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University of Groningen

"Die deutsche Freiheit"Schmidt, Hans Jörg

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Publication date:2007

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Citation for published version (APA):Schmidt, H. J. (2007). "Die deutsche Freiheit": Geschichte eines kollektiven semantischenSonderbewusstseins. [s.n.].

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4.1 DEUTSCHES REICH (SEIT DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION)

4.1.1 Erste Indikationen des Deutungsmusters „deutsche Freiheit“ als Reaktion auf

die Französische Revolution – „Freyheit oder Mordt und Todt“

Die jakobinische Linie innerhalb der progressiven Freiheitsrichtung im Deutschen

Reich, die sich „den missionarischen Charakter der ‚Freiheit’“374

zu Eigen machte,

entstand schon bald nach den revolutionären Ereignissen in Frankreich. Die darauf

bezogenen Revolutionskriege der Jahre 1792 bis 1795 können, um einen Ausblick auf

die tiefgreifende Modulation des kulturellen Gedächtnisses durch die revolutionären

Vorgänge zu geben, als eine erste „totale Mobilmachung des Volkes“ und als „größte

kollektive Handlung, die bis dahin die neuere Geschichte gekannt hat“ interpretiert

werden.375

Christoph Martin Wieland bemerkte über den Charakter der revolutionären

Bewegung, dass der Jakobinismus „eine Art von neuer politischer Religion sei“, die von

ihren Anhängern gepredigt werde.376

Von jenen wurde mit radikalem Eifer auf die

Umsetzung des republikanischen Gedankengutes, wie etwa der allgemeinen Menschen-

rechte und der Volkssouveränität, gesetzt,377

um diese Institutionen in den Begriff der

bürgerlichen Freiheit zu integrieren. In vielerlei Hinsicht wohnte nach dem Abklingen

der anfänglichen Revolutionsbegeisterung der Rezeption der in der Französischen

Revolution verfochtenen Ideen ein pejorativer Geschmack bei, dessen Deutung in den

Gewaltexzessen vor allem des französischen Jakobinismus seinen Ansatzpunkt fand.378

Kondensiert kommt das hiermit interferierende systemverändernde Anliegen der

deutschen Jakobiner379

in einem Papier zum Ausdruck, das – in der Übernahme

symbolhafter Erkennungsmerkmale der revolutionären Bewegung – einen Freiheits-

baum mit einer Jakobinermütze zeigt, und auf dem der vorderhand naiv anmutende,

374 Vgl. Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 503.

375 Stadelmann, Staat, 342.

376 Christoph Martin Wieland, Betrachtungen über die gegenwärtige Lage des Vaterlandes, in: ders.,

Werke, 37-71; hier: 59.377

Vgl. zu Gesellschaftstheorie und Handlungskonzepten: Stephan, Jakobinismus, 64-92.378

Vgl. Fenske, Denken, 407.379

Vgl. zur Diskussion um die Problematik des Begriffes: Haasis, Freiheit, Bd. 1, 14-21; Stephan,

Jakobinismus, 39-49. Eine anschauliche Darstellung zu den so genannten deutschen Jakobinern:

Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner. Anne Cottebrune unterbreitet den Vorschlag zur Ent-

mythisierung des Forschungsgebietes „Deutscher Jakobiner“ auf die Bezeichnung „Deutsche

Freiheitsfreunde“ auszuweichen (dies., Freiheitsfreunde, bes. 56-58). Aus zeitgenössischer Sicht zu der

Frage „Was ist ein Jakobiner?“: Anonymus, Was ist ein Jakobiner?, in: Stammen/Eberle (Hgg.),

Deutschland, 305-309.

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dafür aber umso aussagekräftigere Satz „Die Freiheit ist uns lieb und der Kaiser nicht“

verzeichnet ist.380

Die Anhänger der Revolution sahen sich in Anlehnung an die 1792 in Straßburg

entstandene französische Revolutionshymne als „Brüder der Freiheit“.381

Die von ihnen

mit Vehemenz vertretene Forderung war die umfassende Neulegitimierung des Staates

durch gleiche Teilhabe aller Bürger am politischen Entscheidungsprozess. Zunächst

verwahrten sich die Jakobiner noch dagegen, die Errungenschaften der Freiheit, die das

französische Volk für sich erobert hatte, anderen Völkern in Form eines expliziten

Kreuzzuges aufzuoktroyieren.382

Freiheit, die positiv ausgelegt wurde und weniger die

negative Ablehnung von Zwang umfasste,383

sollte vielmehr durch eine Bekehrung von

innen heraus erworben werden, da sie dem Menschen eingeschrieben sei. Auf diesem

Weg sollte der Mensch wieder in seine naturgegebenen Rechte und Freiheiten

eingesetzt werden, deren Vollzug nur in einem kollektiven Erlebnis der aktiven

Selbstbestimmung des Volkes verwirklicht werden könne.384

Im Gefolge der Französischen Revolution wurde häufig die Idee verfochten, die

wahre Freiheit könne nur aus einer demokratischen Verfassung ausfließen.385

Friedrich

Gottlieb Klopstock,386

konsequenter Anwalt einer antirevolutionären Haltung, wider-

sprach solchen Ideen frühzeitig, indem er die althergebrachte Monarchie mit den

allgemeinen Freiheitshoffnungen der Bürger verband. Er reimte: „O, Freyheit, Freyheit!

Nicht der Demokrat allein / Weiß, wer du bist!“387

und beugte damit der Verbreitung

der Meinung vor, lediglich die Demokratie könne für die Umsetzung der Freiheit

sorgen. Romantische Dichter wie Matthias Claudius388

folgten ihm in dieser zum Teil

explizit gegen die naturrechtlich verbürgten Menschenrechte ankämpfenden Tradition

nach. Der protestantische Theologe Claudius legte zur Abwehr der Revolutionsfolgen

und zur Rückbesinnung auf die „gute alte Zeit“ gar dem Teufel antirevolutionäre Verse

in den Mund: „Man nannte Freiheit bei den Alten, / Wo Kopf und Kragen sicher war, /

Wo Ordnung und Gesetze galten, / Und niemand krümmte kein Haar. / Doch nun ist

380 Zit. nach Grab, Volk, 191. Das Papier wird heute im Verwaltungsarchiv Wien aufbewahrt.

381 Vgl. ebd., 111.

382 Vgl. ebd., 39.

383 Vgl. Talmon, Ursprünge, 97.

384 Vgl. ebd., 75.

385 Vgl. Fenske, Denken, 410.

386 Vgl. zu Person: Kohl, Friedrich Gottlieb Klopstock, 22-37.

387 Friedrich Gottlieb Klopstock, Ode auf das Jubelfest der Souveränität in Dänemark, zit. nach:

Volke/Kussmaul-Schillbach (Bearb.), Freyheit, 38.388

Vgl. zur Biographie z.B.: Roedel, Matthias Claudius; zur Verteidigung der alten Ordnung in seiner

Dichtung: Kranefuss, Gedichte, 55-58.

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frei, wo jedermann / Rad schlagen und rumoren kann.“389

Mit diesen Zeilen nahm der

„Wandsbecker Bote“ Stellung zu den Vorgängen der Französischen Revolution und

zum gewaltsamen Vorgehen der Verfechter revolutionärer Ideen diesseits des Rheins.

Die Folgen der „ohnbehosten Freiheit und Gleichheit“ trafen also keinesfalls allerorten

auf Gegenliebe,390

weshalb auch nicht alle Studenten dieser Zeit Freiheitsparolen in ihr

Studienbuch einschrieben und einen „teutschen Freiheitshut“ trugen.391

Christoph Martin Wieland befand 1792 in einem Brief in ablehnender Positionierung

gegenüber der Revolution, „daß es besser wäre, anstatt Freiheit und Gleichheit,

Gerechtigkeit und Ordnung zu den Grundpfeilern der neuen Ordnung der Dinge zu

machen“,392

womit er – dem vermittelnden Charakter der konservativen Freiheits-

auffassung folgend – auf eine explizite Evolutionsstrategie setzte.393

Proportional

umgekehrt nahm in dem Maß, in dem sich die Nachrichten über Robespierres

Schreckenstaten verbreiteten, die Begeisterung der Intellektuellen für die Französische

Revolution ab.394

Für die Anhänger der jakobinischen Ideen, auf die Rousseau und

Voltaire den größten Einfluss ausübten,395

ging es in letzter Konsequenz ihrer

Forderungen um „Freyheit oder Mordt und Todt.“396

Freiheit wurde somit zum

objektiven Ziel der Bewegung und zum meist umkämpften Deutungsmuster der

nachrevolutionären Zeit.

Georg Forster war einer der erbittertsten Streiter, der sich für die Sicherung der

neugewonnenen Freiheit französischer Prägung einsetzte. Der Schriftsteller und

Forschungsreisende, der als Jugendlicher mit James Cook eine Weltumsegelung unter-

nommen hatte,397

propagierte eine allumfassende Freiheit, deren Anspruch jede

Autorität in Frage stellte, obzwar sie deduktiv herbeigeführt werden sollte.398

Das

389 Matthias Claudius, Urians Nachricht von der neuen Aufklärung, in: ders., Asmus, 459-461; hier: 460.

390 Daniel Chodowiecki, zit. nach: Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner, 43. Vgl. hierzu auch

Beyme, Theorie, 141 f.391

Vgl. für diese Zeiterscheinung: Kuhn/Schweigard, Freiheit, 41-47.392

Zit. nach: Hartkopf, Einführung, 7.393

Vgl. zu Wielands Einstellung zur Französischen Revolution: Fink, Wieland, 437.394

Vgl. Koops, Revolutionen, 61.395

Vgl. Sell, Tragödie, 14 f.396

Vgl. hierzu die Flugblätter des Jakobinerklubs von Altona, die an der Wende des Jahres 1792

entstanden. Eine Transkription der insgesamt 4 Flugblätter findet sich in Grab, Volk, 324-330. Klose sieht

in seiner Darstellung zur Geschichte der Studentenbewegungen in diesem Wortpaar einen „deutsche[n]

Zweiklang“ (ders, Freiheit, 138). Vgl. für weitere Versionen: Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner,

37 („Freiheit, Gleichheit, Bruderliebe oder Tod, Tod dem Tyrannen, Heil den Völkern“); 78 („Wohlan,

die Wahl ist leicht! / Nur Freiheit oder Tod! / Weh dem, Fluch dem, / Der je wagt und unsrer Freiheit

droht!“); 80 („Bürger! Ihr habt geschworen Freiheit oder Tod!“); Abb. nach 125 („Freiheit oder Mordt

und Todt“). Zu Herkunft und Verwendung der Wendung insgesamt: Kuhn/Schweigard, Freiheit, 46 f.397

Vgl. hierzu: Kersten, Weltumsegler, bes. 25-42.398

Vgl. Schlumbohm, Freiheitsbegriff, 36.

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Mitglied des Klubs deutscher Freiheitsfreunde399

kommt in einer Rede über das

Verhältnis der Mainzer gegen die Franken,400

womit in germanisierender Diktion das

revolutionäre Frankreich gemeint ist, auf die Wendung „Frei sein und gleich sein“ zu

sprechen. Der ehemalige Universitätsprofessor, der in Wilna und Jena lehrte und seit

1788 an der Universität Mainz als Erster Bibliothekar tätig war,401

kennzeichnet sie als

Sinnspruch vernünftiger und moralischer Menschen.402

Forster, der sich vorrangig mit

naturwissenschaftlichen Fragen beschäftigte, gilt als prominentestes Mitglied des

Mainzer Jakobiner-Clubs,403

einer Vereinigung, die enthusiastische Zeitgenossen als

„schöne Erstgeburt der deutschen Freiheit“404

bezeichneten.

Die Franken, die Forster als Überwinder der Tyrannei feiert, wollten, so seine

Überlegung, als Erweis ihrer Brüderlichkeit die teuer erkaufte Freiheit auch mit den

Anhängern der freiheitlichen Ideen in Deutschland teilen. Forster betont zugleich die

sakrale Aura und die Kraft der „heilige[n] Freiheit“.405

Für ihn ist es selbstverständlich,

dass sie immer gemeinsam mit der Gleichheit zu betrachten ist. Für beide Werte lohnt

es sich seiner Überzeugung nach, das Leben zu opfern:

„So kann die Freiheit im Herzen der Menschen wirken, so heiligt sie sich selbst

den Tempel, den sie bewohnt! Was waren wir noch vor drei Wochen? Wie hat die

wunderbare Verwandlung nur so schnell geschehen können, aus bedrückten, ge-

mißhandelten, stillschweigenden Knechten eines Priesters, in aufgerichtete,

lautredende, freie Bürger, in kühne Freunde der Freiheit und Gleichheit, bereit frei

zu leben oder zu sterben! Mitbürger! Brüder! Die Kraft, die uns so verwandeln

konnte, kann auch Franken und Mainzer verschmelzen zu einem Volk!“406

Forster vertritt hier einen überindividuellen Freiheitsbegriff,407

dessen Ziel die

Herausbildung eines Staatswesens auf der Basis der revolutionären Freiheit ist. „[W]ir

fachen die heilige Flamme an, wir spornen zur Erreichung des großen Ziels, wir ruhen

nicht, bis Freiheit und Gleichheit als die unumstößlichen Grundsätze menschlicher

Glückseligkeit anerkannt worden sind“408

, gibt er als kompromissloses Motto aus. Es

ist, wie er im historischen Rückblick auf die vorrevolutionäre Situation betont, besser

399 Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 42.

400 Vgl. zu der ersten großen Rede Forsters im Jakobinerclub: Uhlig, Georg Forster, 305 f.

401 Vgl. Uhlig, Georg Forster, 232-249.

402 Georg Forster, Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken zit. nach Wende (Hg.), Reden, Bd.

1, 9-29; hier: 11. 403

Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 14.404

[Briefwechsel in der Wochenschrift] Der Patriot, zit. nach: Volke/Kussmaul-Schillbach (Bearb.),

Freyheit, 296.405

Georg Forster, Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken zit. nach Wende (Hg.), Reden, Bd.

1, 9-29; hier: 27.406

Ebd., 12.407

Vgl. zum Freiheitsbegriff der Mainzer Jakobiner insgesamt: Tervooren, Mainzer Republik, 107-112.408

Georg Forster, Über das Verhältnis der Mainzer gegen die Franken zit. nach Wende (Hg.), Reden, Bd.

1, 9-29; hier: 14.

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„frei zu sein als zu dienen, besser ganz frei als ein halber Sklav zu sein.“409

Gerade in

dem Augenblick, als Forster in seiner Eigenschaft als Präsident des Jakobiner-Clubs

und Vizepräsident des Rheinisch-deutschen Nationalkonvents in Paris ankam, um den

Zusammenschluss der Brudervölker durch den Beitritt der Mainzer zur Französischen

Republik zu verkünden, beendeten preußische Truppen dieses Vorhaben durch die

Rückeroberung der linksrheinischen Gebiete.410

Der am 14. April 1792 begonnenen

Belagerung der Stadt durch deutsche Truppen konnten die französischen Besatzer

lediglich bis zum 23. Juli standhalten. An diesem Tag kam es zur Kapitulation.411

Der sakrale Aspekt des Freiheitsdiskurses wurde auch von anderen Akteuren

hervorgehoben. So verzeichnet der Volksdichter und Journalist Christian Friedrich

Schubart in seinem Journal: „Wenn ich von Freiheit spreche; so wird meine Rede

Gesang: O Freiheit, Freiheit! Gottes Schoß entstiegen, / Du aller Wesen seeligstes

Vergnügen, / An tausendfachen Wonnen reich, / Machst du die Menschen – Göttern

gleich.“412

Angeklagt wegen Majestätsbeleidigung saß der rebellische Schubart auf

Anweisung Herzog Karl Eugens von Württemberg zehn Jahre auf der Festung

Hohenasperg ein.413

Der ehemalige Hofpoet und Theaterdirektor musste sich haupt-

sächlich wegen des freiheitlich-revolutionären Inhalts seiner Vaterländischen Chronik

verantworten.

Als vorbildhafte Nation für die Jakobiner erwähnt ein Flugblatt neben Frankreich

auch das Amerika Thomas Paines414

als „freye Nation“, in der einem deutschen

Topos415

entsprechend „Ruhe und Ordnung“ herrsche.416

Interessante Parallelen in der

Ikonographie der Freiheitsbewegungen in Amerika und Europa bietet der Brauch,

Freiheitsbäume aufzustellen, der sowohl in Frankreich, den Vereinigten Staaten, aber

auch beispielsweise in Süddeutschland gepflegt wurde.417

Der Revolutions-Almanach

409 Ebd., 16.

410 Vgl. zu Forsters Aufenthalt in Paris: Uhlig, Georg Forster, 325-342

411 Vgl. zur Mainzer Republik: Dumont, Mainzer Republik.

412 Christian Friedrich Daniel Schubart, O Freiheit, Freiheit, Gottes Schoß entstiegen, in: ders., Werke,

326.413

Vgl. Boberach/Hartkopf/Koops u.a. (Hgg.), Freiheit 25.414

Vgl. Grab, Volk, 334-336. Explizit wird auf Paines Schrift Die Rechte des Menschen im ersten

Flugblatt verwiesen. Vgl. für den textuellen Gesamtzusammenhang die übernächste Anm.415

Vgl. hierzu: Lindenberger, Ruhe und Ordnung.416

Zit. nach: Grab, Volk, 325. „Wir können alsdenn durch eine Repräsentantische Regierung aus denn

klügsten von unsers Landes-Bewohner aufgestellt wird als eine freye Nation ebenso mit dem goldenen

Segen der Zufriedenheit gekrönt in Unser Land leben, als die schätzbahren Amerikaner, die schon längst

in der besten Ruhe und Ordnung für den 60sten Theil von Ausgaben gegen die Unsrigen den reichsten

Seegen ihrer ergiebigen freyen Länder genießen, da doch ihr Land 12 Mahl größer ist als das Unsere,

welches Ihr selbst überrechnen könnt, wenn ihr mit Bedacht leset, das Buch, betitelt die Rechte des

Menschen.“ (AaO., 325 f.).417

Vgl. Hackett Fischer, Liberty, 24-36; bes. 31-33. Vgl. zu der Tradition im deutschen Kontext auch den

Artikel von Paul Achatius Pfizer im Staats-Lexikon (ders., Freiheitsbaum.), der das Wiederaufleben der

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von 1794 erblickt diesem Brauchtum gegenüber kritisch eingestellt ein „mächtig

wirkende[s] Werkzeuge für den Pöbel“ und „das Bild des Revolutions-Schwindels

unserer Zeiten!“418

. Für Mainz, Worms, Köln und andere hauptsächlich linksrheinische

und im Süddeutschen gelegene Städte ist dieser Brauch, der darauf angelegt ist, einen

symbolischen gemeinschaftsstiftenden Bezugspunkt zu schaffen, belegt.419

Oft wurden

zu den feierlich auf zentralen Plätzen inszenierten Anlässen Gelegenheitsdichtungen

auf die Marseillese verfasst. So ist dies beispielsweise für Mainz, die cisrhenanische

Hauptstadt der jakobinischen Bewegung, durch Friedrich Lehne geschehen.420

Auch

sollen Freiheitsfreunde in Tübingen nach französischem Vorbild einen Freiheitsbaum

errichtet haben.421

Unter den Freiheitsanhängern, die an den Jahrestag der Erstürmung

der Bastille gedachten, befanden sich wahrscheinlich nachmalig prominente Vertreter

des Geisteslebens wie der Dichter Hölderlin, der 1791 eine Hymne an die Freiheit

verfasste, und der Philosoph Hegel.422

Beide weilten damals als Stipendiaten in

Tübingen.423

In Worms veranlassten die preußischen Truppen nach der Rückeroberung,

dass die „Jakobiner Schwindelköpfe zu Worms [...] ihren Freiheitsbaum selbst aus-

graben“424

mussten. In der deutschen Bildwahrnehmung der Revolutionsereignisse

gehört der Tanz um den Freiheitsbaum zu den am häufigsten anzutreffenden Motiven

kollektiver Bezüglichkeit.425

Maientradition im revolutionären Frankreich ansetzt. „Dem nüchternen, prosaischen Verstande kann zwar

ein Gebrauch, wie der bisher beschriebene, als leere Spielerei erschienen. Erwägt man aber die Gewalt,

mit welcher Zeichen und Symbole auf Gefühl und Phantasie der Menschen wirken, so wird man den

Gedanken, in einem nationalen Sinnbilde die Idee der Freiheit zu verkörpern und aus dem Freiheitsbaume

für jede Gemeinde das zu machen, was dem Soldaten seine Fahne, was einem ganzen Lande die

Nationalfarbe ist, weder kindisch noch unpolitisch finden. Und welch ein edleres Sinnbild der Freiheit

gäbe es denn als den freien Baum des Waldes, zumal die von Gregoire zum Freiheitsbaum empfohlene

Eiche mit dem majestätischen Wuchse und der fast ewigen Dauer? Im Haine, im Eichendunkel, rief schon

der Gallier wie der Germane seine Götter an, im Dickicht jener Waldesriesen, die ‚nicht in des Menschen

Schule gehen’, fühlte er sich frei, und heilig war dem Sohne der Freiheit und des Waldes der Baum, der

aus den freien Elementen seine Nahrung saugend, die hohe Krone sicher, aber still entfaltet, und wenn

auch hundertmal durch Frost und Sturm entblättert, aus unerschöpfter Lebensfülle immer neues Laub und

neue Blüthen treibt, bis aus dem Baume und seinen tausend Sprößlingen ein Wald geworden, in dessen

Schatten ganze Völker Zuflucht finden mögen.“ (AaO., 188).418

Revolutions-Almanach von 1794, zit. nach: Volke/Kussmaul-Schillbach (Bearb.), Freyheit, 226.419

Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 15-17.420

Vgl. Volke/Kussmaul-Schillbach (Bearb.), Freyheit, 225-229. 421

Vgl. Karl Klüpfel, Geschichte und Beschreibung der Universität Tübingen (1849), in: Donath/Markov

(Hg.), Kampf, 29 f. 422

Vgl. Kuhn/Schweigard, Freiheit, 132-136; 264-285; bes. 272-276.423

Vgl. Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner, 30 f. Vgl. dort auch zur Tradition des Freiheitsbaums

und zu belegten Exemplaren z.T. mit Abbildungen (aaO., 38-40; 76 f.; 80; 88 f.; 101; 105 f.). Nach der

Unabhängigkeitserklärung der linksrheinischen Gebiete am 23. Brumaire VI (13. November 1797) kam

es zu zahlreichen öffentlichen Kundgebungen mit der Errichtung eines Freiheitszeichens wie z.B. in den

cisrhenanischen Orten Blieskastel, Bobenheim, Grünstadt, Kirchberg, Schönberg, Speyer, St. Wendel,

Trier und Zweibrücken (aaO., 117 f.).424

Revolutionsalmanach 10 (1794); zit. nach: Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 17.425

Vgl. Einigkeit und Recht und Freiheit, 40. Auch in literarischen Gestaltungen, z.B. im Werk Heines,

findet sich der Freiheitsbaum häufig als Revolutionssymbol: Koßek, Begriff, 163-165.

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Joseph Görres, um neben Forster einen weiteren Anhänger der Jakobiner und

Verfechter der cisrhenanischen Frankenrepublik zu Wort kommen zu lassen,426

befindet

nach der Übergabe von Mainz am 22. Oktober 1792 an französische Truppen, die er als

„Heerscharen der Freiheit“ bezeichnet:

„Mainz ist unser! [...] Sie ist verloren diese Sternschanze des Despotismus,

zerschnitten der Saum der berüchtigten Reichsintegrität. Die Freiheit hat ihr

Eigentum, das schändlicher Verrat ihr einst entriss, wieder in Besitz genommen,

und der Verrat ist auf die Köpfe seiner Urheber zurückgefallen. Zernichtet ist also

die Hoffnung unserer Despoten, abgeworfen die große Brücke die sie noch mit

dem linken Rheinufer verband. Sie stehen auf den Gebirgen im jenseitigen

Deutschland, und blicken mit verbissener Wut in’s gelobte Land der Freiheit, das

ihnen jetzt auf ewig den Zugang versagt.“427

Später wurde Görres, vor allem enttäuscht durch den Pariser Imperialismus, vehementer

Verfechter des nationalpolitischen Katholizismus.428

Der 1776 geborene Herausgeber

des Roten Blattes und des Rübezahl vertrat in seiner Jugend engagiert die Ideen der

Französischen Revolution, die sich auf seine späterhin beharrlich eingeklagte Forderung

auswirkten, die Regierungen sollten die zur Beschwichtigung des Volkes versprochenen

Verfassungen endlich erlassen.429

Der französische General Custines richtete am 24. Oktober 1792 an den tags zuvor

gegründeten Mainzer Jakobinerklub, dem jeder Mann über 24 Jahren beitreten konnte,

eine Ansprache, in der er die Klubisten darauf verpflichtete, die „heiligen Grundsätze

der Freiheit und Gleichheit bekannt zu machen.“ Er fuhr fort: „Aber ewige Schande

brandmarke alle diejenigen, denen das Rasseln ihrer Ketten lieber ist, als die süßtönende

Stimme der Freiheit.“430

Die Aufforderung blieb nicht ohne Widerhall, so dass bis zu

500 Mainzer Bürger aller Schichten dem Klub beitraten und mit allen Kräften für die

Sache der Freiheit warben.431

Wolfgang Plat bezeichnete den Mainzer Jakobinerklub als

„die erste deutsche Volkshochschule des revolutionären Republikanismus“.432

Die von den Republikanern vertretene Auffassung, Freiheit und Gleichheit als

äquivalente Naturrechte anzusehen, ist das Thema des zweiten Flugblatts des Altonaer

426 Vgl. hierzu: Weiß, Joseph von Görres, 144-146. Zum Verhältnis von sprachlicher und politischer

Handlung in der Mainzer Republik: Herrgen, Sprache; ders., Wörter.427

Joseph Görres, Nach der Übergabe von Mainz, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1, 30-42; hier: 30.428

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 303; Winkler, Weg, Bd. 1, 73. Görres drängt auf Deutschland

und die Revolution zurückblickend auf einen Ausgleich zwischen demokratischem und monarchischem

System (ders., Deutschland, 128). Interessant für spätere Argumentationsmuster ist seine Wahrnehmung

der Demokratie: „Die Demokratie strebt ihrem Wesen nach eigenwillig allein auf sich selber zu; [...] sie

ist darum wesentlich teilend und zersetzend, das Allgemeine auflösend bis zum Besondersten, so lange,

bis die einzelne Persönlichkeit als letztes Element der Gemeinde der Teilung Grenze setzt.“ (AaO., 121).429

Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 37 f.430

Extrablatt der Mainzer Zeitung Nr. 170 vom 26.10. 1792, zit. nach: Boberach/Koops/Schütz (Hgg.),

Jakobiner, 61.431

Vgl. ausführlicher zum Freiheitsdiskurs in der Mainzer Republik: Träger, Mainzer.432

Plat, Träume, 89.

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Jakobinerklubs vom 31. Dezember 1792, des dritten vom 1. Januar 1793 sowie auch des

vierten wiederum vom letzten Tag im Dezember 1792.433

In der Stadt, die über das

Königreich Dänemark dem Reich zugehörte, hatte sich an der Wende des Jahres 1792

ein Jakobinerklub zusammengefunden, dessen Mitglieder sich vorrangig aus weniger

gebildeten Volksschichten rekrutierten.434

Die Schriften kamen zur Verteilung oder zum

Anschlag an Hauswände. Die von ihnen propagierte Sichtweise,435

Gleichheit und

Freiheit seien eins, geht auf die Erklärung der Menschenrechte zurück, die von der

französischen Nationalversammlung am 26. August 1789 beschlossen wurde. Dort

lautete der erste Artikel: „Frei und gleich an Rechten werden die Menschen geboren und

bleiben es. Die sozialen Unterschiede können sich nur auf das gemeine Wohl

gründen.“436

Mit dem Niedergang des französischen Vorbildes gerieten auch die

deutschen Jakobiner und ihre Ideen in Misskredit.

4.1.2 „Deutsche Freiheit“ als Defensivum gegenüber der „Schimäre einer

unbegränzten Freiheit“

„Sei uns gegrüßt, du holde Freiheit!“ war ein Ausspruch, der nicht mehr jedem so leicht

über die Lippen kam wie dem Dichter Johann Heinrich Voß in seinem Hymnus der

Freiheit.437

Mit ihm unternahm Voß den seinerzeit beliebten Versuch, die Marseillaise

ins Deutsche zu übertragen. Selbst in der als revolutionär verschrieenen Gesellschaft der

Mainzer Volksfreunde wurden die konservativen Werte Ordnung und Sicherheit als die

„unzertrennlichen Gefährten der Freiheit“ angesehen.438

Konservative Intellektuelle

äußerten Kritik an den Ideen von 1789 und begründeten hiermit eine Einstellung, die

sich nachhaltig im kollektiven Erinnerungsbestand festsetzte.439

433 Vgl. Grab, Volk, 327-329. Dort heißt es jeweils: „Freyheit und Gleichheit [...] sind der Menschen

Ursprüngliche Rechte!“ (AaO., 327; 328; 329).434

Vgl. Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner, 45 f. Vgl. insgesamt für die Norddeutsche

demokratische Bewegung: Grab, Jakobiner.435

Vgl. zur Revolutionspropaganda der deutschen Jakobiner: Grab, Revolutionspropaganda.436

Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers, zit. nach: Musulin (Hg.), Proklamationen, 74-76;

hier: 75.437

Johann Heinrich Voß, Hymnus der Freiheit, in: Schleswigsches Journal, Bd. 1, 1793, zit. nach:

Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner, 35.438

Georg Wedekind, Über Freiheit und Gleichheit. Eine Anrede an seine Mitbürger (Juli 1793), zit. nach:

Stammen/Eberle (Hgg.), Deutschland, 250-254; hier: 251.439

Vgl. z.B. für das Gebiet der Literatur: Lepper/Steitz/Brenn, Einführung, 65-82; für die

Geschichtsschreibung: Weidenfeld, Weg, 36-40.

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In der Nachfolge des aus Irland abkünftigen, britischen Unterhausabgeordneten

Edmund Burke,440

der Freiheit als ein althergebrachtes Erbrecht betrachtet wissen

wollte441

und sie als einen männlichen, sittlichen und geordneten Wert verstand,442

drängten zahlreiche Kritiker des radikalen Umsturzes auf den Geist der Mäßigung.443

So

warnt Friedrich von Gentz444

in der Einleitung zu seiner maßgeblichen Übersetzung der

Burkeschen Betrachtungen vor der „Schimäre einer unbegränzten Freiheit“.445

Sie habe

„eine so magische Kraft, daß sogar die, welche die Täuschung zu entwickeln verstehen,

ihr in schwärmerischen Augenblicken huldigen: Jeder Zustand, der Einschränkung der

Freiheit fordert, wird im günstigsten Fall als ein nothwendiges Übel angesehen.“446

Mit

der Übertragung der Reflections ins Deutsche hat Gentz entscheidend zum programma-

tischen Diskurs des deutschen Konservatismus beigetragen und eine argumentative

Grundlage für Verfechter einer abwehrenden Ideologie geliefert.447

In der durch Gentz

vermittelten Perzeption der Entwicklung, die Freiheit zur Frechheit werden lässt,448

wird „die Schwärmerei von 1789“ zum „Embryo des ausgewachsenen Wahnsinns von

1792“.449

Auch Friedrich Daniel Schubart karikierte die aufgebrachten Freiheitsbemühungen

der von ihm gleichfalls abschätzig als „Schwärmer“ bezeichneten Zeitgenossen und

verwies in diesem Kontext auf den seiner Ansicht nach bestehenden Widerspruch von

deutschem Geist und Freiheitsbegriff: „Der Deutsche“, bescheidet Schubart über dessen

Habitus, „sitzt fest und breit in seinem Großvaterstuhle und ist zur Genügsamkeit, zur

Unterwerfung, zur Arbeit geneigter als andere Nationen. Er ist verständig und denkt: auf

440 Vgl. Schildt, Konservatismus, 37. Er weist darauf hin, dass Burke infolge seiner 1790 entstandenen

Betrachtungen über die Französische Revolution von einer Reihe von Theoretikern u.a. auch von Karl

Mannheim als „Urvater des Konservatismus“ bezeichnet wurde (aaO., 11). Zu Burkes Betrachtungen:

Zimmer, Edmund Burke, 95-117. Zum „prototypischen britischen Konservativen“ Burke: Müllenbrock,

Edmund Burke.441

Vgl. Burke, Betrachtungen, 87.442

Vgl. ebd., 42.443

Vgl. ebd., 36-88. Vgl. hierzu: Kondylis, Konservatismus, der die These vertritt, die Revolution sei von

den Konservativen als Fortsetzung des Absolutismus verstanden worden (aaO., 210-217).444

Vgl. Beyme, Theorie, 422-425.445

Gentz, Einleitung, 10. Zu Gentz: Kronenbitter, Friedrich von Gentz. Vgl. eine ähnliche Formulierung

eines Anonymus, der aufgrund der Fürstenwillkür rhetorisch danach fragt, ob eine Nation frei sein könne,

„die keine Constitution hat, deren Fürst, nach seiner Laune und Willkür handeln kann, deren Väter und

Vorsteher es nicht wagen dürfen, über Menschen-Rechte zu reden – wo alles unterthänig dem Fürsten,

nicht den Gesetzen – leibeigen einem Einzelherrn ist, der aus Gnaden ihnen den Gebrauch der Luft und

des Wassers erlaubt? Sind dieses Charactere der deutschen Freiheit, so ist es ja durch ächte unver-

werfliche Zeugnisse beurkundet, daß Freiheit eine Chimäre auf dem deutschem Boden ist“ (Anonymus,

Über Deutschlands verlorene Freyheit [1798], zit. nach: Stammen/Eberle [Hgg.], Deutschland, 414-418;

hier: 416).446

Gentz, Einleitung, 10.447

Vgl. Kronenbitter, Friedrich von Gentz, 108.448

Vgl. hierzu auch: Grimm/Grimm, Wörterbuch, Sp. 112.449

Gentz, Einleitung, 26. Vgl. zur konservativen Revolutionsdeutung: Lenk, Konservatismus, 68-70.

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dieser Welt ist doch keine wahre Freiheit zu finden; drüben erst wird es uns glücken,

hineinzuschauen in das vollkommene Gesetz der Freiheit.“450

Unter dem unmittelbaren

Eindruck der Französischen Revolution ließ er noch wenig zuvor in seinem Journal

einen Pilger Stoßzeufzer ausbringen, die danach verlangten, das „Vaterland“ möge sich

„sonnen und wonnen ewig im Strahle der heiligen Freiheit!“451

Der Zeitgeist hatte sich

unübersehbar gewandelt.

Das umtriebige und zugleich gesetzlose Vorgehen der Klubisten wurde nicht goutiert

und vielfach mit Spott belegt, weshalb im Gegenzug der wurzellose Ausbruch aus den

Pflichten des Gehorsams auf nur wenig Zustimmung stoßen konnte.452

Nach der

abermaligen Einnahme des linksrheinischen Gebietes durch französische Truppen im

Jahr 1794 wurde drei Jahre darauf die cisrhenanische Republik erklärt. In diesem

Zusammenhang wird, wie bereits nach der Französischen Revolution geschehen, eine

neue Zeitrechnung eingeführt, um die Abkehr vom alten Regime zu versinnbildlichen.

So kommt es dazu, dass ein Protokoll des Bonner Magistrats vom 1. November 1797,

das Preisobergrenzen für Grundnahrungsmittel festlegt, auf das „1. Jahr der deutschen

Freiheit“ datiert ist.453

Das Deutungsmuster „deutsche Freiheit“ konnte aufgrund seines

Charakters – dies sollte deutlich geworden sein – als positiv belegtes, semantisches

Begriffsgeflecht sowohl Gegnern als auch Verfechtern der Französischen Revolution als

Argumentationshilfe dienen, da hinter der identischen Formalgestalt des Wortkörpers

ein Arsenal verschiedenartigster Interpretationsansätze zur inhaltlichen Füllung zum

Einsatz kam.

