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Rudolf A. Mark IM SCHATTEN DES GREAT GAME

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  • Rudolf A. Mark

    IM SCHATTEN DES GREAT GAME

  • RUDOLF A. MARK

    IM SCHATTEN DES GREAT GAME

    Deutsche „Weltpolitik“ und russischer Imperialismus in Zentralasien 1871–1914

    FERDINAND SCHÖNINGHPADERBORN · MÜNCHEN · WIEN · ZÜRICH

  • Gedruckt mit Unterstützung der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg.

    Der Autor: Rudolf A. Mark, geb. 1951, Studium der Osteuropäischen Geschichte,

    Slavistik und Ethnologie. Wiss. Mitarbeiter und Dozentfür Osteuropäische Geschichte und Internationale Beziehungen.Privatdozent an der Helmut-Schmidt-Universiät in Hamburg.

    Titelbild: Toržestvujut („Sie triumphieren“), Gemälde von Vasilij V. Vereščagin (1842–1904), 1872.

    Der Maler nahm 1867/68 an der Kampagne in Turkestan teil. Das Bild zeigt die Medrasah Shir-Dhor in Samarkand.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

    http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 2012 Ferdinand Schöningh, Paderborn(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

    Internet: www.schoeningh.de

    Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche

    Zustimmung des Verlages nicht zulässig.

    Umschlaggestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany.

    Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn

    E-Book ISBN 978-3-657-77579-8ISBN der Printausgabe 978-3-506-77579-5

  • Für Martina

  • INHALT

    VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

    I. EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

    1. Thema und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

    2. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

    3. Quellen und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

    II. RUSSISCH-TURKESTAN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

    1. Begriffsbestimmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

    2. Eroberung und russische Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

    III. DIE DEUTSCHEN IN ZENTRALASIEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

    1. Die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

    2. Die Deutschen in der Gesellschaft Russisch-Turkestans. . . . . . . 59

    3. Exkurs: Deutschland und Afghanistan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

    IV. RUSSISCH-TURKESTAN IN DER DEUTSCHEN PUBLIZISTIK BIS ZUM ERSTEN WELTKRIEG. . . . . . . . . . . . . . 73

    1. „Orient“ und „Great Game“ als Themen der europäischen Öffentlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

    2. Die deutschsprachige Publizistik über Zentralasien. . . . . . . . . . . 78

    Die erste Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Die zweite Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Die Bedeutung Russisch-Turkestans für Russland . . . . . . . . . . . . 116

  • Inhalt8

    Die Bedeutung Russisch-Turkestans für Deutschland . . . . . . . . . 130 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

    V. DEUTSCHE ZENTRALASIENPOLITIK VON DER REICHSGRÜNDUNG BIS ZUR ENTLASSUNG BISMARCKS . . 149

    1. Die Außenpolitik des Deutschen Reiches: Personen und Institutionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

    2. Von der Gründung des Deutschen Reiches bis zur Penjdeh-Krise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

    Die Bedeutung der zentralasiatischen Eroberungen. . . . . . . . . . . 160 Bismarck und das Great Game bis zum Berliner Vertrag . . . . . . 165 Bismarck und das Great Game bis zur Penjdeh-Krise . . . . . . . . . 174 Die Penjdeh-Krise 1885. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Krisen, Aushilfen und Spekulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

    VI. DAS REICH UND ZENTRALASIEN BIS ZUM ERSTEN WELTKRIEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

    1. Zentralasien und der Beginn der deutschen Weltpolitik bis zum Russisch-Japanischen Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

    Wendejahre und Neuorientierung Deutschlands im internationalen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

    Die Burenkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Der Burenkrieg und der Faktor Zentralasien . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Enttäuschte Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Der Weg in die Isolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

    2. Der Russisch-Japanische Krieg und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . 303

    Die englisch-russische Konvention 1907 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

    3. Deutschland und Russisch-Turkestan vor Ausbruch des I. Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

    Ostturkestan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Russisch-Turkestan als koloniale Peripherie . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

  • 9Inhalt

    4. Deutsche Wirtschaftsinteressen in Russisch-Turkestan. . . . . . . . 396

    Die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Gründerzeit: Deutsche Geschäftsleute und

    Handelsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 Deutsche Wirtschaftsinteressen im Schatten von Handels-

    und Machtpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414

    VII. SCHLUSSBETRACHTUNG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

    ANHANG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

    ABKÜRZUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

    QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . 455

    PERSONENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

    ORTSREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501

  • VORWORT

    Die Idee zu vorliegender Arbeit, die von der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg als Habilitationsschrift angenommen wurde, hat mich begleitet, seit ich in den 1980er Jahren zum ersten Mal die mittelasiatischen Re-publiken der Sowjetunion habe bereisen und Kontakte mit Menschen in der Region aufnehmen können. Beruflich bedingt verstrich jedoch viel Zeit, ehe ich jene Absicht tatsächlich verwirklichen konnte. Das Ergebnis liegt nun vor. Es ist auch das Produkt von Diskussionen und Gesprächen mit Kolleginnen und Kol-legen, die sich wie ich von Geschichte und Kultur dieser Großregion von welt-geschichtlicher Bedeutung faszinieren ließen und mir bewusst oder unbewusst Denkanstöße und Motivation lieferten. Allen voran sind hier zu nennen Hans-gerd Göckenjan (†)/ Gießen, Klaus Heller/ Gießen und Petr Voropev (†)/ Taškent.

    Ohne die praktische Unterstützung hilfreicher Geister an zahlreichen wissen-schaftlichen Einrichtungen wäre das Buch nie zustande gekommen. Dank gilt daher – auch stellvertretend für andere, die nicht alle aufgezählt werden können – besonders den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliotheken an der Universität Lüneburg und der Helmut-Schmidt-Universität/ Hamburg sowie den Kolleginnen und Kollegen am Deutschen Historischen Institut in Moskau. Sie haben mir bei der Literaturbeschaffung sehr wertvolle Hilfe geleistet wie auch ihre Berufsgenossinnen in Taškent, unter denen ich die Vizedirektorin der Ališer-Novoji-Bibliothek Irina Malieva besonders erwähnen möchte. Wichtige Hin-weise und viel praktische Hilfe erhielt ich zudem von Šuchrat Muchamedov, Historiker am Institut für Geschichte Usbekistans an der Akademie der Wissen-schaften in Taškent.

    Auch wenn Professionalität und Freundlichkeit von Archivarinnen, Archiva-ren und ihren Assistenten oft institutionell bedingt recht unterschiedlich sein mögen, in allen aufgesuchten Archiven wurde mir im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten die nötige Unterstützung gewährt. Wie angenehm und effizient die Arbeit im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, im Bundes-archiv in Berlin und Koblenz sowie im Hausarchiv des Bankhauses Sal. Oppen-heim/ Köln ist, muss nicht weiter hervorgehoben werden. Den dafür Verant-wortlichen bin ich sehr verpflichtet. Besonderen Dank schulde ich darüber hinaus dem Direktor des Zentralen Staatsarchivs der Republik Usbekistan in Taškent Šuchrat Chodžibaev und seinen Mitarbeiterinnen sowie dem Team des RGVIA in Moskau.

  • Vorwort12

    Dass ich in den Archiven und Bibliotheken Taškents recherchieren konnte, verdanke ich der freundlichen Genehmigung durch den Generaldirektor der Usbekischen Agentur ‚Uzarchiv‘ des Ministerkabinetts der Republik Usbekistan sowie der tatkräftigen Assistenz durch Frau Stefani Glass, Herrn Michael Nowak und ihre Mitarbeiterinnen an der Deutschen Botschaft in Taškent.

    Für wichtige Hinweise und Anregungen bin ich den Kolleginnen und Kollegen Ingrid Baldauf/ Berlin, Martina Hessler/ Hamburg, Jutta Nowosadko/ Ham-burg, Frank Golczewski/ Hamburg, Nikolaus Katzer/ Moskau, Ulrich Lappen-küper/ Hamburg und Bernd Wegner/ Hamburg sehr verpflichtet.

    Nicht zuletzt gilt mein ganz besonderer Dank der Fritz Thyssen Stiftung, die meine Recherchen und Forschungen durch eine großzügige Reisekostenbeihilfe ganz wesentlich gefördert hat.

    Rudolf A. Mark/ Lüneburg

  • I. EINLEITUNG

    1. THEMA UND FRAGESTELLUNG

    Zentralasien, d. h. die seit Herodot beschriebenen Landschaften von Baktrien, Sogdien und Choresmien in den östlichen Weiten des persischen Reiches, durch-zogen von den Routen der Seidenstraße, Kernland des Imperiums von Timur Lenk, Wiege morgenländischer Wissenschaft und islamischer Gelehrsamkeit un-ter den Timuriden, Drehscheibe des eurasischen Karawanenhandels, aber auch Schauplatz des sogenannten Great Game, war in der zweiten Hälfte des 19. Jh. Gegenstand des öffentlichen Interesses in Deutschland und Teil des politischen Horizonts der in Berlin Regierenden. Der wissenschaftlichen Betrachtung war dies bis dato keiner Aufmerksamkeit wert, obgleich die Beobachtung der jene Epoche prägenden Auseinandersetzung zwischen dem British Empire und dem Russländischen Kaiserreich durch die deutsche Regierung seit Bismarck ein nicht zu unterschätzendes, weil inhärentes Element der Berliner Orientpolitik und der späteren Weltpolitik bildete.

