die geburt der tragödie

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Die Geburt Der Tragödie

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Page 1: Die Geburt Der Tragödie

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For example, typing IV-3.179 in the Query box, and clicking on OK would take you tothe beginning of page 179 of IV-3 of the KGW. Since the format of the page numberused to indicate the location of aphorisms and paragraphs is identical to that usedfor page breaks, you often will have more than one hit when searching for a pagenumber. However the first hit will always be the page break, since the page breakbegins the page (with the exception of page numbers used in these examples). Afew blank pages in the printed edition may be missing from the database.

Kritische GesamtausgabeIII-1Die Geburt der TragödieTitlepage

Die Geburt der Tragödie Oder: Griechenthum und Pessimismus Von FRIEDRICH NIETZSCHE.

Neue Ausgabe mit dem Versuch einer Selbstkritik.

LEIPZIG. Verlag von E. W. Fritzsch.

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Aphorism id='GT-Vorrede-1' kgw='III-1.5' ksa='1.11'

Versuch einer Selbstkritik. 1. Was auch diesem fragwürdigen Buche zu Grunde liegen mag:es muss eine Frage ersten Ranges und Reizes gewesen sein, nochdazu eine tief persönliche Frage, — Zeugniss dafür ist die Zeit,in der es entstand, trotz der es entstand, die aufregende Zeit

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des deutsch-französischen Krieges von 1870/71. Während dieDonner der Schlacht von Wörth über Europa weggiengen, sassder Grübler und Räthselfreund, dem die Vaterschaft diesesBuches zu Theil ward, irgendwo in einem Winkel der Alpen, sehrvergrübelt und verräthselt, folglich sehr bekümmert undunbekümmert zugleich, und schrieb seine Gedanken über dieGriechen nieder, — den Kern des wunderlichen und schlechtzugänglichen Buches, dem diese späte Vorrede (oder Nachrede)gewidmet sein soll. Einige Wochen darauf: und er befand sich selbstunter den Mauern von Metz, immer noch nicht losgekommen vonden Fragezeichen, die er zur vorgeblichen „Heiterkeit“ derGriechen und der griechischen Kunst gesetzt hatte; bis er endlich, injenem Monat tiefster Spannung, als man in Versailles über denFrieden berieth, auch mit sich zum Frieden kam und, langsamvon einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit genesend, die„Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ letztgültig

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bei sich feststellte. — Aus der Musik? Musik und Tragödie?Griechen und Tragödien-Musik? Griechen und das Kunstwerk desPessimismus? Die wohlgerathenste, schönste, bestbeneidete, zumLeben verführendste Art der bisherigen Menschen, dieGriechen — wie? gerade sie hatten die Tragödie nöthig? Mehrnoch — die Kunst? Wozu — griechische Kunst?…Page: KGW='III-1.6' KSA='1.12' Man erräth, an welche Stelle hiermit das grosse Fragezeichenvom Werth des Daseins gesetzt war. Ist Pessimismusnothwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Missrathenseins,der ermüdeten und geschwächten Instinkte? — wie er es beiden Indern war, wie er es, allem Anschein nach, bei uns, den„modernen“ Menschen und Europäern ist? Giebt es einen Pessimismusder Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte,Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, ausüberströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins? Giebt esvielleicht ein Leiden an der Ueberfülle selbst? Eine versucherischeTapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem Furchtbarenverlangt, als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an dem sieihre Kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was „dasFürchten“ ist? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten,stärksten, tapfersten Zeit, der tragische Mythus? Und dasungeheure Phänomen des Dionysischen? Was, aus ihm geboren,die Tragödie? — Und wiederum: das, woran die Tragödie starb,der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit undHeiterkeit des theoretischen Menschen — wie? könnte nichtgerade dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs, derErmüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lösenden Instinktesein? Und die „griechische Heiterkeit“ des späteren Griechenthumsnur eine Abendröthe? Der epikurische Wille gegen denPessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden? Und die Wissenschaftselbst, unsere Wissenschaft — ja, was bedeutet überhaupt,

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als Symptom des Lebens angesehn, alle Wissenschaft? Wozu,schlimmer noch, woher — alle Wissenschaft? Wie? IstWissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem

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Pessimismus? Eine feine Nothwehr gegen — die Wahrheit?Und, moralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit?Unmoralisch geredet, eine Schlauheit? Oh Sokrates, Sokrates, war dasvielleicht dein Geheimniss? Oh geheimnissvoller Ironiker, wardies vielleicht deine Ironie?

