher Handelsfunktionen. So erkannten beispielsweise Hersteller die Vorzüge einer integ-rierten Wertschöpfungskette und einer direkten Interaktion mit dem Kunden. Diese Funk-

R. Gläß, B. Leukert (Hrsg.), Handel 4.0, DOI 10.1007/978-3-662-53332-1_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

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214 Eva Stüber • Kai Hudetz • Gero Becker214

tionenverschiebung, die mit sich bringt, dass der Handel aus einer Funktionen- und nicht aus einer Institutionenperspektive betrachtet wird, kann in vier Möglichkeiten ausgelebt werden (Reinartz/Käuferle 2014b, S. 47):

• Ausgliederung von Aufgaben des Handels an den Kunden• Übernahme von zusätzlichen Funktionen des Herstellers durch den Handel• Schaffung und Übernahme neuer Funktionen durch den Handel• Einbeziehung neuer Teilnehmer in den Wertschöpfungsprozess durch den Handel.

Vielfach diskutiert werden als Folge der Digitalisierung auch Entwicklungen, die am Han-del vorbeigehen bzw. neue Vertragspartner hervorbringen: So entscheiden sich Hersteller vermehrt für den Direktvertrieb und schließen den Handel als Intermediär sukzessive aus der Wertschöpfungskette aus (Disintermediation). Gleichzeitig werden zunehmend Akteu-re auf den Plan gerufen, die sich auf die Bereitstellung hierfür benötigter Systeme und Prozesse spezialisierten. Versanddienstleister, Payment-Service-Provider, E-Commerce-Software-Anbieter, Markplätze usw. traten hervor und agieren ihrerseits als neue (zusätz-liche) Intermediäre am Markt (Reintermediation).

Die zentrale Herausforderung der Wertschöpfung im Handel ist dabei, sich kontinuier-lich an die sich veränderten Rahmenbedingungen anzupassen, insbesondere im Sinne einer stetigen Veränderung von Konsumentenbedürfnissen, technologischen Entwicklungen und wettbewerbsspezifischen Marktgegebenheiten. Durch die Wettbewerbs- und Umweltdyna-

Abb. 1 Umsatzentwicklung im Online-Handel 2008 bis 2020 (Prognose) Quelle: IFH Köln (2014a)

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215Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 215

mik gibt es per se keine dauerhaft, anwendbaren, erfolgsversprechenden Wertschöpfungs-modelle (Reinartz/Käuferle 2014a, S. 7f.). So haben quasi sämtliche primären und unter-stützenden Tätigkeiten entlang der Wertschöpfungskette im Zuge der Digitalisierung neue Geschäftsmodelle hervorgerufen, die ihrerseits durch hochgradige Spezialisierung eine effizientere Gestaltung von Wertschöpfungsketten versprechen. timmers (1998) sieht in dieser Art der De- und Rekonstruktion von Wertschöpfungsketten einen systematischen Ansatz zur Identifizierung potenzieller Geschäftsmodelle digitalisierter Märkte:

„A systematic approach to identifying architectures for business models can be based on value chain de-construction and re-construction, that is identifying value chain elements, and iden-tifying possible ways of integrating information along the chain.”

Die Tatsache, dass Unternehmen, die nicht in der Lage sind, ihr Geschäftsmodell den sich ändernden Umständen einer digitalisierten (Handels-)Welt anzupassen, mittelfristig aus dem Markt verdrängt werden, wird oftmals als digitaler Darwinismus beschrieben. Diese evolutorische Entwicklung äußert sich allerdings nicht nur auf unternehmensindividueller Ebene, sondern hat unternehmensübergreifende Strukturveränderungen zur Folge (Kreut-zer/Land 2013). Inwiefern die einzelnen Geschäftsmodelle heute bereits von diesen Ent-wicklungen verändert wurden, hängt zu großen Teilen von der jeweiligen Branche ab. Während insbesondere die Branchen Fashion & Accessoires sowie CE & Elektro bereits einen fortgeschrittenen Reifegrad in Bezug auf die durch die Digitalisierung induzierten Entwicklungen erreicht haben, liegen andere Branchen wie beispielsweise die FMCG- oder die Möbelbranche weit zurück (ECC Köln 2015b, S. 14). Begründet ist dies sowohl in der Produktbeschaffenheit als auch in der Verhandlungsmacht der jeweiligen Händler und Hersteller: Produkte der CE-Branche sind zum Beispiel häufig durch starke Herstellermar-ken geprägt und unter anderem auf Grundlage technischer Daten online gut abzubilden, wodurch sie für den Online-Direktvertrieb prädestiniert erscheinen. Das spiegelt sich auch im Marktanteil von Online-Shops der Hersteller sowie dem Reifegrad des Sortimentsbe-reiches im Online-Handel wider (vgl. Abb. 2). Bei Möbeln hingegen sind die Händlermar-ken denen der Hersteller vielfach überlegen. Außerdem spielt das aktive Ausprobieren bei Möbelstücken häufig noch eine deutlich wichtigere Rolle, wodurch die Digitalisierung der Möbelbranche erst seit Kurzem eine Dynamik entwickelt.

Die immensen Veränderungen, die mit der Digitalisierung auf den Handel einwirken, sind auf volkswirtschaftlich aggregierter Ebene weitestgehend klar (vgl. Eichholz-Klein/Preißner/Brylla 2014, S. 17ff.). Die „zunehmende Homogenität von Produkten und Dienst-leistungen, stagnierende bzw. schrumpfende Märkte und eine zunehmende Wettbewerbsin-tensität“ führen laut sChallmo (2013, S. 1) zu einem steigenden Preis- und Margendruck und zwingen Unternehmen zu einer Differenzierung gegenüber dem Wettbewerb. Die ge-sättigten Märkte lassen eine Differenzierung durch die inkrementelle Optimierung beste-hender Geschäftspraktiken allerdings kaum zu. Die nahezu einzig verbleibende Art der Differenzierung ergibt sich daher aus der Innovation von neuen Geschäftsmodellen, für die das Internet als Katalysator dient. Die daraus resultierenden Folgen für den Handel sind

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216 Eva Stüber • Kai Hudetz • Gero Becker216

drastisch: Gemäß einer Prognose des IFH Köln werden bis zum Jahr 2020 bis zu 78.000 bzw. 30 Prozent aller stationären Geschäftsstellen aus dem Markt ausscheiden (IFH Köln 2014b). Weitere 40 Prozent werden sich der Studie zufolge nur behaupten können, „wenn es ihnen gelingt, ihr Geschäftsmodell grundlegend zu verändern [und den] online getriebe-nen Anforderungen der Kunden gerecht“ (ECC Köln und Mücke Sturm & Company 2014) zu werden. Somit ist nicht nur der Online-Handel gefordert, neue Geschäftsmodelle zu

Abb. 3 Auswirkungen von Synergien durch Multi-Channel-Aktivitäten auf die WertschöpfungQuelle: Hudetz und Stüber (2014)

Abb. 2 Online-Reifegrade nach Branchen Quelle: ECC Köln (2015b)

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217Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 217

Tage zu fördern, sondern auch Multi-Channel-Unternehmen brauchen neue Modelle, mit welchen sie Kundenzufriedenheit und -bindung in der digitalisierten (Handels-)Welt errei-chen können (vgl. Abb. 3).

Doch wie lassen sich die Auswirkungen auf Unternehmensebene konzeptualisieren? Wie schaffen es Unternehmen, sich auf die wandelnden Bedingungen einer digitalisierten (Handels-)Welt einzustellen und ihre Geschäftsmodelle ganzheitlich der neuen Umwelt anzupassen? Der vorliegende Beitrag zeigt Schwächen tradierter betriebswirtschaftlicher Betrachtungsweisen auf und zeigt, dass innovative Handelskonzepte neuer Systematisie-rungen bedürfen. Anhand einer Geschäftsmodellbetrachtung verschiedener Case Studies, soll gezeigt werden, wie sich durch die Digitalisierung neue Arten des Wirtschaftens her-ausbilden und wie sich tradierte Handelsformate grundlegend verändern.

1.2 Geschäftsmodellkonzeptionen und ihr Wandel

1.2.1 Von der klassischen Porter´schen Wertschöpfungskette zur digi-talisierten Version

Die klassische auf Porter (1980) zurückgehende Wertschöpfungskette (vgl. Abb. 4) be-schreibt den Zusammenhang (potenziell) wertschöpfender Aktivitäten von der Eingangs-logistik über die Produktion, das Marketing, den Vertrieb, die Ausgangslogistik bis hin zum Kundendienst. Diese aufeinander aufbauenden, primären Tätigkeiten sind laut Porter Ursprung potenzieller Wettbewerbsvorteile und durch individuelle Gewinnspannen, die sich aus der Differenz geschaffener Werte und der vorgelagerten Kosten ergeben, gekenn-zeichnet. Die (potenziell) wertschöpfenden Primärtätigkeiten werden dem Modell zufolge durch die Unternehmensinfrastruktur, die Personalwirtschaft, die Technologieentwicklung sowie durch die Beschaffung unterstützt.

Die einzelnen Primäraktivitäten können dabei sowohl von einem einzigen Unterneh-men, als auch von mehreren, miteinander kooperierenden Unternehmen durchgeführt wer-den. Klassischerweise hat der Handel in diesem Zusammenhang die späteren, marktseiti-gen Primäraktivitäten vieler Hersteller übernommen und somit einen integralen Bestandteil vieler Wertschöpfungsketten ausgemacht. Der Handel schaffte durch die Spezialisierung auf Raumüberbrückungsleistungen, Präsenz- und Erhältlichkeitsleistungen, Sortiments-leistungen, Beratungsleistungen sowie Leistungen in der Nachkaufphase (Müller-Hage-dorn 1998, S. 108–110) eine vergleichsweise hohe Effizienz bei den absatzseitigen Aktivi-täten und ermöglichte in diesem Bereich Gewinnspannen, die für Hersteller aufgrund ihrer divergierenden Kernkompetenzen kaum zu erreichen waren. Hersteller wiederum konnten durch die Konzentration auf ihre Kernkompetenzen in der Produktion ebenfalls Speziali-sierungsgewinne realisieren, was dazu führte, dass die Aufteilung in Produktion und Dis-tribution in aller Regel eine global maximale Wertschöpfung bzw. eine Win-Win-Situation für Händler und Hersteller bedeutete.

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Um das Ausmaß des Einflusses des Online-Handels auf die Wertschöpfung zu erfassen, haben alBers und Peters (1997) eine Wertschöpfungskette des Handels mit distributori-schem Bezug definiert (vgl. Abb. 5). Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass sich nicht nur branchen- und betriebstypenspezifische Unterschiede in der Wertschöp-fungskette bemerkbar machen, sondern auch insbesondere vertriebstypenspezifische Be-sonderheiten und eine systematische Betrachtung der Auswirkungen im Zuge der Entbün-delung der wertschöpfenden Tätigkeiten möglich ist. Während zunächst beispielsweise Wirtschaftssubjekte aus anderen Bereichen (z. B. Logistikdienstleister) Wertschöpfungs-funktionen übernehmen bzw. diese sogar von Konsumenten getragen werden, können die Autoren in einer Folgebetrachtung im Jahr 2008 aufzeigen, dass die Entwicklungen durch den Einsatz neuer Technologien und ein sich veränderndes Konsumentenverhalten noch verstärkt worden sind. Insbesondere die Kernfunktionen des Sortiments- und Informations-management sind von der Entbündelung durch Infomediäre betroffen, womit dem Handel wesentliche wertschöpfende Tätigkeiten genommen wurden. Durch Social Media und die immer aktiveren und sich zunehmend selbst organisierenden Konsumenten ist dieser Trend vorangetrieben worden. Aber auch im Bereich der finanziellen Transaktionen, welcher durch EC- und Kreditkarten im Rahmen des bargeldlosen Bezahlens schon länger von branchenfremden Akteuren dominiert wird, kann ein weiteres Entkräften des Handels fest-gestellt werden (Peters, Albers und Schäfer 2008).

Die klassische Wertschöpfungskette wird zunehmend virtuell abgebildet und durch neue Prozesse ergänzt, um den Veränderungen durch die Digitalisierung gerecht zu werden. sCheer und loos (2002) konstatieren im Zusammenhang mit der Frage, inwiefern „die informationsbasierte Wertschöpfungskette im Rahmen ihrer Prozesse zusätzliche Werte schaffen kann“, dass „sich unterschiedlich starke Ausprägungen der eigentlichen Digitali-

Abb. 4 Traditionelle Wertschöpfungskette nach Porter Quelle: Porter (1980)

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219Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 219

sierung der Wertschöpfung unterscheiden“ lassen und hierdurch das Kontinuum zwischen der physischen und der virtuellen Wertschöpfungskette beschrieben würde. In seiner höchs-ten Form ermögliche „die IKT in der virtuellen Wertschöpfungskette die Realisierung neuartiger Geschäftsmodelle und veränderter bzw. neuer Leistungen“, die in einer rein physischen Wertschöpfungskette nicht möglich wären. In Bezug auf den Handel lässt sich dieser unterschiedliche Einfluss der Digitalisierung auf den Transformationsumfang von Geschäftsmodellen einzelner Branchen auch in der Praxis erkennen. So sind Branchen, in denen beispielweise auch die eigentlichen Produkte durch die Digitalisierung grundlegend transformiert werden (z. B. Buchbranche) durch einen noch weitreichenderen (oder zumin-dest schnelleren) Strukturwandel gekennzeichnet als Branchen, deren Kernleistungen wei-terhin auf physischen Produkten oder Dienstleitungen beruhen.