    Zentralasien bzw. Russisch-Turkestan stellte nächst dem Balkan den zweiten Hauptschauplatz des internationalen Mächteringens im 19. Jh., den Ort direkter Auseinandersetzungen zwischen Russland und Großbritannien dar. Konnten vom Balkan, aus der Ägäis, von Kleinasien, der Levante und dem östlichen Nordafrika aus die Kommunikationslinien und das Glacis Indiens bedroht und gestört werden – real oder in der Wahrnehmung der interessierten Akteure – so schien in Zentralasien der Waffengang um Indien, vor allem ein direkter Angriff Russlands auf dieses „Juwel der britischen Krone“ möglich. Sollte dieser Fall eintreten, hielten manche Zeitgenossen sogar die Niederlage Englands für vor-hersagbar. Die eher vom Nimbus überlegener britischer Zivilisations- und Ver-waltungsleistung denn von realen Machtstrukturen und entsprechenden militä-rischen Kräften getragene britische Herrschaft auf dem indischen Subkontinent schien dazu praktisch einzuladen. Die Konkurrenz um das Erbe des „kranken Mannes am Bosporus“ sowie die Auseinandersetzungen um die Meerengen und die Frage ihrer Kontrolle wurden daher auch in Zentralasien ausgetragen. Folglich bildete diese Großregion einen wichtigen Teil jener europäischen bzw. eurasischen Peripherie, an der „mit einer Strategie gezielten Fixierens von Konflikten“1 und mit möglichst geringen eigenen Aufwendungen die Energien

    1 Schöllgen, Gregor: Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871-1914, 3. Aufl. München 2000, S. 26.

  • I. Einleitung14

    und Ressourcen der beiden Weltmächte Großbritannien und Russland gebunden werden sollten, um so den für das junge deutsche Kaiserreich notwendigen Frie-den in Europa zu bewahren. Insofern war deutsche Orientpolitik von Anbeginn an mehr als die Befassung mit der „orientalischen Frage“ im engeren Sinn, d. h. den Folgen des seiner Provinzen verlustig gehenden Osmanischen Reiches, son-dern tatsächlich eine auch schon früh auf Interessenwahrnehmung im Orient insgesamt gerichtete Politik; und Orient stand dem Zeitverständnis entsprechend für die geographische Welt des Islams. Oder mit den anschaulichen Worten des zeitgenössischen Publizisten Ewald Banse: „So ist das einigende Prinzip des Orients, das ihn in einem Jetzt erst geschaffen, ein echt geographisches Moment. Wo der Islam festsitzt, wo zur grünen Fahne die Mehrzahl der Bewohner schwört, wo die Natur der Wiege des Propheten ähnelt, da ist der Orient.“2

    Die zunächst von Bismarck verfolgte Strategie bestimmte mutatis mutandis auch die Politik seiner Nachfolger, die zudem mit Deutschlands Anspruch, Welt- und globale Handelsmacht zu werden, eine zusätzliche, eine wirtschaftlich-kom-merzielle Dimension anzunehmen begann. Zentralasien und Russisch-Turkestan gehörten seit dem Ende des 19. Jh. zu den Zielregionen deutscher Wirtschafts-interessen. Die Beobachtung des Great Game, Versuche, auf dessen Entwicklung Einfluss zu nehmen, und die Beförderung des deutschen Handels in Zentralasi-en waren daher Elemente der Berliner Orientpolitik bis zum Ersten Weltkrieg (und darüber hinaus), haben aber bis dato kaum die Aufmerksamkeit der histo-rischen Forschung gefunden.

    Ziel der vorliegenden Studie ist dementsprechend nicht, eine weitere Geschich-te der deutsch-russischen Beziehungen bis zum Ersten Weltkrieg zu Papier zu bringen, sondern einen bisher nicht berücksichtigen Aktionsbereich der Außen- und späteren „Welt“- Politik des deutschen Kaiserreiches zu beleuchten. Er bildete einen Teilaspekt der deutschen Russlandpolitik, reflektierte aber primär Entwicklungen im Kontext des Great Game und der orientalischen Frage im weiteren Sinn.

    Die als Great Game apostrophierten machtpolitischen Entwicklungen in und um Zentralasien spielten eine wesentliche Rolle in der Außenpolitik des Deut-schen Reiches, weil Russisch-Turkestan, die neu eroberte Kolonie des Zarenrei-ches, des lange Zeit wichtigsten Bündnispartners Berlins, als Hauptschauplatz einer möglichen Konfliktaustragung betrachtet wurde. Dietrich Geyer hat in seiner Analyse des russischen Imperialismus diesen Kontext vor dem Hinter-grund der orientalischen Frage skizziert und darauf hingewiesen,

    „wie eng das Ausgreifen [Russlands] nach Mittelasien militärisch und politisch an die europäische Mächtekonfrontation gebunden war, vorab an den russisch-englischen Gegensatz, dessen Wurzeln nicht im turkmenisch-afghanischen Grenzraum lagen, sondern nach wie vor im ‚Nahen Osten‘, verknüpft mit der Frage, was mit den Meer-

    2 Banse, E.: Der Orient – ein geographischer Begriff?, in: Deutsche Rundschau für Geographie und Statistik, XXXI. Jg. (1908) 1, S. 2.

  • 1. Thema und Fragestellung 15

    engen geschehen werde, wenn der ‚kranke Mann‘ am Bosporus zum Sterben käme. Die Rivalität mit Österreich um die Balkanvölker erweiterte dieses Bezugsfeld und dehnte es auf das neue preußisch-deutsche Imperium aus, dessen Kanzler[...], wie man in Russland misstrauisch registrierte, nicht davon abließ, Petersburg zu ermun-tern, den Zug in die Tiefe des asiatischen Raumes fortzusetzen.“3

    Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus der Tatsache, dass Russisch-Turkestan Sied-lungsgebiet auch von Deutschen und Zielgebiet deutscher Wirtschaftsinteressen war. Im Zeitalter des „Hochimperialismus“, für den formelle wie informelle Formen der territorialen Kontrolle ferner Regionen charakteristisch waren,4 liegt daher die Frage nahe, ob Deutschland als aufstrebende Weltmacht5 sich ähnlich wie im Vorderen Orient auch in Mittelasien ein Einflussgebiet und/ oder neue Märkte – auf dem Weg einer „pénétration pacifique“ – schaffen wollte. Und wenn es stimmt, dass Ende des 19. Jahrhunderts wie schon zu Beginn des Kolonialis-mus die Maxime „The flag follows the trade“ galt und die Öffentlichkeit dabei, angetrieben von einem „ideologische[n] Hypernationalismus“6, einen „kaum mehr kontrollierbare[n] Druck auf die Regierungen ausübte“,7 gewinnt diese Frage nicht nur für den Historiker einen besonderen Reiz. Die Forschung zu den internationalen Beziehungen ist sich zudem einig, dass neben der internationalen Umwelt und der nationalen Außenpolitik die Innenpolitik, d. h. das spezifische politische System und das Syndrom unterschiedlicher Interessen mitzureflektie-ren sind, wenn die Limitierungen der herkömmlichen Diplomatiegeschichte überwunden werden und die historische Analyse von Außenpolitik Richtung und Tiefenschärfe gewinnen soll.8 W. J. Mommsen hat zudem die These vertreten,

    3 Geyer, Dietrich: Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860-1914. Göttingen 1977, S. 77 f.

    4 Zur Definition des Begriffs und seiner Wandlungen seit Heinrich Friedjung siehe zusammenfas-send Schöllgen, G./ Kiessling, Friedrich: Das Zeitalter des Imperialismus, 5. überarbeitete und erweiterte Aufl. München 2009 (=Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 15), S. 49-53; Münk-ler, Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, 4. Aufl. Berlin 2005, S. 35-41; Mommsen, W. J.: Imperialismustheorien. Ein Überblick über die neueren Imperialismusinterpretationen., 3. erw. Aufl. Göttingen 1987; Hobsbawn, Eric: Das imperiale Zeitalter. New York 1989.

    5 Zur Definition bzw. den Kriterien, die eine Welt-/ Großmacht im Zeitalter des Imperialismus ausmachten, siehe Schöllgen, G.: Die Macht in der Mitte Europas. Stationen deutscher Außenpo-litik von Friedrich dem Großen bis zur Gegenwart. München 1992, S. 52-56.

    6 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. Mün-chen³ 2009, S. 573; auf den sogenannten „Rassenkampf zwischen ›Germanen‹ und ›Slawen‹“, wie er im äußersten rechten ideologischen Lager in Deutschland beschworen wurde, verweist Neitzel, Sönke: Außenpolitische Zukunftsvorstellungen in Deutschland, in: ders. (Hrsg.): 1900: Zukunfts-visionen der Großmächte. Paderborn [usw.] 2002, S. 66-69.

    7 Reinhard, Wolfgang: Kleine Geschichte des Kolonialismus. Stuttgart 1996, S. 180 f.; Schöllgen/ Kiessling, Das Zeitalter, S. 51.

    8 Wulff, Dietmar: Primat der Innen-/ Außenpolitik bzw. Wirtschaft oder wechselnde Prioritäten, in: Deutsch-russische Beziehungen. Ihre welthistorische Dimension vom 18. Jahrhundert bis 1917. Hrg. v. L. Thomas u. D. Wullf. Berlin 1992, S. 32-48; Czempiel, Ernst-Otto: Deutsche Außenpo-litik von 1871 bis 1945, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 245 f.; Marcowitz, Reiner: Von der Diplomatiegeschichte zur Geschichte der internationalen Beziehungen. Methoden, The-

  • I. Einleitung16

    dass damals die öffentliche Meinung zunehmend mehr Einfluss auf den Kurs der deutschen Außenpolitik nehmen, ja die „Regierung nach und nach über die Schwelle einer imperialistischen Politik“9 drängen konnte. Andererseits hat D. Wulff mit Verweis auf Pierre Renouvin und Jean-B. Duroselle10 hervorgehoben, dass man wirtschaftliche Interessen einzelner Gruppen nicht unbedingt zu den „forces profondes“ der internationalen Beziehungen rechnen könne, weil deren außenpolitische Interessen differierten und wirtschaftliche Macht von Unterneh-men im Wilhelminischen Deutschland „häufig in keiner Relation zu ihrem poli-tischen Einfluss stand.“ Dessen ungeachtet haben aber wirtschaftliche Faktoren in den deutsch-russischen Beziehungen eine nicht unerhebliche Rolle gespielt.11 Ergo kann sich auch eine Untersuchung der Beziehungen Deutschlands zu Russisch-Turkestan und der Wahrnehmung dieser Region im Kontext der reichsdeutschen Orientpolitik nicht auf die klassischen zwischenstaatlichen Ver-hältnisse beschränken, sondern hat auch „das weite Beziehungsgeflecht transna-tionaler12 und transkultureller Kontakte einer Vielzahl von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren“13 mit einzubeziehen. Zu fragen ist dann, welche der identifizierten Elemente und Komponenten die Beziehungen bestimmten und ob und in welchem Maße machtpolitische, imperialistische, militärstrategische oder ökonomische usw. Faktoren und Überlegungen entscheidend waren – auf transnationaler und/ oder internationaler Ebene.