Aphorism id='GT-Vorrede-2' kgw='III-1.7' ksa='1.13'

2. Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares undGefährliches, ein Problem mit Hörnern, nicht nothwendig geradeein Stier, jedenfalls ein neues Problem: heute würde ich sagen,dass es das Problem der Wissenschaft selbst warWissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdiggefasst. Aber das Buch, in dem mein jugendlicher Muth undArgwohn sich damals ausliess — was für ein unmöglich es Buchmusste aus einer so jugendwidrigen Aufgabe erwachsen!Aufgebaut aus lauter vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen, welchealle hart an der Schwelle des Mittheilbaren lagen, hingestellt aufden Boden der Kunst — denn das Problem der Wissenschaftkann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden —,ein Buch vielleicht für Künstler mit dem Nebenhange analytischerund retrospektiver Fähigkeiten (das heisst für eine Ausnahme-Artvon Künstlern, nach denen man suchen muss und nicht einmalsuchen möchte…), voller psychologischer Neuerungen undArtisten-Heimlichkeiten, mit einer Artisten-Metaphysik imHintergrunde, ein Jugendwerk voller Jugendmuth und Jugend-Schwermuth,unabhängig, trotzig-selbstständig auch noch, wo essich einer Autorität und eignen Verehrung zu beugen scheint,kurz ein Erstlingswerk auch in jedem schlimmen Sinne desWortes, trotz seines greisenhaften Problems, mit jedem Fehler derJugend behaftet, vor allem mit ihrem „Viel zu lang“, ihrem „Sturmund Drang“: andererseits, in Hinsicht auf den Erfolg, den eshatte (in Sonderheit bei dem grossen Künstler, an den es sich wiezu einem Zwiegespräch wendete, bei Richard Wagner) ein

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bewiesenes Buch, ich meine ein solches, das jedenfalls „denBesten seiner Zeit“ genug gethan hat. Darauf hin sollte es schonmit einiger Rücksicht und Schweigsamkeit behandelt werden;trotzdem will ich nicht gänzlich unterdrücken, wie unangenehmes mir jetzt erscheint, wie fremd es jetzt nach sechzehn Jahren

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vor mir steht, — vor einem älteren, hundert Mal verwöhnteren,aber keineswegs kälter gewordenen Auge, das auch jener Aufgabeselbst nicht fremder wurde, an welche sich jenes verwegene Buchzum ersten Male herangewagt hat, — die Wissenschaftunter der Optik des Künstlers zu sehn, dieKunst aber unter der des Lebens…

Aphorism id='GT-Vorrede-3' kgw='III-1.8' ksa='1.14'

3. Nochmals gesagt, heute ist es mir ein unmögliches Buch, — ichheisse es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwüthigund bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zumFemininischen, ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischenSauberkeit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sichüberhebend, misstrauisch selbst gegen die Schicklichkeit desBeweisens, als Buch für Eingeweihte, als „Musik“ für Solche, dieauf Musik getauft, die auf gemeinsame und seltene Kunst-Erfahrungenhin von Anfang der Dinge an verbunden sind, alsErkennungszeichen für Blutsverwandte in artibus, — einhochmüthiges und schwärmerisches Buch, das sich gegen das profanumvulgus der „Gebildeten“ von vornherein noch mehr als gegendas „Volk“ abschliesst, welches aber, wie seine Wirkung bewiesund beweist, sich gut genug auch darauf verstehen muss, sichseine Mitschwärmer zu suchen und sie auf neue Schleichwege undTanzplätze zu locken. Hier redete jedenfalls — das gestand mansich mit Neugierde ebenso als mit Abneigung ein — eine fremdeStimme, der Jünger eines noch „unbekannten Gottes“, der sicheinstweilen unter die Kapuze des Gelehrten, unter die Schwereund dialektische Unlustigkeit des Deutschen, selbst unter die