Das Thema Wertschöpfung hat sich somit weiter zu einem äußerst vielschichtigen und vernetzten Thema entwickelt. Durch eine Vielzahl an strategischen Stellschrauben kann die Wertschöpfungsleistung eines Händlers gesteigert werden: beispielsweise Management von Innovationen, Multi-Channel-Vertrieb, Einsatz von Handelsmarken, Preismanage-ment, Kundenintegration bzw. Shopper Marketing bzw. generell vorteilhafte Ausnutzung der Digitalisierung (Reinartz/Käuferle 2014a, S. 8). So haben graF und sChneider (2015) aktuell die traditionelle Wertschöpfungskette an die neuen Begebenheiten des Online-Handels angepasst und eine auf Porter basierende „Wertschöpfungskette im Online-Han-del“ entwickelt (vgl. Abb. 5).

Dabei übernehmen sie die Darstellungsweise von Porter und unterteilen die Wert-schöpfung in primäre und unterstützende Aktivitäten. Inhaltlich unterscheiden sich diese mitunter jedoch grundlegend von ihrem Ursprungskonzept, womit graF und sChneider den fundamentalen Unterschieden gerecht werden. Die neuen unterstützenden Aktivitäten

Abb. 5 Wertschöpfungskette im Online-Handel Quelle: Graf und Schneider (2015)

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sehen sie zum Beispiel in Web-Analytics und Business Intelligence sowie dem Aufbau und der Weiterentwicklung einer E-Commerce-Plattform. Die Darstellung ermöglicht eine strukturierte Betrachtung der im Online-Handel ablaufenden Wertschöpfungsprozesse. Allerdings bietet auch sie keinen Erklärungsansatz dafür, wie sich durch die Digitalisierung grundlegend unterschiedliche Geschäftsmodelle herausbilden. Da der Online-Handel ein wesentlicher Treiber der Entwicklung zum Multi-Channel-Handel ist, sind die Auswirkun-gen von diesem auf die Wertschöpfung ebenso relevant (Hudetz/Stüber 2014, S. 210f.).

1.2.2 Die Geschäftsmodellbetrachtung als Ergänzung der Wertschöp-fungskettenbetrachtung

Um der Dynamik einer digitalisierten (Handels-)Welt gerecht zu werden und stattfindende Veränderungsprozesse auf Unternehmensebene beschreiben und erklären zu können, be-darf es Instrumente und Analysemethoden, die über die Betrachtung von (klassischen) Wertschöpfungsketten hinausgehen. Mit der Entwicklung der „New Economy“ erfuhr daher das Konzept des Geschäftsmodells (Business Model) in der Betriebswirtschaftslehre einen neuen Stellenwert. Während es bei industriellen Geschäftsmodellen im Wesentlichen um die „effiziente [...] Abwicklung der physischen Wertschöpfung [sowie] der internen und externen Logistik“ (Fraunhofer IAO 2010, S. 14) ging, bei der es nicht notwendig war, „über verschiedene Geschäftsmodelle zu sprechen bzw. sich einer genauen Logikbeschrei-bung des gesamten Unternehmens außerhalb der Wertschöpfung anzunehmen“, änderte sich dies in den 90er Jahren nachhaltig: Wie dargestellt, hat das Internet als neues Vertriebs-medium bzw. neuer Markt bisher unbekannte Angebote und Wertschöpfungsmodelle ge-schaffen, wofür eine neue Wertschöpfungslogik benötigt wurde (Fraunhofer IAO 2010, S. 14). Für die Betrachtung der Geschäftslogik von nicht industriellen Unternehmen zeigt das Modell der Wertschöpfungskette daher Schwächen auf:

„Das eigentliche Nutzenversprechen an den oder die Kunden kann nicht formuliert werden. Auch die Einbeziehung verschiedener Beteiligter, wie Kunden und Partner mit dem jewei-ligen Nutzenpotenzial, kann nicht ausgedrückt werden. Bereits bei Betrachtung von realen Dienstleistungen wird dieses Modell schwer zu handhaben. Hinzu kommt, dass sich die For-mulierung einer geeigneten Sicht über die Wertschöpfungskette mit allen beteiligten Rollen für viele innovative Unternehmen als sehr schwierig herausstellt (Beispiel: eBay).“ (Fraunhofer IAO 2010, S. 14)

Das Fraunhofer-Institut konstatiert, dass die Geschäftsmodellbetrachtung für die Analyse von Wechselwirkungen mit externen Beteiligten der Wertschöpfungssichtweise überlegen sei, da diese vor allem auf die interne Struktur der Wertschöpfung abstelle. Ein Geschäfts-modell sei bei Marktveränderungen demnach besser anpassbar (vgl. Fraunhofer IAO 2010, S. 14). Ein solches Geschäftsmodellkonzept hat Wirtz im Jahr 2000 speziell für den Bereich des Electronic Business entwickelt, da auch er die Meinung vertrat, dass das

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221Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 221

E-Business im Vergleich zu tradierten Formen des Wirtschaftens veränderte Markt- und Wettbewerbsbedingungen aufweise, die eine direkte Übertragung traditioneller Ge-schäftskonzepte in das Internet als nicht erfolgsversprechend machten (Wirtz 2000, S. 81). Er unterteilt ein integriertes Geschäftsmodell (vgl. Abb. 6) in die Partialmodelle Kapital-, Beschaffungs-, Leistungserstellungs-, Markt-, Leistungsangebots- sowie Distributions-modell, wobei das Marktmodell seinerseits in Wettbewerbs- und Nachfragemodell und das Kapitalmodell in Finanzierungs- und Erlösmodell unterteilt wird. Um eine Geschäfts-modelltypologie im E-Business zu ermöglichen, grenzt Wirtz verschiedene Geschäfts-modelle anhand des Leistungsangebots voneinander ab. Dabei unterscheidet er im We-sentlichen zwischen den Typen Connection, Context, Commerce und Content, worunter sich zahlreiche in den vergangenen Jahren entstandene Geschäftsmodelle subsumieren lassen.

Einen weiteren Modellansatz lieferte osterWalder mit seiner Dissertation zur Ge-schäftsmodell-Ontologie 2004, die in einem gemeinsam mit Pigneur verfassten Handbuch mündete, das weltweit große Beachtung und vielfach praktische Anwendung fand. Mit der sogenannten Business Model Canvas (BMC, vgl. Abb. 7) haben osterWalder und Pig-neur eine „gemeinsame Sprache zur Beschreibung, Visualisierung, Bewertung und Verän-derung von Geschäftsmodellen“ (Osterwalder und Pigneur 2011, S. 16) entwickelt, die sich dazu eignet, Veränderungen unter dem Einfluss der neuen Dynamik einer digitalisierten (Handels-)Welt zu analysieren. Die Ausgangslage, die osterWalder und Pigneur der

Abb. 6 Der Geschäftsmodellansatz von Wirtz Quelle: Wirtz (2000)

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222 Eva Stüber • Kai Hudetz • Gero Becker222

BMC zugrunde legen, liest sich dabei wie die Beschreibung des im Handel seit einigen Jahren stattfindenden Strukturwandels:

„Heutzutage sind zahllose innovative Geschäftsmodelle im Entstehen begriffen. Ganz neue Branchen formen sich heraus, während die alten sich auflösen. Newcomer fordern die alte Garde heraus, von denen manche fieberhaft versuchen, sich selbst neu zu erfinden.“ (Oster-walder und Pigneur 2011, S. 16)

Gemäß osterWalder und Pigneur (2011, S. 18) hat ein Geschäftsmodell die Aufgabe, das Grundprinzip zu beschreiben, „nach dem eine Organisation Werte schafft, vermittelt und erfasst.“ Die BMC beschreibt Geschäftsmodelle dabei anhand von neun Bausteinen, die sich ihrerseits in effizienzorientierte (linke Hälfte der Canvas) und wertorientierte Baustei-ne (rechte Hälfte) unterteilen lassen. Das Fundament bildet der Gewinn, der sich implizit aus den Bausteinen „Kostenstruktur“ und „Einnahmequellen“ ergibt. Das durch das Ge-schäftsmodell erzeugte Wertangebot bildet das Herzstück der BMC, da es quasi die „Exis-tenzberechtigung“ des Geschäftsmodells darstellt. Schlüsselpartner, Schlüsselaktivitäten und Schlüsselressourcen sind die ressourcenseitigen Bausteine, die zur Erreichung des Wertangebots erforderlich sind. Marktseitig ist die BMC durch (Kommunikations- und

VertrauenDifferenzierungs-

möglichkeitenMarkterweiterung

Kosteneinsparung/Ertragserhöhung

• Unterschiedliche Kontaktpunkte

• Reduzierung wahrgenommenes Risiko

• Übertragung positiver Erfahrungen

• Mischformen von Integrations- und Separations-strategien

• Differenzierung in einzelne Bereiche wie Sortiment und Preis

• Neue Kunden-segmente

• Skaleneffekte• Cross-Selling• Kundenlenkung/

-wertsteigerung• Kanalverknüpfung• Erfüllung Kunden-

bedürfnisse

Wertschöpfung im Multi-Channel-Handel

Kundenzufriedenheit Kundenbindung

Abb. 7 Business Model Canvas Quelle: Osterwalder und Pigneur (2011)

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223Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 223

Vertriebs-) Kanäle, Kundenbeziehungen und Kundensegmente charakterisiert. Mit Hilfe der neun Bausteine können gemäß osterWalder und Pigneur (2011, S. 24–45) unter an-derem folgende, elementare Fragen eines Geschäftsmodells beantwortet werden:

Tab. 1 Erläuterung der Canvas- Elemente Schlüsselressourcen:• Welche Schlüsselressourcen erfordern die

Wertangebote?• Welche Schlüsselressourcen erfordern die

Distributionskanäle?• Welche Schlüsselressourcen erfordern die

Kundenbeziehungen?• Welche Schlüsselressourcen erfordern die

Einnahmequellen?Schlüsselaktivitäten:• Welche Schlüsselaktivitäten erfordern die

Wertangebote?• Welche Schlüsselaktivitäten erfordern die

Distributionskanäle?• Welche Schlüsselaktivitäten erfordern die

Kundenbeziehungen?• Welche Schlüsselaktivitäten erfordern die

Einnahmequellen?Schlüsselpartnerschaften:• Wer sind die Schlüsselpartner?• Wer sind die Schlüssellieferanten?• Welche Schlüsselressourcen werden von

Partnern bezogen?• Welche Schlüsselaktivitäten werden von

Partnern ausgeübt?

Kundensegmente:• Für wen wird Wert geschöpft?• Wer sind die wichtigsten Kunden?Kanäle:• Über welche Kanäle wollen Kundensegmen-

te erreicht werden?• Wie werden Kundensegmente tatsächlich

erreicht?• Wie sind die Kanäle integriert?• Welche Kanäle funktionieren am besten?• Welche Kanäle sind am kosteneffizientes-

ten?• Wie werden Kanäle in die Kundenabläufe

integriert?Kundenbeziehungen:• Welche Art von Beziehung wird von den un-

terschiedlichen Kundensegmenten erwartet?• Welche Kundenbeziehungen sind eingerich-

tet?• Wie kostenintensiv sind die Kundenbezie-

hungen?• Wie sind die Kundenbeziehungen in das

übrige Geschäftsmodell integriert?

Wertangebote:• Welcher Wert wird dem Kunden vermittelt?• Welche Probleme des Kunden werden geholfen zu lösen?• Welche Kundenbedürfnisse werden erfüllt?• Welche Produkt- und Dienstleitungspakete werden jedem Kundensegment angeboten?Einnahmequellen: Kostenstruktur:• Für welche Werte sind die Kunden wirklich

zu zahlen bereit?• Wofür bezahlen die Kunden tatsächlich?• Wie bezahlen die Kunden?• Wie würden die Kunden gerne bezahlen?• Wie viel trägt jede Einnahmequelle zum

Gesamtumsatz bei?

• Welches sind die wichtigsten mit dem Ge-schäftsmodell verbundenen Kosten?

• Welche Schlüsselressourcen sind am teuers-ten?

• Welche Schlüsselaktivitäten sind am teuers-ten?

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224 Eva Stüber • Kai Hudetz • Gero Becker224

osterWalder und Pigneur haben in ihren Ausführungen zur BMC unterschiedliche Un-ternehmenskonzepte, wie das der Entflechtung, des Long Tail, der Multi-Sided Platforms, Free als Geschäftsmodell sowie Open Business Models auf die BMC angewendet und gezeigt, wie sich Geschäftsmodelle anhand der BMC und bewährter betriebswirtschaftli-cher Konzepte in charakteristische Muster mit „ähnlichen Merkmalen, ähnlichen Anord-nungen von Geschäftsmodellbausteinen oder ähnlichen Verhaltensweisen“ (Osterwalder/Pigneur 2011, S. 59) einordnen lassen. Hiermit liefern sie ebenso wie Wirtz einen Ansatz, um unterschiedliche Geschäftsmodelle zu systematisieren und zu klassifizieren. oster-Walder und Pigneur fokussieren bei ihrer Klassifizierung allerdings stärker auf die Inter-dependenzen der verschiedenen Bausteine und klassifizieren die Geschäftsmodelle eher anhand von Strukturen als anhand der Eigenschaften einzelner Komponenten. Darüber hinaus gewährt die eher strukturorientierte Klassifizierung von osterWalder und Pigneur mehr Flexibilität bei der Identifizierung von Parallelen zwischen unterschiedlichen Ge-schäftsmodellen als die anhand von vier Leistungskriterien relativ eng gefasste Systematik von Wirtz. Aus diesen Gründen wird sie nachfolgend angewendet.