    In einem breit angelegten Versuch wird daher der Frage nachgegangen, welche Bedeutung Russisch-Turkestan für Gesellschaft und Politik des Deutschen Rei-ches bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges besaß. Dabei geht es 1.) zunächst um die Wahrnehmung und die mediale Präsentation der mittelasiatischen Region vor und während der Zeit des Kaiserreiches, vor allem aber 2.) um den politisch-strategischen Stellenwert, den die russische Kolonie in der außenpolitischen Konzeption der in Berlin Regierenden besaß. Von einer aktiven imperialistischen Politik Deutschlands in Zentralasien konnte zwar nicht die Rede sein. Das Kai-serreich zählte nicht zu den Akteuren des Great Game, aber die deutsche Füh-rung wollte Nutzen aus diesem Ringen der „Flügelmächte“, den Auseinander-setzungen zwischen Russland und England, dem „Bären und dem Walfische“,

    men, Perspektiven einer historischen Teildisziplin, in: Francia, Bd. 32/ 3 (2005), S. 75-100; dass dieser Analyseansatz bei den Politikwissenschaftlern längst methodischer Standard ist, sei nur am Rande erwähnt.

    9 Mommsen, W. J.: Triebkräfte und Zielsetzungen des deutschen Imperialismus vor 1914, in: K. Bohnen/ S.-A. Jorgensen/ F. Schmöhe (Hrg.): Kultur und Gesellschaft in Deutschland von der Reformation bis zur Gegenwart. Kopenhagen/ München 1981, S. 98-129; vgl. auch Schöllgen, Das Zeitalter des Imperialismus, S. 148.

    10 Renouvin, P.: Histoire des relations internationales, Bd. 1. Paris 1953. 11 Wulff, Primat, S. 41 ff.12 Den Terminus „transnational“ benutze ich als Begriff für alle grenzüberschreitenden Aktivitäten

    und Beziehungen im nongouvernementalen Bereich unterhalb der Regierungsebene und unabhän-gig von direkter staatlicher Steuerung.

    13 Marcowitz, Von der Diplomatiegeschichte, S. 80.

  • 1. Thema und Fragestellung 17

    ziehen. Die Gründung des zweiten Deutschen Reiches fiel mit der Hochphase dieses Machtkampfes zusammen, der zwischen 1870 und 1907 die Welt in Atem hielt und als außereuropäische Dimension der orientalischen Frage betrachtet werden muss. 3.) Werden Präsenz und Wirtschaftsaktivitäten der Deutschen in Russisch-Turkestan sowie Art und Umfang deutscher Handelsinteressen an Pa-mir und Amu-Darja beleuchtet.

    Wenn Wissenschaft und akademische Konvention die Vorgaben für die poli-tische Konstruktion von Räumen und deren Demarkierungen liefern14, ist die Bedeutung von Forschern und Wissenschaftlern nicht weniger relevant als die von Politikern und Administratoren, die deren Befunde nutzen. Im Russländi-schen Reich haben deutsche, deutschstämmige und deutschsprachige Gelehrte seit der Einführung des europäischen Wissenschaftsbetriebes eine tragende Rol-le gespielt und gerade auch zu der Erforschung Mittelasiens wichtige Beiträge verfasst. Da eine systematische Aufarbeitung dieser gerade für die imperiale Expansion Russlands entscheidenden Forschungsaktivitäten fehlt15, werden in den einleitenden Abschnitten die namhaftesten deutschen/ deutschstämmigen Forscher und ihr Anteil an der Entwicklung der Zentral- bzw. Mittelasienkunde des Zarenreiches kurz vorgestellt. Dabei geht es weniger um eine komplette Auflistung der Wissenschaftler und ihrer Verdienste, als um den Versuch, Di-mension und Konstanz deutscher Wissenschaftsaktivitäten bei der Erforschung Mittelasiens und Russisch-Turkestans deutlich zu machen.

    Während die Aufarbeitung der Geschichte der Russlanddeutschen sowie die Aktivitäten deutscher Wirtschaftsakteure und Unternehmen im Zarenreich in den vergangenen zwei Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht16 und unser Bild dieser deutsch-russischen Beziehungsebene um viele Facetten bereichert haben, trifft diese Beobachtung für die mittelasiatische Kolonie des russländi-schen Imperiums17 nur mit Einschränkungen zu. Denn lediglich für einzelne

    14 Vgl. Stadelbauer, Jörg: Mittelasien – Zentralasien: Raumbegriffe zwischen wissenschaftlicher Strukturierung und politischer Konstruktion, in: Petersmanns geographische Mitteilungen, 147 (2003) 5, S. 58; Remnev, A. V.: U istokov rossijskoj imperskoj geopolitiki: aziatskie ‚pograničnye prostranstva‘ v issledovanijach M. I. Venjukova, in: Istoričeskie zapiski, 4, 122 (2001), S. 349-364; Bassin, Marc: Russia between Europe and Asia. The Ideological Construction of Geographic Space, in: Slavic Review, 50 (1991) 1, S. 1-17; Osterhammel, Jürgen: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 41-43.

    15 Einen ersten Überblick bietet Reissner, Johannes: Islam und Entwicklung in Russisch Turkestan. Die Sicht deutscher Reisender und Forscher des 19. Jahrhunderts, in: Studia Iranica, 23 (1994), S. 259-275.

    16 Für einen Überblich siehe: Brandes, Detlev/ Busch, Margarete/ Pavlović, Kristina: Bibliographie zur Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen, Bd. 1: Von der Einwanderung bis 1917. Mün-chen 1994 (=Schriften des Bundesinstituts für Ostdeutsche Kultur und Geschichte, Bd. 4); Brandes, D./ Dönninghaus, Viktor: Bibliographie zur Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen, Bd. 2: Von 1917 bis 1998. München 1999 (=Schriften des Bundesinstituts für Ostdeutsche Kultur und Geschichte, Bd. 13); Nemcy Rossii. Ėncyklopedija, Bde. I-IV. Red. kollegija V. Karev [u.a.]. Moskva 1999-2006.

    17 Die nota bene von den russländischen Behörden so nie bezeichnet wurde.

  • I. Einleitung18

    deutsche Kolonistengruppen und deren regionale Verbreitung liegen Abhand-lungen vor. Welche Rolle deutsche Unternehmen in Wirtschaft und Gesellschaft Russisch-Turkestans gespielt haben, also der transnationale Aspekt, war bisher noch nicht Gegenstand entsprechender Untersuchungen. Daher wird der Zuzug von Deutschen in die annektierten mittelasiatischen Gebiete sowie Vorausset-zungen und Bedingungen ihrer Niederlassung in der neuen Kolonie behandelt.

    Die restriktive Ansiedlungspolitik der zarischen Verwaltung gegenüber bäu-erlichen deutschen Kolonisten ist schon des öfteren untersucht und dargestellt worden18, auf welchen Wegen andere Deutsche nach Turkestan gelangten, dage-gen nicht. Daher wird die vorliegende Arbeit zeigen, dass sie nicht nur als Ver-waltungsbeamte und Militärpersonal in Russisch-Turkestan Dienst taten, son-dern darüber hinaus auch Handwerker, Arbeiter, Angestellte, Händler und Unternehmer die Einreise- und Niederlassungsgenehmigung der russischen Be-hörden erhielten und sich in Mittelasien Existenzen aufbauten. Da sie zahlreiche Hindernisse zu überwinden hatten, konnte ihre Gesamtzahl nicht sehr hoch sein. Andererseits setzte ihr Zuzug praktisch mit der Eroberung der Kolonie ein, in der sie bald in den meisten Städten und Siedlungen präsent und überwiegend wirtschaftlich-kommerziell tätig waren. Mit ihnen versuchten auch sehr früh schon deutsche Handelsfirmen, Banken und Unternehmen dort Filialen zu er-öffnen und im leichtindustriellen Sektor, vor allem aber in Landwirtschaft und Agrarhandel ihr Glück zu versuchen. Einzelne Gesellschaften konnten sogar eine monopolartige Stellung erreichen. Deutsche waren also ein Teil der kolonialen Gesellschaft Transoxaniens, ungeachtet der ihnen oft in den Weg gelegten Steine.

    Otto Hoetzsch hat in seinem Buch Russland in Asien zwar viele deutsche Stimmen zitiert, welche die mittelasiatischen Entwicklungen und Russlands Turkestan-Politik kommentierten, seine Darstellung reicht aber nicht über die 1880er Jahre hinaus.19 Sie hat bis dato auch keine Fortsetzung oder adäquate Ergänzung gefunden. Ein Desideratum auch deshalb, weil in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Presse und andere Druckmedien tatsächlich eine neue Rolle zu spielen begannen, sich eine politische Öffentlichkeit formierte, deren Interessenartikulation zusehends mehr die Entscheidungen und Handlungen der Regierenden mitbestimmte. Mit Blick auf Russisch-Turkestan wurde diese The-se bisher aber nicht überprüft, so dass eine Untersuchung der politischen Publi-zistik, soweit diese in deutscher Sprache erschienen ist, darüber Auskunft geben kann.