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schlechten Manieren des Wagnerianers versteckt hat; hier warein Geist mit fremden, noch namenlosen Bedürfnissen, einGedächtniss strotzend von Fragen, Erfahrungen, Verborgenheiten,welchen der Name Dionysos wie ein Fragezeichen mehrbeigeschrieben war; hier sprach so sagte man sich mit Argwohnetwas wie eine mystische und beinahe mänadische Seele, die mitMühsal und willkürlich, fast unschlüssig darüber, ob sie sichmittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in einer fremdenZunge stammelt. Sie hätte singen sollen, diese „neue Seele“— und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagenhatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleichtgekonnt! Oder mindestens als Philologe: — bleibt doch auchheute noch für den Philologen auf diesem Gebiete beinahe Alleszu entdecken und auszugraben! Vor allem das Problem, dasshier ein Problem vorliegt, — und dass die Griechen, so lange wirkeine Antwort auf die Frage „was ist dionysisch?“ haben, nach

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wie vor gänzlich unerkannt und unvorstellbar sind…

Aphorism id='GT-Vorrede-4' kgw='III-1.9' ksa='1.15'

4. Ja, was ist dionysisch? — In diesem Buche steht eine Antwortdarauf, — ein „Wissender“ redet da, der Eingeweihte undJünger seines Gottes. Vielleicht würde ich jetzt vorsichtiger undweniger beredt von einer so schweren psychologischen Fragereden, wie sie der Ursprung der Tragödie bei den Griechen ist.Eine Grundfrage ist das Verhältniss des Griechen zum Schmerz,sein Grad von Sensibilität, — blieb dies Verhältniss sich gleich?oder drehte es sich um? — jene Frage, ob wirklich sein immerstärkeres Verlangen nach Schönheit, nach Festen,Lustbarkeiten, neuen Culten, aus Mangel, aus Entbehrung, ausMelancholie, aus Schmerz erwachsen ist? Gesetzt nämlich, geradedies wäre wahr — und Perikles (oder Thukydides) giebt es unsin der grossen Leichenrede zu verstehen —: woher müsste danndas entgegengesetzte Verlangen, das der Zeit nach früher

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hervortrat, stammen, das Verlangen nach dem Hässlichen,der gute strenge Wille des älteren Hellenen zum Pessimismus, zumtragischen Mythus, zum Bilde alles Furchtbaren, Bösen,Räthselhaften, Vernichtenden, Verhängnissvollen auf dem Grunde desDaseins, — woher müsste dann die Tragödie stammen? Vielleichtaus der Lust, aus der Kraft, aus überströmender Gesundheit,aus übergrosser Fülle? Und welche Bedeutung hat dann, physiologischgefragt, jener Wahnsinn, aus dem die tragische wie diekomische Kunst erwuchs, der dionysische Wahnsinn? Wie? IstWahnsinn vielleicht nicht nothwendig das Symptom derEntartung, des Niedergangs, der überspäten Cultur? Giebt esvielleicht — eine Frage für Irrenärzte — Neurosen der Gesundheit?der Volks-Jugend und -Jugendlichkeit? Worauf weist jeneSynthesis von Gott und Bock im Satyr? Aus welchem Selbsterlebniss,auf welchen Drang hin musste sich der Grieche dendionysischen Schwärmer und Urmenschen als Satyr denken? Und wasden Ursprung des tragischen Chors betrifft: gab es in jenenJahrhunderten, wo der griechische Leib blühte, die griechische Seelevon Leben überschäumte, vielleicht endemische Entzückungen?Visionen und Hallucinationen, welche sich ganzen Gemeinden,ganzen Cultversammlungen mittheilten? Wie? wenn dieGriechen, gerade im Reichthum ihrer Jugend, den Willen zumTragischen hatten und Pessimisten waren? wenn es gerade derWahnsinn war, um ein Wort Plato's zu gebrauchen, der die grösstenSegnungen über Hellas gebracht hat? Und wenn, andererseits undumgekehrt, die Griechen gerade in den Zeiten ihrer Auflösungund Schwäche, immer optimistischer, oberflächlicher, schauspielerischer,