1.3 Geschäftsmodellbetrachtung anhand aktueller Beispiele aus verschiedenen Branchen

1.3.1 Überblick

Im Nachfolgenden soll anhand unterschiedlicher Beispiele gezeigt werden, wie sich inno-vative Geschäftsmodelle entwickelt haben. Geschäftsmodellinnovationen sind gemäß os-terWalder und Pigneur die Folge der Veränderung einer oder mehrerer Geschäftsmodell-bausteine. Auf Grundlage der BMC und der dahinterliegenden Systematik lassen sich dabei vier Epizentren der Geschäftsmodellinnovation unterscheiden (vgl. Osterwalder und Pig-neur 2011, S. 142f.):

• Ressourcenbedingte Geschäftsmodellinnovationen rühren aus der Veränderung der Schlüsselressource, Schlüsselpartner und/oder Schlüsselaktivitäten und erweitern oder verändern das gesamte Geschäftsmodell.

• Angebotsbedingte Geschäftsmodellinnovationen betreffen aus der Schaffung neuer Wertangebote resultierende Veränderungen.

• Kundenbedingte Geschäftsmodellinnovationen stammen aus einem oder mehreren der markseiteigen Bausteine „Kundensegmente“, „Kundenbeziehungen“ sowie „Kanäle“ und wirken sich auf das restliche Geschäftsmodell aus.

• Finanzbedingte Geschäftsmodellinnovationen resultieren aus der Umgestaltung der Kosten- und/oder Einnahmesituation und haben ihrerseits ebenfalls Einfluss auf das gesamte Geschäftsmodell.

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225Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 225

1.3.2 Ressourcenbedingte Geschäftsmodellinnovationen

Als Beispiel einer ressourcenbedingten Geschäftsmodellinnovation kann die Einführung der Amazon Web Services (AWS) durch den ursprünglichen Online-Buchhändler Ama-zon aufgefasst werden (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 142). Um dies zu zeigen, haben osterWalder und Pigneur (2011) ex post eine SWOT-Analyse des Amazon-Geschäftsmodells aus dem Jahr 2005 durchgeführt und in verschiedenen Bausteinen der BMC Stärken und Schwächen identifiziert (vgl. Abb. 8). So war das damalige Wertan-gebot zwar bereits durch ein enormes Sortiment gekennzeichnet, allerdings waren die darin enthaltenen Artikel vergleichsweise geringwertig. Das führte zu geringen Margen und zu einer relativ hohen Kapitalsensibilität. Die Analyse zeigt, dass die Einführung der AWS im Jahr 2006 eben diese Schwächen des vormaligen Geschäftsmodells gezielt durch die eigenen Stärken in der IT-Infrastruktur ausgeglichen haben (vgl. Abb. 9). Die ohnehin bestehenden Schlüsselressourcen und -aktivitäten wurden genutzt, um ein zu-sätzliches Wertangebot zu schaffen und damit neue Kundensegmente und Einnahmequel-len zu erschließen.

Abb. 8 Hauptsächliche Stärken und Schwächen von Amazon.com im Jahre 2005 Quelle: Osterwalder und Pigneur (2011)

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Auch das Start-up im Lebensmittelbereich Shopwings1 kann in diesem Kontext aufge-führt werden: Das Thema Online-Lebensmittelhandel wird heiß diskutiert, jedoch haben sowohl die klassischen Lebensmittelhändler wie Rewe und Edeka als auch die Internet-Pure-Player um Allyouneed.de und mytime.de Probleme, die logistischen Herausforderun-gen zu lösen und die anspruchsvollen deutschen Konsumenten, die auf ein gut ausgebautes Filialnetz vor Ort zurückgreifen können, zu erreichen und Kundenbedürfnisse zu befriedi-gen. Das Geschäftsmodell von Shopwings sieht daher weder eigene Bestände noch ausge-feilte Logistiksysteme vor. Im Internet bzw. der App werden daher über 20.000 Produkte von Aldi, Edeka, Alnatura Biomarkt, Frischeparadies & Lidl angeboten, die von Shoppern in der Nähe des Bestellers in den jeweiligen Märkten gepickt werden und zum Wunschter-min schon zwei Stunden später ausgeliefert werden. Ertragsquellen für Shopwings sind hierbei eine Zustellgebühr von 4,90 Euro sowie die Handelsmarge: Die Preise bei Shop-wings liegen im Schnitt zehn bis 15 Prozent über den Ladenpreisen (Gassmann 2015).

1 Am 15.07.2015 wurde bekannt gegeben, dass das Start-up Shopwings seine Aktivitäten in Deutschland einstellt.

Abb. 9 Gelegenheiten, die Amazon.com 2006 auslotete Quelle: Osterwalder und Pigneur (2011)

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227Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 227

Ebenso kann die Vertikalisierung im Textilhandel als ressourcenbedingte Geschäftsmo-dellinnovation angesehen werden: So produzieren und vertreiben zum Beispiel H&M sowie ZARA (Inditex) ausschließlich ihre eigenen Waren über ihre Kanäle (Reinartz/Käuferle 2014b, S. 51f.). Auch der Internet-Pure-Player Zalando hat in seinem Sortiment einen sehr hohen Anteil an Eigenmarken, um die eigene Wertschöpfung zu erhöhen. AboutYou, die eine ähnliche Strategie fahren, gehen sogar noch einen Schritt weiter und werden die Eigenmar-ken zukünftig auch in fremden stationären Shops vertreiben. Dieser Trend der Rückwärtsin-tegration macht sich auch seit geraumer Zeit im Lebensmittelhandel bemerkbar. „Auch wenn heute der größte Teil durch Hersteller produziert wird, so ist die graduelle Ausweitung der Kontrolle bzw. Funktionsübernahme offenbar“ (Reinartz/Käuferle 2014b, S. 52).

1.3.3 Angebotsbedingte Geschäftsmodellinnovationen

Ein innovatives Geschäftsmodell, dessen Ursprung in einem veränderten Wertangebot liegt (angebotsbedingte Geschäftsmodellinnovationen), ist mit Curated Shopping entstanden. Neue Player wie Outfittery oder Modomoto haben einer relativ spezifisch definierten Ziel-gruppe ein neues Wertangebot geschaffen, indem sie es ihr ermöglichen, für erschwingliche Preise von einem persönlichen Stilberater eingekleidet zu werden, ohne dafür das Haus verlassen zu müssen. Auch hierbei wirkt sich die Veränderung eines Bausteins auf andere Komponenten des Geschäftsmodells aus. So spricht es nicht nur andere Kundensegmente an, als ein „herkömmlicher“ Fashion-Shop, sondern erfordert auch grundlegend differie-rende Schlüsselaktivitäten. So geht es im Kern nicht mehr um ansprechende Produktprä-sentation und effizientes Fulfillment, sondern vor allem um individuelle Style-Beratung und das Zusammenstellen kundenindividueller Outfits. Um diese Schlüsselaktivitäten um-setzen zu können, werden außerdem andere Schlüsselressourcen benötigt (z. B. entspre-chend qualifizierte Style-Berater).

In diesem Bereich kann auch der Einrichtungshändler Butlers aufgeführt werden, der sich durch sein erfolgreiches Laden- und Managementkonzept auszeichnet. Mit der Mar-kenwelt wurde neben den klassischen Wertschöpfungsaktivitäten ein Differenzierungskri-terium zum Wettbewerb geschaffen. Die Entertainmentfunktion durch die Umfeldvariablen hat hierbei den Zweck, den Fokus vom Produkt wegzulenken und den Kunden während seines Einkaufsprozesses zu inspirieren (Reinartz/Käuferle 2014b, S. 55).

1.3.4 Kundenbedingte Geschäftsmodellinnovationen

Als Beispiel kundenbedingter Geschäftsmodellinnovation kann die Erweiterung um zusätz-liche Kommunikations- und Vertriebskanäle im Handel genannt werden. Veränderte Kun-denbedürfnisse haben dazu geführt, dass in den vergangenen Jahren sowohl ursprünglich rein stationäre als auch ursprüngliche Online-Pure-Player den Online- bzw. stationären Kanal als zusätzlichen (Kommunikations-/) Vertriebskanal aufgenommen haben. Die ver-

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228 Eva Stüber • Kai Hudetz • Gero Becker228

änderten Kundenbedürfnisse drücken sich dadurch aus, dass Konsumenten zunehmend se-lektiv kaufen, also je nach Situation und Bedarf entweder im Online-Shop oder im stationä-ren Ladengeschäft einkaufen und dabei im Laufe ihrer Customer Journey zwischen den Kanälen wechseln, um die Vorteile beider Kanäle zu nutzen. Die logische Konsequenz dieser Veränderung der Kundenbedürfnisse ist die Verschmelzung der verschiedenen Kanä-le und der Schaffung eines neuen Wertangebotes in Form eines kanalübergreifend integrier-ten Einkaufserlebnisses (vgl. ECC Köln 2015a). So hat die Media Saturn-Gruppe ihr Ver-triebskonzept beispielsweise auf den Online-Kanal ausgeweitet und mit verknüpfenden Services die Integration der verschiedenen Kanäle vorangetrieben. Diese Erweiterung des bestehenden Geschäftsmodells vom Einkanalvertrieb hin zum Multi-Channel- bzw. Cross-Channel-Handel hat darüber hinaus noch weitergehenden Einfluss auf andere Geschäftsmo-dellkomponenten. So ist zwangsläufig auch eine Adaption im Bereich der Schlüsselpartner, -ressourcen und -aktivitäten erforderlich, was wiederum einen Einfluss auf die Kostenstruk-tur des Unternehmens hat. Gleichzeitig ist jedoch auch mit einer Veränderung der Einnah-mequellen zu rechnen. Verschiedene Studien haben beispielsweise gezeigt, dass der Multi-/Cross-Channel-Vertrieb zu durchschnittlich höheren Warenkörben führt als der Vertrieb über nur einen Kanal. Eine gegenseitige Kannibalisierung der unterschiedlichen Kanäle findet also lediglich zu einem gewissen Teil statt, wodurch die Gesamteinnahmen im Mehr-kanalvertrieb tendenziell steigen (z. B. ECC Köln 2013; Accenture/GfK 2015, S. 9).

Eine weitere durch den Kunden getriebene Geschäftsmodellinnovation sind Online-Shopping-Clubs. Dem Kundenbedürfnis nach Exklusivität und einer individuellen, perso-nalisierten Ansprache entgegnen Shopping-Clubs mit einem (scheinbar) limitierten und registrierungspflichtigen Zugang. Der Shopping-Club Westwing beispielsweise unter-scheidet sich von anderen Online-Shops der Branche Wohnen & Einrichten dadurch, dass eine persönlichere Kundenbeziehung ermöglicht wird. Dieser grundlegende Unterschied im Wertangebot wirkt sich auf das gesamte Geschäftsmodell aus. Anstatt dem Kunden als rein effizientem Transaktionspartner zu begegnen, wird ihm im Kern Emotionalität und Inspiration geboten, die er durch den Produktkauf in sein eigenes Wohnerlebnis transferie-ren kann.

1.3.5 Finanzbedingte Geschäftsmodellinnovationen

Finanzbedingte Geschäftsmodellinnovationen treten zum Beispiel in Form neuer Sharing-Angebote auf2. Was von vielen mit dem Begriff der „Share Economy“ sogar als epochaler Umbruch gewertet wird, bezeichnet den Übergang vom Produktkauf hin zur temporär begrenzten Produktnutzung. Befeuert durch das Internet, entwickeln sich zunehmend digi-

2 Die Geschäftsmodelle der Betreiber von Sharing-Plattformen unterscheiden sich zwar in ver-schiedenen Bausteinen grundlegend von „typischen“ Einzelhandelsgeschäftsmodellen, da der Ursprungsgedanke aber dem „Mieten statt Kaufen“-Prinzip zugerechnet werden kann, wird das Epizentrum dieser Geschäftsmodellinnovation in der veränderten Einnahmequelle verortet, wenn-gleich auch eine Verortung in dem veränderten Wertangebot für den Konsumenten denkbar wäre.

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229Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 229

tale Plattformen, die sich die Vermittlung von Vermietern und Mietern bzw. das eigene Vermieten zum Ziel gesetzt haben. Was vor vielen Jahren schon in vereinzelten Branchen üblich war, erhielt mit den gesenkten Transaktionskosten des Internets neuen Nährboden. Inzwischen haben sich quasi für jede Produktsparte Geschäftsmodelle entwickelt, die sich von bestehenden Geschäftsmodellen im Kern dadurch differenzieren, dass ihre Einnahme-quellen nicht aus Verkaufserlösen, sondern aus Mieteinnahmen bzw. Provisionen bestehen. Von Sharing Angeboten im Fashion-Bereich (z. B. kleiderei.com), über Fahrdienste (z. B. Uber) bis hin zum „Unterkunft-Sharing“ (z. B. Airbnb). Für den Konsumenten ergeben sich hierdurch zwangsläufig andere Wertangebote: Anstatt sich durch einen (teuren) Produkt-kauf dauerhaft für ein bestimmtes Produkt zu entscheiden, teilt er sich mit anderen Konsu-menten einen quasi unbegrenzten Kleiderschrank, findet weltweit und jederzeit einen „pri-vaten“ Chauffeur und kann auf der gesamten Welt in wechselnden Privatunterkünften übernachten.