    18 Krieger, Viktor: Die Deutschen in Turkestan bis 1917, in: Die Russlanddeutschen. Gestern und heute. Hrg. v. Boris Meissner/ Helmut Neubauer/ Alfred Eisfeld. Köln 1992, S. 101-117, S. 112 f.; Sunderland, Willard: The ‚Colonisation Question‘. Visions of Colonization in Late Imperial Rus-sia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, NF [im Folgenden: JGO], 48 (2000) 2, S. 213; Kendirbay, Gulnar: Der Kampf um das Land in der kazachischen Steppe am Anfang des 20. Jahr-hunderts, in: JGO, 47 (1999), 385-388.

    19 Hoetzsch, Otto: Russland in Asien. Geschichte einer Expansion. Mit einem Vorwort von Klaus Mehnert. Stuttgart 1966.

  • 1. Thema und Fragestellung 19

    In der vorliegenden Untersuchung wird gezeigt, dass die Eroberung Turkes-tans und die Entwicklungen in Mittelasien tatsächlich auch in der deutschspra-chigen Publizistik ein entsprechendes Echo gefunden haben. Landeskundliche Darstellungen, Reiseberichte und ethnologische Studien zeugen davon. Sie zeich-nen ein facettenreiches Bild Mittelasiens, seiner Geschichte, Kulturen und Ein-wohner und bewerten nicht zuletzt auch die russische Annexion Mittelasiens im Kontext des Great Game. Besonderes Interesse erweckten dabei die russische Kolonialpolitik im Vergleich mit der Britisch-Indiens sowie die Frage nach wei-teren Expansionszielen des Zarenreiches. Der Gewinn Turkestans wurde zudem als Garantie für den weiteren machtpolitischen Aufstieg und die wirtschaftliche Konsolidierung Russlands betrachtet – eine Herausforderung für deutsche Han-delsinteressen wie für die politischen Beziehungen zwischen den beiden Kaiser-reichen, die sich nach einer langen Phase „friedlicher Koexistenz“ seit 1908/ 1909 massiv verschlechterten.20 Hier werden vor allem Kontinuitäten und Brüche in der Perzeption deutlich. Schwieriger erweist sich dagegen der Versuch, eine Antwort auf die Frage nach Bedeutung und Relevanz der Publikationen für Politik und Wirtschaft zu finden.

    Die Bedeutung der ausgewerteten Schriften liegt auch in der Tatsache, dass einige ihrer Verfasser wie etwa Hermann Vambéry21, Martin Hartmann, Otto Hoetzsch oder Paul Rohrbach als Fachleute und Regierungsagenten vor und während des Ersten Weltkrieges im Dienste der Politik standen. Allerdings war ihr Einfluss als Impulsgeber für die deutsche Außenpolitik vor 1914 eher gering. Vambérys Publikationen lieferten zwar manchen deutschen Publizisten Argu-mentationsmuster und Stichworte, wo eigene Kenntnisse nicht ausgereicht ha-ben, aber die engen Kontakte des Ungarn nach Großbritannien hielten ihn auf Distanz zu Berlin. Zudem spielten Hartmann, Hoetzsch und Rohrbach erst nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine gewichtigere, weil aktive Rolle als Regie-rungsbeamte.

    Die in Berlin Regierenden mussten mit der Reichsgründung und den aus dem Frankfurter Frieden resultierenden „Zwängen und Interessen“22 vor allem Sorge tragen, die übrigen Großmächte von der künftigen Friedfertigkeit des Kaiserrei-ches zu überzeugen und gleichzeitig Mittel und Möglichkeiten suchen, Deutsch-lands Platz im Konzert der Mächte zu finden, um die gewonnene Machtstellung zu konsolidieren. Was schon Bismarck nur mit Einschränkung gelang, misslang mit größerem Schaden seinen Nachfolgern, die allerdings das außenpolitische

    20 Schroeder, Paul W.: The Life and Death of a Long Peace: Austro-German-Russian Relations, 1763-1914, in: Masse und Macht im 19. und 20. Jahrhundert. Studien zu Schlüsselbegriffen unserer Zeit. Hrg. v. U. Lappenküper, J. Scholtyseck, Ch. Studt. München 2003, S. 47.

    21 Sein Name wird in unterschiedlicher Schreibweise wiedergegeben. Der Einheitlichkeit wegen wird die in seinen deutschen Publikationen am häufigsten gebrauchte Version verwandt. Dito Hermann statt Arminius etc.

    22 Canis, Konrad: Bismarcks Außenpolitik 1870-1890. Aufstieg und Gefährdung. Paderborn [u. a.] 2008 (=Otto- von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe, Bd. 6), S. 46.

  • I. Einleitung20

    System des Reichsgründers aufgaben, um „Weltpolitik“ zu betreiben. Was indes die Strategien Bismarcks mit denen seiner Nachfolger verband, war der anhal-tende Versuch, sich die im imperialistischen Konkurrenzkampf zwischen den Großmächten entstehenden Spannungen zur Durchsetzung deutscher Interessen zu nutzen. Das Great Game zwischen England und Russland war dabei eine jener Konfliktkonstellationen in Asien, die lange Zeit als zentrales Element das internationale Mächtesystem mitbestimmte und antagonisierte. Daher hatte die Führung des Deutschen Reiches Zentralasien seit 1871 im Visier.

    In der Forschung sind die Bismarcks „cauchemar des coalitions“ unterliegen-den Befürchtungen und Überlegungen23 sowie die für die deutsche Politik gezo-genen Konsequenzen ausführlich untersucht und dargestellt worden. Der Reichskanzler verfolgte eine Politik strikter Nichteinmischung „in orientalibus“, der gemäß sich die Reichsführung aus den „fern liegenden orientalischen Ver-hältnissen“ (v. Bülow an v. Schweinitz, 1877) möglichst heraushalten und eine rein beobachtende, desinteressierte Haltung einnehmen wollte. Gleichzeitig ver-folgten Bismarck und seine Nachfolger aber eine zweite Strategie, die mit den Worten Hillgrubers, der damit eine These Otto Hintzes24 aufnahm, versuchte, die „Interessen der übrigen Großmächte gegeneinander zu lenken und die Span-nungen insgesamt von der Mitte an die Peripherie Europas zu dirigieren, später dann auch die sich aus dem imperialistischen Ausgreifen der Großmächte erge-benden Gegensätze zwischen ihnen in Afrika und Asien auszunutzen,“25 wie er 1877 im Kissinger Diktat festhielt. Für den Kanzler bedeutete dies, dass das „orientalische Geschwür“ offen zu halten war, um so den Druck der Nachbarn auf das Deutsche Reich zu nehmen und den Frieden im Zentrum Europas zu sichern.26

    Nichteinmischung bedeutete aber keineswegs Desinteresse an den orientali-schen Angelegenheiten. Russlands Expansion nach Zentralasien und Englands Politik in Afghanistan hatten Bismarcks Aufmerksamkeit bereits erregt, bevor Berlin sich im Osmanischen Reich zu engagieren begann. Die Spielräume der deutschen Außenpolitik erwiesen sich als sehr eng, so dass der Reichskanzler für alle Eventualitäten gewappnet sein wollte. Er hielt sich daher von Anbeginn an kontinuierlich über die Entwicklungen am Hindukusch und Amu-Darja auf dem Laufenden. Sie mussten auf ihre Relevanz für die Mächtepolitik in Europa be-

    23 Schöllgen, Imperialismus, S. 16-18; ders., Die Macht in der Mitte Europas, S. 28-32; Hillgruber, Andreas: Die „Krieg-in-Sicht“-Krise 1875 – Wegscheide der Politik der europäischen Großmäch-te in der späten Bismarck-Zeit, in: ders.: Deutsche Großmacht- und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert. Düsseldorf 1977, S. 45; Winkler, Martin: Bismarcks Bündnispolitik und das europä-ische Gleichgewicht. Stuttgart 1964, S. 15-17.

    24 Hintze, Otto: Die Hohenzollern und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte. Berlin 1915, S. 651, 682.

    25 Hillgruber, Andreas: Bismarcks Außenpolitik. Freiburg 1972, S. 237; siehe auch Schöllgen, Impe-rialismus, S. 2f. mit weiteren Literaturangaben zur Fortentwicklung der Hintzeschen These.

    26 Schöllgen, Imperialismus, S. 18; Hillgruber, Bismarcks Außenpolitik, S. 152; Craig, Gordon A.: Germany 1866-1945. Oxford 1978, S. 110.

  • 1. Thema und Fragestellung 21

    obachtet werden und waren ein viel wichtigerer Faktor in der Berliner Orient-politik, als dies bisher in der umfangreichen Forschung zur Mächtepolitik vor dem Ersten Weltkrieg zur Kenntnis genommen wurde. Die Spannungen in Zen-tralasien banden Kräfte und Ressourcen der beiden Flügelmächte, während gleichzeitig eine offene militärische Auseinandersetzung wenig wahrscheinlich schien; und darauf kam es Bismarck vor allem an. Einen Krieg, der ihn zur Par-teinahme gezwungen hätte, der vor allem die Verhältnisse in Europa destabilisiert oder verändert hätte, wollte er aus vielen Gründen nicht. Die Behauptung, Bis-marck wäre etwa 1885 ein Krieg willkommen gewesen27, lässt sich, wie im Fol-genden zu zeigen sein wird, nicht belegen; eher das Gegenteil, weil die Konstel-lationen und Mächteinteressen im internationalen System alles Andere verboten.