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auch nach Logik und Logisirung der Welt brünstiger, alsozugleich „heiterer“ und „wissenschaftlicher“ wurden? Wie? könntevielleicht, allen „modernen Ideen“ und Vorurtheilen desdemokratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des Optimismus,die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, derpraktische und theoretische Utilitarismus, gleich der Demokratieselbst, mit der er gleichzeitig ist, — ein Symptom der

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absinkenden Kraft, des nahenden Alters, der physiologischen Ermüdungsein? Und gerade nicht — der Pessimismus? War Epikurein Optimist — gerade als Leidender? — — Man sieht, es istein ganzes Bündel schwerer Fragen, mit dem sich dieses Buchbelastet hat, — fügen wir seine schwerste Frage noch hinzu! Wasbedeutet, unter der Optik des Lebens gesehn, — die Moral?…

Aphorism id='GT-Vorrede-5' kgw='III-1.11' ksa='1.17'

5. Bereits im Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst— und nicht die Moral — als die eigentlich metaphysischeThätigkeit des Menschen hingestellt; im Buche selbst kehrt deranzügliche Satz mehrfach wieder, dass nur als ästhetisches Phänomendas Dasein der Welt gerechtfertigt ist. In der That,das ganze Buch kennt nur einen Künstler-Sinn und -Hintersinnhinter allem Geschehen, — einen „Gott“, wenn man will, abergewiss nur einen gänzlich unbedenklichen und unmoralischenKünstler-Gott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie imSchlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit innewerden will, der sich, Welten schaffend, von der Noth der Fülle undUeberfülle, vom Leiden der in ihm gedrängtenGegensätze löst. Die Welt, in jedem Augenblicke die erreichteErlösung Gottes, als die ewig wechselnde, ewig neue Vision desLeidendsten, Gegensätzlichsten, Widerspruchreichsten, der nurim Scheine sich zu erlösen weiss: diese ganze Artisten-Metaphysikmag man willkürlich, müssig, phantastisch nennen —, dasWesentliche daran ist, dass sie bereits einen Geist verräth, dersich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralischeAusdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird.Hier kündigt sich, vielleicht zum ersten Male, ein Pessimismus„jenseits von Gut und Böse“ an, hier kommt jene „Perversitätder Gesinnung“ zu Wort und Formel, gegen welche Schopenhauernicht müde geworden ist, im Voraus seine zornigsten Flüche undDonnerkeile zu schleudern, — eine Philosophie, welche es wagt,

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die Moral selbst in die Welt der Erscheinung zu setzen, herabzusetzen

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und nicht nur unter die „Erscheinungen“ (im Sinne desidealistischen terminus technicus), sondern unter die „Täuschungen“,als Schein, Wahn, Irrthum, Ausdeutung, Zurechtmachung,Kunst. Vielleicht lässt sich die Tiefe dieses widermoralischenHanges am besten aus dem behutsamen und feindseligenSchweigen ermessen, mit dem in dem ganzen Buche das Christenthumbehandelt ist, — das Christenthum als die ausschweifendsteDurchfigurirung des moralischen Thema's, welche die Menschheitbisher anzuhören bekommen hat. In Wahrheit, es giebt zu derrein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wiesie in diesem Buche gelehrt wird, keinen grösseren Gegensatz alsdie christliche Lehre, welche nur moralisch ist und sein will undmit ihren absoluten Maassen, zum Beispiel schon mit ihrerWahrhaftigkeit Gottes, die Kunst, jede Kunst in's Reich der Lügeverweist, — das heisst verneint, verdammt, verurtheilt. Hintereiner derartigen Denk- und Werthungsweise, welche kunstfeindlichsein muss, so lange sie irgendwie ächt ist, empfand ich vonjeher auch das Lebensfeindliche, den ingrimmigenrachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst: denn alles Lebenruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit desPerspektivischen und des Irrthums. Christenthum war vonAnfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Ueberdruss desLebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein „anderes“oder „besseres“ Leben nur verkleidete, nur versteckte, nuraufputzte. Der Hass auf die „Welt“, der Fluch auf die Affekte, dieFurcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden,um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangenin's Nichts, an's Ende, in's Ausruhen, hin zum „Sabbat derSabbate“ — dies Alles dünkte mich, ebenso wie der unbedingteWille des Christenthums, nur moralische Werthe gelten zulassen, immer wie die gefährlichste und unheimlichste Form allermöglichen Formen eines „Willens zum Untergang“, zumMindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmuthigkeit,