Doch nicht nur in der Share Economy gewinnen Plattformbetreiber durch die Digita-lisierung an Bedeutung. (Multi-Sided) Plattformen treten auch im herkömmlichen Han-del zunehmend in Erscheinung. Sie treten dabei nur – oder zumindest teilweise – als Vermittler auf und sind dadurch gekennzeichnet, „zwei oder mehrere unterschiedliche, aber voneinander abhängige Kundengruppen zusammen“ (Osterwalder und Pigneur 2011, S. 81) zu führen. Die Wertschöpfung entsteht im Wesentlichen dadurch, die Inter-aktion zwischen den beiden Kundengruppen zu ermöglichen. Häufig wird dabei sogar nur eine der beiden Kundengruppen direkt „zur Kasse gebeten“. Die andere dient dazu, die Attraktivität für die zahlende Kundengruppe zu erhöhen und wird nicht selten sogar durch besondere Anreize angelockt, um dem Unternehmen sogenannte Netzwerkeffekte zu ermöglichen.

Zudem war es durch die Digitalisierung von Produkten (z. B. im Bereich Bücher & Medien) möglich, vollkommen neue Kosten- und Einnahmesituationen zu schaffen, die Auswirkungen auf das komplette Geschäftsmodell haben. So vereinnahmen E-Books im Jahr 2014 bereits 4,3 Prozent des Buchhandelsumsatzes – 2012 lag der Anteil noch bei 2,4 Prozent (Börsenverein des Deutschen Buchhandels, 2014/2015). Gänzlich neue Möglichkeiten werden auch durch die Möglichkeit des 3D-Drucks entstehen, bei wel-chem der Kunde selbst zum Produzent wird. „Letztlich könnte die 3D-Druck-Bewegung größere Auswirkungen auf den Einzelhandel als auf die Produktion haben“, heißt es in Fachkreisen. „Dadurch, dass man die Mittel, um Gegenstände auszudrucken, zu Hause hat, wird sich die Art, Dinge zu kaufen, radikal verändern. Eines der Modelle für die Zukunft ähnelt iTunes. Dort lädt man digitale Designs wie heute Lieder und Filme“ (Balsuto 2013).

1.4 Fazit

Die Digitalisierung bringt tiefgreifende Veränderungen in allen Branchen und Lebensbe-reichen mit sich. In enormer Geschwindigkeit ruft sie vor allem auch in der Handelsbranche

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innovative Geschäftsmodelle hervor und erfordert gleichzeitig die Adaption von bestehen-den Geschäftsmodellen an die sich rasant wandelnden Umweltbedingungen. Hierzu gehört es insbesondere auch, tradierte Betrachtungsweisen über die Art und Weise der eigenen Wertschöpfung kritisch zu hinterfragen. Zahlreiche Geschäftsmodelle zeigen längst, dass das Denken in klassischen Wertschöpfungsketten oftmals überholt ist. In vielen Fällen sind heutzutage genau solche Unternehmen erfolgreich, die über die interne Prozesseffizienz hinausdenken und die Chancen der Digitalisierung nutzen, um sich in neuartiger Form in ihrer Unternehmensumwelt zu positionieren und Kundenbedürfnisse auf neue Weise zu bedienen. Das Internet und damit einhergehenden Technologien bieten den Nährboden, um neue Verbindungen zwischen bestehenden Wertschöpfungselementen zu knüpfen und die tradierte Prozesssicht aufzubrechen. elsner et al. (2014, S. 201) weisen darauf hin, dass ein besonderes Augenmerk auf die „technische Mobilisierung von Informationsbereit-stellung/-gewinnung und Kaufgelegenheiten zu legen [sei]“.

Für Konsumenten bietet dies viele Vorteile, die sich in Transparenz, Convenience und Service zeigen. Für Händler bringt dies Herausforderungen im wirtschaftlichen, organisa-torischen und kulturellen Bereich mit sich. Bestehende Geschäftsmodelle versagen im Zeitalter der Digitalisierung, da sie lediglich ein Spiegelbild der Organisation sind, welche nicht mit den benötigten Fähigkeiten ausgestattet ist: So bringen starre Organisationen nur starre Geschäftsmodelle hervor (Graf 2015). Während neue Player mit digitalen und inno-vativen Geschäftsmodellen in den Markt eintreten, sind bestehende Unternehmen gefor-dert, ihr Geschäftsmodell den Bedingungen einer digitalisierten Welt anzupassen. Die Geschäftsmodellbetrachtung, wie sie etwa die Business Model Canvas ermöglicht und wie sie bis vor einigen Jahren vorzugsweise von jungen Start-ups praktiziert wurde, eignet sich insbesondere auch für etablierte Unternehmen, um das Grundprinzip, nach dem Werte geschaffen, vermittelt und erfasst werden (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011) in einem Gesamtgefüge aus internen und externen Rahmenbedingungen kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls anzupassen.

Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom:

„Wir sind genial darin, Prozesse und Produktivität zu optimieren. Für die Zukunft müssen wir uns besser darauf verstehen, Geschäftsmodelle zu verbinden. Diese Vernetzung macht einen Großteil des Erfolgs der Amerikaner aus.“ (Höttges 2015, S. 46).

XING-Gründer und CEO von Cinco Capital:

„Alles, was digital sein kann, wird digital werden. Kein Unternehmen, kein Produkt ist davon ausgenommen. Unternehmer sollten deshalb ihr Geschäftsfeld zumindest online erweitern. Besser noch, sie etablieren neue digitale Geschäftsmodelle.“ (Hinrichs 2015).

Geschäftsmodelle in der Zukunft können und werden daher ganz anders geartet sein. Erste Ansätze zeigen sich beispielsweise bei den folgenden Innovationen:

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231Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 231

• Predictive Shipping: Amazon experimentiert mit der Bereitstellung von Waren, die in einem Liefergebiet häufig bestellt werden, ohne vorherige Bestellung und ermöglicht damit einen unmittelbaren Zugriff für die Konsumenten.

• Autonomes Fahren: Selbstständig fahrende Autos ermöglichen dem „Fahrer“ die Zeit im Auto für alternative Tätigkeiten zu nutzen. Außerdem laufen Tests mit Autos als autonome Lieferboxen.

• Spracherkennung: Die (Nach-)Bestellung von Produkten per Spracherkennung soll den Einkaufsprozess weiter vereinfachen.

• Lösungen wie Shopcloud, die ein übergeordnetes Frame für Online-Bestellungen bieten und damit auch durch die Datenflut eine große Macht über die Konsumenten bekommen.

Einfache Formeln, mit welchen Geschäftsmodell Unternehmen zukünftig erfolgreich sein werden, gibt es leider nicht – und schon gar nicht langfristig. Es stellt sich auch die Frage, mit welchen Geschäftsmodellen Unternehmen noch schnell wachsen können. Konsumen-ten fordern Cross-Channel-Unternehmen, die im Flächenwachstum sehr kostenintensiv sind. Dezentrale Modelle wie Franchise oder Genossenschaften bieten sich hierfür nicht mehr an, da der Online-Handel bzw. Cross-Channel-Handel selbst, damit nicht direkt gut und sauber umgesetzt werden kann. So ist die Ausgestaltung der Unternehmensorganisati-on für die Umsetzung eines Geschäftsmodells ebenso entscheidend wie der Digitalisie-rungsgrad. Kernkompetenzen sind daher in jedem Fall digitaler Verstand und Zentralität. Klar ist, dass Daten das Gold der Neuzeit sind und man sie in seinem Geschäftsmodell adäquat einsetzen muss, um sich dem Wettbewerb gegenüber zu positionieren.

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233Veränderung der Geschäftsmodelle im Handel durch die Digitalisierung 233

AutorenDr. Eva Stüber ist Leiterin Research und Consulting am IFH Köln. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Fragestellungen des Cross-Channel-Managements sowie der Digi-talisierung im Handel und Innovationen. Am IFH Köln ist sie seit 2012, zuvor in der Funk-tion als Senior Projektmanagerin ECC Köln. Auch zuvor während ihres Diplom-Studiums der Betriebswirtschaftslehre an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken und ihrer Tä-tigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der BTU Cottbus hatte sie zahlreiche Berüh-rungspunkte mit dem Handel allgemein und speziell dem E-Commerce. In ihrer Promotion hat sie sich empirisch mit der „Personalisierung im Internethandel“ beschäftigt.

Dr. Kai Hudetz ist seit August 2009 Geschäftsführer der IFH Institut für Handelsforschung GmbH Köln. Zuvor leitete er das dort angesiedelte E-Commerce-Center (ECC Köln), dessen Gründung er 1999 mitinitiierte. Mit seiner langjährigen Expertise ist Dr. Hudetz einer der gefragtesten E-Commerce-Experten in Deutschland. Als Autor von Studien und zahlreichen Fachartikeln beschäftigt er sich mit aktuellen Fragen des Handels im digitalen Zeitalter. Neben seiner Tätigkeit als Gastdozent an verschiedenen Hochschulen, ist Kai Hudetz gefragter Speaker und Moderator auf hochkarätigen Branchenevents. Darüber hi-naus ist Dr. Hudetz Mitglied in verschiedenen Aufsichts- und Beiräten.

Gero Becker ist seit September 2015 Junior Projektmanager am IFH Köln und der dort angesiedelten Marke ECC Köln. Am IFH Köln beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit den Themen Customer-Journey-Benchmarking und Erfolgsfaktoren im E-Commerce. In seinem wirtschaftswissenschaftlichen Bachelorstudium an der Universität zu Köln und seinem Masterstudium „Corporate Development and Strategy“ an der RWTH Aachen und der University of Essex hat er einen besonderen Fokus auf unternehmensstrategische Fra-gestellungen aus der Welt des Handels gelegt. Parallel zu seinem Studium war er bereits seit 2013 als studentischer Mitarbeiter, Praktikant und Masterand am IFH Köln tätig.

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Omni-Channel und Modularisierung bei Coop

Format- und kanalübergreifender Handel und Digitalisierung

August HarderCIO, Coop Schweiz, Basel, [email protected], CC an: [email protected]

1.1 Die Coop-Gruppe – viel mehr als ein Supermarkt

Wer in der Schweiz „Coop“ hört, denkt sofort an den Supermarkt um die Ecke. Doch Coop ist weit mehr als das: Neben den über 800 Supermärkten führt Coop im Schweizer Detail-handel (Einzelhandel) zahlreiche Fachformate, die oftmals nicht das Coop-Logo tragen. Beispielsweise gehören Interdiscount, die Nummer eins im Schweizer Markt für Unterhal-tungselektronik, The Body Shop Switzerland und Christ, die größte Uhren- und Schmuck-kette der Schweiz, zur Coop-Gruppe. Tab. 1 gibt einen Überblick über die Fachformate der Coop-Gruppe.

Die Coop-Gruppe ist darüber hinaus auch in der Produktion und mit der Transgourmet Holding AG im nationalen und internationalen Abhol- und Belieferungsgroßhandel tätig. Auf die Sparte Großhandel/Produktion wird jedoch an dieser Stelle nicht näher eingegan-gen, da der Fokus des vorliegenden Beitrags auf den Detailhandel gelegt wird.

Viele Formate der Coop-Gruppe verfügen neben den stationären Verkaufsstellen über einen E-Shop und zum Teil auch über einen Mobile-Shop. Außerdem gibt es sogenannte Pure-Player wie Microspot.ch (Schwerpunkt Unterhaltungselektronik) und Nettoshop.ch (Schwerpunkt Elektrohaushaltsgeräte). Durch die Vielfalt der Formate und Absatzkanäle bieten sich zahlreiche Möglichkeiten für Verknüpfungen zwischen verschiedenen Absatz-kanälen und über Formate hinweg, wie folgende Beispiele zeigen:

• Ein Kunde bestellt online ein iPad beim Pure-Player Microspot.ch und holt es nach der Arbeit in einem Coop-City-Warenhaus ab.

• Am Tag vor Ferienende bestellen Kunden bei coop@home frische Lebensmittel und holen diese nach Ankunft am Flughafen Zürich spätabends an der Pick-up-Station im Flughafen ab.

• Ein in der nahegelegenen Interdiscount-Filiale ausverkaufter Fernseher wird in der Filiale bestellt und nach Hause geliefert.

R. Gläß, B. Leukert (Hrsg.), Handel 4.0, DOI 10.1007/978-3-662-53332-1_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

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236 August Harder236

• In einer Filiale der Import Parfümerie ist das Parfum nicht mehr in der Wunschgröße des Kunden vorhanden. Der Verkäufer kann über die Kasse eine Kundenbestellung aufgeben und diese wird dem Kunden per Express-Paket nach Hause geliefert.

• Im Bau-und-Hobby-Online-Shop kann der Kunde den aktuellen Bestand der Produkte abrufen und diese entweder direkt nach Hause oder zur Abholung in die Filiale bestellen.