    Berlins Politik änderte sich nach dem Machtantritt Wilhelms II. und der Ent-lassung Bismarcks, in dessen letzten Regierungsjahren Berlin begonnen hatte, Großbritannien und Frankreich als Einflussmacht im Osmanischen Reich abzu-lösen und eine aktivere Orientpolitik zu betreiben. Jetzt hegte man deutscherseits Hoffnungen, die russisch-englischen Auseinandersetzungen in und um Mittela-sien würden sich zu einer offenen militärischen Konfrontation beider Mächte am Hindukusch auswachsen, wodurch Deutschlands Handlungsspielraum erweitert und neue politische Optionen in Europa eröffnet worden wären. Seither richte-te sich der Blick der Berliner Politiker noch häufiger als zuvor auf Zentralasien. Dass die dort beobachtete Expansion des Zarenreiches auf die Eroberung Bri-tisch-Indiens gerichtet sei und deshalb früher oder später zu einem schweren Zusammenstoß mit England führen würde, gerann geradezu zu einem Axiom der deutschen „Weltpolitik“. Versuche, etwa die Transvaalkrise entsprechend zu instrumentalisieren, lieferten dafür ein anschauliches Beispiel, das die historische Forschung bisher meist übergangen hat. Selbst nach der britisch-russischen Ver-ständigung von 1907 setzten deutsche Politiker und Diplomaten weiter auf einen großen Zusammenstoß zwischen Russland und England, da deren Interessege-gensätze im Vorderen Orient, vor allem in Persien darauf hinauszulaufen schie-nen.

    Die Wahrnehmung Russisch-Turkestans als südliche Glacis des zarischen Im-periums, vor allem aber als Pivotregion russischer Expansion und Ziel deutscher Wirtschaftsinteressen machte sie zugleich zum Gegenstand kontinuierlicher Be-richterstattung durch Diplomaten und andere Reisende, Touristen eingeschlos-sen. Berliner Regierungsvertreter bemühten sich vor allem, den Prozess der In-tegration der Kolonie in das Zarenreich sowie Hindernisse und retardierende Momente auf dem Weg dahin zu identifizieren. Während sie die politisch-stra-

    27 Stoecker, Helmuth: Zur Politik Bismarcks in der englisch-russischen Krise 1885, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, IV. Jg. (1956) 6, S. 1202; Canis, Bismarcks Außenpolitik, S. 229; Istorija vnešnej politiki Rossii. Vtoraja polovina XIX veka . Otv. red. V. M. Chevrolina. Moskva 1997, S. 82.

  • I. Einleitung22

    tegische Position Russlands in Zentralasien nach der Verständigung mit Groß-britannien als stabil betrachteten, schienen ihnen Defizite und Probleme im In-neren die russische Herrschaft durchaus zu gefährden. Offene Fragen zum Status Bucharas und Chivas gehörten hier ebenso dazu wie z. Bsp. die Sesshaftmachung von Nomadengruppen. Gleichzeitig hielten aber die deutschen Beobachter – anders als die russländischen Behörden – panislamistische und panturkistische Bedrohungen der Kolonie für gering. Dessen ungeachtet stand das deutsche Interesse an Turkestan unter russischem Generalverdacht, Berlin stehe als Ein-flussmacht in Konstantinopel und als Schützer der Muslime hinter panislamisti-schen Machenschaften in der Region.

    Abgeschlossen wird die Arbeit durch einen Blick auf die deutschen Wirt-schaftsaktivitäten in Russisch-Turkestan. Während sich der deutsch-russische Handelsaustausch bis 1914 insgesamt sehr erfolgreich entwickelte, blieb Turke-stan ein schwieriges Terrain. Dennoch konnten sich deutsche Geschäftsleute und Unternehmen in der Kolonie niederlassen und selbst im schwierigen Sektor der Produktion von Baumwolle und des Handels mit dem wichtigsten Rohstoff Mittelasiens reüssieren. Einzelne nahmen sogar eine Monopolstellung ein. Somit stellt sich die Frage, ob die Kolonie jenen Regionen zuzuordnen ist, die als Ziel-gebiet deutscher Wirtschaftsexpansion galten, d. h. wie etwa das benachbarte Persien oder das Osmanische Reich ins Visier der „aggressiven >Weltpolitik

  • 2. Forschungsstand 23

    gen. Letztere konnten als Grenzstreitigkeiten entstehen, aber im Kontext des Great Game auch die Ausmaße eines Weltkrieges annehmen. Während erstere als Ablenkungsaktion und Entlastung der deutschen Politik sehr willkommen waren, lag ein großer Krieg zwischen England und Russland nicht im Interesse Berlins, zumindest nicht im Interesse Bismarcks. Die Kunst bestand also in dem Versuch, einen Weg zwischen beiden Horizonten zu suchen. Außerdem glaubten die in Berlin Regierenden, den Grad der Spannungen in den Grenzräumen zwi-schen dem Zarenreich und Britisch-Indien als Parameter für den Zustand der russisch-englischen Beziehungen betrachten zu können. Daher schwand Rus-sisch-Turkestan nie aus dem Blickfeld der deutschen Außenpolitiker. Wahrge-nommen als konfliktträchtige Region blieb sie ein wichtiger Faktor im außen-politischen Kalkül und der ihm zu Grunde liegenden Konstruktion von Realität des internationalen Systems durch die Reichsregierung in Berlin.

    2. FORSCHUNGSSTAND

    Die Außenpolitik des Kaiserreiches bildet seit der Kontroverse um Fritz Fischers materialreiche Studien über Deutschlands Kriegszielpolitik unter dem Titel Der Griff nach der Weltmacht bzw. Krieg der Illusionen31 einen Schwerpunkt der internationalen historischen Forschung, die in den vergangenen zwanzig Jahren beachtliche Erkenntnisfortschritte gezeitigt hat.32 Auch gegenwärtig hält das Interesse an, wie neuere Studien zeigen, die im In- und Ausland auch zur Ori-

    31 Fischer, F.: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/ 18. Kronberg, Ts. 1977; ders.: Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914. Düs-seldorf² 1969.

    32 Kennedy, Paul M.: The Rise of the Anglo-German Antagonism 1860-1914. London/ Atlantic Highlands, NJ 1980; Baumgart, Winfried: Deutschland im Zeitalter des Imperialismus 1890-1914. Grundkräfte, Thesen und Strukturen, 4. erg. Aufl. Stuttgart [usw.] 1982; Geiss, I.: Der lange Weg in die Katastrophe. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs 1815-1914. München 1990; Momm-sen, Großmachtstellung und Weltpolitik; Hildebrand, Klaus: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945. Studienausgabe. München 2008; Förster, Stig: Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges 1871-1914. Metakritik eines Mythos, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 54 (1995) S. 61-95; Kießling, Friedrich: Österreich-Ungarn und die deutsch-englischen Detentebemühungen 1912-1914, in: Historisches Jahrbuch der Gör-resgesellschaft 116 (1996), S. 102-125; Dülffer, Jost/ Kröger, Martin/ Wippich, Rolf-Harald: Ver-miedene Kriege. Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg 1865-1914. München 1997; Canis Konrad: Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890 bis 1902. Berlin 1997(=Studien zur Internationalen Geschichte, Bd. 3); Schöll-gen, G.: Kriegsgefahr und Krisenmanagement vor 1914. Zur Außenpolitik des kaiserlichen Deutschland, in: HZ, Bd. 267 (1998), S. 399-413; Schöllgen, Gregor: Das Zeitalter des Imperialis-mus, 4. durchgesehene Aufl. München 2000; Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht; Affler-bach, Holger: Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Welt-

  • I. Einleitung24

    entpolitik des Deutschen Reiches erschienen sind. Das deutsche Engagement um Wiederaufbau und Konsolidierung Afghanistans, die tragende Rolle der Bundes-wehr im Rahmen der ISAF und die Stationierung deutscher Streitkräfte im us-bekischen Termez dürften ebenfalls ein entsprechendes Interesse evoziert haben.

    Vor allem zur deutschen Türkei- und Orientpolitik, den Zielen, Plänen und Operationen Berlins im Kaukasus, dem Nahen Osten, am Golf, in Persien, Af-ghanistan und im Fernen Osten sind teils umfangreiche Untersuchungen33 pub-liziert worden. In noch größerer Zahl liegen Arbeiten zur deutschen Russland-politik vor, die ein zentrales Element der deutschen Außenpolitik insgesamt war, so wie die Beziehungen zwischen Zarenreich und Kaiserreich von 1871 bis 1914 als „Schlüsselphänomene“ der europäischen und globalen Politik im Zeitalter des Imperialismus gelten.34

    Die Untersuchungen und Arbeiten zur Russlandpolitik Bismarcks sind inzwi-schen kaum noch überschaubar. Sie liegen nicht nur in deutschsprachigen Studi-en, Beiträgen, Monographien sowie speziellen Kapiteln größerer Darstellungen und Sammelwerke zur Außen- und Machtpolitik des Reiches in der Ära Bis-marck35 und unter dessen Nachfolgern vor. Ihre Verfasser sind sich grosso modo

    krieg. Wien/ Köln/ Weimar 2002 (=Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs, Bd. 92); Canis, Bismarcks Aussenpolitik 1870 bis 1890.