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Erschöpfung, Verarmung an Leben, — denn vor der Moral(in Sonderheit christlichen, das heisst unbedingten Moral) mussdas Leben beständig und unvermeidlich Unrecht bekommen, weilLeben etwas essentiell Unmoralisches ist, — muss endlich dasLeben, erdrückt unter dem Gewichte der Verachtung und desewigen Nein's, als begehrens-unwürdig, als unwerth an sichempfunden werden. Moral selbst — wie? sollte Moral nicht ein„Wille zur Verneinung des Lebens“, ein heimlicher Instinkt derVernichtung, ein Verfalls-, Verkleinerungs-, Verleumdungsprincip,ein Anfang vom Ende sein? Und, folglich, die Gefahr derGefahren?… Gegen die Moral also kehrte sich damals, mitdiesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechenderInstinkt des Lebens, und erfand sich eine grundsätzlicheGegenlehre und Gegenwerthung des Lebens, eine rein artistische,eine antichristliche. Wie sie nennen? Als Philologe und

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Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit — dennwer wüsste den rechten Namen des Antichrist? — auf den Nameneines griechischen Gottes: ich hiess sie die dionysische.

Aphorism id='GT-Vorrede-6' kgw='III-1.13' ksa='1.19'

6. Man versteht, an welche Aufgabe ich bereits mit diesem Buchezu rühren wagte?… Wie sehr bedauere ich es jetzt, dass ichdamals noch nicht den Muth (oder die Unbescheidenheit?) hatte, ummir in jedem Betrachte für so eigne Anschauungen und Wagnisseauch eine eigne Sprache zu erlauben, — dass ich mühselig mitSchopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neueWerthschätzungen auszudrücken suchte, welche dem GeisteKantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, vonGrund aus entgegen giengen! Wie dachte doch Schopenhauer überdie Tragödie? „Was allem Tragischen den eigenthümlichenSchwung zur Erhebung giebt — sagt er, Welt als Wille undVorstellung II, 495 — ist das Aufgehen der Erkenntniss, dass dieWelt, das Leben kein rechtes Genügen geben könne, mithin unsrer

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Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragischeGeist —, er leitet demnach zur Resignation hin“. Oh wieanders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir damalsgerade dieser ganze Resignationismus! — Aber es giebt etwas vielSchlimmeres an dem Buche, das ich jetzt noch mehr bedauere, alsmit Schopenhauerischen Formeln dionysische Ahnungen verdunkeltund verdorben zu haben: dass ich mir nämlich überhaupt dasgrandiose griechische Problem, wie mir es aufgegangenwar, durch Einmischung der modernsten Dinge verdarb! Dassich Hoffnungen anknüpfte, wo Nichts zu hoffen war, wo Allesallzudeutlich auf ein Ende hinwies! Dass ich, auf Grund derdeutschen letzten Musik, vom „deutschen Wesen“ zu fabeln begann,wie als ob es eben im Begriff sei, sich selbst zu entdecken undwiederzufinden — und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist,der nicht vor Langem noch den Willen zur Herrschaft überEuropa, die Kraft zur Führung Europa's gehabt hatte, ebenletztwillig und endgültig abdankte und, unter dem pomphaftenVorwande einer Reichs-Begründung, seinen Uebergang zurVermittelmässigung, zur Demokratie und den „modernen Ideen“machte! In der That, inzwischen lernte ich hoffnungslos undschonungslos genug von diesem „deutschen Wesen“ denken,insgleichen von der jetzigen deutschen Musik, als welcheRomantik durch und durch ist und die ungriechischeste allermöglichen Kunstformen: überdies aber eine Nervenverderberin erstenRanges, doppelt gefährlich bei einem Volke, das den Trunk liebtund die Unklarheit als Tugend ehrt, nämlich in ihrer doppelten

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Eigenschaft als berauschendes und zugleich benebelndesNarkotikum. — Abseits freilich von allen übereilten Hoffnungenund fehlerhaften Nutzanwendungen auf Gegenwärtigstes, mitdenen ich mir damals mein erstes Buch verdarb, bleibt das grossedionysische Fragezeichen, wie es darin gesetzt ist, auch in Betreffder Musik, fort und fort bestehen: wie müsste eine Musikbeschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre,gleich der deutschen, — sondern dionysischen?…