Tab. 1 Verkaufsformate der Coop-Gruppe (Detailhandel Schweiz) Quelle: Eigene Darstellung gemäß Unternehmensbroschüre

Logo Format Bereich Physisch E-Shop

Coop Supermarkt x coop@home

Coop City Warenhaus x

Coop Bau+Hobby Baumarkt x x

Coop Mineraloel Tankstellen & Heizöl x E-Shop Heizöl

Coop Pronto Convenience-Shops x

Coop Vitality Apotheken x

Toptip Einrichtungshaus x x

Lumimart Lampenmarkt x x

Betty Bossi Kochbücher, Zeitung, Küchenhelfer

x

Import Parfumerie Parfümerien x x

The Body Shop Switzerland

Kosmetika x x

Christ Uhren & Schmuck

Uhren- und Schmuck x x

Interdiscount Unterhaltungselektronik x x

Dipl. Ing. Fust AG Elektrohaushaltsgeräte/ Unterhaltungselektronik

x x

Schubiger Elektrohaushaltsgeräte x x

Coop@home Online-Supermarkt x

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237Omni-Channel und Modularisierung bei Coop 237

Logo Format Bereich Physisch E-Shop

Microspot.ch Online-Anbieter für Elektro-haushaltsgeräte/ Unterhal-tungselektronik

Showroom x

Nettoshop.ch Onlineshop für Haushalts-geräte

Showroom x

ITS Coop Travel Online-Reiseveranstalter x

Coop Restaurant Selbstbedienungsrestaurants x

Marché Restau-rants Schweiz

Selbstbedienungsrestaurants x

Vor diesem Hintergrund hat sich Coop die Frage gestellt, welcher der zum Teil synonym verwendeten Begriffe Multi-Channel, Cross-Channel und Omni-Channel die Situation bei Coop am besten beschreibt und ist zu folgender Unterscheidung gelangt:

• Multi-Channel: Der Kunde kann zwischen mehreren Kanälen wählen, die aber nicht miteinander verknüpft sind. Dies spiegelt die Ausgangssituation vieler E-Shops bei Coop wieder, da zu Beginn die Anstrengungen zunächst auf den Aufbau der neuen Absatzkanäle und deren Logistikprozesse gelegt wurden.

• Cross-Channel: Die unterschiedlichen Absatzkanäle sind miteinander verbunden und die Kunden können während einer Transaktion mehrere Kanäle nutzen, z. B. Artikel bei Interdiscount online bestellen und in einer Interdiscount Filiale abholen oder einen online bestellten Wein mit Korkton in einem Coop Supermarkt umtauschen. Diese Beispiele zeigen, dass bei Coop Cross-Channelling schon weit verbreitet ist. Dass die physischen und online Kanäle eines Formats jeweils der gleichen Führungsperson unterstellt sind, erleichtert dabei die Ausgestaltung der Zusammenarbeit.

• Omni-Channel: Die Verbindung der verschiedenen Absatzkanäle ist beim Omni-Channel Commerce so gestaltet, dass für die Kunden in allen Kanälen ein einheitli-ches Einkaufserlebnis gewährleistet ist und sie nahtlos zwischen verschiedenen Kanälen wechseln können. Grundlage hierfür sind IT-Systeme, die aus allen Kanälen die gleiche Sicht auf Artikel, Bestände und Kundendaten zulassen. Beispielsweise kann heute ein Kunde bei Coop im E-Shop von Mondovino Wein kaufen, diesen Warenkorb dann in den E-Shop Coop@home übertragen, um zusätzlich Lebensmittel einzukaufen und den Einkauf ein paar Stunden später an der Pick-up-Station einer physischen Filiale abzuholen. Zurzeit laufen bei Coop zahlreiche IT-Projekte, die die Voraussetzungen für weitere Omni-Channel-Prozesse schaffen.

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1.2 Standardisierung bei den zugrunde liegenden IT-Systemen

Angesichts der Vielzahl an Absatzkanälen und Formaten, die jeweils nur den vergleichbar kleinen Schweizer Markt bedienen – und dies noch dreisprachig – steht die IT von Coop vor besonderen Herausforderungen, um die IT-Kosten möglichst tief zu halten. Eine Mul-tiplikation bestehender und bewährter Prozesse in andere Länder – wie dies bei bekannten Onlineplattformen häufig angewandt wird – ist für Coop aufgrund der regionalen Gebun-denheit nicht möglich. Die Antwort darauf ist eine weitgehende Standardisierung bei den zugrunde liegenden IT-Systemen.

Standardisierung bedeutet, dass möglichst viele Formate die gleichen IT-Systeme ver-wenden. Individuelle Lösungen sind nur zugelassen, wo dies aufgrund spezifischer ge-schäftlicher Anforderungen notwendig ist. In der praktischen Umsetzung bedeutet dies, dass die zentralen Systeme ERP, Lagerverwaltungssystem, Kassen, Filialwarenwirtschaft und Personaleinsatzplanung so konzipiert wurden, dass sie die zentralen Anforderungen aller Formate erfüllen. Dabei werden auch Zusatzanforderungen von einzelnen Formaten im gemeinsamen System umgesetzt. Oft kommen diese Zusatzfunktionen zu einem späte-ren Zeitpunkt auch in anderen Formaten zum Einsatz. So waren Kundenbestellungen in den Filialen zu Beginn nur eine Anforderung des Möbelmarkts Toptip, des Baumarkts Coop Bau+Hobby und bei Christ Uhren & Schmuck. Mit zunehmender Verbreitung von virtuel-len Zusatzsortimenten werden in immer mehr Formaten Kundenbestellungen getätigt. Ha-ben die einzelnen Fachformate darüber hinaus sehr individuelle, geschäftsspezifische An-forderungen, werden diese mit separaten Lösungen umgesetzt. Abb. 1 veranschaulicht dieses Prinzip.

Abb. 1 Standardisierung und Systemumfang Quelle: Eigene Darstellung

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Bei der Einführung eines neuen zentralen Systems kommt jeweils eine Art Pionierme-thode zum Einsatz: Das neue System wird dabei jeweils zunächst für ein einzelnes Format umgesetzt – meist für die Supermärkte. Sobald dieses System erfolgreich läuft, wird mit der Umsetzung beim nächsten Format begonnen. Dieses Vorgehen wird immer weiterge-führt, wobei die Projekte mit zunehmender Erfahrung stärker parallelisiert werden können. Der Funktionsumfang des Standardsystems wächst dabei zunehmend.

Im folgenden Kapitel wird anhand von drei Beispielen aufgezeigt, wie aufgrund der Tatsache, dass bei Coop die zentralen IT-Systeme standardisiert sind, neue digitale Ange-bote multipliziert und in weiteren Formaten verbreitet werden können.

1.3 Beispiele für die Multiplikation von digitalen Angeboten

1.3.1 Digital Services mit der GK Kasse

1.3.1.1 Digital CouponingIm Jahr 1999 hat Coop die Kundenkarte Supercard eingeführt. Mittlerweile gibt es über 4 Mio. Mitglieder, davon werden 2,9 Mio. Kundenkarten mindestens einmal im Monat ein-gesetzt. Im Coop Supermarkt wird bei 75 % der Einkäufe von den Kunden die Supercard vorgewiesen.

Kunden, die ihre Supercard an der Kasse scannen lassen, erhalten pro Franken Umsatz einen sogenannten Superpunkt auf ihrem Kundenkonto gutgeschrieben. Zusätzlich gibt es viele weitere Vergünstigungen, die zum Teil an einen Coupon gebunden sind, wie beispiels-weise der beliebte 5-fach Superpunkte-Bon. Diese Coupons werden insbesondere über das Kundenmagazin Coop Zeitung verteilt, das wöchentlich mit einer Auflage von über 2.5 Mio. Exemplaren erscheint. Um vom 5-fach Superpunkte-Bon profitieren zu können, müssen die Kunden diesen aus der Zeitung ausschneiden und an der Kasse zusätzlich zu ihrer Supercard vorlegen. Da viele Kunden diese Papier-Coupons zuhause vergessen, wur-de schon lange der Wunsch nach einer praktischeren Lösung geäußert.

Nach Abschluss der Umstellung des Kassensystems auf GK Retail konnte im Jahr 2012 das Couponing-Projekt gestartet werden. Bereits vorher war klar, dass für Coop nur Digital Couponing infrage kommt. Diese Lösung zeichnet sich dadurch aus, dass die Coupons von den Kunden via Web oder Smartphone-App aktiviert und diese Informationen im CRM-System als zusätzliches Kennzeichen hinterlegt werden. Beim nächsten Einkauf werden dann neben dem Superpunkte-Stand auch die aktivierten Coupons von der Kasse via Web-Service abgeholt und bei der Berechnung des Endpreises und der aus dem Einkauf erzielten Treuepunkte berücksichtigt.

Im Gegensatz dazu wird unter Mobile Couponing eine Lösung verstanden, bei der die Coupons auf dem Smartphone als Barcode angezeigt sind, und an der Kasse vom Kassen-personal eingescannt werden müssen. Da bei Coop der Check-out-Prozess an den Super-markt-Kassen den Takt für das gesamte Kassensystem vorgibt, hatte eine Lösung, bei der

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240 August Harder240

jeder einzelne Coupon – die Kunden können heute für jeden Einkauf bis zu fünf Coupons aktivieren – an der Kasse vom Smartphone abgescannt werden muss, keine Chance. Zu groß wäre der Zeitverlust an der Kasse, wenn die Kunden ihr Smartphone herausholen und nacheinander fünf Coupons abscannen lassen würden. Bei Coop konnte mit Digital Cou-poning eine Beschleunigung des Check-out-Prozesses, im Vergleich zum Einsatz von Cou-pons in Papierform, erzielt werden. Abb. 2 zeigt noch einmal das Zusammenspiel zwischen Kasse und CRM-System bei Digital Couponing auf. Nach dem Scannen des Barcodes der Supercard wird diese Kundenkartennummer an das CRM-System übertragen (1.). Das CRM-System gibt als Antwort den Punktestand und die vom Kunden vorher aktivierten Coupons zurück (2.). Die Rabattberechnung basiert dabei auf den im Kassensystem für die Coupons hinterlegten Konditionen; analog denen des Print-Coupons. Die Kasse meldet anschließend die eingelösten Coupons via Backoffice-Rechner (3.) an das CRM-System zurück (4.). Anschließend werden die Statusänderungen bei den Coupons auf der Websei-te oder App der Kunden nachgeführt: In der Rubrik Eingelöst erscheinen die beim Einkauf verwendeten Coupons. Die Coupons, die aktiviert, aber nicht verwendet wurden – weil z. B. das rabattierte Produkt nicht gekauft wurde – stehen weiterhin zur Verfügung.

Im Frühjahr 2013 konnte eine Closed User Group die ersten Coupons testen. Am 1. Juni 2013 wurde Digital Couponing im Bereich Supermarkt mit der Bezeichnung digitale Bons für diejenigen Kunden lanciert, die Mitglieder des „Hello Family Clubs“ sind. Das ist ein

Abb. 2 Digital Couponing: Zusammenspiel zwischen Kasse und CRM-System Quelle: Eigene Darstellung

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241Omni-Channel und Modularisierung bei Coop 241

spezieller Club für Familien mit Kindern, der seinen Mitgliedern zusätzliche Vorteile und Informationen innerhalb der Community bereitstellt. Nachdem erste Erfahrungen gesam-melt wurden, konnten aufgrund der Tatsache, dass fast alle Formate das gleiche Kassen-system einsetzen, bereits zwei Monate später Coupons der Warenhäuser Coop City und der Baumarkt-Kette Coop Bau+Hobby aufgeschaltet werden und nochmals drei Monate später auch für die Fachformate Import Parfumerie, Toptip (Möbel), Lumimart (Lampen), Christ (Uhren und Schmuck) und Fust (Elektrohaushaltsgeräte). Dabei erfolgte für Fust zum ersten Mal die Anbindung an ein zusätzliches Kassensystem. Im August 2014 kamen die Coop Restaurants und im Juni 2015 die Convenience-Shops Coop Pronto hinzu.

Die Modularität der Couponing-Lösung ermöglichte es Coop, die digitalen Coupons nicht nur schnell vom Supermarkt auf andere Fachformate auszuweiten, sondern diese auch mit überschaubarem Aufwand für andere Vorteil-Clubs einzuführen:

• Oktober 2013 für alle Besitzer der Supercard• Mai 2014 für die Mitglieder des neu lancierten Wein-Clubs Mondovino

Dieses Wirkprinzip konnte weiter multipliziert werden und bildet somit die Grundlage weiterer Marketingaktivitäten.

1.3.1.2 Check-out-CouponingBeim Check-out-Couponing erhalten die Kunden zusätzlich zum Kassenbon einen Coupon in Papierform, den sie beim nächsten Einkauf einlösen können (siehe Abb. 3). Auch hier

Abb. 3 Beispiel für einen Check-out Coupon Quelle: Coop Werbung

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hat Coop eine Lösung angestrebt, die vollständig in die bestehende Kassenlösung integriert ist, damit keine Schnittstellen zu zusätzlicher Software und Hardware erforderlich sind. Möglich sind zwei Arten von Check-out-Coupons: Einerseits Check-out-Coupons, die al-len Kunden angeboten werden und oft an Bedingungen wie den Kauf eines bestimmten Produkts oder das Überschreiten eines Einkaufsbetrags geknüpft sind. Diese Check-out-Coupons werden über das Promotionswesen aktiviert. Andererseits individuelle Coupons, die aber für bestimmte Kundensegmente und nicht für einzelne Kunden ausgegeben wer-den.