Erst allmählich bildeten sich über die spontane Abwehrreaktion gegenüber der

revolutionären „Unordnung“ hinaus auch theoretische Reflexionen heraus, die nun

vermehrt versuchten, das Deutungsmuster für ideologische Zwecke zu instrumen-

talisieren. Der Göttinger Hainbund, ein literarischer Zirkel junger Dichter, dem Heinrich

Christian Boie, Gottfried August Bürger, Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Christian

und Friedrich Leopold zu Stolberg sowie Johann Martin Miller und Johann Heinrich

Voß angehörten, verband den Freiheitsbegriff eng mit dem Nationalstolz.454

Die

Mitglieder des Bundes „für Tugend, Vaterland und Freiheit“ nahmen erstmals in einem

450 Christian Friedrich Daniel Schubart, Deutschland (aus dem 29. Stück der Chronik, 26.07. 1791), in:

ders., Werke, 228 f.; hier: 229. 451

Christian Friedrich Daniel Schubart, Des Pilgers Stoßseufzer (aus dem 94. Stück der Chronik, 21.11.

1788), in: ders., Werke, 146. 452

„Den Gehorsam aufzugeben, / Eig’nem Sinne nachzuleben, / Dazu sind sie stets bereit; / Die Gesetze

zu zernichten, Freiheitsbäume aufzurichten, / Das ist, was ihr Herz begehrt.“ Anonymes Spottgedicht, zit.

nach: Boberach/Koops/Schütz (Hgg.), Jakobiner, 102.453

Zit. nach: Ebd., 110.454

Vgl. Boberach/Hartkopf/Koops u.a. (Hgg.), Freiheit, 28 f.

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breiteren Rahmen die Vermengung dieser Begriffe vor. Das sollte fernerhin eine der

tragkräftigsten Konstanten im Diskurs um die „deutsche Freiheit“ bilden.455

Der kulturgestützte Geniegedanke wurde insbesondere von Dichtern – nicht nur

innerhalb des Hainbundes – als kompensatorisches Auflehnen gegen den dominanten

französischen Zivilisationsgedanken aufgestellt, indem der Kampf vorbildhafter

Individuen für Freiheit zur höchsten Lebensform erhoben wurde. Im Grunde sind es

jedoch eher apolitische Freiheitshelden wie Egmont, Fiesco von Genua und Don Carlos,

die den Sturm und Drang kennzeichnen.456

Schiller erkämpfte sich durch Desertion

seine persönliche Freiheit. Dies hat seine Dichtung geprägt.457

Auch beschäftigte er sich

in seinen historischen Studien intensiv mit dem Ringen von Despotismus und Freiheit in

anderen Ländern, wie die Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der

spanischen Regierung eindrucksvoll belegt.458

Goethe hingegen zeigte sich – nach kurzer Revolutionseuphorie – als Freund der

organischen Ordnung, der im Dienste der Freiheit evolutionärer Entwicklung statt

revolutionärem Umsturz das Wort redete.459

„Freiheitsapostel“ waren ihm zuwider, da

diese am Ende ohnehin nur Willkür für sich in Anspruch genommen hätten.460

Die

Freiheit wird in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten als blendende Schön-

heit dargestellt, die als Verführerin auftritt.461

Einem der Venetianischen Epigramme ist

zu entnehmen: „Willst du viele befrein, so wag’ es, vielen zu dienen.“462

Freiheit ist im

Werk des Klassikers zumeist an Maß und Ordnung gebunden463

und nimmt den Rang

einer formalen Kategorie ein.464

Sie ist kein Ideal, sondern steht in einem

Polaritätsverhältnis zur Knechtschaft.465

Einzig Götz von Berlichingen und Egmont sind

in ihrem Freiheitsdrang entfernt mit Schillers Helden verwandt. Die letzten Worte des

455 Vgl. Sell, Tragödie, 16-18.

456 Vgl. ebd., 18 f.

457 Vgl. Boberach/Hartkopf/Koops u.a. (Hgg.), Freiheit, 32 f. Vgl. zu Schillers Freiheitsvorstellungen:

Johnston, Welt, 64-66.458

Vgl. Schiller, Werke, Bd. 4, 27-361; bes. 33-46 (Einleitung).459

Vgl. z.B. den Dialog von Jetter, Buyck und Soest im Egmont, 1. Aufzug: Armbrustschießen. Sie rufen

gemeinsam aus: „Sicherheit und Ruhe! Ordnung und Freiheit!“ (Goethe, Werke, Bd. 4, 377). 460

Vgl. zum Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit im Werk Goethes, Erpenbeck, Freiheit.461

Vgl. Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: ders. Werke, Bd. 6, 127.462

Goethe, Venetianische Epigramme: 20., in: ders., Werke, Bd. 1, 179. Vgl. zu dieser dem zeitge-

nössischen Pietismus nahestehenden Vorstellung von Freiheit und Dienst: Kaiser, Pietismus, 109-123. 463

Vgl. Goethe, Elegien und Lehrgedichte: Metamorphose der Tiere, in: ders., Werke, Bd. 1, 203.464

Vgl. Goethe, Lyrisches: Das Sonett, in: ders., Werke, Bd. 1, 245.465

Vgl. Goethe, Westöstlicher Divan: Nachtrag, in: ders., Werke, Bd. 2, 175.

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Ritters von Berlichingen sind daher ganz dem Freiheitspathos entsprechend.466

Auch

Egmont opfert sich für die Freiheit.467

Eine weitere, gemäßigtere Linie in der Auseinandersetzung mit der neugewonnenen

Freiheit sah von der durchgängigen Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes ab.468

Sie

vermochte auf längere Sicht gesehen in den Liberalismus und den Sozialdemokratismus

überzugehen und konnte somit durch Wandlung ihren Fortbestand sichern.469

Das

angestrebte Ziel war eine gesellschaftliche, politische und kulturelle Verbesserung, die

einerseits in der Loslösung von der Knechtschaft und andererseits in der Einbindung in

eine neue, auf Rationalität gegründete Ordnung bestand.470

Durch die philosophisch

begründete Auslagerung471

der grundsätzlichen Gleichheitsforderung auf die bloße Idee

einer prinzipiell wünschenswerten Chancengleichheit, die je nach Rahmenbedingungen

situativ vom Staat gewährleistet werden sollte, näherte sie sich dessen an, was im Sinn

einer Orientierung auf die Regelungskompetenz des Staates als paternalistisches

Element der „Idee der deutschen Freiheit“ ausgemacht werden könnte.472

Hieran

schließt sich auch die Argumentation innerhalb der konservativen Freiheitstradition an,

die zunächst – wie der Konservatismus insgesamt – als Reaktion auf die revolutionären

Ereignisse entstand.473

Eine antiliberalistische Gegenbewegung entwickelte sich vom

Vorreiter Preußen ausgehend in Reibung mit den Wertzielen Einheit und Freiheit.474

Die konservative Deutungslinie geht im Gegensatz zu der liberalen, die Freiheit auch als

Möglichkeit des Irrens und Scheiterns begreift, von einem auf dem autoritativen Begriff

der Ordnung gestützten Standpunkt aus, nach dem es Freiheit nur zur Erlangung höherer

Wahrheit gibt.475

466 „Götz: [...] Himmlische Luft – Freiheit! Freiheit! Er stirbt“ (Goethe, Götz von Berlichingen, 5. Akt:

Gärtchen am Turm, in: ders., Werke, Bd. 4, 175).467

Egmont spricht in der spanischen Gefangenschaft: „ich sterbe für die Freiheit, für die ich lebte und

focht, und der ich mich jetzt leidend opfre“ (Goethe Egmont, 5. Aufzug: Gefängnis, in: ders., Werke, Bd.

4, 453).468

Vgl. die zahlreichen Belegstellen zum Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit bei:

Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 531-538. In Alexis de Tocquevilles „Über die Demokratie in

Amerika“ wird dieser Konflikt innerhalb der egalitären Demokratie besonders eindringlich dargestellt

(Tocqueville, Demokratie). 469

Vgl. Jochmann, Liberalismus, 120.470

Vgl. Sheehan, Liberalismus?, 32; 36.471

Hiefür wurde zumeist auf Kants Ideen zur Freiheit verwiesen. 472

Vgl. hierzu: Finsen, Werden. Finsen spricht vom „Etatismus“, der im gemäßigten bürgerlichen

Liberalismus anzutreffen sei. Dieser stelle einen wesentlichen Zivilisationsfaktor der bürgerlichen

Gesellschaft dar, die ihre Interessen durch die Existenz eines semikonstitutionellen Autoritätsstaates als

gesichert ansehe (aaO., bes. 11). 473

Vgl. Fenske, Denken, 414; Noack, Freiheitsbegriffe, 95. Vgl. zu dieser und weiteren Deutungen:

Greiffenhagen, Dilemma, 27-50; 197-199.474

Vgl. Ruetz, Konservatismus, 54-57.475

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 291; 314.

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Mit diskreditierenden Verdikten ging die antirevolutionäre Bewegung gegen die

„französische, sogenannte Freiheit“476

vor, der man den „wahren Begriff der Freiheit“477

entgegenstellen wollte. Schon kurz nach Ausbruch der Revolution kam es zu

Warnungen vor den „Ausschweifungen“ eines unkontrollierten „Freyheitstaumels“.478

Das „Gaukelspiel“ mit der Freiheit führe letztendlich nur zur Wiedererlangung des

Despotismus, da er am Ende der Gärung „entweder im Purpurmantel oder in

bescheidener bürgerlicher Kleidung wieder hervor trit [sic] und die Freiheit nach seinen

Absichten modelt, um sie desto bequemer zu tirannisieren.“479

Hier erweist sich der

Konservatismus in seiner antiabsolutistischen Gestalt.480

Andererseits verwahrte man

sich massiv gegen „das große Palladium des neuen französischen Heils: Freiheit und

Gleichheit.“481

Hartwig Johann Christoph von Hedemann wandte sich mit seiner Schrift Ueber die

Freiheit, die eine kritische Auseinandersetzung mit der Erklärung der Menschenrechte

darstellt, gegen diejenigen, die durch die Französische Revolution „verführt werden

können, sich eine idealische Welt zu träumen, und eine Gleichheit der Menschen in

einer Art bürgerlichen Freiheit zu denken, die nicht einmal der Stand der Natur gewährt,

wodurch sie in Gefahr geraten, Realität gegen Schatten zu vertauschen, und aus Furcht

vor einem eingebildeten Unglück, sich und ihre Mitbürger in ein gewisses zu

stürzen.“482

Destruktiver Fanatismus und umstürzlerische Empörung werden strikt

abgelehnt.483

Ein deutscher Begriff der Freiheit wird konstituiert und dem metaphysischen

Freiheitsbegriff484

anderer Nationen entgegengestellt, um vor allem die missliebige

476 Neuendorf, Belehrung, 133, zit. nach: Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 483.

477 Schaumann, Versuch, 99. Vgl. auch Hedemann, Freiheit, 8, der die „wahre Freiheit“ als Ziel des

deutschen Volkes nennt.478

Vgl. Christoph Martin Wieland, Ueber die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs welchen die Französische

Nation dermalen von ihrer Aufklärung und Stärke macht. Eine Unterredung zwischen Walther und

Adelstan, zit. nach: Volke/Kussmaul-Schillbach (Bearb.), Freyheit, 71-75. Wieland, eine dritte Person mit

einem der germanischen Mythologie entlehnten Namen, schaltet sich in den Dialog ein: „Taugt eure

Constitution nichts, so macht eine bessere, wenn ihr könnt; die Freyheit sey eine natürliche Folge der

Subordination der Bürger unter weise und gerechte Gesetze in einer vernünftigen Constitution! Aber

fangt nicht damit an, Sclaven auf einmal in die Freyheit zu setzen! Denn die unvermeidliche Folge davon

wird seyn, daß sie sich eigenmächtig auch von den Gesetzen, auch von allen Pflichten frey machen, über

alle Schranken springen, und sich in ihrem Freyheitstaumel die brutalsten Ausschweifungen erlauben

werden. Die Nationalversammlung hat diese Regel der Klugheit für unnötig gehalten, und sieht bis auf

diesen Tag die schönen Folgen davon!“ (AaO., 75).479

Hedemann, Freiheit, 25.480

Vgl. hierzu: Kondylis, Konservatismus, 210-217.481

N.N., Votum, 298.482

Hedemann, Freiheit, 4.483

Vgl. ebd., 28.484

Vgl. N.N., Votum, 303 f.

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französische Freiheit zu diskreditieren und die traditionelle Ordnung zu stützen.485

Die

Jakobiner werden mit dem Vorwurf konfrontiert, es sei „stets bloßes Gaukelspiel, wenn

ihr in euren Sistemen von Freiheit sprechet.“486

Beständig kursiert auf konservativer

Seite die Überzeugung, Freiheit sei nicht ein Ideal, sondern die addierte Summe

einzelner Freiheiten, die in Form von Privilegien seitens des dafür verantwortlich

zeichnenden Staates zu gewährleisten sei.487

Zahlreiche Liberale wehrten sich vehement gegen diese national geprägten

Vereinnahmungsversuche des Freiheitsbegriffs und bekannten, die Freiheit stünde über

der Nation.488

Doch auch ausgewiesene Freiheitsverfechter des Vormärz äußerten sich

kritisch gegenüber der Gestalt der in dieser Zeit vertretenen Freiheitsidee, wie eine

Bemerkung des Journalisten Arnold Ruge489

aus seiner 1843 im Rückblick auf die

historische Entwicklung verfassten Selbstkritik des Liberalismus490

eindrücklich belegt:

„Diese kleinstaatliche Freiheit und die Freiheit der Untertanen wie wir Deutsche

sie jetzt genießen, konnte nun freilich keinen anderen Geist, als den des

Liberalismus hervorbringen, den guten Willen zur Freiheit, aber nicht den

wirklichen Willen der Freiheit. Die Untertanen gehorchen vielleicht nur ihren

Gesetzen, aber diese sind ihnen geschenkt, sie sind nicht wirklich autonom, sie

haben keinen Begriff davon, daß die Gesetze freier Wesen ihr eigenes Produkt sein

müssen [...] Der politische Liberalismus hat das alte Spießbürgerbewußtsein zur

Voraussetzung: er ist nur scheinbar ein neuer Geist.“491

Liberalismus und Konservatismus sind als verschiedene Antworten auf strukturelle

politische Probleme aufeinander bezogen.492

Der konservative Freiheitsbegriff wird

oftmals in Untersuchungen gegenüber der fortschrittlicheren Richtung vernachlässigt.493

Doch gerade für die Formulierung einer als spezifisch deutsch perzipierten Freiheits-

vorstellung hat er wesentliche Beiträge geleistet, die beispielsweise in der häufig auch

in liberalen Vorstellungen anzutreffenden Ineinssetzung von Gleichheit und Mittelmaß

485 Vgl. Schlumbohm, Freiheitsbegriff, 48 f.

486 N.N., Votum, 299 f.

487 Vgl. Kondylis, Konservatismus, 222; Nipperdey, Deutsche Freiheit, 317.

488 Vgl. Schlumbohm, Freiheitsbegriff, 50 f.

489 Vgl. Backes, Liberalismus, 98-101.

490 Arnold Ruge, Eine Selbstkritik des Liberalismus, zit. nach: Gall/Koch (Hgg.), Liberalismus, Bd. 2,

158-183.491

Ebd., 166.492

So Barbara Vogel in Anlehnung an Karl Mannheims Konservatismusstudien (dies.,

Beamtenliberalismus, 47; Mannheim, Konservatismus).493

Vgl. zu einer kurzen Charakterisierung des konservativen Freiheitsbegriffs aus moderner Sicht: Noack,

Freiheitsbegriffe, 94. Auf die zeitgenössische Vermengung der Begriffe konservativ und liberal deutet ein

Gedicht mit dem Titel „Kehraus“ anlässlich der Wahl von Wahlmännern im aufrührerischen Mannheim

zur Zeit Heckers und Struves: „In Mannheim da hab’n wir / Jetzt Wahlmänner-Wahl / ’S gibt

Konservative / Die nenn’n sich ‚liberal’; / Und was diese wollen / Das sagen’s fürwahr, / Sie huld’gen

dem Fortschritt / Das ist ja ganz klar! / ’S is aber Alles nit wahr / ’S is aber alles nit wahr“ (Der Kerhaus,

zit. nach: Boberach/Koops [Hgg.], Erinnerungsstätte, 119).

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ihren Ausdruck finden.494

In dieser Perspektivierung erscheint es durchaus sinnvoll,

nach den Auswirkungen konservativer Vorstellungen und Ziele auf die liberale

Tradition und umgekehrt zu fragen.495

Die Bedrohung der Freiheit durch Vermassung

und Volkssouveränität wird in der abwehrenden Argumentation zum Schreckgespenst

erhoben, dem Einhalt geboten werden müsse. Eine eigentliche, wahre Freiheit stehe

über der als bloßem Vorwand bezeichneten Libertät der Masse. Besonders kritisch

werden von konservativer Seite die rationalistischen und antireligiösen Tendenzen der

„zügellose[n] und freiheitssüchtige[n] Ketzerei beäugt.“496

Die Franzosen, die „in ihren

bis nun eroberten deutschen Provinzen das Evangelium der Freiheit predigen“,

missachteten, so die Meinung eines Anonymus, die althergebrachten Religionsüberein-

künfte, die im Augsburger Religionsfrieden und in den entsprechenden Bestimmungen

des Westfälischen Friedens getroffen worden waren: „Gar zu gern möchten aber die

weltbürgerschen Bunt- und Schwarzröcke, diese heiligen Urkunden germanischer

Freiheit, uns und unsern Fürstenhöfen als bloßes Pfaffengemächts darstellen, um uns

und ihnen eine spanische Wand vorzuschieben, hinter welcher wir ihre Operationen

nicht sehen sollten.“497

Auch wenn der namentlich nicht in Erscheinung tretende Autor

überzeugt ist, dass „ihre Herrlichkeit auf deutschem Boden [...] am längsten gedauert

haben dürfte“, vertritt er andere Ansichten über die longitudinalen Auswirkungen des

revolutionären Gedankengutes auf das kollektive Gedächtnis. Ihr „Freiheits- und

Unglaubenssystem lassen sie nun, nicht mehr theoretisch und als idealistisches

Phantom, sondern in aller praktischen Wirksamkeit auf dem deutschen Boden

zurück.“498

Er spricht im Vertrauen auf die bestehenden Herrschaftsverhältnisse die

Überzeugung aus, dass „nur die entschlossenste Gegengewalt der Fürsten sie wieder zur

494 Als prominentestes Beispiel dieser Argumentationsweise in liberalem Kontext sei hier auf Alexis de

Tocquevilles These von der die kritische Öffentlichkeit ausschaltenden Tyrannei der Mehrheit und der

damit verbundenen Befürchtung verwiesen, es könne sich durch mediale Verstärkung Mittelmäßigkeit,

Konformitätsdruck und Moralitätszwang auf die Gedankenfreiheit der Individuen auswirken

(Tocqueville, Freiheit, bes. Schlussbetrachtungen zu Bd. 2). Dass sich dieses kulturkritische Argumen-

tationsmuster bis in die Gegenwart fortsetzt, kann anhand eines Kommentars über die Rolle des

Fernsehens als „geistiger Strömungsgenerator“ und „unausweichlicher Machtfaktor im politischen

Geschäft“ stellvertretend für viele andere ähnliche Äußerungen aufgezeigt werden: „Fernsehen,

Boulevard und politische Illustrierte entwickeln sich in Deutschland unübersehbar zu einem Kartell.

Darin wird rund um die Uhr in glänzendes Blech geprägt, was böse, was ‚in’ ist und was ‚out’, wer oben

und wer unten ist, was denkbar ist, was nicht. So etwas kann man Öffentlichkeit nennen. Öffentlichkeit

im demokratischen Sinne ist es bestimmt nicht. Denn die soll mit rationalen Mitteln, nicht dem

Bewegungsgesetzt des Mobs, Teilhabe durch Transparenz verwirklichen: die Durchschaubarkeit der

politischen Entscheidung durch Ordnung in formalisierten, wiederholbaren und überprüfbaren Verfahren.

Was, nebenbei bemerkt, bedeutet, daß demokratische Politik auch eine Sache der Qualität ist.“ (Volker

Zastrow, Zelebritäten, in: FAZ, Nr. 18 vom 16.04. 2005, 1). 495

Vgl. von Thadden, Defizit, 55.496

N.N., Votum, 362.497

N.N., Folgen, 359; 356.498

Ebd., 360.

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Räson und Autoritäts-Respektierung zurückführen kann.“499

Der organische

Zusammenhang500

habe sich in der Ordnung des Staatswesens widerzuspiegeln und

müsse sich aufgrund der unterschiedlichen quantitativen und qualitativen Ausprägung

der einzelnen Teilbereiche des Volkes in einer auf ständischer Organisation beruhenden

Verfassungsform ausdrücken, lautet eine weit verbreitete Meinung.501

Dem Staat, um zu

präzisieren: dem Monarchen, nicht der Gesellschaft, wird die Aufgabe zugesprochen,

mittels benevolenter Eingriffe über das Allgemeinwohl zu befinden. Freiheit und

Herrschaft sind in dieser Auffassung identisch. So kann Johann Christoph Gottlieb

Schaumann unumwunden feststellen: „nur das beherrschte Volk kann frei sein“502

. In

staatszentristischer Perspektive stellt auch Karl Gottfried Neuendorf fest, bürgerliche

Freiheit bestehe durch Ordnung und Gesetze, die die Wohlfahrt des Ganzen zum Zweck

hätten.503

Es kommt selbst für das Gros gemäßigter Liberaler nur ein als organisch

gedachter Prozess der nationalen und sozialen Reform in Betracht.504

Freiheit ist somit

die Gabe der Regierung an die Untertanen. Aus christlich-konservativer Warte lautet

diese Freiheitsvorstellung in den Worten des Poeten Matthias Claudius: „Freiheit und

Knechtschaft sind wohl zwei, / Doch oft im Grunde einerlei.“505

Freiheit ist spätestens

durch die Reaktion auf die Französische Revolution zu einem schillernden

Kampfbegriff506

in der Legitimation von Herrschaft geworden.507

4.1.3 Vom deutschen Frühliberalismus zur Etatisierung des Deutungsmusters –

„Zu der hohen Freyheit Ehre“

Der deutsche Liberalismus besteht aus den verschiedenartigsten politischen Richtungen,

die häufig aufgrund der unterschiedlichen Perspektivierung in der Einschätzung des

Verhältnisses von Einheit und Freiheit zu noch weiterer Ausdifferenzierung durch

499 Ebd.

500 Vgl. für die im frühen Konstitutionalismus vorherrschende staatstheoretisch-verfassungspolitische

Vorstellung, die davon ausgeht, der Staat sei ein Organismus: Böckenförde, Staat; Greiffenhagen,

Dilemma, 200-218.501

Vgl. die zahlreichen Einzelbelege für den Zusammenhang von Freiheit und Ordnung bei

Bleicken/Conze/ Dipper u.a., Freiheit, 525-531. 502

Schaumann, Naturrecht, 67.503

Vgl. Neuendorf, Belehrung, 137.504

Vgl. Kaschuba, Nation, 102 f.505

Matthias Claudius, Bemerkung, in: ders., Asmus (7. Teil), 541.506

Vgl. zum Vorstellungsmuster „Kampfbegriff“: Hermans, Sprachgeschichte, 81-83; Zur Umkämpftheit

von Begriffen seit der Französischen Revolution: Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte,

113.507

Fraas, Karrieren, 4.

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innere Abspaltungsbewegungen neigten.508

Einige Kernelemente des deutschen

Liberalismus im 19. Jahrhundert können jedoch hervorgehoben werden: 1. der progres-

sivistische Impetus, 2. die Vorreiterschaft innerhalb der umfassenderen nationalen

Bewegung, die bis an die Gründung des Nationalstaates heranreichte, 3. die Affinität

zum Protestantismus, 4. die Renaissance des Sozialliberalismus am Ausgang des

Jahrhunderts, 5. die klassen- und schichtenübergreifende Attraktivität des Liberalismus

und 6. die Beamtenlastigkeit in der Führungsebene und die bürokratiegestützte

Implementation der staatlich verordneten Modernisierung.509

Die klassisch liberale Richtung der ersten nachrevolutionären Jahrzehnte hat ihren

prominentesten Vertreter in Wilhelm von Humboldt.510

Er trachtete, das Ideengut John

Lockes in Deutschland zu vermitteln.511

Humboldt kämpfte auf der Basis eines

aristotelischen Individualismus gegen die Tendenz an,512

im Staat den ausschließlichen

Agenten und Garanten der Freiheit und Modernität zu sehen.513

Der Verfechter des

politischen Individualismus stellt eine bemerkenswerte Ausnahme mit wenig tatsäch-

lichem Einfluss innerhalb der liberalen Debatte im deutschen Sprachraum dar.514

Er

beschreibt die Einwirkung der Freiheit auf die Herausbildung der menschlichen

Persönlichkeit und die damit interferierenden staatlichen Eingriffe, die die Entwicklung

persönlicher Fähigkeiten regulieren.515

Humboldt nimmt mit seinen Ansichten eine

Vermittlerrolle zwischen dem Neuhumanismus und der Politik ein, indem er das dem

Gedanken des Pluralismus verwandte Konzept der Mannigfaltigkeit verficht.516

Infolge

seiner umfassenden Bildung stand er in engem Kontakt mit zahlreichen Vertretern des

staatlich-politischen Lebens.517

Am deutlichsten ist die anti-etatistische Haltung, die Humboldt mit der Forderung

nach größtmöglicher individueller Freiheit verbindet, in seinen Ideen zu einem Versuch

die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen518

dargelegt. Dort empfiehlt der

508 Vgl. Gall, Einführung, 23; Langewiesche, Liberalismus, 11; Nipperdey, Deutsche Geschichte, 730.

509 Vgl. zu diesen Punkten: Langewiesche, Liberalismus, 13-18.

510 So z.B. [Art. Humboldt, in:] Heuss, Politik, 85.

511 Vgl. Raico, Partei, 12.

512 Vgl. Kliemt, Solidarität, 34-46. Zur Individualität des Menschen bei Humboldt: Schiller, Sprache, 123-

163.513

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 61.514

Vgl. Vorländer, Tradition, 103; 105.515

Vgl. De Ruggerio, Geschichte, 211; Kaehler, Wilhelm von Humboldt, 138-140. Zu Humboldts

Auseinadersetzung mit dem Staats- und Freiheitsbegriff: Schulze, Humboldt.516

Vgl. hierzu: Kronenbitter, Wilhelm von Humboldt, 322-324.517

Vgl. Sell, Tragödie, 37.518

So der Titel der von Humboldt wohl im Frühjahr 1792 verfassten Abhandlung, die allerdings erst 1851

in Buchform erschien (ders, Ideen). Humboldts Werk wurde intensiv von John Stuart Mill rezipiert. Auch

Alexis de Tocqueville lehnt sich in vielen seiner Gedankengängen an Humboldt an. Vgl. zur Entstehungs-

geschichte von Humboldts staatskritischer Schrift: Spitta, Ideen, 2-39.

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Universalgelehrte: „[D]er Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand

der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst

und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem andren Endzwecke beschränke

er ihre Freiheit.“519

Der Staat ist in seiner Sichtweise also nicht dazu da, das Wohl der

Individuen durch Transferleistungen und positive Eingriffe zu fördern, sondern nur, um

Übel abzuwehren. Jeder Versuch des Staates, seine Bürger zu erziehen, müsse, argu-

mentiert Humboldt in einem klassisch liberalen Ansatz, in der Entwürdigung und im

Entzug des Selbstvertrauens münden und stelle eine Verletzung der sittlichen

Autonomie dar.520

Der Mensch bildet damit den Ausgangspunkt der Staatsbe-

trachtung.521

Humboldt begründet dies mit der naturrechtlichen Tradition, die er dahin

gehend auslegt, dass lediglich der Mensch dazu geschaffen sei, eine organische Totalität

zu bilden, wohingegen diese Fähigkeit dem Staat nicht zukomme.522

Hiermit steht sein

Denken genau entgegengesetzt zu konservativen Staatsvorstellungen.523

Humboldt sieht

den fundamentalen Konflikt in der Polarität von Kollektiv und Individuum angelegt.524

Nicht dem Individuum, das sich in seiner Freiheit entfalten soll, sondern der staatlichen

Machtausübung kommt in dieser Vorstellung die Legitimationspflicht zu, was eine

Inversion des zeitgenössischen Verhältnisses von Staat und Individuum darstellt.525

Die

wesentlichen Aufgaben des Staates in Humboldts Konzept sind die Gewährleistung der

äußeren und der inneren Sicherheit. Erstere impliziert einen Schutz gegen auswärtige

Feinde. Letztere hat die Sicherheit der Bürger untereinander zu verbürgen.526

Die

Tragödie dieser im Resultat durchweg antiautoritären Schrift Humboldts liegt, wie

bereits Friedrich Sell anmerkt,527

in ihrer um nahezu sechzig Jahre verschleppten

519 Humboldt, Ideen, 52.

520 Vgl. hierzu: Talmon, Messianismus, 283 f. Talmon schätzt Humboldt gegenüber Tocqueville als „noch

tief in der Atmosphäre des achtzehnten Jahrhunderts befangen“ ein, der ebenfalls dem liberalen „Glauben

an die überragende Bedeutung der individuellen Freiheit als Grundbedingung für alles andere“ anhänge.

Vgl. auch Sell, Tragödie, 40, der betont, dass Humboldts Einstellung zu einem Erziehungsauftrag des

Staates gegenüber den Bürgern durchweg eine negative Auffassung sei.521

Vgl. Spitta, Ideen, 50-60. Spitta schlägt mit Humboldt vor: „Da der Staat nichts ist, sollte man besser

vom staatlichen Leben oder vom Staatsleben der Menschen, als von dem Abstraktum ‚Staat’ sprechen“

(aaO., 60). Der Mensch sei Sinn und Zweck des Daseins des Staates (aaO., 61).522

Vgl. Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 466. Vgl. hierzu auch das achte Kapitel in Humboldts

Schrift, das sich mit der „Sittenverbesserung“ befasst. (Humboldt, Ideen, 98-115).523

Vgl. zum Totalitätsanspruch konservativer Staatslehre: Greiffenhagen, Dilemma, 216-218.524

Vgl. Krieger, Idea, 168.525

Vgl. Biedenkopf, Fortschritt, 73.526

Vgl. Spitta, Ideen, 106.527

Kritisch gegenüber der häufig vertretenen These einer Tragödie oder eines Verfalls des deutschen

Liberalismus (z.B. Sell, Tragödie) äußert sich Geoff Eley. Er schlägt vergleichende Betrachtungen als

Ausweg aus diesem Dilemma vor (ders., Liberalismus, 260 f.). Vgl. zu der Dekadenzthese des deutschen

Liberalismus innerhalb der Historiographie und zu neueren Ansätzen auch den in Form eines kritischen

Literatur- und Debattenberichts gehaltenen Artikel von Jarausch und Jones (dies., Liberalism). Die

Autoren verfechten angesichts der Nachkriegserfahrungen eine bi- oder trimodale Konzeption (aaO., 21).

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Veröffentlichung.528

Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass die im

Vergleich zu Autoren aus dem englischen Liberalismus recht schwache Rezeption

Humboldts auch als „wirkungsgeschichtliches Indiz für die industriegesellschaftliche

Inadäquanz dieses Radikalindividualismus der deutschen Klassik“ angesehen werden

kann.529

Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der 14. Juli von revolutionär gesinnten

Kreisen in Deutschland feierlich begangen. So kam es dazu, dass bei einem Freiheitsfest

in Harvestehude 1801 ein von Friedrich Schulz und Johann Heinrich Voß verfasstes

Freiheitslied gesungen wurde. Es wiegt die in den Anfängen der Revolution

geschehenen Gräueltaten mit der errungenen Freiheit auf und wendet sich in der ersten

Strophe an die deutschen Freiheitsverfechter: „Freye Deutsche! singt die Stunde, / Die

der Knechtschaft Ketten brach, / Schwöret Treu’ dem großen Bunde / Unsrer Schwester

Frankreich nach! / Eure Herzen sey’n Altäre, Zu der hohen Freyheit Ehre.“530

Auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel kennt die vielfach beschworene „Sage von der

Deutschen Freiheit“.531

Die vergangenen Jahrhunderte hätten sich durch einen Zustand

– „die deutsche Freiheit“ – ausgezeichnet, in dem „nicht Gesetze, sondern Sitten eine

Menge zu einem Volk verbanden, gleiches Interesse, nicht ein allgemeiner Befehl das

Volk als Staat darstellte“.532

Die Zeit der „alten deutschen Freiheit“ sei durch das Fehlen

eines Gesamtstaates gekennzeichnet.533

Die „deutsche Freiheit“ sollte, wie Hegel seine

Ideen zusammenfasst, trotz der Veränderung des Freiheitsbegriffes durch die

Französische Revolution gegenüber der Universalmonarchie behauptet werden, da sie

„nichts anderes als die Unabhängigkeit der Stände vom Kaiser“ sei.534

Doch, stellt sich

Langewiesche, Liberalism, 217 f., schlägt vor, genauer zwischen dem parteilich organisierten

Liberalismus und der generellen Wirkung des Liberalismus zu trennen. Ähnlich tut dies Vierhaus, der die

These aufstellt, „daß der deutsche Liberalismus nach seinem politischen Scheitern eine geistige Kraft

darstellte, die den Nationalsozialisten die Durchsetzung ihres Totalitätsanspruches erschwerte und partiell

unmöglich machte“ (ders., Liberalismus, 126). Vierhaus, Ideologie, 96 f., spricht von der Ideologie eines

deutschen Weges der politischen und sozialen Entwicklung innerhalb dessen er die Vorstellung von der

deutschen Abkehr von der westlichen Tradition des Liberalismus verortet. Für eine Renaissance der

Dekadenz-Debatte am Ende der 70er-Jahre vgl. Gall, Gesellschaft; Mommsen, Liberalismus. Eisenstadt

sieht die Entwicklung totalitärer Bewegungen und Regime als eine wesentliche Folge der Krise des

Liberalismus (ders., Tradition, bes. 10 f.).528

Vgl. Sell, Tragödie, 43 f.529

Trautmann, Herausforderung, 39 f.530

Johann Heinrich Voß/Friedrich Schulz, Freiheitslied, zit. nach: Volke/Kussmaul-Schillbach (Bearb.),

Freyheit, 154.531

Hegel, Verfassung, 453. 532

Ebd.533

Vgl. ebd., 466.534

Ebd., 570. Auch schreibt Hegel: „Kampf für deutsche Freiheit hieß negativ das Bestreben gegen die

Universalmonarchie, positiv wurde er zu einem Erringen der völligen Selbständigkeit der Glieder. Die

Länder standen darin ihren Fürsten bei, waren eins mit ihnen, aber sie mußten finden, daß in der

Souveränität ihrer Fürsten die deutsche Freiheit nicht errungen war; im Gegenteil.“ (AaO., 576).

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Hegel in die positive Staatstradition, das „Interesse dieser deutschen Freiheit sucht

natürlich bei einem Staate Schutz, der selbst auf diesem System der Freiheit beruht.“535

Noch in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, die mehr als

zwanzig Jahre später als die zuerst zitierte Verfassungsschrift erschienen, erwähnt

Hegel, dass die Deutschen seit den Germanen ihrer Freiheitsliebe gerühmt würden und

die „Freiheit in Deutschland [...] bis auf die neuesten Zeiten das Panier gewesen“ sei.536

Der Philosoph bemerkt zu diesem über die freiheitsliebende Gemeinschaft

abgesicherten Verständnis: „Dieses Element der Freiheit, indem es zu einem gesell-

schaftlichen Verhältnisse übergeht, kann nichts setzen als Volksgemeinden, so daß

diese Gemeinden das Ganze ausmachen und jedes Mitglied der Gemeinde als solches

ein freier Mann ist.“537

Hegel ist ein Verfechter einer Staatsidee, in der er „die

Vereinigung der beiden Verhältnisse, der individuellen Freiheit in der Gemeinde und

des Zusammenhangs der Genossenschaft“ vollzogen sieht.538

Damit ist er Vertreter

eines an dialektischer Austarierung interessierten dritten Weges, der zwischen

Individuum und Gemeinschaft vermitteln möchte, und lässt sich durch seinen

Sprachgebrauch als Vertreter einer „deutschen Freiheit“ ausweisen.