    33 Holborn, Hajo: Deutschland und die Türkei 1878-1890. Berlin 1926; Kampen, Wilhelm van: Studien zur deutschen Türkeipolitik in der Zeit Wilhelms II., 2 Bde. Kiel 1968; Wallach, Jehuda L.: Anatomie einer Militärhilfe. Die preußisch-deutschen Militärmissionen in der Türkei 1835-1919. Düsseldorf 1976; Kössler, Armin: Aktionsfeld Osmanisches Reich. Die Wirtschaftsinteressen des deutschen Kaiserreiches in der Türkei 1871-1908 (unter besonderer Berücksichtigung der europäischen Literatur). New York 1981; Scherer, Friedrich: Adler und Halbmond. Bismarck und der Orient 1878-1890. Paderborn [usw.] 2001, dessen Bibliographie auch die wichtigsten engli-schen und französischsprachigen Werke erfasst; Gencer, Mustafa: Imperialismus und die orienta-lische Frage: Deutsch-türkische Beziehungen (1871-1908). Ankara 2006; Adamec, Afghanistan’s Foreign Affairs; Richter, Jan St.: Die Orientreise Kaiser Wilhelms II. 1898. Eine Studie zur deut-schen Außenpolitik an der Wende zum 20. Jahrhundert. Hamburg 1997; Szlanta, Piotr: Die deut-sche Persienpolitik und die russisch-britische Rivalität 1906-1914. Schenefeld 2006; Stingl, Werner: Der Ferne Osten in der deutschen Politik vor dem Ersten Weltkrieg (1902-1914), 2 Bde. Frankfurt a. M. 1978.

    34 Lacquer, Walter: Deutschland und Russland. Berlin 1956, S. 9; Kissinger, Henry A.: Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik. Berlin 1994, S. 146; Thomas, Ludmilla: Die deutsch-russischen Beziehungen als Gegenstand weltgeschichtlicher Forschungen, in: Deutsch-russische Beziehungen, S. 11-31; Stent, Angela: Rivalen des Jahrhunderts. Deutschland und Russ-land im neuen Europa. München 1999, S. 11; Kestler, Stefan: Betrachtungen zur kaiserlich deutschen Russlandpolitik. Ihre Bedeutung für die Herausbildung des deutsch-russischen Antagonismus zwischen Reichsgründung und Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1871-1914). Hamburg 2002, S. 12; dass zuvor schon die „russisch-preußische Entente“ eine „epochenbildende Kraft“ darstellte, hat Klaus Zernack hervorgehoben, ders.: Deutschland und Rußland: Die Klammer um Polen, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, XXIV (1995), S. 5; Maškin, M. N.: Osnovnye ten-dencii vzaimootnošenij Rossii i Germanii s XVIII veka do pervoj mirovoj vojny, in: Rossija i Germanij, vyp 3. Otvet. redaktor B. M. Tupolev. Moskva 2004, S. 240.

    35 Zu den wichtigsten gehören: Wittram, Reinhard: Bismarck und Gorčakov im Mai 1875, in: Nach-richten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philologisch-Historische Klasse, Jg. 55 (1955) 7, S. 221-224; ders.: Bismarcks Russlandpolitik nach der Reichsgründung, in: HZ 186 (1958), S. 261-284; ders.: Bismarck und Russland, in: Deutsch-russische Beziehungen von Bismarck bis

  • 2. Forschungsstand 25

    einig, dass die Beziehungen zu Russland ein zentrales Element der Bismarck-schen Außenpolitik darstellten, weniger aufgrund der engen dynastischen Bin-dungen zwischen den Herrscherhäusern oder einer langen Tradition deutsch-russischer Kooperation und Gegenseitigkeit, als vielmehr aus der Notwendigkeit, den Koloss östlich der Reichsgrenzen schon allein seiner geostrategischen Lage und fehlender Alternativen wegen an sich binden zu müssen. Diese Politik eng-te zugleich den außenpolitischen Spielraum Bismarcks ein, wie er spätestens 1875 erfahren sollte, und nötigte ihn zu einer Bündnispolitik, die mit der Metapher vom „Spiel mit den fünf Kugeln“ sehr anschaulich auf den Punkt gebracht wur-de. Weitgehender Konsens besteht in der Forschung zudem über den pragmati-schen Charakter von Bismarcks Außenpolitik, in der Krieg nur als ultima ratio einen Platz hatte, da Deutschlands Mittellage vor allem Frieden mit Russland erforderte. Letzteres wurde von der Geschichtsschreibung der DDR besonders hervorgehoben.36

    zur Gegenwart. Hrg. v. W. Markert. Stuttgart 1964, S. 17-39; Skazkin, Sergej D.: Konec avstro-russko-germanskogo sojuza. Issledovanie po istorii russko-germanskich i russko-avstrijskich otnošenij v svjazi s vostočnym voprosom v 80-e gody XIX stoletija. Moskva 1974; Waller, Bruce: Bismarck at the Crossroads. The Reorientation of German Foreign Policy after the Congress of Berlin 1878-1888. London 1974; Wereszycki, H.: Walka o pokój europejski 1872-1878. Warszawa 1971; ders.: Koniec sojuszu trzech cesarzy. Warszawa 1977; Hillgruber, A.: Die „Krieg-in-Sicht-Krise.“ Wegscheide der Politik der europäischen Großmächte in der späten Bismarckzeit, in: ders. (Hrg.): Deutsche Großmacht- und Weltpolitik. Düsseldorf 1977, S. 35-52; Müller-Link, Horst: Industrialisierung und Außenpolitik. Preußen-Deutschland und das Zarenreich von 1860-1890. Göttingen 1977 (=Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 30); Kennan, George F.: The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875-1890. Princeton, N. J. 1980; Aretin, K. O. Frhr v. (Hrg.): Bismarcks Außenpolitik und der Berliner Kongress. Wiesba-den 1978; Deininger, Helga: Frankreich – Russland – Deutschland 1871-1891. Die Interdependenz von Außenpolitik, Wirtschaftsinteressen und Kulturbeziehungen des russisch-französischen Bündnisses. München, Wien 1983; Sneerson, Lev M.: Na pereput’e evropejskoj politiki. Avstro-russko-germanskie otnošenija (1871-1875 gg.). Minsk 1984; Lappenküper, Ulrich: Die Mission Radowitz. Untersuchungen zur Russlandpolitik Otto von Bismarcks (1871 – 1875). Göttingen 1990 (=Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissen-schaften, Bd. 40); Elzer, H.: Bismarcks Bündnispolitik von 1887. Erfolg und Grenzen einer euro-päischen Friedensordnung. Frankfurt a. M. 1991 (=Europäische Hochschulschriften, III, Bd. 490); Heise, Günther: Die deutsche Außenpolitik von 1871-1890 im Urteil namhafter Historiker – His-toriographische Untersuchungen. Phil. Diss. Haarlem 1985; Fesser, Gerd: Akteur der Bismarck-schen Russlandpolitik. Bernhard von Bülows diplomatische Tätigkeit in St. Petersburg 1884-1888, in: Deutsch-russische Beziehungen. Ihre welthistorischen Dimensionen vom 18. Jahrhundert bis 1917. Hrg. v. L. Thomas u. Dietmar Wulff. Berlin 1992, S. 160-173; Hillgruber, A.: Bismarcks Außenpolitik. Freiburg³ 1993; Katzer, Nikolaus: Bismarck und Russland. Von der Reichsgründung bis zum Rückversicherungsvertrag, in: „Bismarck-Forum“. Ergebnisse einer Veranstaltung des Seminars für Geschichtswissenschaft der Universität der Bundeswehr Hamburg am 21. November 1996. Hrg. v. Eckhardt Opitz. Hamburg 1997 (=Universität der Bundeswehr: Schriftenreihe des Fachbereichs Pädagogik, Nr. 6), S. 15-27; Barachova, I. V.: Sozdanie sojuza trech imperatorov, in: Rossija i Germanija, vyp. 1. Otvet. red. B. M. Tupolev. Moskva 1998, S. 167-189; Hildebrand, Klaus: Bismarck und Russland. Aspekte der deutsch-russischen Beziehungen 1871-1890. Fried-richsruh 2003 (=Friedrichsruher Beiträge Bd. 20); Maškin, M. N.: Bismark i „ostzejskij vopros“ v Rossii, in: Rossija i Germanija, vyp. 4. Ot. red. B. M. Tupolev. Moskva 2007, S. 74-83.

    36 Kumpf-Korfes, Sigrid: Bismarcks „Draht nach Russland“. Zum Problem der sozial-ökonomischen Hintergründe der russisch-deutschen Entfremdung im Zeitraum 1878. Berlin 1968; dies.: Otto von

  • I. Einleitung26

    Auch dass Bismarcks antirussische Wirtschafts- und Handelssanktionen die politische Partnerschaft mit dem Zarenreich nicht nur störten, sondern ihr mas-siv schadeten und der Reichskanzler sich seines kontraproduktiven Handelns nicht bewusst war, gehört zu den wesentlichen Befunden der Geschichtsfor-schung. Mutatis mutandis gilt dies auch für das „System der Aushilfen“, das Bismarcks Politik seit 1879 kennzeichnete. Dessen Bündnisstrategie musste in-folge sich komplizierender Entwicklungen auf dem Balkan und zunehmender globaler Herausforderungen zu Gunsten kurzfristiger Reaktionen und eines auf Vorläufigkeit angelegten „Krisenmanagements“ aufgegeben werden, um es in moderner Sprache auszudrücken. Es bestand vor allem auch in Versuchen, „die Spannungen der beiden Weltmächte zu kultivieren und die Briten wie die Russen gleichermaßen fernab vom europäischen Zentrum zu beschäftigen“.37

    Gleichwohl wurde die Anwendung dieses Bismarckschen Konzepts in der politischen Praxis bisher wenig untersucht. Gelegenheiten, bei denen es zur Ausführung kommen sollte bzw. Anwendung gefunden hat, so sie sich nicht auf dem Balkan ergeben haben, wurden in der Historiographie kaum oder nur am Rande erwähnt. Das anschaulichste Beispiel bieten die Krisenjahre 1885/ 86. Als „Doppelkrise“ werden zu Recht die Bulgarienfrage und die sich im Vorderen Orient neu aufbauenden Spannungen zwischen den Großmächten einerseits und den sich verschlechternden deutsch-französischen Beziehungen andererseits apostrophiert. Dass aber gleichzeitig ein dritter Konfliktherd in Zentralasien, die russisch-englischen Auseinandersetzungen um Penjdeh, dem Reichskanzler Sor-gen bereitete, wird mit wenigen Ausnahmen38 in der Historiographie übergangen und die Entwicklungen dort als Episoden am fernen Rande der eigentlichen Hauptaktionen gewertet.