Die individuellen Check-out-Coupons wurden bei Coop sozusagen als Nebenprodukt des Digital Couponings eingeführt: Ein Check-out-Coupon ist dabei nichts Anderes als ein für die Kunden nicht sichtbarer, versteckter Coupon, der ihnen zentral aufgrund einer be-stimmten Eigenschaft (z. B. Kauf von Produkten der Bio-Linie Naturaplan in den letzten vier Wochen) zugewiesen wurde. Beim Scannen der Supercard kommen dann nicht nur die von den Kunden ausgewählten Coupons zum Einsatz, sondern die Kasse wird gleichzeitig angewiesen, nach dem Drucken des Kassenbons zusätzlich einen Check-out-Coupon aus dem gleichen Kassenbondrucker auszugeben.

1.3.1.3 Einlösen von Superpunkten: SupercashMit den gesammelten Treuepunkten können von den Kunden eine Vielzahl an Treueprämi-en erworben werden. Zusätzlich gibt es mit Supercash die Möglichkeit, die Superpunkte als Zahlungsmittel einzusetzen. In den Coop Supermärkten wird das Bezahlen mit Treue-punkten als Aktionen auf einzelne Produktgruppen oder an einzelnen Tagen auf das gesam-te Sortiment angeboten.

Die Umsetzung dieser Bezahlart erfolgt wiederum mit dem in Abb. 2 beschriebenen Verfahren: Die an der Kasse durch Scannen der Kundenkarte ermittelten Kundenkarten-nummer wird an das CRM-System übertragen, woraufhin unter anderem der Punktestand an die Kasse zurückgemeldet wird. Die Kasse prüft dann, ob der vorhandene Punktesaldo ausreichend hoch ist, um die Einkäufe zu bezahlen und meldet – nach Einwilligung des Kunden an der Kasse – anschließend die verbrauchten sowie die neu erworbenen Super-punkte an das CRM-System zurück.

1.3.1.4 Digitaler KassenbonDie Einführung von digitalen Kassenbons erfolgte bei Coop im Sommer 2015. Dabei haben die Kunden die Möglichkeit, in ihrem Kundenkonto zu hinterlegen, ob sie statt eines Kas-senbons in Papierform den Kassenbon als E-Mail erhalten möchten oder doppelt als Pa-pierkassenbon plus E-Mail.

Die gewählte Option wird im CRM-System als Information zum Kunden hinterlegt. Wird nun die Supercard eines Kunden gescannt (siehe Abb. 4/1.), werden diese Informati-onen vom CRM-System an die Kasse übertragen (2.) und der Bondrucker wird je nach gewählter Option aktiviert. Nach Abschluss der Kassentransaktion werden die Kassenbons via Backoffice-Rechner (3.) nahezu in Echtzeit an das System SAP POS Data Management (POS DM) übertragen, wobei eine standardisierte Schnittstelle (iX Retail) zum Einsatz

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kommt (4.). SAP POS DM erkennt aus den Kassenboninformationen, ob ein Versand des Kassenbons per E-Mail von dem Kunden erwünscht ist und stößt den Versand der Kassen-bons per E-Mail an, wobei es die dafür benötigten Kundeninformationen wie Anrede, Name und E-Mail-Adresse vom CRM-System bezieht.

Die genannten Beispiele zeigen auf, dass während einer Kassentransaktion das CRM-System eine Reihe von Daten an die Kasse sendet. Hierbei werden alle Informationen in einer einzigen Antwort an die Kasse übermittelt. Diese Antwort umfasst heute den Punk-testand der Kunden sowie – falls relevant – selbst aktivierte Digital Coupons, Angebote der Kundenclubs, zugewiesene Check-out-Coupons und Informationen zum Druck des Kas-senbons (siehe Abb. 5). Dieser Ansatz wurde gewählt, um den Check-out-Prozess so schnell

Abb. 5 Datenaustausch zwischen Kasse und CRM-System Quelle: Eigene Darstellung

Abb. 4 Digitaler Kassenbon: beteiligte Systeme Quelle: Eigene Darstellung

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wie möglich zu gestalten, da eine größere Datentransaktion schneller ist als viele kleine Transaktionen.

Die Entwicklungen gehen weiter und weitere digitale Services sind in Arbeit. Zudem wird der Prozess am Check-out weiter digitalisiert, in dem die Supercard bis Ende 2015 in Mobile Payment-Lösungen integriert wird, die das Vorweisen der Supercard an der Kasse vereinfachen. Dies ist zum Beispiel bei Twint, einer Payment-Lösung der Postfinance (ein Tochterunternehmen der Schweizer Post), der Fall. Anstelle des Abscannes des Barcodes auf der Supercard halten die Kunden ihr Smartphone an spezielle Lesegeräte mit Beacon-Technologie. Dadurch wird der Kasse das Twint-Konto des Kunden übermittelt, woraufhin die Kasse vom Twint- und CRM-System die Supercardnummer des Kunden und die Pay-ment-Informationen bezieht.

1.3.2 E-Shops

Coop Remote Ordering – unter diesem Namen hat Coop im August 2001 den ersten E-Shop eröffnet. Damals konnten die Kunden aus 3‘500 Supermarktartikeln wählen und im Online Shop oder via Telefon und Fax mit Hilfe eines Papierkatalogs bestellen.

Seither wurde dieser E-Shop ständig weiterentwickelt und im Jahr 2006 auch in coop@home umbenannt. Heute umfasst das Sortiment 13‘000 Artikel und 1‘200 Jahr-gangsweine. 128 eigene Auslieferfahrzeuge ermöglichen in den Schweizer Ballungszent-ren (je nach Bestellzeitpunkt) eine Belieferung am gleichen Tag in einem bestimmten Zeitfenster. Weitere Optionen sind der Versand per Paketdienst für Gebiete außerhalb der Ballungszentren und Artikel aus dem Blumen- und Geschenkeshop sowie die Abholung in einer von aktuell 13 Pick-up-Stationen.

Der E-Shop von coop@home bildete die Basis für die Entwicklung weiterer E-Shops bei Coop. Mit einer universellen E-Shop-Plattform – einer Art Baukasten für E-Shops – wurde eine Reihe von Zielen verfolgt:

• Hohe Wiederverwendbarkeit: Zusätzliche E-Shops können einfacher, schneller und kostengünstiger realisiert werden.

• Nutzung einer gemeinsamen IT-Infrastruktur und dadurch die Erzielung von Skalen-effekten.

• Neue Funktionen, die für einen E-Shop entwickelt werden (z. B. eine verbesserte Navigation) stehen allen anderen E-Shops zur Verfügung.

Der Aufbau der E-Shop-Plattform ist in Abb. 7 vereinfacht dargestellt: Der Shop Backbone umfasst Tools wie eine Recommendation Engine (RE), die individuelle Kundenempfeh-lungen erstellt, das Digitale Asset Management (DAM), das digitale Dateien wie Bilder und Videos verwaltet, Systeme für Suche und Katalognavigation, Content-Management-Systeme, Tools für Web-Analytics und vieles mehr.

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245Omni-Channel und Modularisierung bei Coop 245

Des Weiteren weist der Shop Backbone den Integration Layer auf, der alle Module enthält, die dem E-Shops grundsätzlich zur Verfügung stehen (in Abb. 7 als Rechtecke dargestellt). Dazu gehört eine Vielzahl an Funktionsbausteinen entlang des gesamten On-line-Einkaufsprozesses von der Bedürfnisaktivierung, über die Informationssuche bis hin zu verschiedenen Bezahlprozessen.

Die Shop Frontends umfassen sowohl die benötigten Module aus dem gemeinsamen Baukasten sowie individuelle Module, mit denen die spezifischen Anforderungen der je-weiligen E-Shops abgedeckt werden. Ein Beispiel für eine individuelle Anforderung ist der Parfum Finder der Import Parfumerie. Werden für einen neuen E-Shop Module gebaut, die auch von anderen E-Shops gebraucht werden könnten, werden diese anschließend in den Common Layer eingebettet, so dass dieser stetig umfassender wird.

Das CRM- und PIM-Layer umfasst Systeme zur Verwaltung der Kunden-, Auftrags- und Katalogdaten.

Die Frontend und Backend-Komponenten interagieren schließlich mit diversen ERP-Systemen im Hinblick auf die logistische und finanzielle Abwicklung der Transaktionen als auch mit Business Intelligence (BI) -Systemen.

Die Schaffung dieser universellen E-Shop-Plattform ermöglichte es Coop, im Frühjahr 2011 innerhalb weniger Monate vier weitere E-Shops für die Fachformate Import Parfu-merie, The Body Shop Switzerland, Toptip (Möbel) und Lumimart (Lampen) zu entwickeln und innert weniger Wochen zu lancieren. Die Import Parfumerie und Toptip hatten zu diesem Zeitpunkt zwar bereits bestehenden E-Shops, doch hätte ein Update dieser Shops mehr Aufwand verursacht als eine Multiplikation auf Basis der E-Shop-Plattform. Zudem

Abb. 7 Architektur der Coop E-Shop-Plattform Quelle: Eigene Darstellung

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wäre eine nahtlose Integration in die ERP-Backend-Prozesse der anderen Plattformen nicht möglich gewesen. Mit der Coop E-Shop-Plattform sind die Kundenaufträge und -Prozesse in die Coop-Standard-ERP-Prozesse eingebunden und folgen dem identischen Weg des Kundenauftrags, wie er im stationären Handel dieser Formate verwendet wird. D. h. für den Online-Kundenauftrag muss nicht ein spezieller, eigener, neuer Logistikprozess entwickelt werden, sondern der Bestehende kann genutzt werden. Dies erhöht zum einen die Prozess-sicherheit, zum anderen müssen keine wesentlichen Change-Prozesse in den Filialen ge-schult werden.

Die letzten beiden E-Shops, die auf der Grundlage der gemeinsamen Plattform hinzu-kamen, waren der Weinclub Mondovino im Mai 2014 sowie der E-Shop der Baumarkt-Kette Coop Bau+Hobby im Juni 2014. Die übrigen E-Shops innerhalb der Coop-Gruppe basieren auf individuellen Lösungen, was aber jeweils historisch oder auf Grund von Joint Ventures begründet ist.

1.3.3 Mobile Apps

Im Jahr 2002 wurde mit wap.coop.ch ein erstes Angebot für Smartphones lanciert. Sechs Jahre später, im Dezember 2008, kam die erste mobile App für das Betriebssystem iOS hinzu. Diese App umfasste damals die Funktionsbereiche Standortsuche, aktuelle Angebo-te, Rezepte, Einkaufsliste und Informationen zur Supercard und dem Punktestand.

Mittlerweile ist die Zahl der Apps, die von der zentralen Informatikabteilung betreut werden, auf 15 bzw. 24 angestiegen, da fast jede App als iOS- und Android-Version ver-fügbar ist. Weitere Apps wurden von den Fachformaten, die kein Coop Logo verwenden und jeweils ein individuelles Corporate Branding haben, erstellt. Die hohe Zahl der Apps liegt darin begründet, dass Coop für die mobilen Apps eine Spezialisierungsstrategie ge-wählt hat: Neben der zentralen Coop Supermarkt-App bieten viele kleine und schlanke Apps dedizierte Funktionen im jeweiligen Bereich. In Tab. 2 sind die Apps und ihre wich-tigsten Funktionen dargestellt:

Tab. 2 Apps der Coop-Gruppe mit zentralen Funktionen Quelle: Eigene DarstellungApp Bezeichnung Wichtigste Funktionen iPhone Android

Coop Standortsuche mit Routenplaner, Öffnungszei-ten, Aktionen, Treuepunkte-Angebote, Rezepte, Einkaufszettel mit Barcodescanning

x x

Supercard Mit dem Supercard Barcode Punkte sammeln, Punktestand abfragen und Kontoauszug der letzten 30 Tage einsehen, Digitale Zahlkarte, Digitale Bons, Treuepunkte-Angebote

x x

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247Omni-Channel und Modularisierung bei Coop 247

App Bezeichnung Wichtigste Funktionen iPhone Android

Hello Family Digitale Bons, Supercard hinterlegen, Teilnah-me an exklusiven Club-Wettbewerben, Über-sicht von attraktiven Ausflugsangeboten und familienfreundlichen Aktionen

x x

Mondovino Wein Suche, Wein Berater, Wein Aktionen, Wein Scanner, Detaillierte Weininformationen zu über 1‘200 Weinen, Meine Weine, exklusi-ven Sparbons, individuelle Empfehlungen

x x

Passabene Self Check-out App, Artikel im Laden einscan-nen, Warenkorb an die Kasse übermitteln und bezahlen

x x

Coop Pronto Coop Pronto Standortsuche, Öffnungszeiten, Suchfilter nach Treibstoffart, Dienstleistungen, speziellen Standorten, Aktionen, Neuheiten und Angebote

x x

coop@home Supermarkt E-Shop, Aktionen, Neuheiten, Weinkeller, Blumen- und Geschenkshop, Ein-kaufsliste, Rezepte, EAN-Strichcode Scanner

x x

Fust Mobile Treuekarte, mobile Gutscheine, Stand-ortsuche Fust Filialen inkl. Routenplaner, Hot-line-Taste

x

Interdiscount Unterhaltungselektronik E-Shop, Standortsu-che, Verfügbarkeitscheck

x

Import Parfumerie

Parfümerie E-Shop, Aktionen, Neuheiten, Standortsuche

x

The Body Shop

Mobile Kundekarte, Digitale Bons, Aktionen, Neuheiten

x x

Toptip Möbelhaus E-Shop, Produktevergleich, Wohn- und Einrichtungsideen

iPad App

Lumimart Lampenmarkt E-Shop, Merklisten für Produkte-vergleich

iPad App

Coop Presse Wochenrezepte mit Bild und Video, Reportagen rund ums Kochen, etc., Apps in allen drei Lan-dessprachen verfügbar

iPad App

x

Wie auch bei den Online-Shops verfolgt Coop auch bei den Apps eine Plattformstrategie. Diese ist schematisch in Abb. 8 dargestellt.