In Hinblick auf die Ideengeschichte der Vorstellung einer spezifisch „deutschen

Freiheit“ ist die von Hegel in seiner Geschichtsphilosophie vertretene Vorstellung, der

Gang der Weltgeschichte sei als Geschichte der Entwicklung der Freiheit aufzufassen,

von eminenter Bedeutung.539

Die „Idee der Freiheit ist der absolute Endzweck“540

und

kann in Hegels teleologischer Perspektive541

nicht ohne Notwendigkeit bestehen,542

was

zur Synthese des rationalistischen mit dem geschichtlichen Staatsbegriff beiträgt.543

Hegels Verknüpfung von Freiheit mit Notwendigkeit wurde insbesondere von Friedrich

Engels in dessen Schrift gegen Eugen Dühring modifizierend rezipiert.544

Die Tendenz

535 Ebd., 573.

536 Hegel, Vorlesungen, 425.

537 Ebd.

538 Ebd., 426.

539 Vgl. Hegel, Grundlinien, § 342 (504): „Die Weltgeschichte ist ferner nicht das bloße Gericht seiner

Macht, d. i. die abstrakte und vernunftlose Notwendigkeit eines blinden Schicksals, sondern weil er an

und für sich Vernunft und Für-sich-Sein im Geiste Wissen ist, ist sie die aus dem Begriffe nur seiner

Freiheit notwendige Entwicklung der Momente der Vernunft und damit seines Selbstbewußtseins und

seiner Freiheit – die Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geistes.“ Vgl. zum Freiheitsbegriff

Hegels allgemein: Ungler, Freiheitsbegriff. Zur Auswirkung der Geschichtsphilosophie auf den

Freiheitsbegriff: Becker, Freiheit, 140.540

Hegel, Vorlesungen, 68.541

Vgl. Lakebrink, Idee, 13 f.; 420-440.542

Vgl. Angehrn, Freiheit, 449.543

Vgl. Cassirer, Freiheit, 374.544

Vgl. ebd., 57 f.; Zentralinstitut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.), MEW, Bd. 20.

Vgl. hierzu ausführlich unten: Kap. 4.6.1, 483-488.

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zu einer totalitären Vergötzung des gemeinschaftsbildenden Staates kann in unzähligen

Aussagen zum Staat angetroffen werden.545

Insofern Hegel das germanische Reich an das Ende der traditionellen geschichts-

teleologischen Weltreichsreihenfolge stellt, ist er ein geistiger Wegbereiter germanisch-

er, spezifisch deutscher Freiheitsvorstellungen. In der durch den Weltgeist ausgelösten

Umwendung von der „absoluten Negativität“ in die „unendliche Positivität“ erscheine

„das Prinzip der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur, die Versöhnung als der

innerhalb des Selbstbewußtseins und der Subjektivität erschienenen objektiven

Wahrheit und Freiheit, welche dem nordischen Prinzip der germanischen Völker zu

vollführen übertragen“546

sei. Erst in der „germanischen Phase“ der Geschichte ist dem

Philosophen zufolge konkrete Freiheit in einem stabilen, selbsterhaltenden System

realisiert.547

Im Zuge der romantischen Rückbesinnung auf organisch-ganzheitliche Ansätze

wurde die von Humboldt hochgehaltene Lockesche Freiheitsidee, die auf den drei durch

Naturrecht verbürgten Säulen Leben, Freiheit und Besitz aufruht, aus den Augen

verloren.548

Vermehrt kam es – wie dies auch bei Hegel anzutreffen ist – zu einer

Annäherung an etatistische Freiheitsauffassungen, was das den positiven Eingriffen

konträre Deutungsmuster Individualismus in den Hintergrund treten ließ. Die

Vorstellung der Gesellschaft als organische Totalität erlebte einen immensen Populari-

sierungsschub. In einer Restauration der Staatswissenschaft wurde die „Theorie des

natürlich-geselligen Zustands, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegen-

gesetzt“,549

was zur Ausbreitung korporatistischer Argumentationsweisen beitrug.550

Ausgehend von diesen auf Wiederherstellung der alten Ordnung abgestellten

Überlegungen gelang die durch den Wiener Kongress eingeleitete Zeitspanne zu ihrer

Benennung.551

Komplementär hierzu schreckten Intellektuelle vor konkreten

Freiheitsaktionen zurück und flüchteten sich in Theoretisierungs- oder Verinner-

lichungsanstrengungen, wie dies beispielsweise anhand der Philosophie Fichtes und

Schellings nachvollzogen werden kann.552

545 Vgl. Rüstow, Ortsbestimmungen, 266.

546 Hegel, Grundlinien, § 358 (511).

547 Vgl. zur historischen Lesart der Hegelschen Freiheitsidee: Patten, Idea, 27-34; hier: 29.

548 Vgl. zum Einfluss der Romantik auf die konservative Politik: Baxa, Romantik.

549 So Titel und Nebentitel des ab 1816 erschienenen und äußerst einflussreichen sechsbändigen

Hauptwerks Karl Ludwig von Hallers, das epochenbenennende Wirkung hatte. Vgl. hierzu: Schildt,

Konservatismus, 48 f. 550

Vgl. Gall, Liberalismus, 170.551

Vgl. Fenske, Denken, 419.552

Vgl. Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 485. Dort mit weiterführender Literatur. Vgl. zu Fichte

unten: Kap. 4.1.4, 90-93.

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Trotz der restaurativen Tendenzen brachte die Phase zu Beginn des 19. Jahrhunderts

mit den Stein-Hardenbergschen Reformen553

den Versuch hervor, das Bürgertum und

den Landadel mit einem protoliberalen System zu versöhnen, um die Sozialstruktur des

preußischen Staates fundamental neu zu ordnen.554

Keinesfalls ruhte der eingeschlagene

Reformansatz auf der Idee des pluralen Parlamentarismus auf.555

Vielmehr sind die

Reformen insgesamt durch einen etatistisch-korporativen Freiheitsbegriff gekenn-

zeichnet, der Anleihen beim Idealismus nimmt und Freiheit als Freiheit zum Staat

definiert.556

Letztendlich sind die Reformen als Produkte einer defensiven Modernisier-

ung zu verstehen, die in Reaktion auf die Französische Revolution entstanden ist.557

Ihr

Protagonist Stein wurde, da er sich auf eine behutsame Anpassungsstrategie berief, die

mit der Figur des Gemeinschaftshabitus operiert, als Vertreter eines deutschen

Freiheitswollens angesehen.558

Durch Mitwirkung am Ganzen, so ist das methodische

Ziel der Reform umschrieben, soll den Einzelnen autoritativ am Gemeingeist und der

Freiheit teilgegeben werden.559

Freiherr vom Stein sah in der Gemeinschaft, die durch

Individuen gebildet werde, die einen starken Drang nach Selbstverwirklichung hätten,

eine Kollektivpersönlichkeit. Sie sollte dem Einzelnen bei der Umsetzung der Selbstver-

wirklichung helfen, wobei dem Staat eine entscheidende Funktion bei der Initiierung

von gesellschaftlichen Reformen zukam.560

Die umfassendste Form der Hilfe wird dem

Reformkonservativen Stein zufolge durch den in der materiellen Reihenfolge am

höchsten stehenden Staat als Ausgleichs- und Vermittlungsinstanz gewährt.561

In

seinem politischen Testament zählte der Freiherr resümierend die unter seiner Ägide

ausgeführten Reformen auf, die allerdings nicht von Freiheit als einer Gesamtheit,

sondern im althergebrachten Sinn von einzelnen Freiheiten ausgehen. Es geht ihm

weniger um die Installation einer neuen, sondern vielmehr um die Rückkehr zur alten

und rechten Ordnung:

„Der letzte Rest der Sklaverei, die Erbuntertänigkeit, ist vernichtet, und der

unerschütterliche Pfeiler jedes Throns, der Wille freier Menschen, ist gegründet.

Das unbeschränkte Recht zum Erwerb des Grundeigenthums ist proclamiert. Dem

Volke ist die Befugnis, seine ersten Lebensbedürfnisse sich selbst zu bereiten,

wiedergegeben. Die Städte sind mündig erklärt, und andere minder wichtige

553 Vgl. umfassend hierzu: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 95-313.

554 Vgl. Frotscher/Peiroth, Verfassungsgeschichte, 97-104.

555 Vgl. De Ruggerio, Geschichte, 206.

556 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 34.

557 Vgl. für diese These, Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, bes. 345 f.

558 Vgl. Abusch, Irrweg, 63-65; vgl. hierzu auch den Untertitel der Studie: Ostdeutsche Forschungsstelle

in Nordrhein-Westfalen (Hg.), Freiherr vom Stein („ein Vorkämpfer deutscher Einheit und Freiheit“).559

Vgl. Beyme, Theorie, 471.560

Vgl. Schildt, Konservatismus, 43.561

Vgl. Fenske, Denken, 466.

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Bande, die nur einzelnen nützten und dadurch die Vaterlandsliebe lähmten, sind

gelöset.“562

Für die Zukunft gibt von Stein, der sich zum Rückzug aus der aktiven Politik

gezwungen sah, als Vermächtnis zur Fortsetzung seiner moderaten Reformpolitik einige

Punkte an. Beispielsweise fordert er, dass die Regierung nur von der höchsten Gewalt

ausgehen kann; dass derjenige, der Recht sprechen soll, nur von der höchsten Gewalt

abhängen soll; dass Residuen bei der Erbuntertänigkeit abgeschafft werden; dass die

allgemeine Nationalpräsentation durch den König zu gewährleisten ist; dass die

Verbindung zwischen Adel und Bürgertum verbessert wird; dass die allgemeine

Wehrpflicht zur Verteidigung der Nation eingeführt wird und dass Frohndienste

abgeschafft werden.563

Diese Vorhaben sind in Steins Vorstellung nur dann möglich,

wenn keine grundlegenden Veränderungen vorgenommen werden – wenn, wie er es

formuliert, „Treue und Glauben, Liebe zum Könige und Vaterlande in der That

gedeihen“.564

Hierzu müsse der religiöse Sinn des Volkes neu belebt werden, da Vor-

schriften und Anordnungen allein noch längst keine Garantien für das Gelingen der

Reformvorhaben seien.

Die durch liberale Beamte getragene Reformpolitik gründete in der Überzeugung,

dass die Freiheitsrechte aller Bürger die Vorraussetzung für einen erfolgreichen Prozess

des Staatsaufbaus bilden.565

Durch die Modernisierung von Staat und Gesellschaft kam

es zu zahlreichen Erleichterungen, wie zu der juristischen Aufhebung der Erbunter-

tänigkeit; zu dem Recht der kommunalen Selbstverwaltung; zu Verbesserungen für die

jüdische Bevölkerung, zu der allgemeinen Wehrpflicht; zu Wirtschafts- und

Gewerbefreiheit und zu Reformen im Staats-, Verwaltungs- und Bildungswesen.566

Steins Reformen wurden nach dessen durch Napoleon erwirkter Entlassung aus dem

Staatsdienst im Jahr 1808 durch den preußischen Staatskanzler Karl August Fürst von

Hardenberg fortgesetzt.567

Die aufgeklärte liberale Bürokratie trug mit ihren Verfassungsversprechen diffusen

gesellschaftlichen Liberalisierungswünschen innerhalb der Bevölkerung und der

sozialen Problematik des beginnenden 19. Jahrhunderts Rechnung.568

Freiheit wurde in

562 Freiherr vom Stein: Politisches Testament, zit. nach: Musulin (Hg.), Proklamationen, 92-96; hier: 92.

563 Vgl. ebd. 93-95.

564 Ebd. 96.

565 Vgl. Vogel, Beamtenliberalismus, 53.

566 Vgl. für diese Auflistung: Winkler, Weg, Bd. 1., 55 f.

567 Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 31.

568 Vgl. Obenaus, Region, 72. Kritisch äußert sich Wolfgang J. Mommsen gegenüber der von Obenaus

vertretenen These, dass der bürokratische Liberalismus auf starke gesellschaftliche Interessen einging.

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diesem Rahmen allerdings nicht durch eine Verlebendigung der Verfassung von unten,

sondern direktiv durch Verwaltung zu verwirklichen erhofft.569

Die Stärkung der

Lokalverwaltung ist ein den freiheitlichen Ideen gemäßes Resultat der Reform.570

In

einer Eingabe der Deputierten des Wetterschen Kreises an Stein, der von anderer Seite

als der „wahre Führer unseres Befreiungskampfes“571

bezeichnet wurde, zeichnet sich

die Wirkung der beginnenden Reformmaßnahmen auf das Freiheitsgefühl der Bevölker-

ung deutlich ab: „Da wurde das Übel mit seinen Folgen getilgt. Eine Besteuerung ward

eingerichtet, die dem Staate seine Bedürfnisse und der Gesellschaft den Genuss der

möglichen bürgerlichen Freiheit gewährt.“572

Freiheit konnte leibhaftig verspürt

werden.573

4.1.4 Nationalisierung des Deutungsmusters im antinapoleonischen

Befreiungskampf – „Frei auf deutschem Boden walten“

Der nationale Befreiungskampf „um Freiheit und Würde des Vaterlandes“574

gegenüber

der napoleonischen Herrschaft stellte für kurze Zeit ein durch äußere Faktoren hervor-

gerufenes, einigendes Band dar und machte dadurch auf das spannungsgeladene

Interferenzcluster von Freiheit und Einheit aufmerksam.575

Um für die „deutsche

Freiheit“ nach außen hin einzutreten, fanden die verschiedensten Gruppierungen

zueinander.576

Die nationale Befreiungsbewegung äußerte sich nicht in einer spontanen

Massenerhebung, sondern wurde hauptsächlich von einer schmalen Schicht von

Patrioten getragen, die zu einem großen Teil in öffentlichen Ämtern als Staats-

bedienstete tätig waren.577

Erstmals trat in diesem Zusammenhang der Liberalismus als

Mommsen führt die Hoffnung auf die Schaffung einer modernen Wirtschaftsgesellschaft zur Bewältigung

der Massenarmut als Hauptmovens an (ders., Einführung, 215). Vgl. auch Gall, Gesellschaft, 325 f.569

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 322.570

Vgl. De Ruggerio, Geschichte, 207. Er weist darauf hin, dass Steins liberale Reform in der Folgezeit

als die dem deutschen Geist gemäßeste Form mit großer Achtung beurteilt worden sei.571

Heinrich von Sybel, Über die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit, zit. nach: Wende (Hg.),

Reden, Bd. 1, 448-470; hier: 450. 572

Eingabe der Deputierten des Wetterschen Kreises 1795, zit. nach: Donath/Markov (Hgg.), Kampf, 60

f.; hier: 60.573

Vgl. zum Konzept der leibhaftigen Freiheit: Blickle, Leibeigenschaft, bes. 16-21. 574

Carl von Clausewitz, Erstes Bekenntnis (1812), zit. nach: Schwartz, Leben, 437.575

Vgl. für umfassende Einzelbelege zur Auseinandersetzung um das Verhältnis von Freiheit und Einheit:

Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 503-512. Vgl. für eine synthetisierende Darstellung des

Verhältnisses: Mommsen, Freiheit.576

Vgl. Schlumbohm, Freiheitsbegriff, 49 f.577

Vgl. Krieger, Idea, 175.

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organisierte politische Bewegung zum Vorschein,578

die sich in einem Beamten- oder

Geheimrats-Liberalismus579

manifestierte, der einer staatszentrierten Ideologie

anhing.580

Bildung galt den Vertretern dieser Richtung als die zentrale Kategorie, die

zur Erlangung der bürgerlichen Freiheit einzusetzen und in einem autoritativen

Verfahren durchzuführen sei.581

Im Liberalismus entwickelten sich parallel zu dem

Prozess der Politisierung – und damit ist ein weiteres Charakteristikum der zeitge-

nössischen liberalen Bewegung, das sich unmittelbar auf das Freiheitsverständnis

auswirkte, benannt – nationalistische Strömungen, die auf die militärische Erringung

der nationalen Einheit im Abwehrkampf gegen die napoleonische Herrschaft

drängten.582

Friedrich Schleiermacher, der bedeutendste protestantische Theologe an der Wende

vom 18. zum 19. Jahrhundert, sprach anlässlich der Ausrüstung von Soldaten, die in den

Kampf gegen die napoleonischen Truppen zogen, davon, dass sich eine große

Veränderung ankündige und der Übergang von der Knechtschaft zur Freiheit unmittel-

bar bevorstehe.583

Und der Militär von Gneisenau machte sich im Umfeld der

Befreiungskämpfe über ganz konkrete Umsetzungen der Freiheitsidee in seinem

Einflussbereich Gedanken. Schon 1808 reklamierte er im Königsberger Volksfreund

„die Freiheit der Rücken“, die kurze Zeit später für die preußische Armee verbrieft

wurde. In den preußischen Reformen wurde der Grundstein dafür gelegt, dass auch die

Bürger in die Armee integriert wurden.584

Der Militär Gneisenau sah die Ehre seines

Standes durch eine überkommene Züchtigungsmethode herabgesetzt. Im Rahmen seiner

Ausführungen stellt er einige generelle Betrachtungen zum Thema Freiheit an und

resümiert die Zeitspanne seit der Französischen Revolution, wodurch der grundlegende

semantische Wandel und die stetig zunehmende Ideologisierung erkenntlich werden, die

dem Deutungsmuster in der Spanne von zwei Dezennien seit der Französischen

Revolution widerfuhren: „Vor zwanzig Jahren“, konstatiert Gneisenau, „begann das

Wort Freiheit durch Europa zu tönen. Wir fühlen seine Erschütterungen noch, obgleich

578 Vgl. Gall, Liberalismus, 167.

579 Zum Begriff: Vogel, Beamtenliberalismus.

580 Vgl. Vorländer, Tradition, 103.

581 Vgl. Vogel, Beamtenliberalismus, 53 f. Für eine umfassende historisch-semantische Darstellung des

Bildungsbegriffs: Bollenbeck, Bildung.582

Vgl. Mommsen, Freiheit, 18 f.583

Vgl. Friedrich [Daniel Ernst] Schleiermacher, Zum Besten der Auszurüstenden, in: Wende (Hg.),

Reden, Bd. 1, 78-97; hier: 79.584

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 52.

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89

dem Wort nun ein ganz anderer Sinn unterlegt worden ist.“585

Aufmerksamen

Beobachtern war der Bedeutungswandel des Freiheitsbegriffes offensichtlich geworden.

Nicht nur Militärs und patriotisch gesinnte Intellektuelle, sondern im besonderen

Maß auch vaterlandstreue Dichter forderten, indem sie sich als Artikulatoren nationaler

Anliegen in einer noch nicht konstituierten Nation gerierten, in der Zeit des Anti-

napoleonismus zum Befreiungskampf auf, um – in Verwendung pseudohistorischer

Erklärungsmuster – „nach dem Brauch der Alten“ „[f]rei auf deutschem Boden

walten“586

zu können. Junge Soldaten aus dem gesamten Reichsgebiet sollten, rief man

Freiwillige zum Wehrdienst auf, in den Kampf gegen Napoleon eintreten und so lange

gemeinsam fechten, bis „deutsche Freiheit mit Gottes Hilfe errungen“ sei.587

Ernst

Moritz Arndt, später für seinen agitatorischen Einsatz im Befreiungskrieg von den

Abgeordneten der Paulskirche geehrt, seit der preußischen Niederlage gegen Napoleon

1806 im russischen Exil der Entwicklung harrend, tat sich bei den

Massenmobilisierungsbemühungen besonders hervor.588

Der nationalistisch orientierte

Reformkonservative589

formulierte in der vierten Strophe seines Gedichts Der

Fahnenschwur an die Kämpfenden gerichtet: „Hebt das Herz! Hebt die Hand! / Heil uns

dieser Ehrenweihe! / Ewig lebe deutsche Treue! / Ewig blühe deutsches Land! /

Freiheit, deutsche Freiheit, schwebe / Um die Hütten, um den Thron! / Trug und Lug

und Schande bebe, / Und zur Hölle fahre Hohn!“590

Arndt, der stets eingängige Formu-

lierungen zu finden wusste, tritt für Glück und Freiheit der Bürger ein, was durch die

Befreiung von der französischen Fremdherrschaft erlangt werden soll, wofür er

zahlreiche Argumente anführt, die dem Naturrecht entstammen.591

Doch füllt er in

seinen propagandistisch wirkungsvollen Werken den Freiheitsbegriff lediglich mit

außenpolitischen Forderungen nach der Ablösung der napoleonischen Herrschaft, die er

durchweg als Tyrannei brandmarkt. Innere Freiheit bedeutet für ihn hingegen den Bruch

mit dem Althergebrachten – explizit verbindet Arndt, wie auch der zitierte Gedicht-

abschnitt belegt, die Erlangung der „deutschen Freiheit“ mit der Restitution der

Monarchie –, weshalb sie ihm infolge ihres Innovationspotenzials nicht erwünscht ist.

585 August Graf Neidhardt von Gneisenau, Über die Freiheit der Rücken, zit. nach: Donath/Markov

(Hgg.), Kampf, 131 f.; hier: 131. 586

Heinrich von Kleist, Germania an ihre Kinder (4. Fassung), in: ders., Werke, 713-716; hier: 716. So

auch in der 6. Fassung, aaO., 716-719; dort: 719. 587

Aufruf Ludwig Adolph Peter Graf von Sayn-Wittgenstein-Berleburgs, Berlin, 23.03. 1813, zit. nach:

Schies (Hg.), Erhebung, 258 f.; hier: 259.588

Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 223-225.589

Vgl. Beyme, Theorie, 426-430.590

Ernst Moritz Arndt, Der Fahnenschwur, zit. nach: Donath/Markov (Hgg.), Kampf, 279 f.; hier: 280.591

Vgl. für das Nachfolgende Sell, Tragödie, 61-67.

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Arndts Freiheitsverständnis, das an eine Sakralisierung des Deutschtums gekoppelt ist –

und insofern dem Deutungsmuster der „deutschen Freiheit“ korreliert –592

verbürgt

keineswegs das Recht des Individuums, nach seinen eigenen Vorstellungen zu leben,

sondern lediglich die Freiheit der Gesamtheit, der Nation. Zugehörigkeit zu ihr definiert

sich vor allem durch die Fähigkeit, die „deutsche Zunge“ sprechen zu können,593

weshalb sich die nationale Gemeinschaft für Arndt vorrangig durch Sprache und der

darauf aufruhenden Kultur- und Kognitionskonstruktionen konstituiert. Dem Geist der

Zeit594

nachlaufend verträten hingegen viele die falsche Meinung, kritisiert Arndt

pluralistische Regierungsformen, „Vielherrschaft sei das Palladium deutscher Frei-

heit“.595

Ihm schwebt jedoch nicht „das Unglück und die Zerreißung des deutschen

Vaterlandes“ vor, sondern „ein großes und heiliges Bild, das mit vielen Namen Kaiser

und Reich, deutsche Freiheit, Deutschland, Vaterland, verschieden genannt und doch

von allen verstanden“ werde.596

In einem Katechismus für die ins Feld ziehenden

Soldaten – in der Wahl dieser Textsorte zeigt sich ein weiteres Element der

Deutungstradition: die Sakralisierungstendenz – betont er den unverbrüchlichen

Zusammenhang von Vaterland und Freiheit, da sie „das Allerheiligste auf Erden“

darstellten.597

Immer wieder wurde Arndts Freiheitsverständnis, dessen Grundlagen die

„Selbstzucht des Gehorsams und der Sinn für Gesetzlichkeiten“ gewesen seien, zur

Rechtfertigung einer deutschen Sondertradition aufgegriffen.598

Zwischen den Zielvor-

stellungen Einheit und Freiheit unterschieden Vertreter dieser national ausgerichteten

Freiheitsbewegung – eben aufgrund der nationalen Überzeichnung, wie sie beispiels-

weise auch von Johann Gottlieb Fichte repräsentiert wird – nicht.599

Ein wichtiger Protagonist dieser mit staatszentristischen Zügen und Vernunftge-

leitetheit ausgestatteten Richtung ist ebendieser in Jena und Berlin wirkende Philosoph,

der sich vom engagierten Jakobiner zum Nationalrevolutionär mit antiindividual-

592 Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 63. Vgl. z.B. die Gedichtzeilen „O Deutschland, heil’ges Vaterland!“ (zit.

nach: Wallenwein [Hg.], Freiheit, 19); „Gott! Freiheit! Vaterland!“ (zit. nach: aaO., 23).593

Vgl. Fenske, Denken, 479.594

Vgl. Arndt vierbändiges Werk mit dem Titel Der Geist der Zeit, in dem er seine Erfahrungen aus dem

Kampf für die nationale Freiheit in den Jahren 1805 bis 1818 schildert. Arndt, Geist, Bd. 1-4).595

Arndt, Geist, Bd. 3, 233.596

Ebd., 245.597

Ernst Moritz Arndt, Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann, Februar 1813, zit. nach:

Spies, Erhebung, 236-244; hier: 242.598

So z.B. Stapel, Fiktion, 14. Aus Arndts Werk wurden immer wieder zahlreiche Zitate und Texte

entnommen, um beispielsweise im ersten und zweiten Weltkrieg, aber auch anlässlich nationaler

Gedenktage für einen nationalen Freiheitskampf unter dem Vorzeichen der (Volks-)Einheit aufzurufen. 599

Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 66.

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istischen und zum Teil totalitären Tendenzen600

entwickelte.601

In seinem Selbstver-

ständnis ist das von ihm entfaltete System ein System der Freiheit.602

Fichte verschärfte,

um seine Grundausrichtung kurz zu skizzieren, den bei Kant noch weitgehend

verborgenen monistischen Zug der Argumentation, der gleichfalls schon bei Hegel

anzutreffen ist.603

Der angeblich durch den französischen Geist ausgelösten

mechanistischen Zerspaltung – ein häufig eingesetzten Argumentationsmuster

romantischer Staats- und Gesellschaftsbetrachtung – setzt Fichte die organische

Verbindung von Staats- und Kulturnation entgegen, in deren Verwirklichung die

Menschen in eine überindividuelle Gemeinschaft eintreten.604

In dem von Fichte

angestrebten Vernunftstaat,605

den er wesentlich in seiner Abhandlung Der geschlossene

Handelsstaat606

skizziert, sind alle Menschen Diener und Nutznießer des Ganzen, was

im Resultat auf eine autokratische Wohlstandsdiktatur hinausläuft,607

in der dem Staat

infolge seiner Vorrangstellung in der Hierarchie die Rolle eines disziplinierenden

Emanzipators zukommt.608

Der Staat soll durch Erziehung zur Revolutionierung des

deutschen Volkes von oben beitragen,609

wodurch ein ungleichgewichtiges Gesell-

schaftsmodell konstituiert ist. Sobald der Staat der Aufgabe, die Freiheit der Individuen

zu entfalten, nachgekommen ist, wird er in seiner Eigenschaft als Zwangsanstalt

überflüssig, sofern er nicht bloß unter diesem Vorwand als Instrument zur Durchsetzung

anderweitiger Interessen eingesetzt wurde.610

In ähnlicher, allerdings weniger univer-

salistischer Ausrichtung findet sich die von Fichte propagierte Vorstellung eines

kollektiven Staatsindividuums, das die gleichzeitige Verkörperung holistischen und

600 Vgl. zur Diskussion um den „totalitären“ Fichte: Saage, Nachwort, 372-387. Saage spricht sich gegen

diese Vereinfachung aus, indem er sich auf die Ambivalenz im politischen Denken Fichtes beruft (aaO.,

387-392). Vertreter der Totalitarismus-These sind z.B. Hahn, Staat; Schottky, Untersuchungen; Talmon,

Messianismus und Willms, Freiheit. Besonders von Anhängern der Frankfurter Schule wie z.B. von Zwi

Batscha wird dies als unberechtigter Vorwurf benannt. Auch Carl Joachim Friedrich steht einer

rückwärtsgewandten Verlängerung totalitärer Ideologie aufgrund der Qualitätsdifferenz der verglichenen

Gedankensysteme insgesamt skeptisch gegenüber, bekundet aber gleichzeitig die geschichtlichen

Wurzeln der totalitären Ideologie bei Marx, Hegel, Nietzsche, Hobbes, Kant, Rousseau, Plato, Aristoteles,

Augustin, Luther und Calvin (ders., Diktatur, 32-35). 601

Vgl. Fenske, Denken, 426.602

Vgl. Becker, Freiheit, 20 f.603

Vgl. Willmann, Geschichte, 402.604

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 303 f.605

Vgl. Zippelius, Geschichte, 154-158; zu Fichtes Staatslehre: Berber, Staatsideal, 383-388; Stadler,

Freiheit, 373-427. 606

Vgl. Fichte, Schriften, 59-167.607

Vgl. zum Weg vom Sozialstaat zum Totalstaat: Braun, Freiheit, 26-47 mit einer Stellensammlung aus

Fichtes Werken, mit der die Autorin die „Gleichschaltung der Bürger“ skizziert (aaO., 44-47).608

Vgl. Quesel, Emanzipation, 92 f.609

Vgl. Batscha, Einleitung, 20 f.610

Vgl. Batscha, Gesellschaft, 34; 172.

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individualistischen Denkens darstellt und zur Vernunft erzieht, auch bei Herder.611

Die

in Anschluss an Rousseau und Locke von Fichte, dem jugendlichen Verfechter der

Französischen Revolution und Verteidiger der deutschen Nation, angestellten

Überlegungen basieren auf der Verwirklichung einer rein sittlichen Vorstellung von

Freiheit.612

Fichte transponiert den Schwerpunkt vom Individuum auf die Gesamtheit.613

Nicht dem Individuum, sondern dem Staat kommt es in paternalistischer Absicht zu, die

Autonomie des Einzelnen zu sichern und damit dessen phylogenetisches „Urrecht auf

Freiheit“ zu verbürgen.614

Der hier geschilderten Berufung Fichtes auf eine transindivi-

duelle Vernunft ist, damit die asymmetrische Tendenz seiner auf pseudohistorischer

Legitimation aufgebauten Idee einer nationalen Kulturgemeinschaft verdeutlicht sei, die

Unterwerfung jeglichen Handelns unter die Gemeinschaft inhärent.615

In seinen Reden an die deutsche Nation616

vertritt Fichte mit einem herausgehobenen

Sendungsbewusstsein die Idee, dass Freiheit etwas spezifisch Deutsches sei. Jeder, der

an Freiheit und Fortschritt glaube, sei, argumentiert er, indem er auf die Errichtung einer

Kognitionsgemeinschaft abzielt, im Geiste ein Deutscher.617

Die Vorstellung des Staates

und des Deutschtums werden von ihm, ähnlich zu Arndt, miteinander verschmolzen.618

In der ersten der insgesamt vierzehn Reden propagiert Fichte mit der durch den Staat zu

vollbringenden „Erziehung der Nation“ das „Rettungsmittel“, um „die deutsche Nation

am Dasein zu erhalten“.619

Spezifische Nationalcharakteristika der Deutschen, die sie

vor den anderen germanischen Völkern auszeichneten, seien die Geistesbildung, das

sich daraus ergebende Eingreifen der Geistesbildung in das Leben, Ernst und Fleiß

sowie die Tatsache, ein besonders bildsames Volk zu sein.620

Freiheit ist in diesem

Zusammenhang also vor allem eine mentale Qualität, die auf der übergeordneten Ebene

des Volkes angesiedelt ist.621

„Unterordnung des persönlichen Selbst unter das Ganze“

ist der von Fichte vorgegebene, hierzu komplementäre Weg zur Erlangung der

Sittlichkeit.622

In dem nationalkollektiven Formationsprozess kommt dem Staat die

611 Vgl. Dumont, Individualismus, 133.

612 Vgl. Sell, Tragödie, 33 f.

613 Vgl. Batscha, Theorie, 85.

614 Vgl. Batscha, Einleitung, 35.

615 Vgl. Braun, Freiheit, 86.

616 Vgl. Fichte, Reden.

617 Vgl. Sell, Tragödie, 61.

618 Vgl. Cassirer, Freiheit, 366.

619 Fichte, Reden, 12 (1. Rede).

620 Vgl. ebd., 59 (4. Rede).

621 Vgl. ebd., 109 (8. Rede).

622 Fichte, ebd., 137 (10. Rede). Fichte spricht fernerhin davon, dass es eine Unterordnung des Einzelnen

unter das Ganze gebe, die nicht gefordert sei, sondern nur freiwillig geleistet werden könne, um durch die

eigene Aufopferung den Wohlstand desselben zu steigern (aaO., 138).

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Funktion einer dem positiven Freiheitsideal nachstrebenden „Pflanzschule“ der

Erziehung zu.623

Um der edukativen Vorgabe mit gebührender Ernsthaftigkeit nach-

kommen zu können, müsse, so Fichte in der Akzentuierung vehementer Maßnahmen,

ein staatlicher Zwang zu „vollendeter Erziehung“ aufgerichtet werden, der „die ganze

persönliche Freiheit zurückgibt und gar keine andern denn die heilbringenden Folgen

haben kann.“624

Kritik an den autoritativ geprägten Auffassungen wurde von

verschiedener Seite wegen deren Idealismus, Innerlichkeit, Abstraktheit, Praxis-

abstinenz und wegen deren totalitären Potenzials geübt.625

Der „absolute Staat“, den

Fichte konstituiert sehen möchte, stellt für ihn das Mittel dar, das alles Individuelle auf

das Leben der Gattung ausrichtet und beide sozialen Existenzweisen in einem

synthetisierenden Prozess miteinander amalgamiert.626

Fichtes Denken wurde, um auf die langanhaltende Prägewirkung der Fichteschen

Staats- und Freiheitsidee zu verweisen, hauptsächlich von sozialkonservativen Kräften

wie Robert von Mohl, Friedrich Julius Stahl, Lorenz vom Stein, Gustav Schmoller und

Wilhelm Stapel dienstbar gemacht, was eine äußerst einseitige Rezeption zur Folge

hatte.627

Letzterer bescheinigt aus der Sicht eines mit der Weimarer Reichsverfassung

unzufriedenen Autors des Jahres 1928, Fichte habe „das Idealbild eines Staatswesens zu

zeichnen“ versucht, und habe daher eine Art Demokratie entworfen, „die sich bis in die

innerste Gesinnung von dem unterscheidet, was heute als Demokratie bei uns eingeführt

ist.“628

Im Dritten Reich wurde Fichtes Freiheitsauffassung instrumentalisiert, um den

völkischen Aspekt in den Vordergrund zu stellen. Die Freiheit eines Volkes, schreibt

Heinz Linden 1939 über das Wesen der Freiheit bei Fichte, bestehe „nicht nur darin, frei

zu sein von fremdem Zwange, sondern frei zu sein, zu der höheren Bestimmung, die

jedes Volk im Weltplan erfüllt.“629

Die Literaten griffen, womit nach dem kurzen Exkurs über die Rezeption Fichtes

wieder zur Zeit der antinapoleonischen Erhebungen zurückgelenkt wird, beherzt in das

Kampfgeschehen ein. Emphatisch und mit der beständig wiederkehrenden Tendenz, den

Wert der Freiheit zu sakralisieren, dichtete Theodor Körner, der sich als Freiwilliger

zum Lützowschen Freikorps gemeldet hatte, einen Aufruf an die Freiheitskämpfer, der

auf die enge Verzahnung von nationalem und freiheitlichem Anliegen verweist:

623 Ebd., 146-160; hier: 148 (11. Rede).

624 Ebd., 154 (11. Rede).

625 Vgl. Becker, Freiheit, 40-52.

626 Cassirer, Freiheit, 362.

627 Vgl. Trautmann, Herausforderung, 41 f.

628 Stapel, Fiktionen, 47.

629 Linden, Freiheit, 6.

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„Frisch auf, mein Volk! – Die Flammenzeichen rauchen, / Hell aus dem Norden

bricht der Freiheit Licht. / Du sollst den Stahl in Feindes Herzen tauchen, / Frisch

auf mein Volk! – Die Flammenzeichen rauchen, / Die Saat ist reif, ihr Schnitter,

zaudert nicht! / Das höchste Heil, das letzte liegt im Schwerte! / Drück dir den

Speer ins treue Herz hinein, / Der Freiheit eine Gasse! – Wasch die Erde, / Dein

deutsches Land mit deinem Blute rein.“630

Zum Rückzug der vereinigten Armee über die Elbe schrieb Körner einen letzten Trost,

der die Alternativen der Soldaten klar vor Augen hält und sie martialisch zum bedin-

gungslosen Kampf für Freiheit und Vaterland anspornt:

„Woll’n nicht vom Rechte lassen, / Die Freiheit retten, das Vaterland, / Oder

freudig sterben, das Schwert in der Hand, / Und Knechtschaft und Wüt’riche

hassen. // Das Leben gilt nichts, wo die Freiheit fällt. / Was gibt uns die weite,

unendliche Welt / Für des Vaterlandes heiligen Boden? – / Frei woll’n wir das

Vaterland wieder sehn / Oder frei zu den glücklichen Vätern gehen, / Ja, glücklich

und frei sind die Toten.“631

Dieser Einblick in die mit viel Pathos daherkommende Dichtung Körners, die dazu

aufruft, für die Freiheit ins Feld zu ziehen, könnte mit zahlreichen Beispielen weiterer

Kollegen des während der Befreiungskriegs gefallenen Dichters belegt werden. Der

rhetorische Kampf gilt, um die dabei vorrangig verwendete Argumentationsfigur

theoretisch in Hinblick auf den in ihm verwendeten Freiheitsbegriff zu reflektieren,

immer der äußeren Freiheit des Nationalstaates, des prospektiv zu konstituierenden

Kollektivs, nur selten wird dahingegen die Frage nach der individuellen Freiheit aufge-

worfen. Eine Ausnahme bildet hier lediglich Heinrich Heine, der einen idealistisch

geprägten Bildungsindividualismus verficht, welcher jedoch auf wenig Verständnis bei

seinen Zeitgenossen stieß.632

Nicht nur auf dem philosophischen und literarischen Schlachtfeld wurde – wie

Körners wort- und tatkräftiger Einsatz belegt – für die „deutsche Freiheit“ gekämpft.