Page Break id='GT' KGW='III-1.15' KSA='1.21'

Aphorism id='GT-Vorrede-7' kgw='III-1.15' ksa='1.21'

7. — Aber, mein Herr, was in aller Welt ist Romantik, wennnicht Ihr Buch Romantik ist? Lässt sich der tiefe Hass gegen„Jetztzeit“, „Wirklichkeit“ und „moderne Ideen“ weiter treiben,als es in Ihrer Artisten-Metaphysik geschehen ist? — welche liebernoch an das Nichts, lieber noch an den Teufel, als an das „Jetzt“glaubt? Brummt nicht ein Grundbass von Zorn und Vernichtungslustunter aller Ihrer contrapunktischen Stimmen-Kunst undOhren-Verführerei hinweg, eine wüthende Entschlossenheit gegenAlles, was „jetzt“ ist, ein Wille, welcher nicht gar zu ferne vompraktischen Nihilismus ist und zu sagen scheint „lieber mag Nichtswahr sein, als dass ihr Recht hättet, als dass eure WahrheitRecht behielte!“ Hören Sie selbst, mein Herr Pessimist undKunstvergöttlicher, mit aufgeschlossnerem Ohre eine einzigeausgewählte Stelle Ihres Buches an, jene nicht unberedteDrachentödter-Stelle, welche für junge Ohren und Herzenverfänglich-rattenfängerisch klingen mag: wie? ist das nicht das ächterechte Romantiker-Bekenntniss von 1830, unter der Maske des Pessimismusvon 1850? hinter dem auch schon das übliche Romantiker-Finalepräludirt, — Bruch, Zusammenbruch, Rückkehr undNiedersturz vor einem alten Glauben, vor dem alten Gotte… Wie?ist Ihr Pessimisten-Buch nicht selbst ein Stück Antigriechenthumund Romantik, selbst etwas „ebenso Berauschendes als Benebelndes“,ein Narkotikum jedenfalls, ein Stück Musik sogar,deutscher Musik? Aber man höre: „Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser „Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug in's Ungeheure, „denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter, die stolze „Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoktrinen des „Optimismus den Rücken kehren, um in Ganzen und Vollen ‚resolut zu „leben‘: sollte es nicht nöthig sein, dass der tragische Mensch „dieser Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, „eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, „die Tragödie als die ihm zugehörige Helena begehren und mit Faust „ausrufen muss: „Und sollt' ich nicht, sehnsüchtiger Gewalt,

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„In's Leben zieh'n die einzigste Gestalt?“

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Page: KGW='III-1.16' KSA='1.22' „Sollte es nicht nöthig sein?“… Nein, drei Mal nein! ihrjungen Romantiker: es sollte nicht nöthig sein! Aber es ist sehrwahrscheinlich, dass es so endet, dass ihr so endet, nämlich„getröstet“, wie geschrieben steht, trotz aller Selbsterziehung zumErnst und zum Schrecken „,metaphysisch getröstet“, kurz, wieRomantiker enden, christlich… Nein! Ihr solltet vorerstdie Kunst des diesseitigen Trostes lernen, — ihr solltetlachen lernen, meine jungen Freunde, wenn anders ihrdurchaus Pessimisten bleiben wollt; vielleicht dass ihr darauf hin, alsLachende, irgendwann einmal alle metaphysische Trösterei zumTeufel schickt — und die Metaphysik voran! Oder, um es in derSprache jenes dionysischen Unholds zu sagen, der Zarathustraheisst:

Page: KGW='III-1.16' KSA='1.22' „Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch, höher! undvergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr gutenTänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf!Page: KGW='III-1.16' KSA='1.22' „Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ichselber setzte mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig meinGelächter. Keinen Anderen fand ich heute stark genug dazu.Page: KGW='III-1.16' KSA='1.22' „Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mitden Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend,bereit und fertig, ein Selig-Leichtfertiger:Page: KGW='III-1.16' KSA='1.22' „Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher,kein Ungeduldiger, kein Unbedingter, Einer, der Sprünge undSeitensprünge liebt: ich selber setzte mir diese Krone auf!Page: KGW='III-1.16' KSA='1.22' „Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: euch,meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu! Das Lachen sprachich heilig: ihr höheren Menschen, lernt mir — lachen!“

Also sprach Zarathustra; vierter Theil S. 87.