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Das Fundament dieser Plattformstrategie umfasst einerseits die Gestaltungsrichtlinien und andererseits Bausteine, die in jeder App verwendet werden, wie das Impressum oder die Spracheinstellungen, die es ermöglichen, eine der drei Landessprachen Deutsch, Fran-zösisch und Italienisch zu wählen. Zudem steht ein Baukasten mit Standard-Funktionen und -Inhalten zur Verfügung, die es einfach machen, das Grundgerüst einer neuen Mobile App zu erstellen. Hierzu gehören unter anderem

• die Standortsuche: Suche von Filialen und Informationen zu den Öffnungszeiten• aktuelle Angebote wie Aktionen, Neuheiten und Treuepunkte –Angebote• das Login- und Registrierungsmodul für das Treueprogramm Supercard, das unter

anderem das Einscannen des Barcodes der physischen Treuekarte ermöglicht • das Supercard-Modul, das die Anzeige des Punktestands sowie des Barcodes inklusive

beweglichen Sicherheitsmerkmalen umfasst• das Modul Digitale Coupons, das alle verfügbaren digitalen Coupons, das Aktivieren

und Deaktivieren der Coupons und eine Übersicht der eingelösten Coupons beinhaltet

Diese Module werden jeweils entsprechend der Gestaltung der jeweiligen App angepasst, wie das Beispiel in Abb. 9 zeigt. Schließlich umfasst jede App individuelle Funktionen wie der Weinberater (z. B. welcher Wein passt zum Essen) in der App Mondovino oder die Self Scanning-Funktion in der App Passabene. Da aber für das Grundgerüst auf die Bausteine der App-Plattform zurückgegriffen werden kann, ist bei der Lancierung von neuen Apps eine schnelle Time-to-Market gewährleistet, nur das Design und die spezifischen Funktio-nen müssen entwickelt werden.

Abb. 8 Schematische Darstellung der Coop Plattform für Mobile Apps Quelle: Eigene Darstellung

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249Omni-Channel und Modularisierung bei Coop 249

1.4 Zusammenfassung und Ausblick

Coop hat durch die starke Standardisierung in den Bereichen Kasse, Digitale Services, E-Shops, Apps und bei den zentralen Systemen viele Vorteile gewonnen und kann auch in Zukunft von den integrierten Plattformen profitieren. Da der Schweizer Markt sehr klein ist und die drei Landessprachen zusätzliche Herausforderungen stellen, ist es für einen Anbieter nicht einfach, die Investitionen zu amortisieren. Vor diesem Hintergrund bieten die Plattformstrategien der Coop-Gruppe die Möglichkeit, horizontale Synergien zu erzie-len. Außerdem ermöglicht diese Strategie – wie oben in vielen Beispielen aufgezeigt – neue Lösungen mit einer kurzen Time-to-Market einzuführen und erlaubt branchenübergreifen-de Lerneffekte zu erzielen.

Es ist jedoch eine Herausforderung, den unterschiedlichen individuellen Bedürfnissen der Fachformate trotz Standardisierung Rechnung zu tragen, da sie oft mit Pure Playern oder mit Filialen internationaler Ketten in Konkurrenz stehen.

Abb. 9 Unterschiedliche Gestaltung des Moduls Superpunkte-Angebote in den Apps Supercard und Hello Family (Android-Version) Quelle: Eigene Screenshots

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Das Angebot an digitalen Services wird bei Coop laufend erweitert. Im Fokus stehen in den nächsten zwei Jahren unter anderem Lösungen, die das Angebot in den physischen Filialen noch stärker mit digitalen Services ergänzen, um den Kunden das Beste aus beiden Welten zu bieten. Neue Userinterfaces, die zunehmende Verbreitung von 3D-Printing und Robotern am Point-of-Sale sowie die Entwicklungen beim Einsatz von künstlicher Intelli-genz bieten Coop auch in Zukunft spannende Herausforderungen.

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251Omni-Channel und Modularisierung bei Coop 251

AutorAugust Harder ist seit 1998 CIO der Coop-Gruppe. Coop ist in der Schweiz im Einzel-handel und europaweit im Grosshandel tätig und hat ca. 80.000 Mitarbeitende. Neben seiner Rolle als CIO war August Harder fast 15 Jahre für den Aufbau und Betrieb des Le-bensmittel Online-Shops von Coop verantwortlich. August Harder leitet ausserdem das IT Commitee des Consumer Goods Forum und ist Präsident des Verbands Elektronischer Zahlungsverkehr.

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Die Digitalisierungsperspektive bei Fressnapf

Torsten ToellerVorstandsvorsitzender, Fressnapf Holding SE, Krefeld, [email protected], CC an: [email protected]

1.1 Das Unternehmen

Die Fressnapf-Gruppe ist Marktführer im Heimtierbedarf in Europa. Das Unternehmen wurde 1990 von Inhaber Torsten Toeller in Erkelenz (NRW) gegründet. Zur Unternehmens-gruppe gehören heute rund 1.400 Fachmärkte in elf europäischen Ländern (dort meist unter dem Namen Maxi Zoo) und mit mehr als 10.000 Beschäftigten. In seinen Märkten bietet Fressnapf zwischen 6.000 und 10.000 Produkte an: von Futter, über Pflege, Spielzeug, Zubehör bis zu Spezialangeboten wie Bio- oder BARF-Produkte. Hinzu kommt ein großes Angebot an Fressnapf-Marken. Die aktuell 13 exklusiv bei Fressnapf erhältlichen Marken führen Tiernahrung, Snacks, Zubehör und Spielzeug für alle Tierarten im Portfolio. Die Mitarbeiter werden ständig geschult, damit sie individuell und bedarfsgerecht beraten können. Seit fünf Jahren gibt es Fressnapf auch im Netz: Der Online-Shop bietet rund 8.000 verschiedene Produkte, ist benutzerfreundlich aufbereitet – weil nach Tiergruppen getrennt sortiert – und einfach zu bedienen. Auch im WWW gibt es natürlich hilfreiche Tipps und Ratgeber für alle Tierliebhaber und darüber hinaus interessante Services und Kundenvor-teile. Dafür wurde der digitale Fressnapf-Markt schon mehrfach ausgezeichnet. Moderne Märkte, kompetente Beratung, attraktive Preise, vielfältige Serviceangebote und der On-line-Shop machen die Fressnapf-Gruppe mehr und mehr zum Cross-Channel-Händler. Heute setzt die Unternehmensgruppe jährlich rund 1,8 Milliarden Euro um. Die Fressnapf-Gruppe ist Förderer verschiedener, gemeinnütziger Tierschutzprojekte und baut sein sozi-ales Engagement für die Beziehung zwischen Mensch und Tier stetig aus. Die Mission lautet: „Wir geben alles dafür, das Zusammenleben von Mensch und Tier einfacher, besser und glücklicher zu machen.“

R. Gläß, B. Leukert (Hrsg.), Handel 4.0, DOI 10.1007/978-3-662-53332-1_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017

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1.2 Bedarf zur Digitalisierung – verändertes Einkaufsverhalten und veränderte Kundenerwartungen

Die zunehmende Digitalisierung führt für den Handel vor allem zu einer stärkeren Eman-zipation der Kunden. Vor Beginn der Digitalisierung gab es im Handel insbesondere im Hinblick auf Preise und Sortimente eine stark asynchrone Wissensverteilung zwischen Kunden und Händlern. Durch die Recherche- und Informationsmöglichkeiten im Internet ist für die Kunden eine deutlich höhere Transparenz entstanden. Der in diesem Sinne gut informierte Kunde vermag die Angebote des einzelnen Händlers daher im Vergleich zu seinen Wettbewerbern besser zu bewerten als in der Vergangenheit.

Der primär preisbewusste Kundentyp erwartet, dass er die Produkte, für die er sich inter-essiert, grundsätzlich kanalunabhängig und auch unabhängig vom einzelnen Händler zum Besten am Markt verfügbaren Preis erwerben kann. Im Hinblick auf die Sortimentsgestaltung hat der informierte Kunde eine breite Informationsbasis über das generell am Markt verfüg-bare Angebot, ist aber im Zweifel auf der Suche nach kompetenter Beratung, um aus dem großen Angebot das für ihn am besten passende Produkt zu identifizieren. Beide Effekte führen für die Händler, die wie Fressnapf traditionell aus dem stationären Handel kommen, zu zwei wesentlichen strategischen Fragestellungen: Wie kann es gelingen, dem Preisdruck auszuweichen, ohne die Bestpreis-Erwartung der Kunden zu enttäuschen, und wie kann sich der Händler für den Kunden als Beratungsexperte für das große Angebot positionieren.

Neben den genannten Kern-Fragestellungen zu Preisen und Sortimenten ändert sich durch die laufende Digitalisierung ebenfalls die Erwartung der Kunden, welche generellen Geschäftsfähigkeiten ein Unternehmen bieten muss. Die 24/7 Verfügbarkeit von Informa-tionen zum Angebot des Handels – z. B. aktuelle Warenbestände in den stationären Ver-kaufsstellen, ausgiebige und personalisierte Produktinformationen – gehört ebenso dazu, wie die problemlose Abwicklung von Retouren und Umtauschwünschen über alle Kunden-kontaktpunkte, stationär sowie online.

1.3 Veränderte Marktbedingungen

Im speziellen Handelssegment Tierbedarf haben sich in den vergangenen Jahren starke Wettbewerber etabliert, die als Online-Pure-Player vor allem durch eine schnelle interna-tionale Expansion Marktanteile gewinnen konnten. Gleichzeitig verstärkt der LEH seine Aktivitäten im Bereich Tier. Trotz diesem verstärkten Wettbewerbsumfeld kann Fressnapf seinen profitablen Wachstumskurs fortsetzen und gewinnt weiter Marktanteile.

Im Online-Handel positioniert sich Fressnapf direkt mit seinem eigenen Webshop fress-napf.de. Durch die Verbindung des Online-Kanals mit dem stationären Einzelhandel, eine kluge Preispolitik und die aktive Vermarktung der starken Fressnapf-Marken unterstreicht Fressnapf seine Rolle als Marktführer im Heimtierbedarfssegment. Der wesentliche Er-folgsfaktor gegenüber dem LEH ist die aktive Generierung von Kundenfrequenz, wozu die Online-Präsenz ebenfalls einen nicht zu unterschätzenden Beitrag leistet.

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255Die Digitalisierungsperspektive bei Fressnapf 255

1.4 Auswirkungen auf das Geschäftsmodell

Die Veränderung des Geschäftsmodells stellt sich eher evolutionär als revolutionär dar. Der größte Teil des Umsatzes im Markt wird mit Verbrauchsgütern wie Streu oder Futter ge-macht. In diesen Segmenten werden Kaufentscheidungen der Kunden überwiegend durch Markenbindung und Convenience beeinflusst. Dadurch wird das Instrument der Kunden-bindung mittels gezielter Ansprache zum entscheidenden Faktor. Während die personali-sierte Ansprache im Online-Kanal durch die Registrierung des Kunden in Kombination mit modernen Techniken (z. B. Recommendation-Engines) relativ einfach möglich ist, müssen im stationären Handel über Loyalty-Ansätze erst noch die Grundlagen erarbeitet werden. Um auf diesem Feld schnell Erfolge erzielen zu können, ist Fressnapf eine Partnerschaft mit PAYBACK eingegangen und nutzt das PAYBACK Modell konsequent kanalübergrei-fend für Target-Marketing und um zusätzliche Frequenzen zu generieren. Darüber hinaus will Fressnapf die Loyalität der Kunden gegenüber PAYBACK nutzen, um diese für den Fachhandel zu begeistern und zu binden.

1.5 Die Bedeutung eines digitalisierten Unternehmens für  Fressnapf

Das Betreiben eines Online-Kanals mit Webshop und Paketversand ist nur der Ausgangs-punkt, um mit den Kundenerwartungen Schritt zu halten. Zuallererst bietet ein Online-Kanal die Möglichkeit, das für die Kunden angebotene Sortiment mit relativ wenigen Re-striktionen auszuweiten. Über die Integration in den stationären Handel kann diese Erwei-terung auch auf der Fläche zur Verfügung gestellt werden.

Mit der zunehmenden Digitalisierung des Handels über alle Sparten und Handelsseg-mente hinweg nimmt auch der Umfang an kanalübergreifenden Geschäftsfähigkeiten zu, die der moderne Kunde als selbstverständlich erwartet. Hier sind insbesondere Service-funktionen wie Click & Collect oder auch Annahme von Online-Retouren im stationären Kanal zu benennen.

1.6 Das Neue an Handel 4.0

Die Digitalisierung im Handel ist nicht neu. Die Digitalisierung ist seit den 70er Jahren mit der Einführung von ERP, dem elektronischem Warenwirtschaftssystem, neuen Technolo-gien wie das Scannen Anfang der 90er Jahre, dem CRM oder Product Information Manage-ment-Systeme aus den 90er Jahre eine permanente Erscheinung im Handel.