Auch die Staatswissenschaft entwickelte sich zu einem Bereich argumentativen

Abwehrkampfs. So unternimmt der Staatsrechtsgelehrte Adam Heinrich Müller in

seinen 1809 unter dem Titel Die Elemente der Staatskunst633

herausgegebenen Dresdner

Vorlesungen den Versuch, durch ein dynamisches Organismusmodell das Problem des

Kollektivs in seiner Totalität zu lösen,634

um damit zugleich die umfassende Aufhebung

aller Individualprobleme herbeizuführen.635

Müller wendet sich explizit gegen den

630 Theodor Körner, Aufruf, zit. nach: Donath/Markov (Hgg.), Kampf, 282.

631 Theodor Körner, Letzter Trost. Beim Rückzug der vereinigten Heere über die Elbe, zit. nach:

Donath/Markov (Hgg.), Kampf, 364.632

Vgl. Betz, Prosa, 22 f.; Sell, Tragödie, 69.633

Müller, Elemente.634

Vgl. zum Topos der Totalität bei Müller: Müller-Schmid, Adam Müller, 125 f.635

Vgl. Landry, Elemente.

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seiner Meinung nach seit der Französischen Revolution toten „Begriff der Freiheit“ und

setz ihm seine auf Burke zurückgreifende „Idee der Freiheit“ entgegen.636

Hiermit ist er

ein wichtiger Vertreter der politischen Romantik,637

der den Parlamentarismus wegen

seiner nicht vorhandenen Organizität ablehnt.638

In den Elementen der Staatskunst unterbreitet Müller eine naturtheoretisch-

organische Herleitung des Staates, die in ihrem Wachstums- beziehungsweise

Entwicklungsgedanken typisch für romantische und naturtheoretische Organismus-

vorstellungen ist,639

und skizziert mit seiner Schrift die Grundlinien einer ganzheitlichen

Staatslehre.640

Im Staat kulminiere das gesamte innere und äußere Leben einer Nation,

um die Worte Müllers aufzugreifen, zu einem „einheitlichen, großen, energischen,

unendlich bewegten und lebendigen Ganzen“.641

Auch den Freiheitsbegriff integriert

Müller in sein Vorstellungssystem.642

Der allgemeine Begriff der Freiheit sei, womit er

auf die Komplementarität des Deutungsmusters hinweist,

„die Erzeugerin, die Mutter des Gesetzes. In dem tausendfältigen Streite der

Freiheit des einen Bürgers mit der Gegenfreiheit aller übrigen entwickelt sich das

Gesetz; in dem Streite des bestehenden Gesetzes, worin sich die Freiheit der

vergangenen Generation offenbart, mit der Freiheit der gegenwärtigen, reinigt sich

und wächst die Idee des Gesetzes. Die Idee der Freiheit ist die große, nie

nachlassende Centrifugal-Kraft der bürgerlichen Gesellschaft, wodurch die andere

ihr ewig entgegen stehende Centripetal-Kraft derselben, nehmlich die Idee des

Rechtes, erst wirksam wird.“643

Dieser Gegenstreit wirke sich bei zunehmender Intensität auf die Lebendigkeit des

Gesetzes und der sich daraus ableitenden Ordnung aus.644

Den konservativen Topos

einer der Gleichheit widerstrebenden Freiheit hat Müller wesentlich mitgeprägt. In

seiner Argumentation spricht er sich für die Denkfigur der „Eigentümlichkeit“ aus, was

eine produktive Gedankengrundlage für die Herausbildung einer den deutschen

Freiheitsdiskurs späterhin mitbestimmenden sowie kollektivcharakteristisch fundierten,

636 Müller, Idee, 19 f. Müller steht in seinem Denken in der Nachfolge Edmund Burkes, auf den er sich als

Person bezieht, die das ganze Gewicht seines Herzen und seiner Beredsamkeit zur Ehre der Freiheitsidee

eingesetzt habe (aaO, 19). Der ideengeschichtliche Einfluss des politischen Denkens der Romantiker auf

die Ausgestaltung der Revolution von 1848 ist ein weitgehendes Forschungsdesiderat (vgl. Stammen,

Romantik, bes. 40 f.).637

Vgl. Schildt, Konservatismus, 47 f. Zur Verhältnisbestimmung zur deutschen Romantik: Aris,

Staatslehre; Kluckhohn, Ideengut, 79-86.638

Vgl. Durner, Antiparlamentarismus, 20-22.639

Vgl. Böckenförde, Staat, 269 f.640

Vgl. Müller-Schmid, Adam Müller, 117-123.641

Vgl. Müller, Elemente, 51.642

Vgl. zu Müllers Staatsauffassung, die sich aus seinen Reflexionen über Gesellschaft, Wirtschaft,

Philosophie, Religion und Kunst speist: Müller-Schmid, Adam Müller.643

Müller, Elemente, 149. Besonders deutlich wird Müllers konservativ-kollektivistische Freiheits-

auffassung aus der siebten Vorlesung, die er am 10. Dezember 1808 hielt. Sie beschäftigt sich damit,

„Wie sich die Partheien zum Richter, der Contract zum Gesetze, und die Freiheit zum Rechte verhalten“.644

Vgl. ebd.

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nationalen Sonderwegthetik bietet. Egalitäre Freiheitsvorstellungen, also die Annahme,

dass „die Freiheit nichts anderes als das allgemeine Streben der verschiedenartigsten

Naturen nach Wachsthum und Leben ist,“ lehnt Müller vehement ab, denn man könne

sich „keinen größeren Widerspruch ausdenken, als indem man, mit Einführung der Frei-

heit zugleich, die ganze Eigenthümlichkeit, d.h. Verschiedenartigkeit, dieser Naturen

aufhebt.“645

Bemerkenswert ist die Entstehung der freiheitskritischen Gedanken innerhalb der

patriotisch-begeisterten Befreiungskriegsstimmung. Sie wurzelt in den theologischen

Grundlagen des Müllerschen Denkens. Erst die „weiseste Fügung Gottes“ macht Müller

zufolge den Menschen zum Gemeinschaftswesen.646

„Der Hauptgebrauch, den er von

seiner Freiheit machen kann, und das einzige Mittel, sie zu stärken und zu erweitern,

ist,“ merkt der Staatsrechtler daher zu seiner asymmetrischen Freiheitsvorstellung an,

„daß er sich unterordne, füge, diene, Glied eines größeren oder eines anderen Staates

werde – kurz, der Gehorsam“.647

Zu der Asymmetrie der Argumentation innerhalb des

Deutungsmusters tritt häufig eine antithetische, auf Gemeinschaftskonstituierung

ausgelegte Haltung gegenüber als feindlich wahrgenommenen Nationen hinzu, die sich

ebenfalls im Freiheitsbegriff widerspiegelt.

Als fanatische Anhängerin der Freiheitskämpfer entpuppt sich die aufgrund ihrer

Novelle Die Judenbuche mit dem Nachruhm der Toleranz ausgestattete Annette von

Droste-Hülshoff. In zeittypischem Franzosenhass spricht sie in Zukunftshoffnung über

Das befreite Deutschland: „Blutend floh vor euch das Räuberheer, / Freiheit kehrt zum

Vaterherde, / Und kein Frankenfußschritt schändet mehr / unsre heil’ge deutsche

Erde!“648

In diesem Gedicht zeigt sich einmal mehr die Verquickung des Freiheits-

strebens mit der Abwehr äußerer Unterdrückung durch Fremdherrschaft. Sie bildet im

Diskurs um die „deutsche Freiheit“ eine Konstante. Antiwestliche, in diesem Fall

antifranzösische Ressentiments sind ein weiteres konstitutives Element, zu dem die

antidemokratische Ausrichtung hinzutritt.

Ueber teutsche Freiheit erschien 1814 eine anonyme Denkschrift, die „Teutschlands

gerechten Fürsten gewidmet“ war.649

Nach dem Sieg gegen die napoleonischen

645 Ebd., 151. Müller bemerkt, dass „alle diese gerupften, der ganzen, stolzen, eigenthümlichen

Bekleidung ihres Lebens beraubten, Creaturen“ einander „an Ohnmacht und sklavischer Gesinnung“

glichen (ebd.). 646

Müller, Nothwendigkeit, 45.647

Ebd.648

Annette von Droste-Hülshoff, Das befreite Deutschland, zit. nach: Boberach/Hartkopf/Koops u.a.

(Hgg.), 38. Vgl. zur Stellung der Aussagen im Werk der Droste, Morgan, Annette von Droste-Hülshoff,

27 f. 649

N.N., Freiheit.

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Belagerer, der unter dem Leitspruch „Fürst, Freiheit und Vaterland“650

stand, beschwört

der namentlich nicht in Erscheinung tretende Autor mit Emphase die „Morgenröthe

einer neuen Zeit“ herauf. „Ja! wir sind frei!“ verkündet der Anonymus voller Stolz auf

den errungenen Sieg und die Restitution der alten Ordnung, „Denn wir haben frei das

Vaterland, haben frei gemacht die unterjochten Brüder, und haben mit den jenseits des

Rheins die von dem Eroberer entfesselten Armeen umgepflügten alten Grenzsteine

wieder aufgerichtet, und haben mächtige Gottheiten uns wieder befreundet, die lange

von uns ihr Antlitz abgewendet haben.“651

Die äußere „Freiheit von dem Joche der

Feinde“ wird gepriesen, da die Selbständigkeit und Vollständigkeit des Staates als

Bedingung und notwendige Voraussetzung allen Glücks jedes menschlich würdigen

Daseins unerlässlich sei.652

Das problematische Verhältnis zu der Regierungsform der

Demokratie steht im Mittelpunkt der Betrachtungen, die – in Opposition zu dem

Konstrukt einer französischen Nationalfreiheit – von einem dem Charakter der

Deutschen eigentümlichen Freiheitsverständnis ausgeht:

„Die Freiheit, welche der Teutsche sein Eigen nennt, ist nicht die Freiheit des

Demokraten, welche feindselig den Thronen blos da gefunden werden soll, wo das

Volk allein mit einer idealen Souverainetät und Majestät bekleidet ist. Noch

weniger hat die teutsche Freiheit gemein mit jener neufränkischen, welche mit

Anarchie und Pöbelherrschaft gleichbedeutend, Alles von Allen, mithin auch vom

Gesetze frei macht, und unter deren Herrschaft nichts frei ist, als die Gewalt und

das frevelnde Unrecht.“653

Der Anonymus spricht dem deutschen Volk eine vergleichsweise überdurchschnittlich

hohe Moralität zu, weshalb es anders als die Gesellschaften der meisten umliegenden

Handelsstaaten auch keine republikanisch-demokratische Freiheit vertrage. Nur jene

Freiheit – führt die Schrift Ueber teutsche Freiheit aus – „welche allein unter dem

heiligen Fürstenzepter gedeiht, aber auch nur in einer Staatsverfassung vorhanden ist,

wo die höchste Gewalt blos eine Macht hat, frei das Rechte zu thun, und in anerkannten,

durch Gesetze gesicherten Rechten der Nation ihre Schranken findet: – sie ist der

teutschen Völker unveräußerliches Eigenthum, das heilige Erbteil ihrer Väter.“654

„Deutsche Freiheit“ kennzeichne sich nicht durch Umstürze, sondern sei eine Form der

Freiheit, die – in Betonung monarchischer Kontinuität – mit der Tafel des Gesetzes

neben den Thronen stehe. Indem der Anonymus eine unbekannte Stimme zitiert, äußert

650 Ebd., 26. Dies sei das Feldgeschrei gewesen, „womit die teutschen Völker sich um ihre angestammten

Fürsten versammelten, um diesen die verlorne Krone oder die geraubte Ehre des Fürstenthrones wieder zu

erobern.“651

Ebd., 1.652

Ebd., 2 f.653

Ebd., 8.654

Ebd.

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er sich über weit verbreitete Ordnungsvorstellungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die

gemeinschaftlich orientiert sind und auf ständischen Ordnungsmustern basieren. Fürsten

und Völker, Hohe und Niedrige, gelangt der sozialstratifikatorisch-asymmetrische

Aspekt des Deutungsmusters zur Geltung, hätten „in schöner Gemeinschaft und durch

diese schöne Gemeinschaft das herrliche mit Gott begonnene und von Gott gesegnete

Werk vollführt [...], auf daß kein Stand und kein Geschlecht über dem anderen sich

ungebührlich erhebe und durch verwerfliche Äußerungen die Segnungen, welche Alle

errungen und Allen gebühren, sich über Recht aneigne.“655

Für die Konturierung des

Vorstellungszusammenhangs „deutsche Freiheit“ erweist sich die Epoche der anti-

napoleonischen Kriege als prägend, da in ihr eine Vielzahl von Komponenten – vor

allem die antithetische und die asymmetrische – des Deutungsmusters mitbedingt durch

die Kriegssituation und die Auseinandersetzung mit Napoleon an argumentatorischer

Schärfe und öffentlicher Präsenz gewannen, und sich hierdurch auf langfristige Sicht,

nicht zuletzt auch durch eingängige Gedichtverse, in das kollektive Gedächtnis

einprägten. Als letzte Illustration hierfür sei das von Max von Schenkendorf 1815

geschaffene Gedicht mit dem vielzitierten Titel Freiheit, die ich meine, angeführt.656

Freiheit wird dort als ein „süßes Engelsbild“ präsentiert, was eindeutig auf den positiv

besetzen Charakter des semantischen Begriffspotenzials verweist. Dass die Freiheit – es

ist selbstverständlich eine national gebundene gemeint – endlich in der Welt Einzug

halten solle, ist die vom Gedicht genährte Zukunftshoffnung, die sich aus dem Erfolg

der antinapoleonischen Bewegung speist. Die letzte Strophe bringt die in den

Befreiungskriegen kultivierte Vorstellung einer engen, phylogenetisch bedingten

Verbindung der Freiheit mit einem gedachten deutschen Sondercharakter zum

Ausdruck: „Freiheit, holdes Wesen, / Gläubig, kühn und zart, / Hast ja lang erlesen / Dir

die deutsche Art.“657

655 Ebd., 46.

656 Max von Schenkendorf, Freiheit, zit. nach: Conrady (Hg.), Gedichtbuch, 378.

657 Ebd.

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4.1.5 Patriotisierung des Deutungsmusters während des Zeitalters der

Restauration – „Ehre, Freiheit, Vaterland“

In zahlreichen Memorialfeiern wurde nach dem Ende der kriegerischen Auseinan-

dersetzungen den „für die deutsche Freiheit Gefallenen“ gedacht.658

Der Freiheitsbegriff

der im Krieg Aktiven blieb relativ einseitig auf den nationalen Kontext beschränkt und

wirkte fort. Ein Tübinger Burschenschaftler trug beispielsweise 1817 in sein Stamm-

buch einen Vierzeiler ein, der die in der beginnenden Restaurationszeit vorherrschenden

Vorstellungen deutschnational gesinnter Studenten prägnant zusammenfasst: „Deutsche

Freiheit, deutscher Gott, / Deutscher Glaube, ohne Spott, / Deutsches Herz und

deutscher Stahl / Sind vier Helden allzumal.“659

An der Frage nach der Höherwertigkeit beziehungsweise der Realisierungs-

reihenfolge der miteinander verwobenen, dennoch konkurrierenden Ideale von Freiheit

und Einheit entzündeten sich im Nachgang der Befreiungskriege bald neue

Uneinigkeiten. Die allgemeine Erschöpfung durch den Kriegszustand trug zu einer

Revolutionsmüdigkeit bei, die sich auch im Übergang vieler liberaler Intellektueller zu

romantischem Gedankengut widerspiegelt.660

Nach dem Ende der napoleonischen

Herrschaft kam es nicht, wie progressive Kräfte dies ersehnt hatten, zur Beseitigung des

alten Regimes, sondern wurde im Gefolge des Wiener Kongresses der Grundstein dafür

gelegt, dass sich – nicht in revolutionären Erhebungen, sondern in evolutionären

Modifikationen – die konstitutionelle Monarchie als Regierungsform zunehmend in den

Einzelstaaten und ab 1871 dann auch auf der Ebene des Deutschen Reichs

durchzusetzen vermochte.661

Als einigendes Band und wesentlicher Akteur im

nationalen Spannungsverhältnis von Einheit und Freiheit entstand in Wien der Deutsche

Bund.662

Artikel XIII der Bundesakte663

bestimmte: „In allen Bundesstaaten wird eine

landständische Verfassung statt finden.“664

Die Verfassung des deutschen Bundes, die

seit 1815 die Einzelstaaten politisch miteinander verknüpfte, enttäuschte die

Erwartungen der Reformer, weshalb Liberale wie Dahlmann in der konstitutionellen

658 Vgl. z.B.: Nebe, Gedächtnisfeier; Rosenmüller, Predigt.

659 Zit. nach: Klose, Freiheit, 142.

660 Vgl. Schildt, Konservatismus, 49 f.

661 Vgl. Vorländer, Tradition, 103.

662 Vgl. Winkler, Weg., Bd. 1, 71. Vgl. zur Struktur des Bundes: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1,

475-820.663

Vgl. für den Text: Deutsche Bundesakte (1815), in: Blanke (Hg.) Verfassungen, 61-69.664

Zit. nach: Ebd., 65.

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Monarchie und der engen Verzahnung von Fürst und Volk die beste Bürgschaft für eine

stabile Ordnung und damit auch für die Freiheit sahen.665

Alexander Abusch, ein Vertreter der so genannten Misere-Theorie,666

kommentierte

den verebbten Schwung der Befreiungskriege aus dem Jahr 1946 zurückblickend mit

den Worten: „Die Völker Deutschlands waren von Napoleon befreit, doch die Freiheit

war nicht auf die deutsche Erde gekommen.“667

Im Jahr 1870 sah man das noch anders:

Nach den Befreiungskriegen sei im Innern von Deutschland „das constitutionelle

Princip [...] als der Hort deutscher Freiheit anerkannt und dem deutschen Volk als Lohn

und Preis für seinen Opfermut“ zuerkannt worden.668

Vor allem im süddeutschen Raum kam es nach 1815, um den Faden der Konstitu-

tionalisierungswelle weiter zu flechten, zu der Verabschiedung von Verfassungen oder

konstitutionellen Statuten.669

Der Kleinstaat Nassau war im Jahr 1814 der erste, der sich

eine Verfassung gab.670

Insbesondere Bayern im Mai 1818, Baden im August desselben

Jahres und Württemberg im September 1819 sind hervorzuheben, da die Staaten

aufgrund ihrer Größe und Bedeutung durch Verfassungen mit dualistischer Anlage als

Vorbilder wirkten.671

Im Kompromiss zwischen alter, privilegiengestützter Ordnung

und den neuen konstitutionellen Prinzipien fanden verschiedentlich Grundrechts-

kataloge in die Verfassungen Aufnahme, die dem Individuum eine eng umgrenzte

665 Vgl. Fenske, Denken, 399. Zu Dahlmann um 1815: Bleek, Friedrich Christoph Dahlmann, 330 f.

666 Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik, 46-49.

667 Abusch, Irrwege, 80. Ihm zufolge sollte erst 1848 im Zusammenhang mit der nach dem Scheitern der

Ereignisse von 1848/49 einsetzenden Konstitutionsgebung durch Friedrich Wilhelm IV. „die Freiheit aus

dem ‚Reich der Träume’ auf die deutsche Erde“ heruntergeholt werden (aaO., 88).668

Die deutsche Christliche Freiheit, 6.669

Vgl. zum Frühkonstitutionalismus: Weber-Fas, Verfassung, 35-43; Siehe auch die Auflistung von:

Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 46 f.: „Von den 41 Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes

(1815) erhalten bis zur Revolution von 1848 23 Staaten neue Verfassungen: Nassau (01./02.09. 1814) –

Schwarzburg-Rudolstadt (08.01. 1816) – Schaumburg-Lippe (15.01. 1816) – Waldeck (19.04. 1816) –

Sachsen-Weimar-Eisenach (05.05. 1816) – Sachsen Hildburghausen (19.03. 1818) – Bayern (26.05.

1818) – Baden (22.08. 1818) – Liechtenstein (09.11. 1818) – Württemberg (15.09. 1819) – Hannover

(07.12. 1819, geändert 26.09. 1833, aufgehoben 01.11. 1837, neue Verfassung 06. 08. 1840) –

Braunschweig (15. 04. 1820, geändert 12.10. 1832) – Hessen-Darmstadt (17.02. 1820) – Sachsen-Coburg

(08.08. 1821) – Sachsen-Meiningen (04.09. 1824). Nach der Revolution von 1830 folgen Kurhessen

(05.01. 1831) – Sachsen-Altenburg (29.04. 1831) – Holsten (28.05. 1831) – Sachsen (04.09. 1831) –

Hohenzollern-Sigmaringen (11.07. 1833) – Lippe (06.07. 1836) – Schwarzburg-Sondershausen (24.09.

1841) – Luxemburg (12.10.1841). Ständische Stadtverfassungen, die unter der napoleonischen Herrschaft

aufgehoben waren, werden wiederhergestellt in Lübeck (19.03. 1813) – Hamburg (27.05. 1814) – Bremen

(20.03. 1816-11.12. 1818) – Frankfurt (19.07.-18.10. 1816). Ohne landständische Verfassungen bleiben

bis 1848 Österreich (aber die einzelnen Länder der Monarchie erhalten Landtage) – Preußen – Oldenburg

– Hessen Homburg. Ständische Verfassungen, die den längst überwundenen Zuständen im alten Reich

entsprechen, bleiben mit gewissen Veränderungen erhalten in drei Anhaltinischen Staaten (1625) – den

Reußischen Staaten (1668) – Mecklenburg-Schwerin (1755) – Mecklenburg-Strelitz (1755) –

Hohenzollern-Hechingen (1796).“670

Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 46; Sell, Tragödie, 74, hingegen setzt Schaumburg

Lippe im Jahr 1816 als ersten Kleinstaat an. Doch selbst wenn er ihn erst nach 1815 ansetzt, ging

Schwarzburg-Rudolstadt noch voran.671

Vgl. Krieger, Ideal, 229. Vgl. zu den Verfassungen auch: Krieger, aaO., 231-261.

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staatsfreie Sphäre zugestanden.672

Vor allem im Südwesten wurde der Prozess der

Verfassunggebung von einer regen Diskussion begleitet, in der progressive Kräfte

gemeinsam mit konservativen eine weitgehende Oppositionshaltung gegenüber den

Konstitutionen einnahmen.673

Erstere stießen sich an den Verfassungen, da sie als

Oktroye daherkamen, letztere, da sie sich ihrer Privilegien beraubt sahen.674

Die Generation, die von den Wiener Beschlüssen des Jahres 1815, vor allem von der

Initiative der antiliberal ausgerichteten Heiligen Allianz, enttäuscht war,675

setzte sich

nun, unter anderen Vorzeichen, erneut für eine sittliche Rechtfertigung der politischen

Ordnung auf national-freiheitlicher Basis ein.676

In Eisenach trafen sich zum Gedenken

an die 300. Jährung der Reformation und zur Erinnerung an die Völkerschlacht bei

Leipzig ungefähr 500 Burschenschaftsvertreter, die patriotische und freiheitliche Reden

hörten.677

Zum Abschluss der Kundgebungen, die an die Verfassungsversprechen

erinnerten und die Einheit Deutschlands forderten, fand eine Verbrennung unliebsamer

Schriften statt.

Heinrich Hermann Riemann, Anhänger der 1815 in Jena unter dem Wahlspruch

„Ehre, Freiheit, Vaterland“ begonnenen Burschenschaftsbewegung,678

resümierte auf

dem Wartburgfest 1817 die Entwicklungen der napoleonischen Herrschaft und der

Befreiungskriege aus der Sicht eines Patrioten und kündigte Redebeiträge an, die

getragen seien „von dem Gedanken an Freiheit und Vaterland“.679

Der Theologiestudent

Riemann vermutet in den reaktionären Ereignissen der Jahre 1815 bis 1817 und der

dadurch verhinderten Nationalstaatsgründung eine Strafe Gottes, da das deutsche Volk

„die ewigen Gesetze, den Völkern von der Vorsehung weise vorgeschrieben, nicht

befolgt“ und „Volkstümlichkeit und des Vaterlands Einigkeit“ verachtet habe:680

„Sie [i.e. die Strafe Gottes] kam über uns durch den Arm des welschen Volks, das,

anfangs zur Freude der Welt, der Freiheit Fackel entzündend, bald der frühern

Schwüre, nur für des eignen Herdes Sicherheit und Unabhängigkeit zu kämpfen,

uneingedenk ward, und einer schändlichen Raub- und Herrschsucht Raum gab.

Auch wir wurden geknechtet und seufzten Jahre lang in schmählichen Ketten. Da

allmählich ward die Sehnsucht rege nach der verloren gegangenen Freiheit, nach

der Herstellung des zertretenen Vaterlandes; bald ward sie laut und Alles rief nach

672 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 347.

673 Vgl. ebd., 273.

674 Vgl. Kaschuba, Nation, 92 f.

675 Vgl. Schildt, Konservatismus, 50 f.

676Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 278 f.

677 Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 73.

678 Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 48.

679 Heinrich Hermann Riemann, Rede auf dem Wartburgfest 1817, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1,

123-129; hier: 129.680

Ebd., 126.

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einem Retter. Endlich loderte uns die Flamme der Freiheit empor, in dem Brande

Moskau’s; wir verstanden die Stimme Gottes und folgten ihr.“681

Im abschließenden Gebet erhofft sich Riemann, Gott möge auf das deutsche Vaterland

herabschauen und es in Freiheit und Gerechtigkeit gedeihen lassen. Freiheit wird in

diesem Verständnis als göttliches Gnadengeschenk betrachtet, die Nation, die sich

durch Abgrenzung gegenüber Frankreich definiert, zum gleichwertigen Komplement

erhoben.

4.1.6 Der frühe Vormärz bis zum Ende der 30er-Jahre – „Strahlen der

Morgenröte deutscher Freiheit“

In den Schriften des Vormärz erscheint der Staat häufig als Schutzeinrichtung zur

Abwehr sozialer Ungleichgewichte, was sich darin niederschlägt, dass Freiheits-

einschränkungen und Staatseingriffe offensiv zur Behebung sozialer Missstände

eingefordert wurden.682

So trat beispielsweise Robert von Mohl dafür ein, unter

Umständen das Eheschließungsrecht zu beschränken, um eine bessere Kontrolle über

die Bevölkerungsentwicklung zu erlangen, oder liberale Berliner Stadträte verlangten

nach der Einschränkung der Freizügigkeit innerhalb ihrer Stadt, um abzuwenden, dass

durch den Zuzug armer Bevölkerungsschichten weitere soziale Schieflagen ent-

stünden.683

Die liberale Bewegung dieser Jahre wurde zum größten Teil von Universitätspro-

fessoren getragen, die freiheitliche Deutungsmuster an ihre Studenten weiterver-

mittelten.684

Universitätsabsolventen sollten, um die prägende Kraft der dem

akademischen Diskurs entstammenden Argumentationsfiguren zu verdeutlichen, auch

in der Nationalversammlung von Frankfurt die entscheidende Rolle spielen und das

Gesicht und die Perzeption des deutschen Liberalismus wie seines Freiheitsbegriffs auf

lange Zeit prägen.685

Zugleich muss betont werden, dass die ungleichgewichtige

681 Ebd.

682 Vgl. Sheehan, Liberalismus, 218; 223.

683 Vgl. ebd., 218.

684 Vgl. De Ruggiero, Geschichte, 231. Zu nennen wären v.a. Rotteck, Welcker, von Gagern, J. Grimm,

Stockmar, Rümelin, R. Mohl und Gervinius. 685

Vgl. Sheehan, Liberalismus, 209-211. 80% der Parlamentsangehörigen der Frankfurter

Paulskirchenversammlung verfügten über eine Universitätsbildung. Verwaltungsbeamte, Lehrer,

Justizbeamte und Rechtsanwälte machten das Gros der Abgeordneten aus. Vgl. auch die Tabelle zur

beruflichen Zusammensetzung der Frankfurter Nationalversammlung in: Müller, Revolution, 87. Von den

812 Abgeordneten waren ca. 600 Akademiker.

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Zusammensetzung auf hohe Akzeptanz in der Bevölkerung stieß,686

vor allem was ein

gewisses Expertendenken und die Achtung vor der staatlichen Hierarchie anbelangte.

Dennoch entwickelte sich der Liberalismus dieser Zeit zum wichtigsten Träger der

Verfassungsreformbewegung.687

Der Wunsch, einen einheitlichen Nationalstaat zu konstituieren, förderte allerdings

nationalistische Tendenzen, die sich zusehends vor den Freiheitsgedanken schoben.

Karl Ludwig von Sand, der zu den Besuchern des Wartburgfestes gehört hatte,

ermordete, angestachelt durch die weit reichende Propaganda, am 23. März 1819 in

Mannheim August von Kotzebue. Sand wurde hierfür auf dem Mannheimer Marktplatz

hingerichtet; als Reaktion auf das Attentat wurden die maßgeblich von Metternich

initiierten Karlsbader Beschlüsse in Kraft gesetzt, die mit repressiven Mitteln gegen die

so genannten Demagogen vorgingen.688

Die auf ihnen ruhende Universitätsgesetz-

gebung des Deutschen Bundes wurde erst im Jahr der Märzrevolution aufgehoben.689

Eine Polarisierung, die sich anhand der Konfliktlinie Einheit – Freiheit auftat, zeichnete

sich ab.

So bemerkte Heinrich Heine gegen Ende der 20er-Jahre eine Veränderung der

gesamtgesellschaftlichen Atmosphäre, indem er konstatiert, es sei eine neue Religion

der Armen im Begriff sich zu entwickeln.690

Angeregt durch eine Reise nach England691

setzte er sich mit der heraufkommenden Industriegesellschaft und deren Folge-

wirkungen auseinander692

und stellt die These auf, dass Freiheit zu einem wesentlichen

Wert der Moderne aufsteigen wird. „Alle Kraft der Menschenbrust“, erklärt der Dichter,

„wird jetzt zu Freyheitsliebe und die Freyheit ist vielleicht die Religion der neuen Zeit,

und es ist wieder eine Religion, die nicht den Reichen gepredigt wurde, sondern den

Armen und sie hat ebenfalls ihre Evangelisten, ihre Märtyrer und ihre Ischariots!“693

Der Boden für eine freiheitliche Bewegung, die sich gegen die verhängten Repressionen

erheben konnte, schien äußerlich bereitet, doch steht in der Sicht Heines der National-

charakter der Deutschen einem revolutionären Vorhaben im Weg: „Was die Deutschen

betrifft, so bedürfen sie weder der Freiheit noch der Gleichheit. Sie sind ein spekulatives

686 Vgl. Sheehan, Liberalismus, 211.

687 Vgl. Mommsen, Jahrhunderte, 384.

688 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 732-752.

689 Vgl. Weber-Fas, Verfassung, 25.

690 Vgl. zum Thema Freiheit als Religion bei Heine: Koßek, Begriff, 72-78.

691 Vgl. Decker, Heinrich Heine, 159-166; Hädecke, Heinrich Heine, 200-205.

692 Vgl. Hinck, Land, 185.

693 Heinrich Heine, Englische Fragmente, in: ders., Gesamtausgabe, 207-273; hier: 209. Vgl. zu den

Fragmenten: Kortländer, Heinrich Heine, 184-187.

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Volk, Ideologen, Vor- und Nachdenker, Träumer, die nur in der Vergangenheit und der

Zukunft leben und keine Gegenwart kennen.“694

Selbst innerhalb der republikanisch ausgerichteten Linie der Freiheitstradition ist der

nationale Charakter des Freiheitsbestrebens, auf den sich Heine mit seinen Über-

legungen zum freiheitsindifferenten Nationalcharakter der Deutschen ebenfalls berief,

nicht zu übersehen, wie ein Gedicht des Schriftstellers Ferdinand Freiligrath mit einer

Gleichsetzung anschaulich zum Ausdruck bringt: „Die Freiheit ist die Nation! / Ist aller

gleich Gebieten! / Die Freiheit ist die Auktion / Von dreißig Fürstenhüten! / Die Freiheit

ist die Republik! / Und abermals: die Republik!“695

Infolge seiner politischen

Einstellung verzichtete Freiligrath auf einen ihm durch Friedrich Wilhelm IV.

gewährten Ehrensold; späterhin musste er aufgrund seiner radikalen Dichtungen

emigrieren,696

was ihn – und damit ist auf die weitere Entwicklung vorausverwiesen –

nicht davon abhielt, sich im Alter zu einem begeisterten Anhänger des Feldzuges gegen

Frankreich aufzuschwingen.697

Die beginnenden 30er-Jahre allerdings standen unter dem Einfluss des französischen

Liberalismus.698

Mit der Julirevolution und deren gesamteuropäischen Ausstrahlungen,

die sich in Deutschland in einer zweiten Konstitutionalisierungswelle niederschlugen,699

kam es zu einer kurzfristigen Wende innerhalb der wertenden Reihenfolge von Freiheit

und Einheit, worin sich zugleich die diskursive und dann auch praktische Vermengung

der Konzeption einer autoritären Gesellschaft revolutionären Typs mit den Forderungen

nach liberalen Prinzipien und nationalstaatlicher Einheit zeigte.700

Der Sturz König Karl

X. und die Erhebung von Louis Philippe zum Bürgerkönig hatte europaweite

Wirkungen: So erklärte beispielsweise Belgien seine Unabhängigkeit und Polen erhob

sich gegen die zaristische Oberherrschaft. Gewaltsame Ausschreitungen fanden in

diesem Kontext auch in zahlreichen deutschen Städten wie in Braunschweig, Hannover,

694 Heinrich Heine, Englische Fragmente, in: ders., Gesamtausgabe, 207-273; hier: 211.

695 Ferdinand Freiligrath, Schwarz-Rot-Gold, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur, Nr.

13 vom 01.04. 1848, 594.696

Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 78.697

Vgl. zur literarischen Haltung Freiligraths 1870/71: Pape, Germania, 117-122.698

Vgl. zu der These vom „Eindringen des französischen Liberalismus 1830-1840“ Treitschkes vierten

Band seiner Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert (1889), wo er im Vorwort bemerkt: „Um

die Geschichte der dreißiger Jahre hat sich ein vierfacher Sagenkreis gelagert. Die französisch-polnischen

und die nahe verwandten partikularistisch-liberalen Märchen geraten zwar allmählich in Vergessenheit;

die englisch-koburgische Legende aber und die Legende des Literatentums behalten einen Teil ihrer alten

Macht. Leicht ist es nicht, durch diese Fabelwelt zu einer unbefangenen, schlicht deutschen Auffassung

der Ereignisse durchzudringen.“ (Treitschke, Geschichte, VII).699

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 366 f.700

Vgl. Mommsen, Freiheit, 15.