    Größere wissenschaftliche Beachtung hat das Thema nicht gefunden. Es lie-gen nur wenig Arbeiten vor wie das Buch von Oncken39, dessen apologetischer Impetus allerdings nicht zu übersehen ist, oder etwa ein Aufsatz, in dem H. Stoecker den Beweis anzutreten versuchte, dass Bismarck alles unternommen habe, um in Zentralasien den Ausbruch eines offenen Krieges zwischen Russ-land und England zu bewerkstelligen, „was des Kanzlers Herz besonders er-freut“ hätte.40

    Bismarck und Russland. Berlin 1990; Engelberg, Ernst: Bismarck. Das Reich in der Mitte Europas. Berlin 1990.

    37 Hildebrand, Bismarck und Russland, S. 8; ders.: „System der Aushilfen“? Chancen und Grenzen deutscher Außenpolitik im Zeitalter Bismarcks, in: Flucht in den Krieg? Die Außenpolitik des kaiserlichen Deutschland. Hrg. v. G. Schöllgen. Darmstadt 1991, S. 118 f.

    38 Eberhard, Kurt: Herbert Bismarcks Sondermissionen im London der Jahre 1882 – 1889. Diss. Erlangen 1949, passim; Scherer, Adler und Halbmond, S. 209-214; Canis, Bismarcks Außenpolitik, S. 228 f.

    39 Oncken, Hermann: Die Sicherheit Indiens. Ein Jahrhundert englischer Weltpolitik. Berlin 1937.40 Stoecker, Zur Politik Bismarcks, S. 1202.

  • 2. Forschungsstand 27

    Für die Russlandpolitik nach Bismarck stehen insgesamt weniger Arbeiten41 zur Verfügung als für die davorliegenden Jahre. Dafür wird der Entwicklung der Beziehungen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in den einschlägigen Gesamtdarstellungen viel Platz eingeräumt.42 Hervorgehoben wird der Paradig-menwechsel, den der „Neue Kurs“ und die „Politik der freien Hand“ der Nach-folger des Reichgründers darstellte. Er war umso augenfälliger, als Deutschlands Wende weg von Russland hin zu England in einer Zeit vollzogen wurde, in der das Zarenreich zu erstarken und selbstbewusster aufzutreten begann, während die Verantwortlichen in Berlin die sich wandelnde Eigen- und Fremdwahrneh-mung der östlichen Großmacht beharrlich negierten. Zwar wurden die Kontak-te mit dem einstigen Bündnispartner gepflegt, aber von den deutschen Politikern wurde keine tatsächliche Annäherung und Bindung gesucht. Positiv beschrieben versuchte die kaiserliche Regierung, Großmacht- und Weltpolitik zwischen und neben den etablierten Flügelmächten Russland und England zu betreiben, ohne die Zeichen der Zeit und die Interessen ihrer angestrebten Partner zu erkennen. Dies offenbarte sich in den fehlgeschlagenen Bemühungen um eine Kontinental-liga in der Transvaalkrise ebenso wie in den verpassten Chancen einer tatsächli-chen Annäherung an Großbritannien.

    Der trotz aller politischen Verstimmungen zwischen Berlin und St. Petersburg sich dynamisch entwickelnde deutsch-russländische Handel konnte die fehlenden politischen Bindungen nicht ersetzen. Denn ungeachtet der für beide Seiten vorteil-haften Wirtschaftsbeziehungen43 verhinderten russische Befürchtungen einer öko-

    41 Markert, W.: Die deutsch-russischen Beziehungen am Vorabend des ersten Weltkrieges, in: Deutsch-russische Beziehungen von Bismarck, S. 40-79; Hauser, Oswald: Deutschland und der englisch-russische Gegensatz 1908-1914. Göttingen [usw.] 1958 (=Göttinger Bausteine zur Ge-schichtswissenschaft, Bd. 30); Vogel, Deutsche Russlandpolitik; Wormer, Klaus: Großbritannien, Russland und Deutschland. Studien zur britischen Weltreichpolitik am Vorabend des Ersten Welt-krieges. München 1980 (=Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Mann-heim, Bd. 6); Canis, Konrad: Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890 bis 1902. Berlin 1997 (=Studien zur internationalen Geschichte, Bd. 3); Schneider, Irmin: Die deutsche Russlandpolitik 1890-1900. Paderborn [usw.] 2003.

    42 Zu den wichtigsten gehören: Baumgart, Deutschland im Zeitalter; Wolter, Heinz: Bismarcks Au-ßenpolitik 1871-1881. Außenpolitische Grundlinien von der Reichsgründung bis zum Dreikaiser-bündnis. Berlin 1893; Kestler, Betrachtungen zur kaiserlich deutschen Russlandpolitik; Hillgruber, Andreas: Die deutsch-russischen politischen Beziehungen (1887-1917). Grundlagen, Grundmus-ter, Grundprobleme, in: Deutschland und Russland im Zeitalter des Kapitalismus 1861-1914. 1. Deutsch-sowjetisches Historikertreffen in der Bundesrepublik Deutschland, Mainz, 14.-21. Okt. 1973. Hrg. v. Karl Otmar Freiherr von Aretin und Werner Conze. Bearbeitet v. Claus Scharf. Wiesbaden 1977 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, Beiheft 3), S. 207-220; Dülffer, Jost: Deutsch-russische Beziehungen 1870-1914, in: Deutschland – Frankreich – Russland. Begegnungen und Konfrontationen. La France et l’Allemagne face à la Russie. Im Auftrag des Deutsch-französischen Historikerkomitees hrg. v. Ilja Mieck u. Pierre Guillen. München 2000, S. 89-108; Hildebrand, Das vergangene Reich; Mommsen, Großmachtstellung; Baechler, Christian: L’Aigle et l’Ours. La politique russe de l’Allemagne de Bismarck à Hitler 1871-1945. Bern [usw.] 2001 (=L’Europe et les Europes, Bd. 1).

    43 Dazu mit unterschiedlicher Gewichtung ihrer Relevanz für die politischen Beziehungen: Astaf’ev, I. I.: Russko-germanskie diplomatičeskie otnošenija 1905-1911 gg. (Ot Portsmutskogo mira do

  • I. Einleitung28

    nomischen Unterwanderung durch deutsche Unternehmen sowie die Berliner Ori-entpolitik von Kiautschou bis zum Bosporus eine neuerliche Verständigung zwischen den einstigen Verbündeten. Gleichzeitig förderten Aufrüstungsmaßnahmen auf bei-den Seiten Misstrauen und Fehlwahrnehmungen, und seit den Balkankrisen betrach-teten Staat und Gesellschaft Russlands das deutsche Kaiserreich endgültig als gefähr-lichsten Gegner im internationalen Mächtesystem. Konsens besteht in den Untersuchungen und Darstellungen zudem darüber, dass die deutsche Führung den russisch-englischen Ausgleich von 1907 nicht ernst genug genommen hat, woraus eine ungenügende Gefahrenabschätzung mit verheerenden Folgen resultierte.

    In diesen Arbeiten wie in den Untersuchungen zur russischen Deutschland-politik oder der Wahrnehmung des Kaiserreiches in Russland44 wird Zentralasi-en bzw. Russisch-Turkestan als Gegenstand deutscher Beobachtung bzw. als Zielregion deutscher Wirtschafts- und Handelsinteressen so gut wie nicht er-wähnt. Die Ausführungen beschränken sich in der Regel auf eher knappe Hin-weise, dass man in der Wilhelmstraße Hoffnungen auf Auseinandersetzungen zwischen „Wal und Bär“ setzte, um dann als „lachender Dritter“ die Früchte einer „Politik der offenen Hand“ zu ernten. Über welche Informationen Berlin diesbezüglich verfügte bzw. wie es die beobachteten Spannungen zum Vorteil der deutschen Politik nutzen wollte, erfährt man aber nichts.45 Auch ausländi-sche, in Russland publizierte Arbeiten46 inklusive, streifen das Thema eher am Rande. Eine umfassende moderne Studie fehlt bisher überhaupt.47

    Potsdamskogo soglašenija). Moskva 1972; Avetjan, A. S.: Russko-germanskie diplomatičeskie otnošenija nakanune pervoj mirovoj vojny 1910-1914 gg. Moskva 1985; Lemke, Heinz: Finanz-transaktionen und Außenpolitik. Deutsche Banken und Russland im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg. Berlin 1985 (=Studien zur Geschichte, Bd. 4); Wulff, Dietmar: Handel und Politik in den russisch-deutschen Beziehungen 1894-1904. Zu den Auseinandersetzungen um die russische Agrarausfuhr. Phil. Diss. Berlin 1986; Subbotin, Ju. F.: Rossija i Germanija: Partnery i protivniki (torgovye otnošenija v konce XIX v. – 1914 g.). Moskva 1995.