Die Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. von Friedrich Nietzsche Ordentl. Professor der Classischen Philologie an der Universität Basel.

Page 11: Die Geburt Der Tragödie

Leipzig. Verlag von E. W. Fritzsch. 1872.

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Aphorism id='GT-Vorrede-8' kgw='III-1.19' ksa='1.23'

Vorwort an Richard Wagner.

Um mir alle die möglichen Bedenklichkeiten, Aufregungenund Missverständnisse ferne zu halten, zu denen die in dieserSchrift vereinigten Gedanken bei dem eigenthümlichen Characterunserer aesthetischen Oeffentlichkeit Anlass geben werden,und um auch die Einleitungsworte zu derselben mit der gleichenbeschaulichen Wonne schreiben zu können, deren Zeichen sieselbst, als das Petrefact guter und erhebender Stunden, auf jedemBlatte trägt, vergegenwärtige ich mir den Augenblick, in demSie, mein hochverehrter Freund, diese Schrift empfangenwerden: wie Sie, vielleicht nach einer abendlichen Wanderung imWinterschnee, den entfesselten Prometheus auf dem Titelblattebetrachten, meinen Namen lesen und sofort überzeugt sind, dass,mag in dieser Schrift stehen, was da wolle, der Verfasser etwasErnstes und Eindringliches zu sagen hat, ebenfalls dass er, beiallem, was er sich erdachte, mit Ihnen wie mit einemGegenwärtigen verkehrte und nur etwas dieser Gegenwart Entsprechendesniederschreiben durfte. Sie werden dabei sich erinnern, dassich zu gleicher Zeit, als Ihre herrliche Festschrift über Beethovenentstand, das heisst in den Schrecken und Erhabenheiten des ebenausgebrochnen Krieges mich zu diesen Gedanken sammelte. Dochwürden diejenigen irren, welche etwa bei dieser Sammlung an den

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Gegensatz von patriotischer Erregung und aesthetischer Schwelgerei, von tapferem Ernst und heiterem Spiel denken sollten: denenmöchte vielmehr, bei einem wirklichen Lesen dieser Schrift, zuihrem Erstaunen deutlich werden, mit welchem ernsthaftdeutschen Problem wir zu thun haben, das von uns recht eigentlich indie Mitte deutscher Hoffnungen, als Wirbel und Wendepunkthingestellt wird. Vielleicht aber wird es für eben dieselben überhauptanstössig sein, ein aesthetisches Problem so ernstgenommen zu sehn, falls sie nämlich in der Kunst nicht mehr als ein

Page 12: Die Geburt Der Tragödie

lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu missendes Schellengeklingelzum „Ernst des Daseins“ zu erkennen im Stande sind: als obNiemand wüsste, was es bei dieser Gegenüberstellung mit einemsolchen „Ernste des Daseins“ auf sich habe. Diesen Ernsthaftendiene zur Belehrung, dass ich von der Kunst als der höchstenAufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebensim Sinne des Mannes überzeugt bin, dem ich hier, als meinemerhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, diese Schrift gewidmethaben will.

Basel, Ende des Jahres 1871.

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Aphorism id='GT-Text-1' kgw='III-1.21' ksa='1.25'

1. Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnenhaben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zurunmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dassdie Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollinischenund des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicherWeise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, beifortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretenderVersöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von denGriechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauungzwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichenGestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen.An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpftsich unsere Erkenntniss, dass in der griechischen Welt einungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen derKunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunstder Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedneTriebe gehen neben einander her, zumeist im offnen Zwiespaltmit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigerenGeburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zuperpetuiren, den das gemeinsame Wort „Kunst“ nur scheinbarüberbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderaktdes hellenischen „Willens“, mit einander gepaart erscheinen

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und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinischeKunstwerk der attischen Tragödie erzeugen.Page: KGW='III-1.22' KSA='1.26' Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken wir sieuns zunächst als die getrennten Kunstwelten des Traumes unddes Rausches; zwischen welchen physiologischen Erscheinungenein entsprechender Gegensatz, wie zwischen dem Apollinischen