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Leipzig, Dresden und Hanau statt.701

In dem Kampf um die Freiheit als Menschenrecht

und Verfassungsgut profilierten sich erneut die Liberalen,702

die die Forderung „ohne

Vaterland keine Freiheit“ für eine kurze Zeitspanne durch den Satz „ohne Freiheit kein

Vaterland“ ersetzten, um im Sinne Arndts für „ein Volk, ein Vaterland, eine Freiheit“

einzutreten.703

Carl Theodor Welcker trat 1831, nachdem die Unruhen sich bereits wieder gelegt

hatten und die Aussichtslosigkeit der Forderungen zutage getreten war, unter Verweis

auf die süddeutschen Verfassungen für die „Vervollkommnung und organische

Entwicklung des deutschen Bundes zur bestmöglichen Förderung deutscher National-

einheit und staatsbürgerlicher Freiheit“704

ein.705

Ihm zufolge sollte es bei der Erlangung

dieses Doppelziels keine Rupturen geben, sondern vielmehr auf der bereits vorhandenen

konstitutionellen Basis für nationale Einheit in Verbindung mit Freiheit eingetreten

werden. In seinen Schriften spricht sich Welcker gegen eine bloß negative Bestimmung

des Freiheitsbegriffs aus,706

was mit seiner Theorie des Rechtsstaates interferiert, die

von Organismusvorstellungen und Harmoniepostulaten geprägt ist.707

Ihr liegt als

Strukturprinzip die Vertragsidee zugrunde,708

die in einer mit Bürgerrechten ausge-

statteten Verfassung konkrete Gestalt finden soll.709

Der in Bonn und Freiburg tätige

Staatsrechtslehrer Carl Theodor Welcker ließ es sich trotz der vordergründig unter-

schiedlichen Staatsauffassungen nicht nehmen, Justus Möser,710

einen wesentlichen

Ahnherrn des deutschen Konservatismus,711

in einem Artikel des von ihm gemein-

schaftlich mit Carl Wenzeslaus Rodecker von Rotteck veröffentlichten Staats-Lexikons

wegen seines Einsatzes für die „deutsche Freiheit“ zu rühmen;712

„er leuchtet uns [...]

vor“, formuliert der Liberale lobend auf den Konservativen Möser, „als tiefer Kenner

und warmer Freund ächt deutscher Freiheit.“713

Welcker war sich seiner Nähe zu

konservativen Positionen also durchaus bewusst, worin jedoch keine Ausnahme zu

701 Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 52-54.

702 Vgl. Koch, Liberalismus, 42.

703 Zit. nach: Wallenwein (Hg.), Freiheit, 6.

704 So der Titel seiner 1831 in Karlsruhe erschienenen verfassungstheoretischen Schrift (Welcker,

Vervollkommnung).705

Vgl. zu Welcker: Backes, Liberalismus, 81-84.706

Vgl. Schöttle, Freiheit, 47 f.707

Vgl. ebd., 52-57.708

Vgl. zu Welckers politischer Theorie: Schöttle, Theorien, 115-181; hier: 130-136; zu dessen

Freiheitsbegriff: Schöttle, Freiheit, 46-52.709

Vgl. Schöttle, Theorien, 137-147.710

Vgl. zu Mösers altständischem Freiheitsbegriff: Möser, Werke, Bd. 10, 67-69; zu Möser: Bäte, Justus

Möser.711

Mannheim, Konservatismus, 158, rechnet Möser dem „Urkonservatismus“ zu.712

Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 95.713

Welcker, Justus Möser, 281.

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sehen ist, denn auch andere Akteure vertraten zu Beginn der 30er-Jahre ständisch-

organizistische Freiheitsvorstellungen. Franz von Baader etwa war „die Freiheit des

sozialen Lebens [...] sowie die des organischen Lebens überhaupt nur durch Gliederung

(subordinierende und koordinierende Korporation)“714

vorstellbar.

Mit Ludwig Börne und Heinrich Heine, um auf zwei vehemente Kritiker solcher

assimilierenden Positionen zu sprechen zu kommen, nahmen aufgrund der veränderten

Situation die exponiertesten Vertreter des so genannten Jungen Deutschland,715

das

vehement für Rede- und Gedankenfreiheit eintrat, in Paris Exil.716

Dorthin, wo „der

europäische Zeitgeist nach der Julirevolution sein Quartier aufgeschlagen“717

hatte,

mussten die beiden radikalsten literarischen Kritiker einer organischen, auf eine

evolutionäre Verwirklichung der Freiheit ausgerichteten Position fliehen.718

Die

Langsamkeit der Entwicklung in Deutschland trug maßgeblich zur Radikalisierung

nicht nur der Exilanten bei, sie schlug sich vor allem auch in vermehrter Öffentlich-

keitspräsenz der Verfechter liberaler Forderungen nieder719

Das Hambacher Fest Ende Mai 1832 bildete eine vorläufige Klimax in den

angesprochenen Freiheitsbestrebungen. Die Studentenschaft, die sich im Gleichschritt

mit den Exilanten beständig radikalisierte, gab – ein Ausblick sei erlaubt – ihren

angestauten Unmut dann im Frankfurter Wachensturm, der ein Jahr später stattfand,

handgreiflich zu erkennen.720

Freiheit und Einheit wurden von den Teilnehmern beider

Ereignisse als miteinander verwobene Ziele verstanden, zu deren Verwirklichung

allerdings unterschiedliche Strategien vorgeschlagen wurden.721

Unter der Voraus-

setzung bestimmter Bedingungen räumte man jedoch dem einen oder anderen Ziel,

meist der Einheit, vor allem für den hypothetischen Fall einer Nationalstaatsgründung,

eine Vorrangstellung ein.722

Rund um das Hambacher Schloss in der Pfalz kam es zu

einer volksfestartigen Zusammenkunft, die auch deshalb Festcharakter hatte, da

714 Franz von Baader, Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den

Vermögen besitzenden Classen der Societät, in Betreff ihres Auskommens sowohl in materieller als

intellectueller Hinsicht aus dem Standpuncte des Rechts betrachtet, München 1835 zit. nach: Brandt

(Hg.), Restauration, 302-309; hier: 306.715

Vgl. zur Charakteristik des Jungen Deutschland: Koopmann, Deutschland; Windfuhr, Opposition, 331-

336. Zum Freiheitsbegriff des Jungen Deutschland: Wülfing, Schlagworte, 237-272; 310-316.716

Vgl. Eke, Einführung, 64-74; Labuhn, Literatur, 235-268; Rippmann, Börne und Heine. Vgl. zu

Heines Pariser Exil: Aufenanger, Heinrich Heine; Bech, Exil.717

Kalkschmidt, Freiheit, 26. Der Autor der 1928 erschienenen Studie Deutsche Freiheit und deutscher

Witz betont im Vorwort, er wolle dem Leser anhand eines Einblicks in die zeitgenössische Satire die

geistige Spiegelung der Kämpfe um die deutsche Freiheit im Vormärz vermitteln.718

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 373 f.719

Vgl. Sell, Tragödie, 103.720

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 369.721

Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 83.722

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 308 f.

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politische Veranstaltungen von vornherein verboten waren. Das dort anzutreffende

Erwartungsspektrum spannte sich von der Versöhnung zwischen Fürst und Volk auf der

einen Seite bis zu der Etablierung eines Freistaates auf der anderen, wobei das

Schwergewicht auf der republikanischen Option lag. Gemeinsame Überzeugungen

fanden sich in der antirestaurativen Grundhaltung und der Forderung nach einer freiheit-

lichen, gleichen und brüderlichen Wiedergeburt der Nation.723

Ein Gedicht, das

anlässlich des Festes verfasst wurde, gibt die wesentlichen drei Themen – Nation,

Freiheit und Deutschtum, welche gleichfalls Hauptbestandteile des Deutungsmusters

„deutsche Freiheit“ ausmachen – der Zusammenkunft an:

„Es leuchten drei freundliche Sterne / Weit aus dem Hambacher Schloß / Sie

leuchten hin über ganz Deutschland / Erweckend, erwärmend und groß // Die

Sterne sind Vaterland, Freiheit, / Echt deutsche hochherrliche Ehr’ / Die tragen

noch Männer im Herzen, / Sonst leuchten die Sterne nicht mehr.“724

In seiner Rede auf der Veranstaltung vom 27. Mai 1832, die von circa 20 bis 30.000

Anhängern freiheitlicher Ideen vorrangig aus dem südlichen Deutschland besucht war,

ging der fränkische Jurist Johann Georg August Wirth725

in einer Vermengung liberaler

und nationaler Argumente auf die Situation der Freiheit in Deutschland ein.726

In

scharfer Kritik an der Aristokratie beklagte Wirth, der später als Mitinitiator des Festes

verhaftet wurde, in der Ansprache, dass das „große, reiche, mächtige Deutschland“ aus

der Liste der europäischen Staaten gestrichen sei, obgleich es von Natur aus dazu

berufen sei, „um in Europa der Wächter des Lichts, der Freiheit und der völker-

rechtlichen Ordnung zu sein“.727

Vielmehr werde „die deutsche Kraft geradezu

umgewendet zur Unterdrückung der Freiheit aller Völker und zur Gründung eines

ewigen Reiches der Finsternis, der Sklaverei und der rohen Gewalt“.728

Gleichzeitig

stellt Freiheit für Wirth kein Absolutum dar, da die Freiheit keinesfalls auf Kosten der

Integrität des Staatsgebietes erkauft werden dürfe, einzig der autochthone Kampf ohne

fremde Intervention könne eine Lösung darstellen, was ihn zu der Forderung führt, dass

innere Streitigkeiten zugunsten der gemeinsamen Sache überwunden werden müs-

sten.729

723 Vgl. Quesel, Emanzipation, 180.

724 Schlink, Die Hambacher Sterne, zit. nach: Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 60.

725 Vgl. zu Wirth als „Hambacher“: Hüls, Johann Georg August Wirth, 269-312.

726 Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 82 f.

727 Hambacher Fest, 27. Mai 1832. Rede Wirth, zit. nach: Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, 117-122;

hier: 117 f.728

Ebd., 118.729

Vgl. ebd.,120.

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Ein weiterer Teilnehmer am Hambacher Fest, Philipp Jakob Siebenpfeiffer, bedient

sich ähnlicher Argumentationsmuster, die ebenfalls durch die Synthese von Freiheits-

und Einigungsbestrebungen gekennzeichnet sind. Der Verfasser des Versammlungs-

aufrufes verwendet, wie viele andere Verfechter der Freiheitsidee vor und nach ihm, die

Lichtmetaphorik, um den „Gottesfunke[n] der Liebe zum Vaterland, zur Freiheit“

abzusetzen gegenüber den Dienern der Gewalt, die ihm zufolge „im Finstern

schleichen“.730

Sein emphatisches Eintreten für „Vaterland – Freiheit – ja! ein freies

deutsches Vaterland“ lässt vor seinem geistigen Auge gar „leuchtende Strahlen der

Hoffnung“, „die Strahlen der Morgenröte deutscher Freiheit“ aufblitzen,731

die den

Juristen Siebenpfeiffer überzeugt von der schöpferischen und kulturbildenden Kraft, die

die Freiheit auf die Deutschen habe, erklären lassen, dass die „Hände, welche

Opernhäuser und Zwingburgen errichteten, [...] auch Hallen erbauen“ werden, „worin

die Repräsentanten deutscher Nation über das Wohl des gemeinsamen Vaterlandes

beratschlagen; mitten aus den Schwärmen der Elenden, die um wankende Throne sich

lagern, oder sonst im Schlamm abscheidender Selbstsucht sich wälzen, richten sich

Tausende männlich empor, glühend für deutsche Freiheit und Volkstum“.732

In

Frankfurt, wo die finstere Gewalt aristokratischer Häuptlinge lauere – damit ist,

wiederum unter Einsatz der Hell-Dunkel-Kontrastierung, der Bundestag gemeint –,

flimmere schon der Funke der Freiheit, der im deutschen Volkssaal sich zur hell

leuchtenden Flamme entzünden werde.733

In einem Gedicht desselben Jahres, das er Der

Deutsche Mai betitelt, spielt Siebenpfeiffer auf das Hambacher Fest und die in es

gesetzten Erwartungen an:

„Hinauf, Patrioten, zum Schloß, zum Schloß! / Hoch flattern die deutschen Farben.

Es keimet die Saat, und die Hoffnung ist groß, / Schon binden im Geiste wir

Garben: / Es reifet die Ähre mit goldnem Rand, / Und die goldne Ernt’ ist das –

Vaterland. [...] Wir wollen uns gründen ein Vaterhaus / Und wollen der Freiheit es

weihen: / Denn vor der Tyrannen Angesicht / Beugt länger der freie Deutsche sich

nicht.“734

Im Gefolge des Hambacher Festes, auf dem, wie es in Siebenpfeiffers Gedicht anklingt,

die Idee einer „deutschen Freiheit“ kultiviert wurde, kam es in der südwestdeutschen

Region mit Schwerpunkten in Baden und der Pfalz zu weiteren Manifestationen

liberaler und republikanischer Proteste, bei denen es unter anderem zu kleineren

730 Philipp Jakob Siebenpfeiffer, Rede auf dem Hambacher Fest, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1,

180-191; hier: 180 f.731

Ebd.732

Ebd., 186.733

Ebd., 187.734

Philipp Jakob Siebenpfeiffer, Der Deutsche Mai, zit. nach: Volkmann (Berab.), Einheit, 109 f.

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Ausschreitungen und oftmalig zu der Errichtung von Freiheitsbäumen kam.735

Wenige

Wochen nach dem Hambacher Fest erklärte der 1833 zum Bürgermeister von Freiburg

gewählte, aber nicht inaugurierte Rotteck,736

dem die Reise in die Pfalz infolge seiner

Anstellung als badischer Beamte verboten blieb, auf einer Veranstaltung in Badenweiler

seine Position im Wechselspiel von Freiheit und Einheit: „Ich will die Einheit nicht

anders als mit Freiheit, und will lieber Freiheit ohne Einheit als Einheit ohne

Freiheit.“737

Konkret trat er für einen föderativen Staatenbund ein, der ihm zur

Bewahrung der Freiheit geeigneter erschien,738

da er generell von der vernunft-

rechtlichen Grundlegung des Freiheitsbegriffs überzeugt war und somit eine völlige

Ablösung von dem ständischen Sozialstatus des Menschen hin auf die bloße Eigen-

schaft des Menschseins qua Geburt vollzog.739

Aufgabe des Staates ist es in diesem

vernunftrechtlichen Zusammenhang, dem Individuum die ursprüngliche Freiheit zu

garantieren,740

was dem von Rotteck verfochtenen Verständnis im Gegensatz zu einer

ständisch gebundenen Freiheitsidee eine sozialrevolutionäre Note verleiht.741

Paul Achatius Pfizer macht in seinen Gedanken über das Ziel und die Aufgaben des

deutschen Liberalismus, die 1832, ein Jahr nach seiner Entlassung aus dem

württembergischen Justizdienst, in Tübingen erschienen,742

auf ein von ihm wahrge-

nommenes Kulturgefälle in Hinblick auf die Freiheit aufmerksam. Noch 1831 hatte er

die lethargische Situation im nationalen Einigungsprozess in einem Gedicht bedauert:

„O Deutscher ohne Vaterland! / O Vogel ohne Nest! / O Träumer an der Klippe Rand, /

Wie ist dein Schlaf so fest!“743

Bezeichnend für das Hin- und Her-gerissen-Sein der

Zeitgenossen in der Frage von Einheit und Freiheit wendet sich Pfizer je nach

Stimmungslage schwerpunktmäßig dem einen oder anderen Ziel zu, präferiert jedoch

letztendlich die nationale Lösung. Die kryptoreligiöse Sprache, die das spätere Mitglied

der Frankfurter Nationalversammlung für die Propagierung seiner Ideen verwendet, ist

bezeichnend für den Eifer mit der er seine Überzeugung verficht.744

Inzwischen sei die

735 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 371.

736 Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 100 f. Zu Rottecks Freiheitsverständnis: Fach,

Regierung, 7 f.; zu seiner politischen Theorie: Beyme, Theorie: 179-189.737

Zit. nach: Meyer, Freiheit und Macht, 149.738

Vgl. für Rottecks Staatsvorstellungen: Backes, Liberalismus, 80 f.739

Vgl. Schöttle, Theorien, 20-28.740

Vgl. zu Rottecks Vorstellungen eines „hausväterlichen Liberalismus“: Brandt, Karl von Rotteck, 369-

372.741

Vgl. Schlumbohm, Freiheit, 45 f.742

Vgl. Boberach/Koops (Hg.), Erinnerungsstätte, 37.743

Paul A. Pfizer, Des Deutschen Vaterland, zit. nach: Volkmann (Bearb.), Einheit, 105.744

Z.B. weist der Pfarrerssohn Friedrich Naumann im Jahr 1908 auf einen über das sprachliche hinaus-

gehenden Zusammenhang von Freiheit und Religion hin: „[D]er Untergrund aller Freiheiten aber ist mit

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Freiheit – stellt er in Rekurs auf nationale Stereotype fest – ausgehend vom erneut in

einen revolutionären Zustand versetzten Frankreich, „dem Lande der Bewegung und des

äußerlichen Lebens“, wieder in Deutschland, der „Heimat des Gemüts und des

Gedankens“745

, angelangt: „Der Geist der Freiheit, der, nach scheinbarem Schlummer

wieder erwacht, von Frankreich aus die europäische Welt durchdringt, hat daher in

Deutschland allenthalben von Jüngern und Verehrern eine große Zahl gefunden. Nicht

weniger entschieden ist dagegen auch der Widerstand, den dieser Geist der neuen Zeit

in Deutschland zu bekämpfen hat“.746

Der Kampf für die Freiheit in Deutschland müsse

mit eigenen Mitteln geführt werden, da eine Freiheit, die sich nur unter dem Schutz

fremder Bajonette und Kanonen erhalte, Sklaverei sei.

Der im württembergischen Liberalismus beheimatete Pfizer möchte in Nähe zu

pietistischer Diktion, dass „die Wiedergeburt Deutschlands zur Freiheit und zur

Einigkeit“747

vom südwestlichen Deutschland ausgeht. Hier befand sich mit einfluss-

reichen Vertretern wie Carl von Rotteck und Carl Theodor Welcker748

eine Hochburg

des Liberalismus. In der Lösung der deutschen Frage sieht Pfizer – im Gegensatz zu den

beiden vorgenannten – die wesentliche Vorbedingung für die Verwirklichung individu-

eller Freiheit und bemerkt zu der Umsetzungsrangfolge von Freiheit und national-

staatlicher Einheit:

„[E]s kann nicht Sünde gegen den heiligen Geist der Freiheit sein, wenn

Deutschland, solange ihm die Wahl bleibt, wartet und vertagt, bis es zu seiner

Befreiung keiner auswärtigen Hilfe mehr bedarf, oder doch bis ein Bündnis mit

dem Ausland nicht mehr eine Unterwerfung ist. Es muß wenigstens noch eine

andere Art, der Sache der Freiheit zu huldigen, geben, als mit der fremden Hilfe

auch den fremden Oberherrn und Unterdrücker bei uns einzuführen, oder beim

ersten Auflodern der Kriegsfackel die Waffen Deutschlands begierig gegen

Österreich und Preußen zu kehren. [...] Freiheit im Innern und Unabhängigkeit

nach außen, oder persönliche Freiheit und Nationalität, sind die beiden Pole, nach

denen alles Leben des Jahrhunderts strömt“.749

Gegen den individualistischen Freiheitsdrang Einzelner weist Paul Achatius Pfizer auf

die kollektive Durchschlagskraft einer Nationenbildung hin:

„Mit allem Freiheitsdrang der einzelnen“, befindet er, „werden die Deutschen ewig

eine armselige Rolle spielen und ein mitleidiges Belächeln ihrer schwachen

Gutmütigkeit wird im Ausland der ganze Lohn für ihren Enthusiasmus sein,

Religion sehr verwandt, denn er ist ein Seelenzustand, der voll von Glauben und Hingabe ist.“ (Naumann,

Ideal, 39).745

Paul Achatius Pfizer, Gedanken über das Ziel und die Aufgabe des deutschen Liberalismus (Tübingen

1832), zit. nach: Gall/Koch (Hgg.), Liberalismus, Bd. 3, 67-94; hier: 73.746

Ebd., 68 f. 747

Ebd., 76.748

Vgl. Sell, Tragödie, 120.749

Paul Achatius Pfizer, Gedanken über das Ziel und die Aufgabe des deutschen Liberalismus (Tübingen

1832), zit. nach: Gall/Koch (Hgg.), Liberalismus, Bd. 3, 67-94; hier: 74.

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solange sie nicht als Nation die Freiheit wollen, oder gar zu glauben scheinen, daß

Abhängigkeit vom Ausland zum Begriff der deutschen Freiheit gehöre. Es ist

freilich eine Torheit, zu verlangen, daß die Deutschen die innere Freiheit ganz

vergessen sollen, bis sie ihre äußere Unabhängigkeit gesichert haben; es ist aber

ebenso verkehrt oder noch verkehrter, die letztere der ersteren aufopfern zu wollen.

[...] Auch Deutschland hat, vermöge der ihm eigenen hohen Empfänglichkeit für

alles, was die Brust der Menschheit bewegt, jenes Doppelstreben nach innerer und

nach äußerer Freiheit nicht abwehren können. Nur ist es dem geteilten, zer-

splitterten und in sich zerfallenen Volke nicht geglückt, einen Führer zu finden, der

diese beiden Tendenzen gleichmäßig befriedigt hätte.“750

Da auswärtigen Mächten wie Österreich, Preußen und Frankreich nicht daran gelegen

sei, den deutschen Freiheitsfreunden zu helfen, wäre es vonnöten, dass die Freiheits-

freunde in Deutschland es versuchten, endlich auch einmal auf eigenen Füßen zu

stehen,751

gerade weil der Idee der Freiheit eine Zaubergewalt innewohne, für die es zu

kämpfen lohne.752

Dieses Vorhaben scheiterte in der Wahrnehmung der von den

politischen Entwicklungen Enttäuschten nicht zuletzt auch daran, dass, wie Heinrich

Heine kontrastierend zu der französischen Freiheitstradition bemerkt,753

„[n]ur in der

Tiefe des Gemüthes / Ein deutscher Mann die Freyheit trägt.“754

Pfizer schwebt ein

Kollektivfreiheitsideal vor, so dass er sich explizit gegen den von ihm wahrge-

nommenen egoistischen Geist der Zeit auflehnt, der dazu neige, „die persönliche

Freiheit und Unabhängigkeit der Freiheit und Unabhängigkeit der Gesamtheit vorzu-

ziehen“.755

Pfizer erblickt in der deutschen Nation die organisch gewachsene

Verkörperung einer politischen Individualität, deren Einigung durch die evolutionäre

Umsetzung eines nationalpolitischen Programms unter preußischer Hegemonie

herbeigeführt werden soll.756

Zu einer handgreiflichen Radikalisierung der Freiheitsbestrebungen kam es durch

den Sturm auf die Frankfurter Wache. Freiheitliche Aktivisten verstanden den

Deutschen Bund als reaktionär, und die Frankfurter Wache galt als stellvertretender

Symbolbau für den Bund, weshalb sie im April 1833 von einer kleinen Gruppe

burschenschaftlich organisierter Verschwörer in der Hoffnung erstürmt wurde, durch

750 Ebd., 74.

751 Vgl. ebd., 75.

752 Vgl. ebd., 78.

753 Vgl. zu Heines Freiheitsbegriff: Koßek, Begriff, bes. 13-30; 71-78; 119-126; Wülfing, Schlagworte,

243-245.754

Heinrich Heine, Bey des Nachtwächters Ankunft in Paris, in: ders., Gedichte, 112 f.; hier: 112. Vgl. zu

Heines Vorstellung einer „deutschen Freiheit“ auch: Koßek, Begriff, 124 f.755

Paul Achatius Pfizer, Gedanken über das Ziel und die Aufgabe des deutschen Liberalismus (Tübingen

1832), zit. nach: Gall/Koch (Hgg.), Liberalismus, Bd. 3, 67-94; hier: 90.756

Vgl. Schöttle, Theorien, 208-221. Im Zollverein sah Pfizer das einigende nationale Band (vgl. hierzu:

aaO., 219-222).

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diese Tat ein Zeichen für die Freiheit zu setzten.757

Der Versuch, die einsitzenden

Gefangenen zu befreien, die Bundesgesandten zu verhaften, eine provisorische

Regierung zu installieren und dadurch eine spontane Freiheitsbewegung zu initiieren,

schlug trotz der kurzzeitigen Einnahme der Haupt- und Konstablerwache aufgrund

rechtzeitiger Abwehrmaßnahmen und mangelnder Resonanz innerhalb der Frankfurter

Bevölkerung fehl.758

Es kam zu drastischen Bestrafungen für die Beteiligten. Die

Gegenmaßnahmen seitens des Bundes wurden verschärft,759

was das kritische Auftreten

gegenüber der Staatsmacht insbesondere auch angesichts der noch immer bestehenden

Karlsbader Beschlüsse erschwerte.

Ein verzögertes Aufbegehren freiheitlich-revolutionär gesinnter Gruppierungen im

Nachgang der Julirevolution fand ein Jahr später, wiederum in Hessen, statt, als der

Schriftsteller Georg Büchner, Mitglied der im selben Jahr gegründeten Gesellschaft für

Menschenrechte, befand, die Fürstenherrschaft sei endgültig überkommen.760

„Weil das

deutsche Reich morsch und faul war, und die Deutschen von Gott und von der Freiheit

abgefallen waren,“ urteilt Büchner, indem er seine Hoffnung auf Veränderung zum

Ausdruck bringt, „hat Gott das Reich zu Trümmern gehen lassen, um es zu einem

Freistaat zu verjüngen.“761

Zur Durchsetzung seiner Ziele kooperierte der studierte

Mediziner und antibürgerlich ausgerichtete Büchner mit liberalen Gruppierungen und

schrieb vor allem leidenschaftliche Flugschriften762

gegen die bedrückenden Zeitum-

stände.763

In dem von ihm mitverfassten Hessischen Landboten kritisiert er die

Übermacht des autoritären Staates,764

wozu er die Losung „Friede den Hütten! Krieg

den Palästen!“765

aus der Französischen Revolution aufgriff und sich damit vorrangig an

ärmere, ländliche Bevölkerungsschichten wandte.766

Dem Staat schreibt Büchner die

Absicht zu, mit militanten Mitteln verhindern zu wollen, dass die Menschen auch nur zu

denken wagten, sie könnten frei sein.767

Das ganze deutsche Volk, dessen Herz „von der

Freiheit und Gleichheit seiner Voreltern und von der Furcht des Herrn abgefallen

757 Vgl. Quesel, Emanzipation, 186.

758 Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 63 f.; Nipperdey, Deutsche Geschichte, 373.

759 Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 83.

760 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 373.

761 Georg Büchner, Der Fürsten Maß ist voll, zit. nach: Arnold (Hg.), Deutschland, 245-248; hier: 245.

762 Vgl. zur politischen Sprache Büchners: Burkhardt, Sprache.

763 Vgl. Greiner, Nachwort, 56 f.

764 Vgl. hierzu: Hauschild, Georg Büchner, bes. 313-393.

765 Vgl. zu diesem Schlachtruf: Büttner, Friede.

766 Vgl. zur Einreihung des Hessischen Landboten in die Tradition der Revolutionsaufrufe: Grab,

Hessischer Landbote.767

Vgl. Büchner, Landbote, 36; 39 f.

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war“,768

müsse sich die Freiheit auf kämpferischem Weg wiedererobern, um sich durch

„einen Sommer [Arbeit] im Weinberge der Freiheit“ loszusagen von den „Dornäckern

der Knechtschaft“; erst dann könne „der Freiheit Haus“ errichtet werden.769

Steckbrief-

lich wurde der nach Straßburg geflüchtete Dichter sogleich wegen „indizierter Teil-

nahme an staatsverräterischen Handlungen“770

gesucht.

Die prominente Stellung der Professorenschaft in der Freiheitsfrage zeigte sich

einmal mehr im Jahr 1837, als die späterhin so genannten Göttinger Sieben am 18.

November ein Protestschreiben an Ernst August von Hannover richteten.771

In der

Aufhebung der Verfassung seitens der Regierung sahen sie einen Machtmissbrauch, der

nicht nur lediglich eine Verletzung der Freiheit der Universität darstelle, sondern eine

Verletzung der Freiheit von größerer Tragweite sei.772

Als Konsequenz ihrer Ein-

lassungen kam es zum hannoverschen Verfassungskonflikt.773

Die Gelehrten beriefen

sich in ihrer „Unterthänigste[n] Vorstellung“,774

die auf die Vergehen des Monarchen an

der Konstitution einging, auf den Eid, den sie zu Amtsantritt auf die Verfassung

abgelegt hatten und der sie verpflichtete, notfalls die Verfassung auch gegen den König

in Anspruch zu nehmen.775

Das in liberalen Kreisen mit Sympathie aufgenommene

Aufbegehren der sieben Universitätsprofessoren, die aus Legalitätsprinzip an dem 1833

verabschiedeten Staatsgrundgesetz festhielten, zeugt von einem neuen Selbstver-

ständnis.776

Jedoch wurde das „Zeugnis der Zivilcourage“777

mit Amtsenthebung beant-

wortet. Eine in dieser Angelegenheit alerte deutsche Öffentlichkeit erklärte die beiden

Grimms,778

Dahlmann, Gervinius, Ewald, Albrecht und Weber trotz des Scheiterns ihres

Anliegens zu Helden und Märtyrern der Freiheitsbewegung.779

Im Verlauf der Ausein-

andersetzung entstanden liberale Programm- und Verteidigungsschriften mit über-

regionaler Ausstrahlungskraft, und es kam zu der Bildung von Vereinen, die dem

768 Ebd., 47.

769 Ebd., 50 f.

770 Steckbrief auf Georg Büchner, zit. nach: Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 70.

771 Vgl. Die Protestation der sieben Professoren, in: Musulin (Hg.), Proklamationen, 98-100. Vgl.

Gerstner, Brüder Grimm, 223-241.772

Vgl. De Ruggiero, Geschichte, 231 f.773

Vgl. hierzu: Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 139-142.774

Die Protestation der sieben Professoren, zit. nach: Musulin (Hg.), Proklamationen, 98-100; hier: 98.775

Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 67.776

Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 84.777

Vgl. zu dieser Einschätzung: Krockow, Göttinger Sieben.778

Vgl. zu der politischen Betätigung der Grimms: Harder/Kaufmann (Hgg.), Brüder Grimm, Bd. 3, Teil

1.779

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 376.

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freiheitlichen Gedankengut zu neuem Auftrieb verhalfen.780

Vier der Göttinger Sieben

fanden sich später in der Paulskirchenversammlung wieder.781

Ein – wie letztendlich auch die Göttinger Sieben – ebenfalls in Bahnen der

staatszentristischen Argumentation verbleibender Vertreter des Liberalismus ist Karl

Salomo Zacharia. Im ersten Band seines 1839 erschienenen Hauptwerks Vierzig Bücher

vom Staat verweist er auf die paternalistischen Aufgaben des Staates, indem er ihn als

wichtigsten Erfüllungsgehilfen für die Umsetzung einer kollektiv gesteuerten

Personalität betrachtet. Staaten sind für den Rechtsprofessor „Erziehungsanstalten,

Anstalten für die Kultur und Zivilisation des menschlichen Geschlechts.“782

Mit seiner

Meinung gingen zahlreiche Liberale konform, da sie durch die autoritäre Verwirk-

lichung einer weit gespannten Kognitions- und Kulturgemeinschaft die Grundlagen der

„deutschen Freiheit“ legen wollten.

Das Aufbegehren gegen einen freiheitseinengenden Staat war mit den wenigen

geschilderten Ausnahmen, die oftmals die Grundüberzeugungen obrigkeitszentrierter

Modelle teilten, schon in seinen Wurzeln eher zögerlich angelegt, weil Freiheit vor

allem aus staatlich-nationaler Sicht gedacht und erst in zweiter Linie als Aufgabe des

Individuums begriffen wurde. Spätestens seit dem Hambacher Fest gewann das

Deutungsmuster einer „deutschen Freiheit“ die Oberhand, da es geschickt beide

zentralen Diskursgegenstände als miteinander verwobene Zielvorstellungen verband,

aufgrund seiner prädikativen Qualifizierung durch das Adjektiv „deutsch“ eine zusätz-

liche Zentrierung auf die nationale Komponente erlaubte, die sich im Lauf der Zeit

immer stärker Bahn brach und eine eindeutige semantische Engführung des Freiheits-

begriffs auf das Konstrukt einer progressiv mittels staatsbildnerischer Maßnahmen zu

konstituierenden Nation zur Folge hatte.

4.1.7 Der späte Vormärz bis zur Märzrevolution – „Einigkeit und Recht und

Freiheit / Für das deutsche Vaterland!“

Erneute Hoffnung schöpfte die Freiheitsbewegung Anfang der 40er-Jahre aus dem

Regierungsantritt Friedrich Wilhelm IV., der 1840 den Thron Preußens bestieg.783

780 Vgl. Sell, Tragödie, 130 f.

781 Vgl. Einigkeit und Recht und Freiheit, 101.

782 Karl Salomo Zacharia, Von dem Zwecke des Staates, zit. nach: Gall/Koch (Hgg.), Liberalismus, Bd. 1,

317-333; hier: 323.783

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 396; Winkler, Weg, Bd. 1, 86.

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David Hansemann formulierte in einer Denkschrift an den neuen König den Rat, womit

er den Regenten für konstitutionelle Reformen und als Vorreiter der nationalen

Einigungsbewegung gewinnen wollte, Freiheit wirke sich positiv auf das Nationalgefühl

aus.784

Der von den Theorien Adam Müllers geprägte Monarch aber verfolgte das

Leitbild eines christlichen Staates, der einen Mittelweg zwischen Liberalismus und

Absolutismus beschreiten sollte.785

Mit zunehmender Zeit verschärfte jedoch der neue

Throninhaber, der den Ideen der Romantik nachhing, entgegen der von vielen seiner

Untertanen gehegten Erwartungen, die reaktionäre Ausrichtung seines Amtsvorgängers.

Zum Kölner Dombaufest am 4. September 1842 eignete Robert Prutz Friedrich

Wilhelm ein Gedicht zu, das ihn dazu auffordert, den Dombau als symbolischen Auftakt

zur Errichtung der Nation in Freiheit zu betrachten. Prutz richtete sich in fragend-

forderndem Ton direkt an den König, auf den er bildhaft die Konstruktionsleistung einer

Nationaleinheit – dem Deutungsmuster einer „deutschen Freiheit“ folgend – auf die

Freiheit übertrug:

„O lockt’s dich nicht, den Tempel auch zu gründen, / Bauherr der Freiheit auch zu

sein? [...] / Gib frei den Weg! Denn Freiheit ist das Beste, / Du baust mit ihr

zugleich den eignen Thron: / So sprich das Wort zum zweiten Dombaufeste, /

Sprich aus das Wort: Konstitution! // Das ist der Bau, zu welchem du berufen, / auf

diesen Säulen gründe sich dein Ruhm! / Hier knie du mit uns auf denselben Stufen!

/ Denn auch die Freiheit ist ein Heiligtum. / Paläste fallen, Dome können brechen, /

Die Freiheit nur währt ewig, ewig fort, / Und ewig dann zu deinem Ruhm wird

sprechen, / Das heut dich grüßt, das freie Wort!“786

In einer selbst konzipierten Thronrede bei der Eröffnung des ersten Vereinigten

Landtages sprach Friedrich Wilhelm zwar von diesem Organ als „kostbare[m] Kleinod

der Freiheit“,787

die Auflösung der Versammlung am 26. Juni 1847 und die nach-

revolutionäre Revision der preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 sind hingegen

deutliche Indikatoren für den Wandel der liberalen Zeitverhältnisse in restaurative

Tendenzen.788

Doch bis es dahin kommen sollte, riefen viele, wie auch der evangelische Theologe

und Schriftsteller Georg Herwegh, zum Kampf für die „deutsche Freiheit“ auf. Herwegh

weist in einem Gedicht auf die damit verbundenen Mühen und Gefahren hin: „Habt die

grünen Fragezeichen / Deutscher Freiheit ihr gewahrt? / Nein, sie soll nicht untergehen!

784 David Hansemann, Denkschrift für Friedrich Wilhelm IV., 1840, zit. nach: Fenske (Hg.), Vormärz, 24-

34; hier: 25.785

Vgl. Schildt, Konservatismus, 57 f.786

Robert E. Prutz, Dem Könige von Preußen, zit. nach: Volkmann (Bearb.), Einheit, 174.787

Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, Thronrede zur Eröffnung des Ersten Vereinigten Landtags, zit.

nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1, 223-235; hier: 225.788

Vgl. Eley, Liberalismus, 269. Vgl. für den Text: Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat

(1850), in: Blanke (Hg.), Verfassungen, 209-223.