    44 Einen guten Überblick über die älteren Arbeiten findet sich in Schulze Wessel, Martin: Russlands Blick auf Preußen: die polnische Frage in der Diplomatie und der politischen Öffentlichkeit des Zarenreiches und des Sowjetstaates 1697-1947. Stuttgart 1995, S. 220 f.; siehe auch Obolenskaja, S. V.: „Germanskij vopros“ i russkoe obščestvo konca XIX v., in: Rossija i Germanija, vyp. 1. Otvet. red. B. M. Tupolev. Moskva 1998, S. 190-205; Maškin, M. N.: Osnovnye tendencii vzaimootnošenij Rossii i Germanii s XVIII veka do pervoj mirovoj vojny, in: Rossija i Germanija, vyp. 3. Otvet. red. B. M. Tupolev. Moskva 2004, S. 227-259.

    45 Eine Ausnahme bilden Janorschke, Johannes: Bismarck, Europa und die >Krieg-in-Sicht< – Kri-se von 1875. Paderborn [usw.] 2010 für den Kontext der russisch-englischen Verständigungsver-suche sowie Rosenbach, Harald: Das Deutsche Reich, Großbritannien und der Transvaal (1896-1902). Anfänge deutsch-britischer Entfremdung. Göttingen 1993 (=Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 51), der die Rolle Turkestans in den Überlegungen von Deutschen und Russen während der Burenkrise anspricht.

    46 Eine nützliche Bibliographie zur sowjetischen Historiographie liegt vor mit: Sowjetische For-schungen (1917-1991) zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen von den Anfängen bis 1949. Bibliographie. Hrsg. V. Karin Borck. Berlin 1993; mit der sowjetisch-russländischen Histo-riographie beschäftigt sich Thomas, Ludmila: Die deutsch-russischen Beziehungen als Gegenstand weltgeschichtlicher Forschungen, in: Deutsch-russische Beziehungen, S. 11-31.

    47 Vgl. LeDonne, John P.: The Russian Empire and the World, 1700-1917. New York/ Oxford 1997; Rybačenok, I. S.: Sojuz s Franciej vo vnešnej politike Rossii v konce XIX v. Moskva 1993; Istori-

  • 2. Forschungsstand 29

    Selbst neuere, für ein breiteres Publikum gedachte Darstellungen zu Usbeki-stan und dessen Beziehungen mit Deutschland48 ignorieren die vor dem Ersten Weltkrieg bestehenden Kontakte und Verbindungen. Die Wahrnehmung Turke-stans in Diplomatenberichten, in den Beobachtungen und Einschätzungen poli-tischer Publizisten sowie die Rolle der Region in den strategischen Planungen und geopolitischen Konzeptionen der politischen Akteure und Entscheider in Berlin stellen bis dato ein Desideratum der Forschung dar. Wenn von Deutsch-land und dem Orient die Rede ist, stehen Historikern und anderen Publizisten zunächst vor allem das Osmanische Reich und als pars pro toto für die Berliner Orientpolitik das Bagdadbahn-Projekt vor Augen.49

    Zu Deutschland und Mittelasien liegen nur wenige Arbeiten – meist zu Ein-zelaspekten deutscher Präsenz in Mittelasien vor dem Ersten Weltkrieg vor. Von Reissner ist in einem Aufsatz die Sicht Russisch-Turkestans in deutschen Reise-berichten des 19. Jahrhunderts eher skizzierend denn erschöpfend untersucht worden.50 Zudem ist von B. Sidikov eine Dissertation erschienen, in der vor dem Hintergrund des von E. Said gegen die westliche Orientalistik erhobenen Vor-wurfs einer abendländisch-eurozentristisch verengten und politisch ethnozent-rischen Wahrnehmung der orientalisch-islamischen Welt das deutsche Mittelasi-en-Bild bzw. dessen Zerrbilder untersucht wurden. Die Studie basiert auf einem umfangreichen Quellenkorpus aus Reiseberichten, wissenschaftlichen Abhand-lungen und Druckwerken der politischen Publizistik, wie sie von deutschspra-chigen Autoren bis zum Ersten Weltkrieg veröffentlicht worden sind.51

    Während inzwischen einzelne Studien und Darstellungen zur Geschichte der deutschen Kolonisten, vor allem der Mennoniten, in Russisch-Turkestan und den Khanaten erschienen sind52 und auch zu den kirchlichen Einrichtungen der in

    ja vnešnej politiki Rossii. Vtoraja polovina XIX veka. Otvet. red. V. M. Chevrolina. Moskva 1997; Istorija vnešnej politiki Rossii. Konec XIX veka – načalo XX veka (ot russko-francuzkogo sojuza do Oktjabrskoj revoljucii. Otvet. red. A. V. Ignat’ev. Moskva 1997; Saray, Mehmet: The Russian, British, Chinese and Ottoman Rivalry in Turkestan. Four Studies on the History of Central Asia. Ankara 2003.

    48 Siehe etwa die Beiträge von M. Pavaloi und A. Schimmel in: Kalter, Johannes/ Pavaloi, Margareta (Hrg.): Erben der Seidenstraße. Stuttgart 1995.

    49 Vgl. Schöllgen, G.: Der Traum der Deutschen vom Orient, http://www.faz.net/s/RubA24ECD-630CAE40E483841DB7D16F4211/Doc~EA84A4667F8914BFBBD3C78BD (16.8.2010).

    50 Reissner, Johannes: Islam und Entwicklung in Russisch Turkestan – Die Sicht deutscher Reisender und Forscher des 19. Jahrhunderts, in: Studia Iranica 23 (1994), S. 259-275.

    51 Sidikov, Bahodir: „Eine unermessliche Region“. Deutsche Bilder und Zerrbilder von Mittelasien (1852-1914). Berlin 2003.

    52 Krieger, Viktor: Die Deutschen in Turkestan bis 1917, in: Die Russlanddeutschen. Gestern und heute. Hrg. v. Boris Meissner/ Helmut Neubauer/ Alfred Eisfeld. Köln 1992, S. 101-117; Brandes, Detlef: Einwanderung und Entwicklung der Kolonien, in: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Rußland. Hrsg. von Gerd Stricker. Berlin 1997, S. 95; Hildebrandt, Gerhard: Die Kolonisation am Beispiel der Mennoniten, in: Ebd., S. 297; Krongardt, G. K.: Nemcy v Kyrgizstane: 1880-1990gg. Biškek 1997; Istorija nemcev Central’noj Azii. Materialy meždunarodnoj naučnoj konferencii, Almaty, 9-10 Oktjabrja 1997 g. Red. I. Erofeeva, Ju. Romanov. Almaty 1998.

  • I. Einleitung30

    Zentralasien lebenden Deutschen des Zarenreiches erste Arbeiten53 vorliegen, haben die in der Region ansässigen deutschen Wirtschaftsunternehmen sowie die Handelsbeziehungen zwischen Russisch-Zentralasien und dem Deutschen Reich bis dato keine Würdigung durch die Forschung gefunden.54 Das Erkenntnisin-teresse der überaus informativen und verdienstvollen Publikationen von Dietmar Dahlmann, Klaus Heller, Heinz Lemke und anderen55 blieb bisher auf die Un-ternehmenstätigkeiten und Handelsverhältnisse im westlichen, sich im Wesent-lichen bis zur Wolga erstreckenden Teil des Russländischen Reiches beschränkt. Lediglich russische Historiker haben auch den Anteil deutscher Wirtschaftsak-tivitäten in der zentralasiatischen Peripherie in ihre Darstellungen mit einbezo-gen.56

    3. QUELLEN UND METHODE

    Die wichtigsten ungedruckten Quellen57 zum Thema liefern die Bestände des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Berlin. Dort steht eine beachtliche Fülle an Akten und Dokumenten zur Verfügung, die für Untersuchungen über die deutsche Zentralasienpolitik unentbehrlich sind, da nur die wenigsten in die Quellenedition: Die große Politik der europäischen Kabinette aufgenommen wurden. Die hier zu findenden Materialien bestehen überwiegend aus Botschafts- und Gesandtschaftsberichten, dem Briefwechsel des Auswärtigen Amtes und

    53 Kahle, Wilhelm: Zur Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Taškent. Erlangen 1996 (=Beiträge zur Geschichte der evangelisch-lutherischen Kirche Russlands, Bd. 1); K istorii chris-tianstva v Srednej Azii (XIX-XX vv.). Sost. L. I. Žukova. Taškent 1998, S. 236-246.

    54 Auch nicht in Conrad, Sebastian/ Osterhammel, Jürgen(Hrg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914. Göttingen 2004.

    55 Dahlmann, D./ Scheide, Carmen (Hrg.): „...das einzige Land in Europa, das eine große Zukunft vor sich hat.“ Deutsche Unternehmer im Russischen Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Essen 1998 (=Veröffentlichungen des Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im Öst-lichen Europa, Bd. 8); Amburger, Erik: Fremde und Einheimische im Wirtschafts- und Kulturle-ben des neuzeitlichen Russlands. Ausgewählte Aufsätze. Hrg. v. K. Zernack. Wiesbaden 1982(=Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, Bd. XVII); Lemke, Finanztrans-aktionen und Außenpolitik; Dahlmann, D./ Heller, Klaus/ Petrov, Jurij A. (Hrg.): Eisenbahnen und Motoren – Zucker und Schokolade. Deutsche im russischen Wirtschaftsleben vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Berlin 2005 (=Giessener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsfor-schung des europäischen Ostens, Bd. 224).

    56 Gindin, I. F.: Russkie kommerčeskie banki. Iz istorii finansovogo kapitala v Rossii. Moskva 1948; Ėventov, L. Ja.: Inostrannye kapitaly v russkoj promyšlennosti. Moskva/ Leningrad 1931; Bovy-kin, Valerij J./ Petrov, Jurij A.: Kommerčeskie banki Rossijskoj imperii. Moskva 1994; Šalekenov, U. Ch.: Vklad nemcev v sozdanie osnovy Čimkentskogo farmacetičeskogo zavoda , in: Istorija nemcev central’noj Azii, S. 65-67.

    57 Siehe Quellenverzeichnis am Ende der Darstellung.