Das neue an Handel 4.0 ist, dass neben der grundsätzlichen technischen und fachlichen Integration der einzelnen Handelsstufen und –formate besteht der wesentliche Unterschied zur Vergangenheit in den heute möglichen Verarbeitungsgeschwindigkeiten, auch bei sehr großen Datenvolumina. Beispielsweise die von den Kunden erwartete Information über die

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Bestandssituation eines Produkts in einem Fressnapf-Markt kann nur über eine saubere, geschlossene Warenwirtschaft erreicht werden. Gleichzeitig ist diese Information nur dann von Nutzen, wenn sie eine sehr hohe Aktualität (near realtime) hat.

Im Bereich der Kundenansprache erlauben die neuen Fähigkeiten vor allem eine geziel-te Auswahl und Segmentierung des Kundenbestands und stellen damit einen Riesenhebel zur Verbesserung der Marketingeffizienz dar.

1.7 Integrierte Technologie

Auf der technischen Seite hat Fressnapf in den letzten Jahren massiv in den Neuaufbau einer zentralen, hochintegrierten Systemlandschaft investiert. Parallel dazu sind die vor-mals getrennten Zweige für den Online-Handel und das stationäre Kerngeschäft auch or-ganisatorisch integriert worden. Auf dieser Basis sind die generellen Voraussetzungen für eine Fortsetzung der Digitalisierung sehr gut. Fressnapf steht vor der Herausforderung, die digitale Transformation sowohl online als auch stationär anzusetzen. Nach der Umstellung auf SAP wurden im letzten Jahr mehr als 850 deutsche Märkte mit dem neuen GK-Kassen-system ausgestattet. Gleichzeitig wurde der Online-Shop auf eine neue Plattform gehoben und die Logistik auf einen neuen Dienstleister umgestellt. Der Internationale Roll-out findet derzeit statt.

1.8 Per Masterplan zum digitalisierten Unternehmen?

Unser Masterplan orientiert sich nicht an der Digitalisierung sondern primär an den Be-dürfnissen unserer Kunden. In unserer Strategie CHALLENGE 2020 haben wir gemäß unserer Vision „Happier Pets. Happier People.“ all unsere Aktivitäten darauf ausgerichtet, unsere Kunden davon zu überzeugen, dass wir der beste Partner sind, um das Zusammen-leben von Mensch und Tier einfacher, besser und glücklicher zu machen. Unsere Kunden denken nicht in Kanälen, sondern in Lösungen. Deshalb gibt Fressnapf seine Kunden die Möglichkeit über alle Kanäle hinweg 24/7 Zugriff auf das Sortiment und die Beratung zu bekommen. Ausgehend vom Fundament exzellenter Handelsprozesse wollen wir über gezielte Kundenbindung und zusätzliche Dienstleistungsangebote mit echtem Kundennut-zen weiter profitabel wachsen. Insofern begreifen wir die Digitalisierung als Werkzeug, diesen strategischen Ansatz zu unterstützen, aber sie ist definitiv kein Selbstzweck.

1.9 Unternehmenskultur und Change Prozesse

Neben Veränderungen des Geschäftsmodells und der IT-Landschaft muss auch die Unterneh-menskultur auf ein sich wandelndes Umfeld eingestellt werden. Eine besondere Herausforde-rung für die Digitalisierung der Dienstleistungsbranche ist der „Change Prozess“ nach innen

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257Die Digitalisierungsperspektive bei Fressnapf 257

in Bezug auf Strukturen und Mitarbeiter. Die Herausforderungen sind unter anderem die Größe der Organisationen oder zum Teil eine große Anzahl nicht-akademischer Mitarbeiter.

Tatsächlich scheint der mentale Veränderungsprozess für eine Unternehmensorganisa-tion die größte Herausforderung bei der Begegnung mit den aktuellen Veränderungen der Handelslandschaft zu sein. Organisatorische Strukturen lassen sich nicht immer vollständig und friktionsfrei anpassen, so dass es unumgänglich ist, die Mitarbeiter auf allen Ebenen des Unternehmens zu erreichen und wirklich von der Notwendigkeit und Richtung der begonnenen Veränderungen zu überzeugen. Die aufbauorganisatorische Integration des Online-Kanals in die Unternehmensfunktionen ist für die Unternehmenszentrale gut zu bewerkstelligen. In seinem größten Teil-Markt Deutschland ist Fressnapf überwiegend als Franchise-System erfolgreich. Hier ist es ungleich schwieriger, die große Zahl an wirt-schaftlich selbständigen Franchise-Unternehmern zu überzeugen und ihnen die Unaus-weichlichkeit aber auch die Chancen einer Erweiterung des Handelsangebots im Netz zu vermitteln. Fressnapf entwickelt sich zu einem Cross-Channel-Retailer. Die Win-Situation für den Kunden liegt auf der Hand. Dass es auch für den stationären Handel zu einer Win-Win-Situation wird, dafür müssen wir als Zentrale sorgen. Fressnapf ist als Geschäftsmo-dell über den permanenten Ausgleich der Interessen der beteiligten Partner groß und erfolg-reich geworden. In diesem Geiste wollen wir auch das nächste, das digitale Kapitel der Unternehmensgeschichte fortschreiben.

1.10 Trennung von Daten und Produkten – Smart Services für den Handel?

Sehr neu ist für die Handelsunternehmen auch die heute mögliche Trennung von Daten und Produkten und so die Möglichkeit zur Analyse, Auswertung und die Nutzung der Daten für neue Dienstleistungen (sog. „Smart Services“). Produktunabhängige Daten können in Cloud-Zentren anonym verarbeitet werden und Grundlage für neue, intelligente Dienste sein. Bis jetzt haben wir noch nicht die wirklich zündenden Ideen für innovative neue Dienstleistungen unter Nutzung der neuen digitalen Möglichkeiten gefunden. Ansätze zur Verbesserung der Kundenberatung sind hier recht vielversprechend, aber noch nicht aus-gereift. Voraussetzung für solche Beratungsansätze ist die genaue Kenntnis der Kundensi-tuation, wobei neben Informationen über den Tierhalter vor allem möglichst genaue Infor-mationen über sein Haustier von Interesse sind.

1.11 Kollaborative Geschäftsmodelle

Innerhalb von Handel 4.0 werden auch „Kollaborative Geschäftsmodelle“ (Shared Econo-my), also unternehmensübergreifende Wertschöpfungsketten diskutiert. Unternehmen ar-beiten zusammen, bieten z. B. gemeinsame Plattformen an (z. B. ein gemeinsames mobiles Payment-System). Dies ist für den Handel ebenfalls Neuland, da die Unternehmen der

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Branchen traditionell eher weniger miteinander arbeiten. Noch steht Wettbewerb vor Ko-operation. Gibt es bei Fressnapf Überlegungen zu kooperativen Geschäftsmodellen?

Die bereits genannte Partnerschaft von Fressnapf bei PAYBACK ist ein gutes Beispiel für ein kollaboratives Geschäftsmodell. Das Beispiel zeigt, dass Fressnapf keine Berüh-rungsängste hat, in gemeinsam genutzten Datenpools Nutzenpotenziale für alle Beteiligten verfügbar zu machen.

Insbesondere wenn es in den Bereich echter Dienstleistungsfunktionen für unsere Kun-den geht, wie z. B. Hundefriseure oder auch tierärztliche Versorgung, können wir uns auch in unserem Kerngeschäft weitere und neue Kooperationsmodelle gut vorstellen, wenn es sich anbietet auch mit Nutzung zusätzlicher digitaler Funktionen und Werkzeuge.

1.12 Direktansprache der Kunden

Ein großes Thema sind digitale Marketingkonzepte und Kundenprofile. Sie werden in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, um den Kunden optimalen Service bieten zu können und den Kunden individuelle Ansprachen zu bieten. Dahinter stehen Data Analytics in Verbindung mit Datenschutz und Privacy. Für Kunden bedeutet das Digitalmarketing-Konzepte und personalisierte Ansprache.

Fressnapf wird seine Direktansprache an die Kunden weiter ausbauen. Hierzu haben wir über unser Kundenbindungsprogramm „Welpenclub“ bereits in der Vergangenheit gezielt Neuhundebesitzer angesprochen, hauptsächlich aus dem stationären Kanal heraus. Über den Online-Kanal und zusätzlich entstehende Kundeninformationen am Point-of-Sale kön-nen und wollen wir in der Zukunft noch besser die Bedürfnisse unserer Kunden ansprechen. Traditionelle Marketinginstrumente wie Handzettel und Fernsehwerbung haben bei einer Struktur mit weniger als 50 % der Haushalte, in denen Tiere gehalten werden, eine zu gro-ße Streuwirkung. Über eine gezielte Selektion und Kundenansprache wollen wir es in Zukunft schaffen, die Bedürfnisse unserer Kunden noch stärker zu identifizieren und ent-sprechend zu bedienen. Die Kooperation mit PAYBACK ist hierfür ein wichtiger Meilen-stein. 42 % der PAYBACK Kunden sind Tierbesitzer über gezielte Bonuspunkte-Aktionen bietet Fressnapf zukünftig gezielte Kaufanreize und steigert so Loyalität.

1.13 Zukunftspläne für Handel 4.0

Unser Fokus für die nächste Zeit liegt in der Bereitstellung von Cross-Channel-Services für unsere Kunden. Der Digitale-POS verbindet schon heute online und offline. Denn be-reits jetzt können aus den Fressnapf-Märkten heraus Artikel aus dem Online-Shop bestellt werden, entweder zum Versand nach Hause oder auch zur Abholung im Markt. Wir planen weiterhin Bestandsinformationen aus unseren Märkten im Online-Shop inklusive Reser-vierungsfunktion verfügbar zu machen genauso wie die Online-Retoure auch im Markt zurückgeben zu können.

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AutorTorsten Toeller (50) wurde in Köln geboren und absolvierte in Rekordzeit Abitur, Ausbil-dung zum Einzelhandelskaufmann und Studium der Betriebswirtschaftslehre. 1990 grün-dete er das Unternehmen Fressnapf, Europas größter Fachmarkt für Tiernahrung und -zu-behör. Heute ist Fressnapf | MAXI ZOO mit über 1.400 Fachmärkten in zwölf Ländern vertreten und erwirtschaftete 2014 rund 1,67 Milliarden Euro. Neben seinen beruflichen Tätigkeiten bei Fressnapf engagiert er sich als Mitglied in diversen Aufsichtsräten/Beirä-ten. Für seine unternehmerischen Leistungen wurde er unter anderem mit dem „Entrepre-neur des Jahres“, dem „Franchisegeber des Jahres“ und dem „Goldenen Zuckerhut“ ausge-zeichnet. 2008 erhielt Toeller mit Fressnapf die Auszeichnung „Pet Retailer of the Year“ und 2010 den „Global PETS Award“ sowie den „Deutschen Handelspreis“. 2015 wurde Fressnapf zum dritten Mal mit den F&C Franchise Award in Gold ausgezeichnet.

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Handel 4.0 – Die Digitalisierung des Handels

Dieses Buch führt in die digitale (R)evolution der Wirtschaft am Beispiel des Dienst-leistungssektors Handel ein und stellt Strategien sowie neue Technologien für eine erfolgreiche Gestaltung der digitalen Transformation vor. Unter dem Stichwort „Handel 4.0“ diskutieren Autoren aus Wissenschaft und Praxis, wie eine traditionelle Branche durch die Digitalisierung neben neuen Konkurrenten vor allem neue Chancen erhält, mit innovativen Dienstleistungen ihre Kunden neu zu begeistern. Dabei spielen die Auswirkungen auf Geschäftsmodelle, Wertschöpfungsketten, Prozesse und Technologien eine genauso große Rolle wie die eigene Transformation der Unternehmen und ihrer Mitarbeiter. Das rasante Wachstum des Online-Handels zwingt Unternehmen, tradi-tionelle Geschäftsmodelle zu überdenken. Multi- oder Omni-Channel sind Themen, mit denen sich auch rein stationäre Handelsunternehmen beschäftigen müssen, um am Markt bestehen zu können. Eine intelligente Kombination stationärer Elemente mit Online-Inhalten ist ein Schlüssel, um im digitalen Konkurrenzkampf wettbewerbsfähig zu bleiben. Aufgezeigt werden mögliche Wege hin zu einer erfolgreichen Transformation und gelungene Beispiele namhafter nationaler und internationaler Handelsunternehmen.

Die Kombination aus aktuellen Forschungsergebnissen und Best Practices machen diese Einführung in das Thema Handel 4.0 zu einer lohnenswerten Lektüre für Praktiker und Forscher.

Der Inhalt

• Digitalisierung als Denkhaltung • Analysen, Herausforderungen und Auswirkungen der Digitalisierung

der Wirtschaft • Marktentwicklung, Kundenverhalten und -erwartungen im

Dienstleistungssektor • Strategien für digitalisierte Geschäftsmodelle und Unternehmensentwicklung • Technologien für die Digitalisierung im Handel • Internationale Trends der digitalen Transformation im Handel • Transformation des Handels zu digitalisierten Unternehmen

Die Herausgeber

Rainer Gläß ist Gründer und CEO der GK Software AG.Bernd Leukert ist Mitglied des Vorstands der SAP SE mit globaler Verantwortung für die Entwicklung und Auslieferung aller Produkte des SAP-Portfolios.

9 7 8 3 6 6 2 5 3 3 3 1 4

ISBN 978-3-662-53331-4