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/ Doch ihr fröhlich Auferstehen / kostet eine Höllenfahrt.“789

Herwegh forderte von

seinen Landsleuten immense Kraftanstrengungen, eine Sichtweise, die von anderen

Kulturschaffenden geteilt wurde, die ihm bei der Einwerbung von Mitstreitern zur Seite

sprangen. In dem Jahr, in dem Herwegh das zitierte Gedicht veröffentlichte, schöpfte

der erst kürzlich zuvor seines Amtes enthobene Professor für deutsche Sprache und

Literatur, Heinrich Hoffmann von Fallersleben,790

das Lied der Deutschen.791

Hoffmann

betätigte sich im Vormärz wie Herwegh als politischer Literat.792

Seine Dichtung, die

1841 entstand, propagiert, indem sie „Einigkeit und Recht und Freiheit / Für das

deutsche Vaterland!“ einfordert,793

eine nationalstaatlich fundierte „deutsche Freiheit“

auf der Basis einer Verfassung.794

Wie die zahlreichen Gedichtverse und Meinungs-

bekundungen empirisch nachweisen, nahm das Deutungsmuster „deutsche Freiheit“,

das mit dem Begriffsgeflecht nationalstaatlicher Einheit und Freiheit korrelierte, eine

prominente Stellung im Sprachgebrauch und insgesamt im gesellschaftspolitischen

Diskurs des Vormärz ein, was sich ebenso prägend auf konkrete Handlungsangebote –

etwa den Wunsch nach Nationalstaatsgründung oder Konstitutionalisierung – auswirkte.

Bereits vor 1848 mischten sich auch einige kritische Stimmen in die Diskussion um

die in den Augen ungeduldiger Liberaler festgefahrene „deutsche Freiheit“. Arnold

Ruge, der als Burschenschaftsangehöriger eine sechsjährige Haftstrafe verbüßen musste,

später als Mitglied der Fraktion Donnersberg in der Nationalversammlung tätig war und

nach dem Scheitern der liberalen Konstitutionalisierungsversuche sowie der Beteiligung

am Dresdner Aufstand im Jahr 1849 nach England übersiedelte,795

nahm im Jahr 1843

eine Selbstkritik des Liberalismus vor.796

Darin sucht er die Freiheitsidee seiner Zeit als

Abwehrerscheinung der Ideen der Französischen Revolution darzustellen, und findet im

deutschen Nationalcharakter einen Erklärungsansatz für den problembeladenen Umgang

seiner Landsleute, deren politische Bewusstseinslage er kritisch reflektiert, mit der Frei-

heit:

„Aber es wäre sehr oberflächlich, wenn man die ganze Schiefheit unseres

politischen Bewußtseins von dem Gespenst des alten deutschen Reichs ableiten

wollte: im Gegenteil, dies Gespenst ist aus unserer schiefen, tiefen und unsäglich

konfusen Deutschheit abzuleiten, aus der Deutschheit, die alles andere haben

789 Georg Herwegh, Aufruf, zit. nach: Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 75.

790 Vgl. zur Biographie: Wintzigerode-Knorr, Hofmann von Fallersleben.

791 Vgl. zu Werk und Wirkung des Liedes: Eke, Einführung, 122-128; Rohse, Lied. Für eine historisch-

semantische Interpretation des Liedes: Berschin, Deutschland, 59-70.792

Vgl. Schuster, Poesie.793

Heinrich Hofmann von Fallersleben, Handschrift des Deutschlandliedes, zit. nach: Boberach/

Hartkopf/Koops u.a. (Hgg.), Freiheit, 41 (Abb. Kat.-Nr. 161). 794

Vgl. zum Leitkonzept Freiheit bei Hofmann: Kämper, Schlagwort, 116-118; hier: 117.795

Vgl. Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 83.796

Vgl. auch das Zitat Ruges oben: Kap. 4.1.2 , 77.

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wollte, als die ‚Franzen’, und die nun mit ihrer gewaltigen Originalität nichts von

allem, als den leeren Schein davon hat, aus dem einfachen Grunde, weil es

jederzeit nur eine Freiheit gibt und die Freiheit unserer Zeit zufällig die Franzosen,

nicht die guten Deutschen erfunden haben. [...] Wir wollen es daher nicht weiter

rügen, sondern nur den Schluß daraus ziehn, daß unsere Freiheit nichts anderes ist

als unser Bewußtsein und seine Produkte.“797

Ruge reflektiert mit seinen liberalismuskritischen Ausführungen die weit reichende

Prägekraft der Freiheitssemantik, der er Auswirkungen einerseits auf die mentale Dis-

position, andererseits aber vor allem auch auf die daraus resultierenden Handlungen

zuschreibt, und sensibilisiert für Interferenzen des durch äußere Abgrenzung gegenüber

Frankreich gewonnenen, nationalstaatlichen Konstrukts mit dem Freiheitsbewusstsein.

Kritik am Freiheitspathos erhob sich nun nicht nur mehr von konservativer Seite,

sondern kam auch aus den Reihen des liberalen Bürgertums.

So geht Balthasar Reber in einem Gedicht mit den von ihm so genannten Freiheits-

küstern ins Gericht, die sobald sie die Regierungsmacht im Staat übernommen hätten,

nichts mehr von der Freiheit wissen wollten,798

womit er auf den herrschafts-

legitimatorischen Aspekt des Deutungsmusters anspielt. Ähnlich argumentiert Wilhelm

Jordan, der sich von den verhassten Freiheitsphrasen der Dichter abwendet, obgleich er

immer noch in der Freiheit selbst die initiale Triebkraft für alles menschliche Handeln

sieht. Bevor jedoch andere befreit werden könnten, gibt er den Ratschlag: „Befreie erst

dich selbst in aller Stille, / Sonst hilfst du nur die Freiheit morden.“799

Eine deutliche Abkehr von der Freiheitsemphase der Befreiungskriege ist also bereits

im Vorfeld der Märzrevolution zu konstatieren,800

weil viele Freiheitsbegeisterte

enttäuscht von der erlahmten Dynamik freiheitlicher Bewegungen – das Hambacher

Fest lag eineinhalb Jahrzehnte zurück – darauf reagierten, dass über dichterische

Phantasien und Absichtserklärungen hinaus sich wenig am realen Zustand der Freiheit

im Sinn von im Alltagsleben spürbaren Erleichterungen verändert hatte.

797 Arnold Ruge, Eine Selbstkritik des Liberalismus, zit. nach: Gall/Koch (Hgg.), Liberalismus, Bd. 2,

158-183; hier: 167.798

Vgl. Balthasar Reber, Ein Rätsel, in: Volkmann (Bearb.), Einheit, 207: „Ihr predigt Freiheit auf den

Dächern, / Ihr lärmt von ihr in den Gemächern; / Von Freiheit eure Zungen schmettern, / Von Freiheit

rauscht’s in euern Blättern; / Freiheit laßt ihr in Prosa schreiten, / Freiheit laßt ihr auf Versen reiten: /

Kurz, alle möglichen Register, / Ihr orgelt sie, ihr Freiheitsküster. // [...] // Wenn diese Freiheits-Goliathe /

Die ersten worden sind im Staate, / In einem Hui sind sie Despoten, / Und alle lebenden und toten / Und

allerhärtsten Völkerhämmer / Sind neben ihnen weiche Lämmer. / Ich werde drob zum Narren schier; / O

sagt: wer löst das Rätsel mir?“799

Wilhelm Jordan, Schaum, zit. nach: Volkmann (Bearb.), Einheit, 244.800

Vgl. auch Nestroys Posse Freiheit in Krähwinkel, wo der Adlige Sperling Edler von Spatz im

Gespräch mit dem geheimen Stadtsekretär Reakzerl Edler von Zopfen sich abschätzig über die

Freiheitsemphase der Dichter äußert: „Als Poet hab ich nichts gegen die Freiheit, sie gewährt den

Dichtern ein weites Feld zur Tummlung ihrer Pegasusse. Reakzerl: Der Staatsmann muß sie unbedingt

verdammen; denn alles faselt jetzt schon von Menschenrechten, der subalterne Beamte sogar wagt

Äußerungen, wenn er sich malträtiert fühlt.“

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Im Jahr 1847 erschien in Leipzig unter dem Titel Schwarz, Roth, Gold! eine

dreiteilige Abhandlung „Ueber teutsche Freiheit und Einheit“.801

Darin wird die

Enttäuschung zum Ausdruck gebracht, dass das vielfach angekündigte „Morgenroth der

Freiheit“ bisher ausgeblieben ist.802

Als Ursache hierfür wird der „flüssige Zustand“ des

Liberalismus angesehen, was der Autor, der einen kritischen Überblick über die

personelle und ideelle Landschaft des Liberalismus gibt, am revolutionsfeindlichen

Verhalten Siebenpfeiffers festmacht. „Im Namen der Freiheit und Ordnung“, meint der

Anonymus, „war der erste Feldschrei ergangen, seit jenem ‚schrecklichen Stoß der

französischen Revolution’“,803

weitere Taten seien jedoch infolge innerer

Richtungskämpfe, Zwistigkeiten und vor allem mangelnder Einsatzbereitschaft unterge-

gangen. Die Abhandlung erachtet das Veränderungspotential des Liberalismus als durch

den Nationalcharakter der Deutschen gefährdet, da das deutsche Volk in seiner Anlage

langmütig und unpolitisch sei.804

Der Liberalismus sei zu partiell ausgerichtet, da er

lediglich die politische Freiheit verwirklichen wolle, dabei aber vergesse, „die

allgemeine, die eine und ganze Freiheit“ umzusetzen.805

Nur „in der individuellen

Entwicklung mit dem Leben der Gemeinschaft“ kann, wie von dem anonymen Autor in

Anlehnung an Julius Fröbel806

zu erfahren ist, „das Glück und die Freiheit gefunden

werden“.807

Fröbel selbst schlug in seinem zweibändigen System der socialen Politik eine

Verschränkung individueller Freiheit und gesellschaftlicher Interessen als Problem-

lösungsmuster vor.808

Das von ihm vertretene Anliegen beruht auf dem Versuch, das

idealistische Gedankensystem auf die gesellschaftliche Realität zu übertragen.809

In

seinem Denken, das auf die Errichtung einer Kulturgemeinschaft abzielt, ist der

„persönliche Zweck des Menschen“ zugleich „der subjective und objektive persönliche

Kulturzweck.“810

Individuelles und allgemeinmenschliches Prinzip sollen verbunden

werden, so dass auch die „Prinzipien der Freiheit als positives Element der Politik“ zur

801 So der Untertitel der Abhandlung.

802 Schwarz, Roth, Gold!, Teil I, 1.

803 Ebd., 5.

804 Vgl. ebd., 18.

805 Schwarz, Roth, Gold!, Teil II, 5. Vgl. die ähnliche Argumentation zur Einheit von sozialer und

geistiger Freiheit: Moses Heß, Die Eine und ganze Freiheit!, in: Fenske (Hg.), Vormärz, 92-97.806

Vgl. Backes, Liberalismus, 96-98.807

Schwarz, Roth, Gold!, Teil II, 22.808

Vgl. Fröbel, System. Vgl. zu Fröbel, seiner Schrift und ihrer Rezeptionsgeschichte: Nagel, Seele, 119-

130.809

Vgl. Nagel, Seele, 106. Vgl. auch ihre Ausführungen zu Ruges und Fröbels politischer Programmatik

als Vertreter der radikaldemokratischen Richtung: aaO., 106-119.810

Fröbel, System, Bd. 1, 67.

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Geltung kommen können.811

Mit diesen Überlegungen liefert Fröbel einen der wenigen

polittheoretischen Ansätze der Revolutionszeit, die individuelle Freiheit als Ausgangs-

punkt der auf Vermittlung angelegten Argumentation aufweisen.812

Eine auf anderen, nahezu entgegengesetzten Grundlagen aufruhende Argumentation,

die ebenfalls den freiheitsförderlichen Charakter der Gemeinschaft propagierte – und

diese Möglichkeit zu nahezu arbiträrer Bedeutungsmodulation ist dem Charakter des

Freiheitsbegriffs als semantisches Deutungsmuster inhärent –, wurde von kommunis-

tischer Seite vertreten. In einem Probeblatt der Londoner Kommunistischen Zeitschrift

veröffentlichte der anonym auftretende Carl Schapper ein Glaubensbekenntnis

kommunistischen Denkens. Er und seine Mitstreiter möchten den Lesern des neuge-

gründeten Blattes „zu beweisen suchen, daß in keiner Gesellschaft die persönliche

Freiheit größer sein kann, als in derjenigen, welche sich auf Gemeinschaft gründet.“813

Freiheit sei, wie Wilhelm Jordan über die nahezu universell einsetzbare meliorative

Potenz des pseudosakralen Begriffs im Vormärz unkt, „zu einem Rauschmittel

geworden. Man hat sie zu etwas Überirdischen, zu einem himmlischen Popanz gemacht,

mit dem man Götzendienerei treibt, die Freiheit ist eine Art von Religion geworden, und

das ist eben der Unsinn.“814

Tagespolitische Äußerungen sowie Programm- und

Gebrauchsschriften beschäftigten sich in ausgedehntem Maß mit Fragen der Freiheit,

was dazu führte, dass die bisher weniger alltagspraktisch ausgerichteten Überlegungen

zunehmend in konkreten Forderungen präzisiert wurden. Im Offenburger Programm

vom 12. September 1847, das in Form eines Flugblattes Verbreitung fand, forderten die

Verfasser im Namen des Volkes von Baden die Niederlegung der repressiven

Beschlüsse von Karlsbad, Frankfurt und Wien.815

Auch Presse-, Gewissens- und

Lehrfreiheit sowie die Beeidigung des Heeres auf die Verfassung wurden angemahnt.

Im Bereich der persönlichen Freiheit protestierte das Flugblatt gegen die Willkür der

Polizei und plädierte für ein Vereins- und Versammlungsrecht sowie für die

Freizügigkeit der Person. Eine Vertretung beim Deutschen Bund, eine volkstümliche

Wehrverfassung, Einsetzung von Geschworenengerichten und eine volkstümliche

Staatsverwaltung sowie die Abschaffung aller Privilegien sind weitere politische

Forderungen. Auf sozialem Gebiet treten die Verfasser für eine gerechte Besteuerung

811 So eine Kapitelüberschrift, in: Ebd., 52-160.

812 Vgl. zu den Grundüberzeugungen seiner Staatslehre auch: Koch, Julius Fröbel, 389 f.

813 Kommunistische Zeitschrift, Probeblatt, London im September 1847, zit. nach: Fenske (Hg.),

Vormärz, 234-238; hier: 237.814

Wilhelm Jordan, Ihr träumt! Weckruf an das Ronge-berauschte Deutschland, Leipzig 1845, zit. nach:

Fenske (Hg.), Vormärz, 157-164; hier 161.815

Vgl. Das Offenburger Programm, 12. September 1847, in: Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte,

121 f.

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ein. Darüber hinaus fordern sie eine bessere Bildung und den Ausgleich zwischen

Arbeit und Kapital. Die enge Verbindung von politischer Freiheit und sozialer Sicher-

heit in der deutschen Freiheitsbewegung kommt bei diesem Aufruf deutlich zum Vor-

schein.

Die Heppenheimer Versammlung, die am 10. Oktober 1847 tagte, gab einer Anzahl

liberal gesinnter Sprecher ein Podium. Als Resultat der Zusammenkunft entstand eine

programmatische Schrift, deren sieben Punkte in der Deutschen Zeitung zur Veröffent-

lichung kamen. Im vorletzten Punkt, der eine großdeutsche Lösung fordert, heißt es,

dass es „unbestritten bleibt, daß die Mitwirkung des Volkes durch gewählte Vertreter

hierbei unerläßlich, und unbezweifelt, daß bei dem Entwicklungsdrang des Jahrhunderts

und Deutschlands die Einigung durch Gewaltherrschaft unmöglich, nur durch die Frei-

heit und mit derselben zu erringen ist.“816

In einem fiktiven Brief an einen Freund, der die zentrale Frage „Vaterland oder

Freiheit?“ stellt, errichtet Robert Prutz817

im Jahr 1847 das Primat des Nationalwesens

gegenüber den freiheitlichen Ideen mit einer mentalitätsbezogenen Begründung. Sie

spielt in ihrem Resultat auf die strukturelle Konservativität und Traditionsverhaftung

der Bevölkerung an:

„Das Volk weiß mehr vom Vaterlande, von dem es sich umgeben fühlt, das zu ihm

spricht im Rauschen seiner Bäume, im Duft seines Weines, im geheiligten Laut

seiner Sprache, in tausend und aber tausend Erinnerungen und Denkmalen, als von

der Freiheit, von der es nicht weiß, wo sie wohnt, deren Zauber es nie empfunden

hat, die ihm keine Gestalt, kein Bild, keine Anschauung gewährt, auch wenn Du

ihm sagen wolltest, daß sie krapprote Hosen trägt: darf es uns befremden, wenn es

sich das Bekannte, Verstandene nicht nehmen lassen will zugunsten eines

Unbekannten, Unverstandenen? Am Vaterland hängt es, Patriotismus, Aufopferung

für das Vaterland, Nationalgefühl, Nationalehre hält es für höchst wesentliche,

höchst schätzenswerte Güter: nun kommst Du und erklärst ihm, das alles sei

Plunder, romantischer Quark, heraufgeholt aus der Grube des Mittelalters, auf die

Freiheit allein komme es an, und die Freiheit habe kein Vaterland und dulde keinen

Patriotismus – im Ernst, lieber Freund, hältst Du dies wirklich für eine Empfehlung

der Freiheit? Glaubst Du wirklich auf diesem Wege die Herzen des Volkes Deiner,

unsrer Göttin zu gewinnen?“818

Die Menschen schienen aufmerksamen Beobachtern zufolge mit der abstrakten

Forderung nach Freiheit überfordert zu sein, was radikales Vorgehen als kontra-

produktiv diskreditierte und zu der Einsicht gelangen ließ, Veränderungen, sofern sie

überhaupt möglich erschienen, auf moderatem Weg herbeizuführen.

816 Programm der Heppenheimer Versammlung, zit. nach: Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte,

123 f.; hier: 124.817

Vgl. zu Prutz auch oben: Kap. 4.1.7, 115.818

Robert E. Prutz, Brief an einen Freund, zit. nach: Volkmann (Bearb.), Einheit, 10.

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Um unnötigen Schwierigkeiten mit der Zensur aus dem Weg zu gehen, ließ der

republikanisch gesinnte Jacob Venedey819

seine Brief- und Aufsatzsammlung, die unter

dem Titel Die Spanische Tänzerin und die Deutsche Freiheit erschien, in Paris

verlegen.820

Ohnehin befand er sich dort für insgesamt sechzehn Jahre im Exil.821

Erst

mit der Märzrevolution war es dem Rheinländer vergönnt, wieder in seine Heimat

zurückzukehren. Der Herausgeber der ebenfalls in Paris verlegten Zeitschrift Der

Geächtete, der 1848 Mitglied der Nationalversammlung wurde, forderte in seinem

Aufsatz über die deutsche Freiheit dazu auf, vom bewaffneten Kampf für die Freiheit

abzusehen,822

insofern in seiner Sicht die französischen Revolutionsereignisse negativ

im kollektiven Gedächtnis haften geblieben sind: „O mein Volk! Nimm Dir eine Lehre

an dem Unglück, das über Frankreich gekommen, und die schönsten Blüthen seines

Lebensbaumes verhinderte zur Frucht zu werden. Wahr Dich, zum Schwerte zu greifen,

denn das Wort ist allein berufen, die Welt zum Besten zu lenken.“823

Mit diesen

Aussagen bewegt sich Venedey innerhalb der idealistischen Freiheitstradition, seine

Begriffsauffassung ist egalitär und kollektivistisch. Venedey warnt diejenigen, die

„schon heute etwas sind, [...] Alles sein zu wollen. Nur Alle dürfen Alles sein; und nur

in diesem Gedanken liegt auch der Sieg Aller über jeden einzelnen und jeden Stand, der

sich da einbildet und anmaßt, Alles sein zu wollen.“824

Immer wieder wurden im Vormärz prominente Ahnherren zur Legitimation des

Freiheitskampfes angeführt. „Große Männer und denkwürdige Zeiten, worin sich des

Volkes eigenthümliches Wesen und sein Anstreben zu höherer Vollkommenheit aus-

drückt,“ erwuchsen zu Vorkämpfern der „deutschen Freiheit“. Neben Ulrich von Hutten

wurden als weit über die kirchliche Reformation hinausgreifende Reformatoren einer

„freiheitsatmenden Aera“ beispielsweise Konrad Reuchlin, Erasmus von Rotterdam,

Willibald Pirkheimer, Konrad Peutinger, Luther, Melanchthon, Zwingli, Kaiser

Maximilian, Sebastian Brandt, Geiler von Kaisersberg, Jacob Wimpfeling, Heinrich

Bebel, Albrecht Dürer, Hans Sachs in eine Ahnengalerie der „Streiter für deutsche

819 Vgl. zu Venedey: Bublies-Godau, Strom.

820 Vgl. Venedey, Tänzerin. Die Wendung „deutsche Freiheit“ erscheint lediglich im Titel des zweiten

Buchteils. Jedoch listet Venedey eine Anzahl von Freiheitsrechten (Freiheit des Gedankens, des

Glaubens, der Presse, der Person und des Eigentums sowie Teilhabe an der Gesetzgebung, Vertretung der

Verfassung gegenüber den Landesherren, Überwachung der Staatsschulden, Bewilligung von Staats-

anleihen) und Pflichten (der Gesamtheit, des Königs, der Gemeinden, der Stände, der Korporationen und

der einzelnen Bürger) zur Umsetzung der „deutschen Freiheit“ auf, die durch positiv ererbte Naturrechte

(Staatsverfassung, Volks- und Ständevertretung) ergänzt werden sollen.821

Bublies-Godau, Strom, 159.822

Vgl. Boberach/Hartkopf/Koops u.a. (Hgg.), Freiheit, 52.823

Venedey, Tänzerin, 84.824

Ebd., 85.

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Freiheit“ eingereiht.825

Mit der Berufung auf sie hoffte man, dass der unbedingte

Einsatz, den sie ihrer Sache widmeten, sich positiv auf das Streben für „die deutsche

Freiheit“ auswirken werde.

4.1.8 Die Märzrevolution und ihr Verlauf – Der „Tag staatlicher Freiheit aber ist

noch keineswegs angebrochen“

Die revolutionären Ereignisse nahmen Ende Februar 1848 ihren Lauf, indem in

verschiedenen größeren Städten Volksmengen auf die Straße gingen, um ihrem Unmut

Ausdruck zu verleihen und für freiheitliche Forderungen einzutreten. Am 18. März

erreichten die Unruhen, nachdem sie in Wien bereits Metternich zur Flucht veranlasst

hatten,826

die Hauptstadt Preußens, wo drei Tage später Zugeständnisse zu einer

Verfassung Preußens und der Einheit Deutschlands gemacht wurden.827

Johann Jacoby,828

Mitglied des Vorparlaments, das am 31. März 1848 als Folge der

Ereignisse in Frankfurt in der Paulskirche zusammentrat, um über die bevorstehenden

Aufgaben zu beraten,829

ist sich der bevorstehenden schwierigen Herausforderungen

bewusst: „Die Tage unserer politischen Unschuld, des vertrauensseligen Sichregieren-

lassens sind unwiederbringlich vorüber, – der Tag staatlicher Freiheit aber ist noch

keineswegs angebrochen, die sorglose Hingabe an ein ruhiges Familienleben noch

keineswegs an der Zeit.“830

Doch sieht Jacoby in der staatlichen Freiheit Deutschlands

nicht den höchsten Zweck, sondern in der idealistisch geprägten, völkerübergreifenden

„Erhebung und Veredelung des Menschen“, welche auf ein in sittlicher Freiheit

begründetes Wohlergehen aller Menschen abzielt.831

Der konservative Begründer des Berliner Wochenblattes und spätere Mitherausgeber

der Kreuzzeitung,832

Ernst Ludwig von Gerlach,833

schrieb am 26. März 1848, statt

825 Vgl. Brunnow, Ulrich von Hutten, Bd. 1, VI. Vgl. auch den Untertitel, der Ulrich von Hutten als

„Streiter für deutsche Freiheit“ ausweist. Nahezu zeitgleich: Bürck, Ulrich von Hutten, der diesen als

„Kämpfer für deutsche Freiheit“ reklamiert.826

Vgl. für eine zeitgenössische literarische Darstellung der Ereignisse in Wien unter dem Focus der

Freiheit die mit dem Krähwinkelmotiv operierende Posse von Johann Nestroy, die den Umgang der

Revolution und der Reaktion mit dem Deutungsmuster Freiheit widerspiegelt: ders., Freiheit, bes. 13-15;

27 f.; 50-53.827

Vgl. für den chronologisch-geographischen Ablauf: Boberach/Koops (Hgg.), Erinnerungsstätte, 147.828

Vgl. Backes, Liberalismus, 101-103.829

Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 104.830

Johann Jacoby, Meine politischen Grundsätze, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1, 296-303; hier:

298.831

Ebd., 302.832

Vgl. Schildt, Konservatismus, 54-56.

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seinem üblichen sonntäglichen Kirchbesuch nachzukommen, einen „Panier erhebenden

Aufruf für Bismarck und andere“.834

In ihm verteidigt er antithetisch die „deutsche

Freiheit“ gegenüber den revolutionären Ereignissen: „Die Revolution von Paris aus

angezündet“, beschreibt er die Lage aus konservativer Sicht, „hat ganz Deutschland, hat

mit besonderer Heftigkeit den Preußischen Staat ergriffen. Nicht nur unser Wohlstand,

unser Besitz, sondern alle Grundlagen deutschen Rechts, deutscher Verfassung,

deutscher Freiheit, alles was uns auf Erden theuer und heilig ist, wird bedroht.“835

Gerlach war darauf bedacht, die Kräfte der Gegenrevolution zu sammeln,836

weshalb

der Protestant zum gemeinsamen Vorgehen gegen die revolutionären Umtriebe alle

Stände aufforderte, „welche deutsches Recht und deutsche Freiheit, welche insbe-

sondere den Preußischen Staat, ohne welchen deutsches Recht und deutsche Freiheit

nicht bestehen kann, gegen revolutionäre Tyrannei zu verteidigen entschlossen sind.“837

Untergeordnete Meinungsverschiedenheiten müssten unbedingt beigelegt werden, um in

einmütigem Entschluss Preußen, das deutsche Recht und die deutsche Freiheit gegen

die revolutionäre Gewalt verteidigen zu können.838

Obgleich Gerlach in einer nach-

revolutionären Parlamentsdebatte darauf verweist, dass er den „Ausdruck ‚deutsches

Recht und deutsche Freiheit’ gebraucht“ habe, um die Rückkehr zur angestammten

Ordnung zu umschreiben, möchte der glaubenstreue Politiker „dem schlimmen Irrtum

keinen Vorschub leisten, der gegenwärtig in der Politik so vielen Schaden anrichtet,

dem Irrtum, die Nationalität als oberstes Rechtsprinzip hinzustellen.“839

Angestoßen

durch die revolutionären Ereignisse erwies sich das Deutungsmuster „deutsche

Freiheit“, auf dessen Reservoir Gerlach zurückgreifen konnte, einmal mehr als

antithetische Argumentationsfigur, die zur Verteidigung der althergebrachten Ordnung

und zur Abwehr unliebsamer Modernisierungsschübe eingesetzte wurde.

Die Dynamik der Ereignisse ließ sich allerdings durch den Rückgriff auf den

deutschfreiheitlichen Sprachgebrauch nur wenig beeinflussen. So gaben am 26. April

1848 die 17 Vertrauensleute Artikel IV der Verfassung, die Grundrechte des deutschen

Volkes, bekannt.840

Das Reich verbürgt nach deren Vorschlag in Paragraph 25 „dem

deutschen Volke [...] Grundrechte, welche zugleich der Verfassung jedes einzelnen

833 Vgl. umfassend zu Gerlach: Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach.

834 Gerlach, Aufzeichnungen, Bd. 2, 518 f.; hier: 518.

835 Ebd.

836 Vgl. Kraus, Von Gerlach, 163 f.

837 Gerlach, Aufzeichnungen, Bd. 2, 519.

838 Vgl. ebd.

839 Ernst Ludwig von Gerlach, Rede zum § 1 der Unionsverfassung, 11. Sitzung des Volkshauses des

Erfurter Parlaments, 15.04. 1850, zit. nach: Fenske (Hg.), Weg, 27-30; hier: 29.840

Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 2, bes. 774-784 (§ 57 „Der Kampf um die Freiheit“).

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deutschen Staates zur Norm dienen sollen.“841

In die Diskussion um die Einsetzung

einer provisorischen Zentralgewalt, die die Anfänge der Arbeit im Parlament bestimmte,

schaltete sich der gebürtige Kölner Robert Blum ein, der ein einflussreicher Vertreter

der gemäßigten Linken war, die sich in der Gaststätte „Frankfurter Hof“ versammelte.

Seiner Ansicht nach, die mit dem Verweis auf die historische Sondersituation des

Reiches einhergeht, ist es eine „Gotteslästerung der Freiheit, wenn man ihr aufbürdet,

daß sie krankt an dem Erbe, welches sie von der Despotie unfreiwillig hat mit

übernehmen müssen.“842

Stets hatte Blum für ein beherztes Eintreten zur Erlangung der

Nationaleinheit als Königsweg zur Freiheit plädiert: „Deutsche, nützt die hehren

Stunden! / Wenn sie einmal hingeschwunden, / Sind sie ewig uns vorbei; / Laßt das

große Völkerringen / Etwas wenigstens uns bringen: / Werdet eins! Dann sind wir –

frei!“843

Blum galt als einer der hoffnungsvollsten Vertreter der Freiheitsbewegung,

dem sogar von seinen ernsthaftesten Widersachern zugetraut wurde, künftiger Präsident

einer deutschen Republik werden zu können. Im November 1848 wurde Robert

Blum,844

der in seiner Eigenschaft als Leipziger Theatersekretär die Schillerfeiern

mitbegründete, durch eine standrechtliche Erschießung in Wien845

seinen Mitstreitern

zum „Märtyrer der deutschen Freiheit“846

. Um die Toten der Revolution entstanden, wie

Blums Beispiel belegt, regelrecht Kulte, die jedoch stärker politischer Code als sakrales

Bekenntnis waren.847

Als Mitglied einer Abordnung der Linken innerhalb der National-

versammlung war Blum in die Österreichische Hauptstadt aufgebrochen, um den

dortigen Aufständischen eine Sympathieadresse zu überbringen, die Mitte 1848 die

Gewalt an sich gerissen hatten. Nach der Rückeroberung Wiens durch kaiserliche

Truppen wurde Blum von diesen am 9. November 1848 in der Brigittenau trotz seiner

Abgeordnetenimmunität wegen Beteiligung an den Barrikadenkämpfen hingerichtet.

841 Verfassungsentwurf der 17 Vertrauensleute, 26. April 1848, zit. nach: Boberach/Koops (Hgg.),

Erinnerungsstätte, 193. Wesentliche Punkte des Entwurfs sind: Volksvertretung mit Budgetrecht und

Ministerverantwortlichkeit; kommunale Selbstverwaltung; Unabhängigkeit der Justiz; Gleichheit aller

Stände; allgemeine Bürgerwehr; Vereins- und Versammlungsfreiheit; Petitions- und Beschwerderecht;

Pressefreiheit; Postgeheimnis; Unverletzlichkeit der Wohnung und Schutz vor polizeilicher Willkür;

Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit; freie Berufswahl; Wissenschaftsfreiheit; Glaubensfreiheit und

Minderheitenschutz.842

Robert Blum, Einsetzung einer provisorischen Zentralgewalt, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1,

304-311; 310 f.843

Robert Blum, An Germania, zit. nach: Volkmann (Bearb.), Einheit, 100.844

Vgl. zu Blums Freiheitsbegriff: Schmidt, Freiheitsverständnis.845

Vgl. für einen Überblick der Revolutionsereignisse in Österreich: Müller, Revolution, 46-48; 114-118.846

Vgl. die „Gedächtnistafel unseres verewigten Robert Blum“, in: Hirsch, Robert Blum, o.S.847

Vgl. hierzu: Hachtmann, Epochenschwelle, 194 f.

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Seine letzten Worte waren angeblich: „Ich sterbe für die deutsche Freiheit, für die ich

gekämpft habe – möge das Vaterland meiner eingedenk sein!“848

Von konservativer Seite erhob sich unter dem Banner der „deutschen Freiheit“

wiederholt Kritik an der revolutionären Freiheitsrhetorik. Das Gründungsprogramm der

Kreuzzeitung849

vom 16. Juni 1848 verwehrt sich, indem es die longitudinalen

Auswirkungen der Ereignisse auf das kollektive Gedächtnis abzuschätzen sucht, heftig

dagegen,

„daß die Revolution, die als Tatsache nicht ungeschehen zu machen ist, sich als

Prinzip unseres öffentlichen Lebens festsetze, daß dem deutschen Volke im Namen

der Freiheit und des Fortschritts fremde und undeutsche Institutionen aufgedrungen

werden, die uns mit dem Verluste wie der heiligsten sittlichen Güter, so auch der

ganzen Summa an Recht, Gesittung und Bildung bedrohen, die ein kostbares Erbe

unserer geschichtlichen Vorzeit, der Schmuck und Ruhm unseres deutschen

Vaterlandes sind.“850

Eine Spaltung der Nation in Freiheitsfragen – in eine konservative und eine progressive

Interpretationslinie – ist vor der Folie der unterschiedlichen Deutungsangebote zu kon-

statieren.

Im Entwurf des Verfassungs-Ausschusses der konstituierenden Nationalver-

sammlung vom 4. Juli 1848 zu den Grundrechten des deutschen Volkes wird die

Bedeutung der Verfassung, die von den Autoren als „Wendepunkt in der deutschen

Geschichte“ bezeichnet wird, für die prospektive Begründung von „Einheit und Freiheit

Deutschlands“ betont.851

In letzterer Formulierung ist die selbstgestellte Doppelaufgabe

der Liberalen, Einheit und Freiheit gleichzeitig zu erlangen, die, wie zahlreiche

Meinungsbekundungen zum Ausdruck bringen, vor dem historischen Hintergrund des

deutschen Partikularismus852

besonders schwer zu verwirklichen gewesen sei, als

zentraler historischer Bezugspunkt der Bewegung erkennbar. Ein egalitärer Einschlag,

der allerdings keine grundlegende sozialstaatliche Reform vorsah, war den Formu-

lierungen der Grundrechte zu Eigen.853

Laut Artikel 2 Paragraph 6 der Grundrechte

sollten sämtliche Standesprivilegien dem Gleichheitsgrundsatz weichen. Die Ab-

schaffung des Adels, eine Konsequenz dieser Formulierung, wurde in der National-

848 Zit. nach: Gyseke, Volk, 105. Diese Vermutung wird insbesondere von Nationalkonservativen wie

Gyseke vertreten, die damit in geschichtsrevisionistischer Absicht „einen anderen 9. November“

konstituieren wollen. 849

Vgl. zur Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung: Rohleder/Treude, (Kreuz-) Zeitung.850

Gründungsprogramm der Kreuzzeitung, 1848, zit. nach: Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, 38 f.;

hier: 38.851

Die Grundrechte des deutschen Volkes. Entwurf des Verfassungs-Ausschusses der constituierenden

Nationalversammlung vom 4. Juli 1848, zit. nach: Freund (Hg.), Liberalismus, 29-37; hier: 30.852

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 289.853

Vgl. ebd.

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versammlung am 1. August 1848 thematisiert.854

Vor diesem Hintergrund stellte der

Germanist Jacob Ludwig Grimm,855

einer der Göttinger Sieben, kurz vor seinem Aus-

tritt aus der Versammlung Reflexionen über den Freiheitsbegriff an:856

„Der Adel ist eine Blume, die ihren Geruch verloren hat, vielleicht auch ihre Farbe.

Wir wollen die Freiheit, als das Höchste, aufstellen, wie ist es dann möglich, daß

wir ihr noch etwas Höheres hinzugeben? Also schon aus diesem Grunde, weil die

Freiheit unser Mittelpunkt ist, darf nicht neben ihr noch etwas anderes Höheres

bestehen. Die Freiheit war in unserer Mitte, so lange deutsche Geschichte steht, die

Freiheit ist der Grund aller unserer Rechte von jeher gewesen; so schon in der

ältesten Zeit. Aber neben der Freiheit hob sich eine Knechtschaft, eine Unfreiheit

auf der einen und auf der anderen Seite eine Erhöhung der Freiheit selbst. In dieser

Gliederung scheint mir ein Beweis gegen den Adel zu liegen. Als die härtere Un-

freiheit sich in eine mildere auflöste und neben der härteren bestand, da entsprang

auch eine Erhöhung der Freiheit in den Adel und des Adels in die fürstliche Würde.

Nachdem diese Erhöhung der Unfreiheit aufgehört hat, muß auch die des Adels

fallen.“857

In der Beratung der Grundrechte im Spätjahr 1848 stellte der fraktionslose Jacob

Ludwig Grimm den Antrag, dem ersten Artikel einen weiteren vorzulagern.858

„Das

deutsche Volk ist ein Volk von Freien und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft.

Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei“, lautete sein Ergänzungs-

vorschlag,859

womit Grimm an die Forderungen des Befreiungskampfes anknüpft, doch

blieb seine Eingabe unberücksichtigt.

Der grundlegende Konflikt in der Nationalversammlung lag, so der Historiker

Droysen in einer kurz nach dem Scheitern der Verfassungsbewegung verfassten

Analyse, im Gegensatz derer, die „aus der größten Freiheit der einzelnen den besten

Staat zu schaffen gemeint waren, und derer, welche in der gesicherten Festigkeit und

Ordnung des Ganzen auch die Freiheit des einzelnen bedingt sahen.“860

Das Verhältnis

von individueller und kollektiver Freiheit wird in Droysens Bewertung als umfassender

Rahmen erkenntlich, innerhalb dessen sich die Positionierung des jeweiligen Freiheits-

verständnisses vornehmen lässt.

Am 5. Dezember 1848 oktroyierte König Friedrich Wilhelm IV., um einen Ausblick

auf das Ende der revolutionären Dynamik zu wagen, eine Verfassung für Preußen, die

854 Christof Dipper weist darauf hin, dass ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Abgeordneten der

Frankfurter Nationalversammlung, etwa 15 %, dem Adel angehörte (ders., Adelsliberalismus, bes.: 176

f.). 855

Vgl. zu Jacob Grimm: Denecke, Jacob Grimm, 40-182; Grünert, Begriff.856

Vgl. zu Jacob Grimm als Redner in der Paulskirche: Erben, Jacob Grimm.857

Jacob Grimm, Über die Abschaffung des Adels, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1, 388-394; hier:

389.858

Vgl. zu Grimms Tätigkeit in der Nationalversammlung: Vogel, Jacob Grimm.859

Antrag Jacob Grimms zur Beratung der Grundrechte in der Nationalversammlung, zit. nach: Einigkeit

und Recht und Freiheit, 177 (dort auch eine Abb. des handschriftlichen Originals). 860

Droysen (Hg.), Verhandlungen, 21.

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sich in etlichen Punkten – außer dem des nun wieder unbeschränkten Vetorechts des

Königs – an die in der Paulskirchenversammlung erarbeitete Konstitution anlehnte.861

Am 28. Dezember 1848 traten die von der Nationalversammlung in dreifacher Lesung

behandelten Grundrechte durch ihre Veröffentlichung im Reichs-Gesetzblatt in Kraft.862

Die Verfassung sollte am 28. März 1849 folgen.863

Die Paulskirchenversammlung, in der sich die Freiheitsbewegung eine konstitu-

tionelle Form gab und eine allgemeinverbindliche Verfassung mit einem Grundrechts-

katalog erarbeiten wollte, bildete den Kumulations- und zugleich Wendepunkt der

Entwicklung, da sie von großer Euphorie getragen und mit vielen Hoffnungen verbun-

den zusammentrat, jedoch in Desillusionierung und Resignation auseinanderbrach.864

Sie sah sich während ihrer Sitzungszeit vorrangig mit zwei Aufgaben betraut: einerseits

mit der Gründung eines Nationalstaates, andererseits mit der Formulierung einer Ver-

fassung. Die Herstellung von Einheit und Freiheit war also – wenn man unscharf

formuliert – ihre Aufgabe,865

was mit den in die Versammlung gesetzten Hoffnungen

korrelierte. Der Abgeordnete Marquard Barth äußerte sich im Zusammenhang mit der

Frage nach dem neuen Staatsoberhaupt darüber, dass das deutsche Volk sich die

Freiheit im März wiedererobert habe. „Das deutsche Volk“, führte er aus, „hat uns

hierher gesendet, um ihm die wiedererrungene Freiheit sicherzustellen für alle Zukunft.

Wir haben den ersten Schritt dazu getan durch die Grundrechte, den zweiten, bei

weitem wichtigeren, wollen wir tun durch die Verfassung. Um aber der Nation die

Freiheit zu sichern, müssen wir sie umgeben mit Macht, denn Freiheit ohne Macht ist

ein leerer Schein.“866

Die Tagungen, während derer eine Tendenz zum Doktrinarismus vorherrschte,

endeten mit einem Paukenschlag – der Ablehnung der angetragenen Krone durch

Friedrich Wilhelm IV. –, der sich nachhaltig im kollektiven Gedächtnis festschrieb.867

In einer Adresse an das Volk sprach der preußische König von „einer Einheit in der

Verschiedenheit, einer Einheit mit Freiheit“, die es durch die allgemeine „Einführung

861 Vgl. Willoweit, Verfassungsgeschichte, 312-317; Winkler, Weg, Bd. 1, 115.

862 Vgl. Schenk, Nationalversammlung, 151; Willoweit, Verfassungsgeschichte, 304.

863 Vgl. Obenland, Kampf, 212 f. Vgl. zur Verortung in der deutschen Verfassungsgeschichte: Boldt,

Reichsverfassung. Vgl. zum Text: Verfassung des deutschen Reiches (1849), in: Blanke (Hg.),

Verfassungen, 169-208.864

Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 107 f.865

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 613. 866

Rede des Abgeordneten Marquard Barth über die Oberhauptsfrage, 154. Sitzung der Deutschen

Nationalversammlung, 18. Januar 1849, zit. nach: Fenske (Hg.), Vormärz, 396-399; hier: 397.867

Vgl. De Ruggiero, Geschichte, 239.

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wahrer konstitutioneller Verfassungen“ zu verwirklichen gelte.868

Ernst Ludwig von

Gerlach vermerkte in seinen Aufzeichnungen spöttelnd zu diesem Ereignis: „Der alte

Ernst Moritz Arndt beschwor in diesen Tagen den König in einem Briefe, in welchem er

in hohem Tone den König Du nannte, eine Krone anzunehmen. Der König antwortete

alsbald, freundlich aber ablehnend.“869

Die Idee der Freiheit, die zu den bewegenden Kräften um die Mitte des 19.

Jahrhunderts gehörte, zu realisieren und in deutschen Gefilden heimisch zu machen,

hatten sich zahlreiche Gruppierungen auf das Banner geschrieben,870

obgleich das

Freiheitspathos auf geteilte Resonanz in der Bevölkerung stieß.871

Die nach der Auf-

lösung der Nationalversammlung in Auseinadersetzung mit der staatlichen Gewalt

ausgetragenen Rückzugsgefechte der radikal-republikanischen Freiheitskämpfer unter

der Ägide von Hecker und Struve wurden nach kurzem Intermezzo brachial beendet,

was konstitutionell verbürgte Freiheitsforderungen infolge der erlittenen Niederlage in

den Hintergrund des Diskurses treten ließ.

„Eine andere Kraft, welche neben dem immer reger werdenden Bestreben nach

Freiheit in den Kampf der Gegenwart geraten und die höchste Bedeutung gewonnen, ist

das Gefühl der Nationalität und der daran von Natur selbst geknüpften unvertilgbaren

Rechte.“872

Sie vermochte zunehmend den Diskurs zu prägen. Friedrich Julius Stahl,873

Wegbereiter einer konservativen Revolution und enger Berater Friedrich Wilhelm IV.,

begrüßte diese Entwicklung und sprach sich explizit gegen den Liberalismus aus, indem

er antiparlamentarisches Gedankengut vertrat.874

Ein organisch gestaltetes göttliches

Recht sollte als Grundlage einer konstitutionellen Monarchie dienen.875

Er fürchtet, wie

er bekennt, nicht die „akute Krankheit der Demokratie“. Ihr zu widerstehen sei der

Organismus des Staatskörpers in Deutschland noch stark genug. Vielmehr fürchtete er

die „chronische Krankheit des Liberalismus“.876

Leopold von Gerlach, der Bruder Ernst

868 Proklamation König Friedrich Wilhelm IV., 21. März 1848, zit. nach: Boberach/Koops (Hgg.),

Erinnerungsstätte, 170.869

Gerlach, Aufzeichnungen, Bd. 2, 43 (vom 24. März 1849).870

Vgl. das Programm zur Gründung der „Rheinischen Volkshalle“, einer katholischen Tageszeitung,

vom 13. Mai 1848 in: Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, 200-202.871

Vgl. Steinmetz, Sprechen, 1110-1112.872

Programm zur Gründung der „Rheinischen Volkshalle“ vom 13. Mai 1848, zit. nach: Mommsen (Hg.),

Parteiprogramme, 200-202; hier: 202.873

Vgl. Beyme, Theorie, 475-483; zur Person: Masur, Friedrich Julius Stahl.874

Vgl. Durner, Antiparlamentarismus, 33-35.875

Vgl. zu Stahls Rechtsphilosophie und Staatstheorie: Füßl, Friedrich Julius Stahl, 184-186; Grosser,

Grundlagen.876

Friedrich Julius Stahl, Gegen den Liberalismus, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1, 435-442; hier:

438.

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Ludwigs,877

befindet, der von der Revolution hervorgebrachte Konstitutionalismus sei

ein so totes Ding, dass er ihn bei gutem Regiment der „wahren Freiheit“ nicht einmal

hinderlich und der Zerstörung nicht wert erachtet.878

4.1.9 Die realpolitische Wende mit dem Paradigmenwechsel von der Freiheit zur

Einheit – „als ob die Freiheit bei uns blos eine Jastrolle jejeben“

Das Erlahmen der Dynamik des Aufbruchs zur Freiheit von 1848 und 1849879

trug zur

De-Idealisierung der progressiven Kräfte bei und erbrachte eine zunehmende Orientier-

ung an den realpolitischen Gegebenheiten.880

Dies wirkte sich auch auf das im

öffentlichen Diskurs vertretbare Deutungsspektrum aus und führte dazu, dass nun

äußere, nationalstaatliche Freiheit und politische Einheit der Nation den Vorrang vor

inneren Reform- und Verfassungsbestrebungen genossen und somit endgültig in den

Vordergrund traten.881

Das von den 48-ern angestrebte Doppelziel von Freiheit und

Einheit hingegen rückte ferner, was eine Entwicklung innerhalb des Liberalismus

beschleunigte, die der Einheit voraussetzungslos das Prä einräumte.882

Die „Besiegten“

von 1848/49 versuchten in der realistischen Einschätzung ihrer längerfristigen

Perspektiven den fortschreitenden Weg zu mehr Freiheit nun verstärkt auf inner-

konstitutionellem Terrain, im Rahmen der vorhandenen, wenngleich sie nicht zufrieden

stellenden Verfassungen, einzuschlagen.883

Ein zentralistischer Einheitsstaat erschien

als die angemessenere Form zur Verwirklichung einer spezifisch „germanischen

Freiheit“884

und ermöglichte es, dass revisionistische Bewegungen innerhalb des

liberalen Spektrums die Oberhand gewannen.885

Der Nachmärz sollte daher unter dem

Apriori der Einheit stehen,886

weshalb weder dem idealpolitisch orientierten

877 Vgl. zum Brüderpaar Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach: Kraus, Von Gerlach.

878 Gerlach, Aufzeichnungen, Bd. 2, 67 (vom 24.08. 1849).

879 Vgl. Gall, Aufbruch, 16-21.

880 Vgl. Jansen, Einheit, 256-265 spricht in Bezug auf die Paulskirchenlinke von einem

Paradigmenwechsel (aaO., 259); vgl. auch: Koch, Liberalismus, 47 f.; Michalka, Weg, 254 f.; Mommsen,

Freiheit, 26 f.; ders., Jahrhunderte, 387 f.; Offermann, Liberalismus, 109; Vorländer, Liberalismus, 11 f.;

Winkler, Weg, Bd. 1, 137. Vgl. hierzu auch die beiden letzten Kapitel in Kriegers Darstellung zur

deutschen Idee der Freiheit, die in der Verbindung mit der Realpolitik von einem personellen und

institutionellen Niedergang des Liberalismus für die Zeit bis etwa 1870 sprechen (ders., Idea, 341-397;

398-457).881

Vgl. Dyson, State, 130.882

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 726; Winkler, Weg, Bd. 1, 128; 130 f.883

Vgl. Nipperdey, aaO., 718-720.884

Vgl. Jansen, Einheit, 510-520; bes. 517.885

Vgl. Gall, Liberalismus, 176 f.886

Vgl. Kaschuba, Nation, 89.

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Liberalismus des Vormärz noch dem realpolitisch orientierten der zweiten Jahr-

hunderthälfte eine umfassende Durchdringung des politischen Diskurses und eine

institutionelle Verankerung gelang.887

Nur in der resignativen Flucht in den Spott bot

sich eine Kompensationsmöglichkeit. So formulierte eine Karikatur aus dem komischen

Volkskalender des Berliner Satirikers und Humoristen Adolf Glasbrenner, auf der die

Freiheit in Kittelschürze mit Jakobinerhut und Freiheitskranz auf einer Bühne abge-

bildet ist, in Berliner Dialekt konsterniert: „Ich weiß nicht, mir kommt es immer vor, als

ob die Freiheit bei uns blos eine Jastrolle jejeben un sehr unjlücklich gespielt, debutiert

hat, nennt man das. Sie trat als ‚Weib aus dem Volke’ auf, aber das Bürjerwehr-

Kommando hat se jleich austrommeln lassen.“888

Nicht nur die Männer stritten, wie das obige Zitat nahe legt, für mehr Freiheit und

machten sich dabei bekannte Deutungsmuster dienstbar. Luise Otto verfocht eine Mitte

des 19. Jahrhunderts keinesfalls selbstverständliche Position, wenn sie die Ausweitung

freiheitlicher Errungenschaften auch auf das weibliche Geschlecht verlangte. In einem

Artikel in der ersten Nummer ihrer Frauen-Zeitung forderte sie im April 1849 unter der

Überschrift „Die Freiheit ist untheilbar“ die Gleichberechtigung der Frauen ein.889

Sie

argumentierte: „Also freie Männer dürfen keine Sklaven neben sich dulden – also auch

keine Sklavinnen. Wir müssen den redlichen Willen oder die Geisteskräfte aller

Freiheitskämpfer in Frage stellen, welche nur die Rechte der Männer, aber nicht

zugleich auch die der Frauen vertreten.“890

Nur ein Staat, der auf den Grundpfeilern der

Freiheit ruhe, könne sie gewährleisten.891

Für die Vorkämpferin der Frauen-

emanzipation ist „wahre Freiheit [...] die Gottheit, die man nicht auf dem oder jenem

Berge nur anbeten kann, sondern die man verehren und ihr dienen muß und kann

allenthalben, wo ihr auch noch kein Tempel errichtet ist.“892

Louise Ottos Wahlspruch

„Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen“ zierte den Kopf des in Meißen

verlegten Blattes.

Demokratie, bekundete eine Beiträgerin der Frauen-Zeitung, sei die Religion der

Frauen; Dienst an der Freiheit ist daher eine weibliche Aufgabe, wie einer jener Artikel

bekundet, der „unter den Vornamen schüchterner Frauen, die sich scheuten, ihren

887 Vgl. Vierhaus, Ideologie, 105.

888 Die Freiheit auf der Bühne, in: Glasbrenners komischem Volkskalender 1849, zit. nach: Kalkschmidt,

Freiheit, 83.889

Louise Otto, Die Freiheit ist unteilbar, in: Frauen-Zeitung Nr. 1 vom 21.04. 1849, 2.890

Ebd.891

Vgl. ebd.892

Ebd.

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ganzen Namen der Öffentlichkeit zu verraten“, erschien.893

Die Autorin Martha gibt

eine Charakterskizze der freiheitsliebenden Frauen, wenn sie ausführt: „Liebe ist der

Grundzug unseres Charakters, wir dienen leicht und freudig der Freiheit, denn wohl

freier von Selbstsucht als der Mann gönnen wir allen ihre Rechte, ihre freie individuelle

Entwicklung.“894

In Erwartung neuerlicher, restriktiver werdender Pressegesetze stellte

die Zeitung mit Jahresende 1850 vorsorglich ihr Erscheinen ein. Louise Otto resümierte

vor der „Suspensation“ nicht ohne Stolz, dass die Frauen-Zeitung „dem Reich der

Freiheit Bürgerinnen geworben“ hat.895

Deutschlands bessere Hälften mussten aller-

dings noch bis 1919 warten, bis sie beispielsweise gleichberechtigt an freien Wahlen

teilnehmen konnten.

In etwa parallel mit dem Verlauf der Märzrevolution, um die längerfristige Qualitäts-

veränderung des Freiheitsbegriffs zu charakterisieren, ist der endgültige Umschwung

vom ständischen Freiheitsverständnis zu einem naturrechtlich basierten Gedanken-

modell zu verzeichnen.896

Die Vorrangstellung wurde nun, wie bereits herausgearbeitet,

der nationalstaatlichen Einigung eingeräumt. Statt des nach innen gerichteten Freiheits-

gedankens idealistischer Prägung entwickelte sich ein außenpolitisch dominiertes

Begriffsverständnis zum vorherrschenden im Diskurs der zweiten Hälfte des 19.

Jahrhunderts. Die größte Gebietskörperschaft des Reiches, Preußen, setzte sich an die

Spitze der Einigungsbewegung, weil ihr Protagonist Bismarck erkannte, dass in diesem

Zusammenhang die Möglichkeit für eine Profilierung der preußischen Position und die

damit verbundene Option eines Vorherrschaftsanspruchs Preußens verborgen lag. Dem

Bürgertum, das ein besonderes Vertrauen in die Wohltätigkeit des Staates hatte, kam

dies entgegen, woraufhin das Spannungsverhältnis von Einheit und Freiheit wuchs.897

Schon bald übertraf das moralische Ansehen von Blut und Eisen898

dasjenige der

Freiheit.899

Jacob Talmon bezeichnete die Mitte des 19. Jahrhunderts als Epoche der Hochflut

des politischen Messianismus und Kollektivismus, in der die Hauptkonfliktlinie

zwischen Freiheit und Spontaneität der Menschen einerseits, und Massen-

organisationen, organischen Wesenheiten und der Komplexität der industriellen

893 Louise Otto, Abschiedswort, in: Frauen-Zeitung Nr. 52 vom 31.12. 1850, 1-3; hier: 3.

894 Martha, Demokratie, die Religion der Frauen, in: Frauen-Zeitung Nr. 25 vom 22.06.1850, 2 f.; hier: 2.

895 Louise Otto, Abschiedswort, in: Frauen-Zeitung Nr. 52 vom 31.12. 1850, 1-3; hier: 3; 1.

896 Vgl. Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 490; Maier/Oberreuter, Herkunft, 167.

897 Vgl. Kaschuba, Nation, 96. Vgl. auch: Mommsen, Freiheit, der die Spannung zwischen den Postulaten

der Freiheit und der nationalen Einheit als „Grundthema der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahr-

hunderts“ benennt (aaO., 15).898

Vgl. zu dieser Parole: Jähne, Blut.899

Vgl. Anderson, Freedom, 10.

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Beziehungen andererseits, anzusiedeln sei.900

Auch Ludwig von Mises, ein konse-

quenter Vertreter eines methodologischen Individualismus,901

sieht in ähnlicher

Perspektivierung das wichtigste Ereignis der politischen Geschichte des 19. Jahr-

hunderts in der Verdrängung des Liberalismus durch den Etatismus, der in Sozialismus

und Interventionismus übergegangen sei.902

Gerade auf dem rechten Flügel des Liberalismus wurden stark organizistisch-

staatsbezogene Vorstellungen vertreten, die davon ausgingen, der überindividuellen

Kollektivwirklichkeit komme ein Vorrang gegenüber dem Individuum zu.903

Indem der

Versuch unternommen wird, eine übergeordnete Ebene zu konstruieren, innerhalb derer

dem Staat die Schutzfunktion für Recht und Freiheit zukommt, wird nicht mehr Freiheit

vom Staat, sondern die pflichtgemäße Bindung an diesen im Interesse der Gesamtheit

betont.

Die Abschaffung der so genannten Vielstaaterei, die als historische Hypothek

fingierte, ging außerhalb der republikanischen Freiheitsvorstellung mit dem vielfach

vertretenen Bedürfnis nach Unterordnung unter einen einzigen Herrscher einer geeinten

deutschen Nation einher.904

Im Gegenstreit zu dieser Argumentation wurde nach 1848

nur vereinzelt auf eine durch die Landeshoheit begründete spezifisch „teutsche Libertät“

verwiesen, die sowohl innerstaatliche wie auch äußere Selbständigkeit verbürge, sofern

900 Vgl. Talmon, Messianismus, 9: „Die Annahme, der individuelle Selbstausdruck würde um so freier

und vollkommener sein, je gebundener die Kollektivordnung ist, leitete sich nicht von dem Begriff des

Menschen, wie er tatsächlich ist, her, sondern von der Vorstellung, wie er sein sollte und sicherlich

werden würde; gegebenenfalls sollte man ihn dazu bringen, so zu werden. Die Nichtanpassung des

Rebellen oder Widerspenstigen sei nicht als Argument gegen den Anspruch des Systems auf

Verkörperung der Harmonie zu werten, sondern als Beweis für die verderbte Natur des sich nicht

anpassenden Individuums. In einer höchst komplexen Gesellschaft würde sich dies als ernster erweisen

als in einer verhältnismäßig einfachen vorindustriellen Zeit.“901

Vgl. Vanberg, Soziologien, 85-94, hier: 86.902

Vgl. Mises, Gefahren, 65. Zu dem etatistischen Mythus führt er in seiner 1939 entstandenen Studie zu

den Gefahren des transzendental überhöhten Kollektivismus aus: „Hand in Hand mit der Staatsvergottung

geht der Heroenkult. Der strahlende Held wird, durch den Weltgeist erleuchtet, Volk und Staat dem Heil

entgegenführen. Nichts macht der Etatist der modernen Gesellschaftslehre und Geschichtsschreibung

mehr zum Vorwurf als das, daß sie den Glauben an die übermenschliche Leistung großer Männer zerstört

hat. Er träumt vom Retter, vom Führer, vom Diktator. Überflüssig ist es, sich den Kopf zu zermartern, um

den Weg der Verwirklichung der Utopien zu entdecken. Dem Führer wird es der Weltgeist schon

eingeben. Dem Heros zur Seite stehen seine Paladine, die Beamten. Sie sind die Priesterschaft des Gottes

Staat. [...] Der Kultus des Staates mündet naturgemäß in den Kultus der Gewalt ein. [...] Wie der arme

Sünder vor Gott arm und bloß dasteht, so sieht der Etatismus den einzelnen in erbärmlicher Nichtigkeit.

Das Wohl des einzelnen gilt nichts, wenn die höheren Interessen des Staates auf dem Spiele stehen. [...]

Die etatistische Ethik spricht dem Individuum die Fähigkeit ab, selbst zu erkennen, was ihm und dem

Ganzen frommt. Was als nützlich oder als schädlich angesehen werden soll, wird von der Regierung

bestimmt. Der Untertan hat blind dem Führer zu folgen. Nicht der Untertan, der Führer allein hat zu

bestimmen, was gut, richtig und sittlich ist. Man kann diese Lehre nur dann aufrechterhalten, wenn man

überzeugt ist, daß der Führer oder die Führer nicht irrende Menschen sind wie alle übrigen Sterblichen,

sondern Statthalter Gottes auf Erden. Jede nichtliberale Gesellschaftslehre mündet unausweichlich in die

Theokratie ein.“ (AaO., 89-91).903

Vgl. für das Nachfolgende: Nipperdey, Deutsche Geschichte, 386 f.904

Vgl. z.B. das Gedicht Wilhelm Raabes unten: Kap. 4.1.10, 137.

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sie sich nicht gegen das Reich richte.905

In den Parolen „durch die Freiheit zur Einheit“

und „durch die Einheit zur Freiheit“ fand die Kontroverse ihren Ausdruck,906

wobei

Freiheit in der letzten Perspektive nicht als primordial angesehen wird, sondern als

subordinierte Komplementärbedingung der nationalen Einheit. Nicht eine Erklärung der

Menschenrechte, sondern die Rechte des deutschen Volkes waren gemäß diesem

Interpretationsansatz das vorläufige Resultat der letztendlich gescheiterten Verfassungs-

gebung.

Die beiden in der Paulskirche verhandelten Hauptproblempunkte von nationaler

Einheit und konstitutionell garantierter Freiheit blieben also weiterhin virulent, ihre

Lösung schien gar in noch weitere Ferne gerückt zu sein.907

Freiheit sollte, so die sich

nun immer stärker durchsetzende Mehrheitsmeinung, deduktiv von außen herbeigeführt

werden, da induktive freiheitliche Konstitutionalisierungsversuche, wie sie als Ergebnis

der revolutionären Ereignissen von 1848 und 49 intendiert waren,908

nicht zu den

gewünschten Erfolgen geführt hatten. Die Revolution wurde in den Augen des

bürgerlichen Liberalismus daher immer mehr zu einer Niederlage umgedeutet.909

Doch

trotz der aus liberaler Sicht unerfreulichen Resultate hatte die bürgerliche Freiheitsidee

gemeinsam mit dem Bestreben nach der deutschen Einheit im so genannten Vormärz,

gerade auch in Form der Studentenbewegung, ihre Blütezeit.910

Das Deutungsmuster

der „deutschen Freiheit“ war in aller Munde und kam sowohl für als auch gegen die

Revolutionäre zum Einsatz.

4.1.10 Der nachrevolutionäre Freiheitsbegriff und die Beschwörung der deutschen

Assoziationskraft – „so geht leicht über einer neuen Einheit die längst

besessene Freiheit unter“

Trotz der Rücknahme der Verfassungsbemühungen waren die 50er- und 60er-Jahre eine

Übergangsphase mit wichtigen Errungenschaften.911

Die „Aufhebung des National-

bewusstseins in Freiheitsbewusstsein, der Liebe zum Stamm in Liebe zur Demokratie“,

905 Vgl. [Art. Landeshoheit, in:] Heuss, Politik, 114.

906 Vgl. Heuss, 1848, 221; Miller, Problem, 142.

907 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 661 f.

908 Vgl. zum Hergang der Ereignisse z.B.: Botzenhart, 1848/49; Hachtmann, Epochenschwelle; Hein,

Revolution; Siemann, Revolution; Valentin, Geschichte.909

Vgl. Mommsen, Jahrhunderte, 387.910

Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 80 f. Vgl. zum Verhältnis von politischer Jugendbewegung und Vormärz

insgesamt: Hardtwig, Vormärz, bes. 9-20.911

Vgl. Mommsen, Jahrhunderte, 390; zur Nachhaltigkeit der Revolution: Wehler,

Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, 776-779.

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134

wie es sich Arnold Ruge zur Aufgabe gesetzt hatte, blieb allerdings Idee.912

Dennoch

hatten etliche Regelungen, die aus der Revolution und deren Umsetzung in der

Paulskirchenversammlung hervorgingen, weiterhin Bestand, wie sich zusätzlich ein

sozialer Liberalismus mit dem industriellen Aufschwung Deutschlands herausbildete.913

Friedrich Naumann und Hermann Schulze-Delitzsch914

gehören zu den bekanntesten

Vertretern dieser Richtung, die auf der Erkenntnis beruht – um Schulze-Delitsch zu

zitieren –, „daß es die soziale Frage ist, deren Lösung eine der Hauptaufgaben der

Gegenwart bildet“.915

Ihnen zufolge sollte die klassische liberale Lehre im Licht der

neuen gesellschaftlichen Verhältnisse reformuliert werden,916

was effektiv darin zum

Ausdruck kam, dass sich Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum konzeptionell

aneinander annäherten.917

Der sozialliberalen Überzeugung lag die Einsicht zugrunde,

dass es infolge der sich stets verschärfenden gesellschaftlichen Differenzen zu einer

Abkehr von dem Ideal eines individuumsgestützten Fortschritts kommen müsse, um die

Ablehnung positiver staatlicher Eingriffe zu beendigen und aktive freiheitliche Sozial-

politik zum Wohl der Gesamtheit zu betreiben.918

Mit der Gründung von

Genossenschaften und durch verstärkte Volksbildungsmaßnahmen sollten die stets

dringlicher werdenden sozialen Probleme behoben werden.919

Hier setzte sich eine

ökonomisch begründete Staatsbetrachtung, die vom Staat als einer übergeordneten

Genossenschaft ausging, ab von der Vorstellung der noch stärker auf Einheitlichkeit

ausgerichteten Ideen vom Staat als Anstalt oder als Ordnung.920

Gleichwohl muss

angemerkt werden: Die liberalen Genossenschaften stellten keine Gewerkschaften dar,

sondern waren als Vereinigungen zur selbstverantwortlichen Vertretung von Interessen

zugunsten des Gemeinwohls konzipiert.921

Otto von Gierke erteilt in seinem Deutschen

Genossenschaftsrecht922

einem kollektiven Denkmodell innerhalb des Liberalismus

seine Zustimmung. In ähnlicher Weise arbeitete Schulze-Delitzsch die auf den Indivi-

912 Arnold Ruge an Legationsrath B., London, 10. November 1851, zit. nach: Jansen (Bearb.), Revolution,

245-251; hier: 245.913

Vgl. De Ruggiero, Geschichte, 253-259. Als Vertreter dieser Richtung werden von ihm v.a. Brentano

und Schulze-Gaevernitz genannt. 914

Vgl. zu den Bemühungen Schulze-Delitschs, eine liberale Arbeiterbewegung zu initiieren: Conze,

Möglichkeiten.915

Hermann Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und das Assoziationswesen, zit. nach: Gall/Koch

(Hgg.), Liberalismus, Bd. 4, 163-184; hier: 163.916

Vgl. Mommsen, Jahrhunderte, 395 f.917

Vgl. Offermann, Arbeiterbewegung, 158-267.918

Vgl. Gall, Gesellschaft, 351.919

Vgl. Fenske, Denken, 469.920

Vgl. Dyson, State, 138 f.921

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 738.922

Vgl. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 1-4.

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dualismus reagierende Idee der genossenschaftlichen Selbsthilfe aus.923

Die Assoziation

wird von beiden als vermittelndes Element begriffen, das den Einzelnen aus seiner

Individualität herausführt, ohne jene vollständig zu zerstören.924

Insbesondere Gierke

schildert eindrücklich den Widerstreit zwischen den konkurrierenden Ideen von

Gesamtheit und Individuum und markiert damit zugleich eine weitere Verschiebung des

Deutungsmusters „deutsche Freiheit“ zugunsten der Kollektivität:

„So tritt auch meist eine neu sich bildende, dem Umfang oder dem Inhalt nach

ausgedehnte Einheit in scharfen Gegensatz gegen die ihr untergeordneten Einheiten

und sucht Gestaltungen, die weiser wären nur zu beschränken, völlig zu

unterdrücken; so versagt umgekehrt die neu errungene Freiheit häufig der

Allgemeinheit auch das, was sie notwendig opfern muß, wenn sie nicht zum

Individualismus führen will. Wird dann nicht eine annähernde Ausgleichung ge-

troffen, so geht leicht über einer neuen Einheit die längst besessene Freiheit unter,

oder eine neue Freiheit löst eine altbegründete Einheit auf, bis allmählich, wenn

überall noch Entwicklungsfähigkeit vorhanden ist, das niedergeworfene Prinzip

sich mit neuem Gehalt füllt und neuer Kampf entbrennt.“925

Freiheit soll in Gemeinschaft verwirklicht werden, deshalb sind in Otto von Gierkes

Denken Individuum und Gemeinschaft gleichursprünglich und gleichberechtigt.926

Den

Germanen spricht der Staats- und Privatrechtler dabei in einem bis auf Tacitus

zurückgehenden, nahezu topischen Interpretationsmuster zu, eine besonders ausgeprägte

Liebe zur Freiheit gehabt zu haben.927

Bei der Übernahme der Idee einer „germanischen Freiheit“, auf deren Ursprünge und

Problematik hier zu verweisen ist, wird nicht reflektiert, dass es sich um ein bewusst

stilisierend eingesetztes Kontrastmittel des Tacitus handelte, um die Situation des

Römischen Reichs zu dramatisieren.928

Die von Tacitus vorgezeichnete Gleichsetzung

des Germanischen mit dem Deutschen griffen späterhin die Humanisten auf, in deren

Folge pietistische Kreise aufgrund der damit verbundenen Anknüpfungsmöglichkeit an

die angebliche Sittenstrenge der Germanen den Vorstellungszusammenhang weiter-

tradierten.929

Fichtes Reden an die deutsche Nation und Arndts Geist der Zeit sind

Texte, die vergleichbare Argumentationsmuster aufnehmen,930

wie insgesamt die

politische Dichtung und Publizistik der Befreiungskriegszeit auf germanische oder

923 Vgl. Aldenhoff, Selbsthilfemodell, bes. 60-62 (zur Konzeption); 63-66 (zu Realisierungsversuchen).

924 Vgl. ebd., 60.

925 Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 1, 2.

926 Vgl. zu Gierkes an der Idee des Gemeinwohls orientierter politischer Theorie: Malowitz, Freiheit, bes.

144 f.927

Vgl. hierzu eine aus dem Jahr 1935 stammende Untersuchung von Wolfgang Samtleben, der die

politische Nutzbarmachung der Idee einer altgermanischen Volksfreiheit im vormärzlichen deutschen

Liberalismus (bei Dahlmann, Welcker, Rotteck, Benzenberg und Gervinius) für seine Gegenwart

untersucht (ders., Idee). Zum Verhältnis von Topik und Politik: Hennis, Politik, 89-115. 928

Vgl. Hermand, Vorwort, bes. 6 f.929

Vgl. Hermand, aaO., 9 f.; Kipper, Germanenmythos, 31-73.930

Vgl. Fichte, Reden; Arndt, Geist, Bd. 1-4.

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deutsche Freiheitsvorstellungen rekurriert931

und die pseudo-historische Begründung der

Freiheit im deutschen Kontext verstärkt neben die naturrechtlich-rationalistische und die

individualistische Interpretationsrichtung treten lässt.932

Nicht die französischen Vor-

bilder, gegen die man sich antithetisch auflehnt, sondern die Traditionen einer genos-

senschaftlichen Selbstorganisation primärer Gesellschaftsformationen stehen hier-bei im

Vordergrund.933

Das deutsche Volk, welchem Otto von Gierke einen nationalhabituellen Zug hin zur

Universalität und die Fähigkeit zu staatlicher Organisation zuschreibt, besitze zudem

noch eine Gabe, die der Freiheitsidee einen besonderen Gehalt und der Einheitsidee eine

festere Grundlage verleihe: die Genossenschaftsbildung.

„Diese engeren Gemeinwesen und Genossenschaften, welche der Allgemeinheit

gegenüber aber selber Allgemeinheiten sind,“ ist Gierke überzeugt, „bieten allein

die Möglichkeit, eine große und umfassende Staatseinheit mit einer tätigen

bürgerlichen Freiheit, mit einer Selbstverwaltung zu vereinen. [...] Unser deutsches

Volk, ob es gleich, oder vielleicht weil es jene germanischen Grundanschauungen,

welche zur Universalität wie zur individuellen Freiheit drängen, beide aber durch

den Genossenschaftssinn versöhnen, tiefer noch als seine Schwesternationen aus-

bildete, hat länger und schwerer unter den Gegensätzen gelitten als jene. Vor

kurzem konnte man noch sagen, daß, wo es der Einheit bedurfte, die Selbständig-

keit der Glieder einen traurigen Triumph feierte, während in den Einzelstaaten vor

einer übertriebenen Staatseinheit die Freiheit der Gemeinden und Genossen-

schaften zu kümmerlichem Schein herabgesunken war. [...] Und jene Kraft, welche

die Germanen vom Beginn der Geschichte an auszeichnete und aus allen verhäng-

nisvollen Wechseln siegreich wieder hervorging, die schöpferische Assoziations-

kraft, lebt und wirkt mehr als in irgendeinem Volk im deutschen Volk von

heute.“934

Die Vorstellung von einer höheren Daseinsordnung, die auf korporativen

Vereinigungen beruht, zu denen unter anderen auch der Staat gehört, ist der theorie-

leitende Gesichtspunkt in Gierkes Werk.935

Neben die Genossenschaftsidee trat das

Konzept der Bildung als zweite Komponente liberaler Arbeiterpolitik, das zur Lösung

der individuellen wie der gesellschaftlichen Problemlagen eingesetzt werden sollte.936

Auf der Grundlage solcher pseudohistorisch argumentierenden Überlegungen kam es

immer wieder zu dem Versuch, die Eigenheiten eines deutschen Nationalcharakters

gegenüber anderen Nationen hervorzuheben. Mitte des 19. Jahrhunderts vermerkte

beispielsweise Theodor Fontane, durch einen Englandaufenthalt zum Vergleich der

931 Vgl. Hermand, Traum, 19-44; bes. 33-42.

932 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 290.

933 Vgl. ebd.

934 Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 1, 3 f.

935 Vgl. Malowitz, Freiheit, 145.

936 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 738 f.

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Freiheitstraditionen angeregt,937

Unterschiede und „Parallelen zwischen deutschem und

englischem Wesen“.938

Den Inselbewohnern spricht er ein besonderes Verhaftetsein an

Formen zu, wohingegen die Deutschen den Inhalt bevorzugten.939

Andererseits sei

England praktisch und Deutschland ideal.940

Über die besonderen

Kollektivcharakteristika seiner Landsleute berichtet Fontane mit der Perspektive auf

eine den Eigenarten angemessene Regierungsform:

„Wir haben Bevormundung und Polizei, und der ‚beschränkte Untertanenverstand’

bildet immer noch die Basis von allerhand Gut- und Schlechtgemeintem; wir

werden klein genommen und sind’s in unserer Jagd nach Titeln und Orden, wir

sind zu Hunderttausenden noch die Philister und Krähwinkler der Weltgeschichte

und stehen doch da als die Träger und Apostel einer echten Demokratie. Das Wort

von der Freiheit und Gleichheit ist nirgends weniger eine Phrase, als bei uns. Wir

haben keine politische Demokratie, aber eine soziale.“941

Fontane beobachtet die gesellschaftlichen Entwicklungen kritisch,942

obgleich er von

der Spezifik einer deutschen Freiheitstradition mit ihren sozialen Zügen, die sich bis auf

die Wahrnehmung des politischen Ordnungssystems übertragen, überzeugt ist.

Nachdem die Bemühungen des liberaldemokratischen Bürgertums um freiheitlichere

Gestaltung des öffentlichen Lebens nahezu zum Stillstand gekommen waren, bot der

100. Geburtstag Friedrich Schillers Gelegenheit zur Sammlung der Kräfte.

Deutschlandweit fanden Festakte zu Ehren Schillers statt, was selbst den eher für seine

humorvollen Schilderungen der kleinbürgerlichen Sphäre bekannten Wilhelm Raabe

dazu veranlasste, gelegentlich einer Manifestation auf dem Wolfenbütteler Marktplatz

aufzutreten,943

um die erschwerlichen Zeitumstände zu beklagen.944

In pathetischem

Ton fragte der vom bisherigen Hergang der Freiheitsbewegungen enttäuschte

Dichter:945

„Wird nie ein Retter kommen diesem Lande? / Wird kein Befreier lösen

unsere Bande? / Wird der Messias nie erscheinen in der Welt?“946

937 Vgl. zum Englandaufenthalt Fontanes: Ahrens, Leben, 133-140.

938 Fontane, Sommer, 167. Vgl. den mit „Parallelen“ überschriebenen Abschnitt in Fontanes „Ein

Sommer in England“ (aaO., 166-178). Fontane hielt sich im Jahr 1852 für mehrere Monate in London

auf.939

Vgl. ebd., 167.940

Vgl. ebd., 171.941

Ebd.942

Vgl. zum Verhältnis Fontanes zur Gesellschaft: Lübbe, Fontane.943

Vgl. zu Raabes Wirken in Wolfenbüttel: Fuld, Wilhelm Raabe, 99-162; bes. 143-48; Studnitz,

Wilhelm Raabe, 119-148 (allerdings ohne Erwähnung der Schillerfeier).944

Vgl. zum Hergang der Schillerfeier am 10. November 1859: Noltenius, Dichterfeiern, 113-143. Vgl.

zu Raabes Zeitkritik: Göttsche, Zeitreflexion.945

Pongs weist darauf hin, dass Raabe sich später satirisch von der Schillerfeier und dem von ihm dort

vorgetragen Festgedicht distanziert hat: ders., Wilhelm Raabe, 130.946

Wilhelm Raabe, Zum Schillerfest 1859, zit. nach Boberach/Hartkopf/Koops u.a. (Hgg.), Freiheit, 56.

Vgl. zu den zitierten Versen auch: Noltenius, Dichterfeiern, 122 f.

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Ferdinand Lasalle947

ist sicherlich nicht die Idealbesetzung, die dem Bildungsbürger

Raabe als „Befreier“ vorschwebte, doch fand Lasalle Zuspruch in breiten

Bevölkerungsschichten. Vielfach wurde er als Messias des Jahrhunderts angesehen.948

Anfang der 60er-Jahre war er mehrfach öffentlich dazu aufgefordert worden, an die

Spitze der Werktätigen zu treten.949

Lasalle entgegnete der 1862 in Briefform an ihn

herangetragenen Bitte, „Führer“950

der Arbeiterbewegung zu werden, mit einem offenen

Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen Deutschen

Arbeiterkongresses zu Leipzig.951

Ende März rang Lasalle sich mit der Veröffentlichung des Antworttextes dazu durch,

einen zentralen Arbeiterverband mitzubegründen, wobei er sich darüber im Klaren ist,

dass „der Arbeiter die Erfüllung seiner legitimen Interessen nur von der politischen

Freiheit erwarten“ kann.952

Die von ihm kritisierte Fortschrittspartei sei mit dem

Anliegen, „auch nur die geringste reelle Entwicklung der Freiheitsinteressen herbeizu-

führen“, gescheitert.953

Eine Partei, die „in der preußischen Regierung den berufenen

Messias für die deutsche Wiedergeburt“ sehe, beraube sich jeden Anspruchs, den

deutschen Arbeiterstand zu repräsentieren.954

Auch einer großdeutschen Lösung unter

Einschluss Österreichs erteilt Lasalle eine Absage, da eine Partei in diesen

geopolitischen Ausmaßen von vornherein „jede Hoffnung, [beseitige,] eine reelle

Entwicklung der Freiheit des deutschen Volkes zu erwarten“.955

Die Gründer des konservativen Preußischen Volksvereins traten vehement gegen den

auch von Lasalle und seiner neu gegründeten Organisation eingeklagten „Bruch mit der

Vergangenheit im Innern unseres Staates“ und für einen Ausbau der Verfassung „im

Sinne deutscher Freiheit“ ein, was ihrer Ansicht nach „in Liebe und Treue zu König und

Vaterland“ geschehen sollte.956

Der rechtsliberal eingestellte Heinrich von Treitschke957

mischte sich mit seinem 1861 erschienenen Aufsatz, der den Titel Die Freiheit958

trägt,

in die durch die Schrift Humboldts mitinitiierte Diskussion über die Grenzen der

947 Vgl. Beyme, Theorie, 781-789.

948 Vgl. Schreiner, Messias, 9.

949 Vgl. Ramm, Ferdinand Lasalle, 487-492.

950 Vgl. zur Verwendung des Wortes „Führer“ in der Arbeiterbewegung: Bartholmes, Gebrauch.

951 Vgl. Ferdinand Lasalle, Offenes Antwortschreiben an des Zentralkomitee zur Berufung eines

allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig, 1863, in: Dowe/Klotzbach (Hgg.), Dokumente,

112-142.952

Ebd., 112.953

Ebd., 114.954

Ebd., 115.955

Ebd.956

Gründungsprogramm des Preußischen Volksvereins vom 20.09. 1861, zit. nach: Fenske (Hg.), Weg,

227 f.957

Vgl. Trautmann, Herausforderung, 40.958

Treitschke, Freiheit, 11.

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139

Wirksamkeit des Staates ein959

und konnte damit auch in England und Frankreich auf

Aufmerksamkeit rechnen.960

Treitschke setzt sich mit seiner klassischen

Inhaltsbestimmung des nachrevolutionären Freiheitsbegriffs,961

die in analytischer

Betrachtungsweise etliche Wandlungen des Deutungsmusters erkennen lässt, die Auf-

gabe zu prüfen, ob von den Anhängern der Schule, die wie Mill „das nordamerikanische

Staatsleben [...] preisen, welches von der schönen Menschlichkeit des deutsch-

hellenischen Klassizismus wenig oder gar nichts aufzuweisen hat“, wirklich die

Grundsätze echter Freiheit gepredigt würden.962

Im Gegensatz zu Humboldt weist der

Nationalliberale Treitschke dem Staat eine eher positive Ausrichtung zu, was sich

selbstverständlich im Freiheitsbegriff abbildet.963

Seine Hauptthese ist, dass der Staat

als ein notwendiges Übel sein Ziel in sich selbst hat und ebenso wie jeder Staatsbürger

ein reales Leben führt.964

Durch den Zuwachs an persönlichen und sozialen Rechten

müsse dem Staat als Gegengewicht zu dieser Entwicklung mehr Einfluss zugesprochen

werden, um dadurch in deduktiver Weise individuelle Freiheit zu ermöglichen.965

Treitschkes Vorstellung impliziert die Rechtfertigung positiver Staatsaktivitäten mit der

Begründung, diese seien zum Wohl des Individuums.966

Deshalb übt Treitschke Kritik

daran, dass viele Beobachter im Gefolge Mills im Staat nur die erschreckende Macht

sähen, welche die Freiheit des Menschen bedrohe.967

Dahingegen stellt der Historiker,

der an der Schaffung einer deutschen Tradition interessiert ist,968

einen paternalistischen

Staats- und Freiheitsbegriff, der in einer überzeitlichen Vorstellung auf die organische

Gesamtheit der Bevölkerung abgestellt ist.

„Der Staat, der die Ahnen mit seinem Rechte schirmte, den die Väter mit ihrem

Leibe verteidigten, den die Lebenden berufen sind auszubauen und höher ent-

wickelt Kindern und Kindeskindern zu vererben, der also ein heiliges Band bildet

zwischen vielen Geschlechtern, er ist eine selbständige Ordnung, die nach ihren

eigenen Gesetzen lebt. Niemals können die Ansichten der Regierenden und der

Regierten sich gänzlich decken; sie werden im freien und reifen Staate zwar zu

demselben Ziel gelangen, aber auf weit verschiedenen Wegen. Der Bürger fordert

vom Staate das höchstmögliche Maß persönlicher Freiheit, weil er sich selber

ausleben, alle seine Kräfte entfalten will. Der Staat gewährt es, nicht weil er dem

959 Treitschke ernennt in seiner ihm eigenen, scharfzüngigen Diktion Humboldt zu einem „Apostel der

Humanität“.960

Als bekanntester Rezipient der Humboldtschen Jugendschrift, die erst Jahrzehnte nach ihrer

Entstehung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist, darf John Stuart Mill gelten.961

Vgl. Bleicken/Conze/Dipper u.a., Freiheit, 518.962

Treitschke, Freiheit, 11. Andererseits führt Treitschke den Materialismus des englischen Lebens im

Vergleich zur „Freiheit von jenseits des Rheins“ als beispielhaft an (Treitschke, Aufsätze, 732).963

Vgl. Knoll, Führungsauslese, 100.964

Vgl. Krieger, Idea, 367.965

Vgl. ebd., 368.966

Vgl. De Ruggiero, Geschichte, 251.967

Vgl. Treitschke, Freiheit, 19.968

Vgl. Talmon, Myth, 104.

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einzelnen Bürger gefällig sein will, sondern weil er sich selber, das Ganze im Auge

hat.“969

Alle Vorstellungen von Freiheit, die die Freiheit nicht innerhalb des Staates suchen,

lehnt Treitschke ab, da für ihn Staatsmacht und Volksfreiheit unumgänglich miteinander

verknüpft sind. So verweist er auf historische Besonderheiten innerhalb der deutschen

Entwicklung, indem er erklärt, dass auch der Absolutismus als Träger der Freiheit

auftreten könne, was sich im Wirken von Leibnitz, Pufendorf, Thomasius und anderen

gezeigt habe,970

und macht auf die regionale Ausdifferenzierung des Freiheitsgedankens

aufmerksam, wenn er sich dazu äußert, dass Freiheit im Fall des Deutschen Reichs stark

von einem in Anlehnung an die englische Theoriebildung so genannten „self-

government“ geprägt werde.971

Staat und Individuum gehen im Denken Treitschkes eine symbiotische Beziehung

ein, die sich zum Vorteil aller Beteiligten auswirken soll: „Für den Staat besteht die

physische Notwendigkeit und die sittliche Pflicht, alles zu befördern, was der

persönlichen Ausbildung seiner Bürger dient. Und wieder besteht für den einzelnen die

physische Notwendigkeit und die sittliche Pflicht, an einem Staate teilzunehmen und

ihm jedes persönliche Opfer zu bringen, das die Erhaltung der Gesamtheit fordert, sogar

das Opfer des Lebens.“972

Der moderne Staat dürfe fernerhin auf die ausgedehnte positive Tätigkeit für die

Wohlfahrt des Volkes nicht verzichten, weshalb der Staat nicht als Gegner der Freiheit

angesehen werden dürfe, da jede Wirksamkeit der Regierung, die die Selbständigkeit

der Bürger fördere, segensreich sei, wohingegen jedes Regierungshandeln, das die

Selbständigkeit der Einzelnen unterdrücke, negative Auswirkungen zeitige.973

Kritisch

sieht Heinrich von Treitschke im kontrastiven Vergleich zu den Gepflogenheiten in

Großbritannien einige konkrete Bestimmungen in der preußischen Verfassung, die,

obgleich sie die Unverletzlichkeit der Wohnung gewährleisteten, starken Einschränk-

ungen unterliege.974

In der Verbindung der Freiheitsidee mit der Hoffnung auf den Nationalstaat zeigt

sich in Treitschkes Beurteilung der Lage im Deutschen Reich die überindividuelle

969 Treitschke, Freiheit, 19.

970 Vgl. Treitschke, Politik, Bd. 1, 160.

971 Treitschke, Politik, Bd. 2, 162.

972 Treitschke, Freiheit, 20.

973 Vgl. ebd., 22.

974 Treitschke, Aufsätze, 741.

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Prägung des von ihm erwünschten „Freiheitskampfes“.975

Selbst wollte das Individuum

sich frei entfalten, tut es dies in seiner Sicht immer unter der Obhut des umfassenderen

Staates: „Wie die persönliche Freiheit, welche wir meinen, nur gedeihen kann unter der

Segnung der politischen Freiheit; wie die allseitige Ausbildung der Persönlichkeit,

welche wir erstreben, nur da wahrhaft möglich ist, wo die selbsttätige Ausübung

mannigfaltiger Bürgerpflichten den Sinn des Menschen erweitert und adelt: so führt uns

heute jedes Nachdenken über sittliche Fragen auf das Gebiet des Staates.“976

Treitschkes

Schrift verleiht der weiteren Verschiebung des Deutungsmusters einer spezifisch

deutschen Freiheit hin zu einem positiven Freiheitsverständnis Ausdruck und kann als

Beleg dafür angesehen werden, dass sich eine auf kollektivistische Argumentation

gestützte Begriffsperzeption in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat.

4.1.11 Weitere Verschiebung zum Primat der Einheit – „Die Freiheit ist der

Einheit gegenübergestellt worden“

Die 60er- und beginnenden 70er-Jahre waren bestimmt vom Primat der Einheit, das

durch die restriktive politische Konstellation mitgeprägt war. Rückblickend suchte man

nach historischen Rechtfertigungen für das Versanden der Freiheitsbestrebungen, nur

vereinzelt hielten gemäßigte Liberale weiterhin Forderungen nach Verfassungsreformen

aufrecht.977

Im Vorfeld der Auseinandersetzung mit Dänemark, in der die Forderung

„Schleswig-Holstein-meerumschlungen“978

mit kriegerischen Mitteln entschieden

wurde, äußerte sich Ernst Ludwig von Gerlach süffisant über das Eintreten der

Liberalen für ein schleswig-holsteinisches Staatsganzes und skizziert die Veränderung

des Diskurses, in dem plötzlich der gesamte deutsche Liberalismus, „dem urkundliches,

aus der Geschichte der Jahrhunderte geschöpftes Recht und besonders ständische und

provinzielle Sonderrechte stets äußerst zuwider gewesen waren, und der solche Rechte

975 Treitschke, Freiheit, 26. Als ein vorbildliches Beispiel für einen erfolgreichen Freiheitskampf „in

einem Lande ohne Hauptstadt“ sieht Treitschke den durch Gustav Adolf herbeigeführten „Tag der

Befreiung“, durch den der deutsche Protestantismus gerettet und die Parität der Bekenntnisse gesichert

worden sei (Treitschke, Gustav Adolf, 275-286; hier: 282).976

Ebd., 42.977

Vgl. Mommsen, Freiheit, 28.978

Gerlach, Aufzeichnungen, Bd. 2, 258 (vom 15.11. 1863). Vgl. zu der Wendung „Schleswig-Holstein,

meerumschlungen, / Deutscher Sitte hohe Wacht“ das „Lied von Schleswig-Holstein“, das Matthäus

Friedrich Chemnitz 1844 dichtete (ders., Das Lied von Schleswig-Holstein, zit. nach: Volkmann [Bearb.],

Einheit, 224).

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überall und besonders in Preußen nach Möglichkeit brach und vertilgte“,979

begeistert

für die nationale Sache eintrete.

Die von Franz Duncker verlegte, demokratisch gesinnte Volkszeitung referierte im

Zusammenhang mit der Schleswig-Holstein-Frage auf das umstrittene Problemcluster

von Freiheit und Einheit.980

In der Ausgabe vom 16. August 1864 stand zu lesen, viele

Anhänger der Deutschnationalen Partei gäben in einem Kompensationstauschverfahren

für die Verwirklichung der deutschen Einheit freiwillig zehn Jahre der Freiheit her. Die

Volkszeitung trat der Losung der Nationalzeitung, die von der Einheit zur Freiheit

gelangen wollte, entgegen und spottete, diese wolle der Göttin der Freiheit einen Wech-

sel ausstellen, der erst nach der Einheit einzulösen sei.981

Der umgekehrte Weg, also von

der Freiheit zur Einheit, sei, so der Tenor der Argumentation der Volkszeitung, jedoch

zu bevorzugen.

Mit kriegerischen Mitteln drängten die Verfechter der Einheitsidee auf die

kämpferische Aneignung einer äußeren Einheit, da davon ausgegangen wurde, sie

bringe auch die Freiheit im Äußeren wie im Inneren mit sich. Immerhin hatte das

Geschehen seit 1864 diesen Weg als vielversprechend erwiesen. Das viel strapazierte

Verhältnis von Freiheit und Einheit sorgte immer wieder für Auslassungen, wie sie

beispielsweise Eduard Lasker vortrug, der sich im unmittelbaren Umfeld des Sieges von

Königgrätz im Jahr 1866 in einer Rede vor dem Preußischen Landtag für die Indemni-

tätsvorlage Bismarcks aussprach und zum Widerstreit der beiden Ziele erläuterte:

„Die Freiheit ist der Einheit gegenübergestellt worden. Ich [i.e. Eduard Lasker] für

meine Person sage – und das ist meine tiefe Überzeugung –, daß wir nie die

Freiheit erlangen werden, ehe nicht die Einheit in Deutschland hergestellt ist. Was

ist die Quelle aller Freiheit? Die Quelle aller Freiheit ist die Sicherheit des Staates.

[...] Erst wenn Deutschland zur vollen Einheit gelangt sein wird, erst dann wird die

Freiheit gewonnen sein und nicht bloß für Deutschland, sondern für ganz Europa.

Bis dahin bleiben wir dem ärgsten Feinde der Freiheit unterworfen, dem bewaff-

neten Frieden.“982

In der Zeit des Sieges gegen Dänemark gab also ein großer Teil des Liberalismus, der

sich mit Bismarcks Politik arrangierte hatte, die dynamische Konzeption der Gleich-

zeitigkeit von Freiheit und Einheit auf, indem reaktionäre Entwicklungen zur

Verwirklichung der Einheit anerkannten wurden.983

Ludwig Bamberger stellte im

Dezember 1866 wohl von der These geleitet, dass die deutsche Einheit der

979 Gerlach, Aufzeichnungen, Bd. 2, 258 (vom 15.11. 1863).

980 Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 166.

981 Vgl. ebd., 168.

982 Eduard Lasker, Liberales Votum für die Indemnität, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1, 594-604;

hier: 603.983

Vgl. Winkler, Nationalismus, 6.

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Machtstellung des Bürgertums und damit der Freiheit zugute käme, die aus seiner Sicht

rhetorische Frage:984

„Ist denn die Einheit nicht selbst ein Stück Freiheit?“985

Am 9. März 1867 sprach Karl Twesten als Abgeordneter der Nationalliberalen Partei

vor dem Reichstag des Norddeutschen Bundes über dessen Verfassung. Er nimmt auf

die konkrete Situation der Neukonstitution dieser Körperschaft Bezug und spricht mit

dem Hinweis auf die Einheitspräferenz in der Bevölkerung davon, dass

„in dem Deutschen Volke der Einheitsgedanke auch darum stets wieder mächtig

geworden ist, weil nur von der Einheit auch eine freiheitliche volkstümliche

Entwicklung der politischen Gestaltung Deutschlands erwartet werden konnte. Der

stets wiederholte Kampf um freiheitliche Staatsformen blieb fast hoffnungslos, so

lange in jedem einzelnen Territorium unter den naturgemäßen Schwankungen

zwischen politischer Anspannung und Erschlaffung stets der Kampf zugleich um

die Einheit Deutschlands und um die Freiheit geführt werden mußte. Und mit

Recht erwartet das deutsche Volk auch die freiheitliche Entwicklung gesichert zu

sehen, wenn der Kampf um die Einheit endlich einen glücklichen Abschluß

gewonnen hat, weil für die ruhige, friedliche, volkstümliche Entwicklung in einem

mächtigen Einheitsstaat weniger Schwierigkeiten stattfinden können, als unter dem

steten Gegenspiel der Kämpfe um die Macht und die Freiheit in den verschiedenen

äußerlich nebeneinanderstehenden Territorien.“986

In diese Zeit Ende der 60er-Jahre fällt auch die an den Konfliktlinien Freiheit und

Einheit ausgerichtete, bereits latent vorhandene Spaltung der liberalen Bewegung in

einen eher linksgerichteten und einen eher national orientierten, rechtsgerichteten

Teil.987

Am 12. Juni 1867 konstituierte sich unter Leitung von Rudolf von Benningsen

die Nationalliberale Partei, womit die Teilung einen institutionellen Ausdruck erhielt.988

Sie avancierte zur Partei der Reichsgründung.989

In ihrem Gründungsprogramm erkor

sich die Partei Folgendes zum Wahlspruch:

„Der deutsche Staat und die deutsche Freiheit müssen gleichzeitig mit denselben

Mitteln errungen werden. Es wäre ein verderblicher Irrtum, zu glauben, daß das

Volk, seine Fürsprecher und Vertreter nur die Interessen der Freiheit zu wahren

brauchen, die Einheit dagegen auch ohne uns durch die Regierung auf dem Weg

der Kabinettspolitik werde aufgerichtet werden. Die Einigung des ganzen Deutsch-

lands unter einer und derselben Verfassung ist uns die höchste Aufgabe der Gegen-

wart“990

.

984 Vgl. ebd., 8.

985 Die Frage des Wahlpreußen Bamberger findet sich in der Morgenausgabe der Nationalzeitung vom 4.

12. 1866, zit. nach: Winkler, Nationalismus, 8.986

Karl Twesten, Über die Verfassung des Norddeutschen Bundes, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 1,

605-628; hier: 610. Vgl. zum Norddeutschen Bund z.B.: Weber-Fas, Verfassung, 75-81.987

Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 385.988

Vgl. Schieder, Krise, 199 f.989

Vgl. Botzenhart, Verfassungsgeschichte, 106.990

Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei, Juni 1867, zit. nach: Mommsen (Hg.),

Parteiprogramme, 147-151; hier: 148.

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Am Ende des Programms wird das Thema nochmals aufgegriffen. Die Gegenwart

beweise, dass jeder Schritt zur verfassungsmäßigen Einheit zugleich ein Fortschritt auf

dem Gebiete der Freiheit sei oder wenigstens den Antrieb hierzu in sich trage.991

Selbst der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein trat einer ausdrücklich erwähnten

organischen Tendenz zur „Unterordnung unter das große Ganze“ folgend für den frei-

heitlichen deutschen Einheitsstaat als Ziel seiner Politik ein.992

Der föderalistisch

organisierte Vereinstag der Deutschen Arbeitervereine beschloss auf seiner Zusammen-

kunft 1868 in Nürnberg unter Vorsitz von August Bebel ein gemeinsames Programm,

dessen Leitgedanken den Gründungsschriften der Internationalen Arbeiterassoziation

entstammten.993

Neben der unter Punkt eins aufgestellten Forderung nach „Emanzi-

pation (Befreiung) der arbeitenden Klassen“ durch einen eigenständigen Kampf trat

unter Punkt drei die Forderung nach politischer Freiheit. Letztere Forderung wurde als

eine „unabdingbare Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden

Klassen“ eingeschätzt,994

obgleich die Solidarität der Arbeiterschaft in dem Dokument

im Vordergrund steht. In nahezu identischer Formulierung fand der erwähnte Passus

Eingang in das 1869 auf dem Eisenacher Kongress beschlossene Programm der

Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.995

Ihr Vorsitzender August Bebel, um auf einen konkreten Umsetzungsversuch dieser

Positionen zu sprechen zu kommen, kritisierte am Nikolaustag des Jahres 1870 vor dem

Norddeutschen Bundestag, dass der dort vorgeschlagene Verfassungsentwurf „in

freiheitlicher Hinsicht keine Garantien bietet“.996

Bebel sieht im Vergleich mit dem

vorhergehenden Dokument eher Verschlechterungen. 1871 beklagte er in einem Rück-

blick vor dem Reichstag, der Liberalismus habe seine 1866 noch teilweise vorhandenen

Anstrengungen aufgegeben, „die in den Verfassungen liegenden Keime freiheitlich

auszubauen.“997

Notwendigerweise leide die Freiheit unter einer starken Regierung.998

991 Vgl. ebd., 151.

992 Grundzüge der Bestrebungen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereines, 1867, zit. nach: Mommsen

(Hg.), Parteiprogramme, 308-310; hier: 310.993

Vgl. Miller, Grundwerte, 19.994

Programm des Vereinstages der Deutschen Arbeitervereine, beschlossen in Nürnberg 1868, in:

Dowe/Klotzbach (Hgg.), Dokumente, 170.995

Vgl. Programm und Statuten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, beschlossen auf dem Kongress

in Eisenach 1869, in: Dowe/Klotzbach (Hgg.), Dokumente, 172-176; hier: 172. Dort heißt es: „Die

politische Freiheit ist die unentbehrlichste Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden

Klassen.“ Vgl. hierzu: Potthoff/Miller, Geschichte, 38-41.996

August Bebel, Rede im Norddeutschen Reichstag zum Entwurf der Verfassung für das deutsche Reich,

in: ders., Reden, 130-135; hier: 130.997

August Bebel im Deutschen Reichstag über Verfassungsfragen (17. Sitzung, 8. November 1871), zit.

nach: Fenske (Hg.), Reich, 60-64; hier: 63.998

Ebd.

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Mit den Entwicklungen von 1866 bis 1871, die in der vielfach erhofften militärisch

herbeigeführten Einigung – im Sinn einer „Revolution von oben“999

– ihren vorläufigen

Abschluss fanden, waren induktive Freiheitsbestrebungen desavouiert, wenngleich den

positiven Forderungen des Deutungsmusters einer „deutschen Freiheit“ Genüge getan

wurde und ein autoritär geprägter Nationalstaat entstand.1000

Die gedachte Existenz

einer übergeordneten staatlichen Kollektivpersönlichkeit, die in der Idee der Nation als

gemeinschaftliche Integrationsform von Staat und Gesellschaft ihren Ausdruck fand,

und der postulierte Vorrang der Nation vor dem Einzelmenschen, bestimmten von nun

an noch stärker das Wesen und Erleben des Individuums. Innerhalb dieses Vorstellungs-

rahmens wussten sich dessen Anhänger zudem gemeinsamer Kultur, Sprache, Sitten

und Gebräuche versichert.1001

Aus Furcht vor Rückfällen in Schwäche und Macht-

losigkeit wichen die Vertreter liberaler Positionen vor Werten wie individueller Freiheit,

Pluralismus und Toleranz zurück, um sich an kollektiver Einheit, Solidarität und

gemeinschaftlichem Zusammenhalt als Zielvorstellungen eines neu zu schaffenden

Reichs zu orientieren.1002

So trat beispielsweise der gemäßigte Linksliberale Theodor Fischer in einer Wahl-

rede im Jahr 1870 für eine deduktive Lösung auf dem Weg zur nationalen Einheit ein,

als er versuchte für die Deutsche Partei in die Politik zurückzukehren. Er äußert sich in

seiner Ansprache nun trotz seiner politischen Herkunft aus dem liberalen Lager explizit

antifreiheitlich:

„Ich [i.e. Theodor Vischer] trete hiermit als Gegner gegen eine Partei auf, zu der

ich lange gestanden habe, jedoch immer als ein Mann, der auch selber denkt und

der Partei nie blind auf allen ihren Wegen nachtritt. Die demokratische Partei, die

Volkspartei, oder sagen wir einfach die Partei, deren Hauptbestreben die Freiheit

ist, die Freiheitspartei – Niemand wird die Verdienste dieser Partei leugnen [...] Ich

bin aber mit dieser Partei in Zwiespalt gekommen und habe mich von ihr trennen

müssen in der Frage der Einheit, in der Frage, auf welche Weise Deutschland in

einen Bundesstaat verwandelt werden soll. Ja, einst, – einst träumte ich auch mit

dieser Partei einen schönen Traum; ich meine, Deutschland werde eins werden

durch freie Verständigung der Glieder und Stämme der Nation in einem Parlament;

frei, ganz frei sollte jedes Glied so viel opfern als nötig ist, um ein Organ

herzustellen, das die Einheit vertritt und beständig vollzieht“.1003

Statt des erträumten freien Einigungsveruschs sieht Vischer die Chance durch den

Krieg, der wie die „Meisterin Notwendigkeit“1004

einfach so gekommen und, wie er

999 Vgl. Michalka, Weg, 255; Mommsen, Einführung, 217; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, 251-

376. Kritisch hierzu: Grebing, Sonderweg, 101-103.1000

Vgl. Ullmann, Politik, 1-9.1001

Vgl. Arieli, Geschichtsschreibung, 81.1002

Vgl. Von Thadden, Defizit, 59 f.1003

Friedrich Theodor Vischer, Wahlrede, zit. nach: Wende (Hg.), Reden, Bd. 2, 28-46; hier: 28 f.1004

Ebd., 35.

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ausdrücklich betont, von niemandem gesucht worden sei, die Einheit zu verwirklichen,

denn lediglich auf diesem Weg sei eine organische Vereinigung der einzelnen Staaten

zu einem natürlichen Ganzen möglich.1005

Die kriegerische Auseinandersetzung vor allem um Elsass und Lothringen wurde in

Fortschreibung antifranzösischer Ressentiments als Vorgehen gegen die „Brutstätte,

welche die Unfreiheit und Zentralisation bereitet“, gesehen.1006

In einer Rede zur

Bewilligung von Kriegsmitteln wirft etwa der Abgeordnete Reichensperger den

Franzosen, die als äußere Reichsfeinde wahrgenommen werden, vor, sie förderten unter

Verwendung des Deutungsmusters „deutsche Freiheit“ die Zwietracht und Zerrissenheit

des Reiches, „natürlich ‚um die deutsche Freiheit zu schützen’“.1007

Die „zügellosen

Freiheitsbestrebungen“ während der Französischen Revolution hätten späterhin zum

Cäsarismus geführt, bemerkt Reichensperger. „Wir in Deutschland aber,“ ist sich der

Redner im Kontrast dazu – und indem er eine Burkesche Denkfigur aufgreift – sicher,

„werden die echte männliche Freiheit gründen, ihr eine feste Stätte bereiten, und zwar

eine solche, die gehütet sei von Gesetz und Recht, von Ordnung und Treue.“1008

Die Reichsgründung im Jahr 1871,1009

der sowohl die Deutung als Erreichen als auch

die Interpretation als Verlust der Freiheit widerfuhr, wurde als vorläufiges Ergebnis

perzipiert. Sie war in vielerlei Hinsicht das Resultat der kriegerischen Auseinander-

setzungen Preußens mit Dänemark, Österreich und Frankreich1010

und führte dazu, dass

liberales Gedankengut auf der Basis individualistischer Argumentation immer mehr in

den Hintergrund trat. Der „Zauber der Freiheit“,1011

der bis Mitte des 19. Jahrhunderts

vorherrschte, war, um drastisch zu formulieren, erloschen, denn die Intellektuellen

feierten die neugewonnene Einheit, was die Forderungen nach politischer Freiheit

verblassen ließ.1012

Es wurde eine äußere Einheit ohne innere Freiheit der Bürger

verwirklicht,1013

in deren Kontext der Liberalismus ordnungs- und sozialpolitisch

begründete Loyalitäten zum Obrigkeitsstaat einging.1014

Lujo Brentano, ein – nach der

von Heinrich Oppenheim geprägten Bezeichnung – liberaler Kathedersozialist, der

1005 Vgl. ebd., 39.

1006 Reichstag des Norddeutschen Bundes, Debatte über die Bewilligung der ferneren Mittel für die

Kriegsführung, 2. Sitzung vom 26.11. 1870, zit. nach: Fenske (Hg.), Weg, 428-434; hier: 430.1007

Ebd., 428.1008

Ebd., 429.1009

Vgl. hierzu z.B.: Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 702-1074; Stürmer, Reichsgründung. 1010

Vgl. Einigkeit und Recht und Freiheit, 266.1011

Weber, Nationalstaat, 552.1012

Vgl. Winkler, Weg, Bd. 1, 265. Angesichts dieser Tatsache spricht Winkler davon, dass der deutsche

Liberalismus gescheitert war. 1013

So z.B. Gustav W. Heinemann in einer umstrittenen Fernsehansprache zum 100. Jahrestag der

Reichsgründung (17.1. 1971), in: ders, Reden, 45-51; hier: 47.1014

Vgl. Koch, Liberalismus, 53 f.

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Mitbegründer des Vereins für Socialpolitik1015

war, trat mit der Begründung, es könne

überhaupt nicht von staatlicher Intervention gesprochen werden, wenn diese offen-

sichtlich akzeptiert werde und sich organisch ergebe, für eine umfassende Stellung des

Staates ein. Da der Staat die Organisation des Volkes sei und die Regierung das

natürliche Zentrum des Volkslebens, argumentiert er scharfsinnig, „kann, wenn der

Staat den Willen des Volkes erfüllt, von Staatseinmischung gar nicht die Rede sein.

Denn man kann von niemandem, der seinen eigenen Willen gemäß handelt, sagen, er

greife unberechtigt in seine Angelegenheiten.“1016

Der Zweifel an der Problemlösungs-

fähigkeit der konventionellen volkswirtschaftlichen Theorien ließ soziale Reformen aus

Sicht der Kathedersozialisten unumwindbar erscheinen; der Staat sei – so die im Verein

für Socialpolitik vertretene Meinung – kein zu minimierendes Übel, sondern ein

hervorragend geeigneter Präzeptor zur Erziehung des Menschengeschlechts.1017

Diese

individuellen Freiheitsbestrebungen konträre Position wurde im neu konstituierten

Kaiserreich unter Verwendung des Deutungsmusters einer spezifisch deutschen Freiheit

weiter ausgebaut.

1015 Vgl. Sell, Tragödie, 258 f.

1016 Brentano, Arbeitergilden, 126 f.

1017 Vgl. Fenske, Denken, 468.