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und dem Dionysischen zu bemerken ist. Im Traume tratenzuerst, nach der Vorstellung des Lucretius, die herrlichen Göttergestaltenvor die Seelen der Menschen, im Traume sah der grosseBildner den entzückenden Gliederbau übermenschlicher Wesen,und der hellenische Dichter, um die Geheimnisse der poëtischenZeugung befragt, würde ebenfalls an den Traum erinnert undeine ähnliche Belehrung gegeben haben, wie sie Hans Sachs inden Meistersingern giebt: Mein Freund, das grad' ist Dichters Werk, Dass er sein Träumen deut' und merk'. Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn wird ihm im Traume aufgethan: all' Dichtkunst und Poëterei ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.Page: KGW='III-1.22' KSA='1.26' Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugungjeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung allerbildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wichtigenHälfte der Poësie. Wir geniessen im unmittelbaren Verständnisseder Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es giebt nichts Gleichgültigesund Unnöthiges. Bei dem höchsten Leben dieser Traumwirklichkeithaben wir doch noch die durchschimmernde Empfindungihres Scheins: wenigstens ist dies meine Erfahrung, fürderen Häufigkeit, ja Normalität, ich manches Zeugniss und dieAussprüche der Dichter beizubringen hätte. Der philosophischeMensch hat sogar das Vorgefühl, dass auch unter dieserWirklichkeit, in der wir leben und sind, eine zweite ganz andreverborgen liege, dass also auch sie ein Schein sei; und Schopenhauerbezeichnet geradezu die Gabe, dass Einem zu Zeiten die

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Menschen und alle Dinge als blosse Phantome oder Traumbildervorkommen, als das Kennzeichen philosophischer Befähigung. Wienun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhält sichder künstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes;er sieht genau und gern zu: denn aus diesen Bildern deutet ersich das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für das Leben.Nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder sindes, die er mit jener Allverständigkeit an sich erfährt: auch dasErnste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen,die Neckereien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz dieganze „göttliche Komödie“ des Lebens, mit dem Inferno, ziehtan ihm vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel — denn er lebtund leidet mit in diesen Scenen — und doch auch nicht ohnejene flüchtige Empfindung des Scheins; und vielleicht erinnertsich Mancher, gleich mir, in den Gefährlichkeiten und Schreckendes Traumes sich mitunter ermuthigend und mit Erfolgzugerufen zu haben: „Es ist ein Traum! Ich will ihn weiter träumen!“Wie man mir auch von Personen erzählt hat, die die Causalitäteines und desselben Traumes über drei und mehr aufeinanderfolgende

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Nächte hin fortzusetzen im Stande waren: Thatsachen,welche deutlich Zeugniss dafür abgeben, dass unser innerstesWesen, der gemeinsame Untergrund von uns allen, mit tieferLust und freudiger Nothwendigkeit den Traum an sich erfährt.Page: KGW='III-1.23' KSA='1.27' Diese freudige Nothwendigkeit der Traumerfahrung istgleichfalls von den Griechen in ihrem Apollo ausgedrücktworden: Apollo, als der Gott aller bildnerischen Kräfte, ist zugleichder wahrsagende Gott. Er, der seiner Wurzel nach der „Scheinende“,die Lichtgottheit ist, beherrscht auch den schönen Scheinder inneren Phantasie-Welt. Die höhere Wahrheit, dieVollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaftverständlichen Tageswirklichkeit, sodann das tiefe Bewusstseinvon der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur istzugleich das symbolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeitund überhaupt der Künste, durch die das Leben möglich und

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lebenswerth gemacht wird. Aber auch jene zarte Linie, die dasTraumbild nicht überschreiten darf, um nicht pathologischzu wirken, widrigenfalls der Schein als plumpe Wirklichkeit unsbetrügen würde — darf nicht im Bilde des Apollo fehlen: jenemaassvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderenRegungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes. Sein Auge muss„sonnenhaft“, gemäss seinem Ursprunge, sein; auch wenn eszürnt und unmuthig blickt, liegt die Weihe des schönen Scheinesauf ihm. Und so möchte von Apollo in einem excentrischen Sinnedas gelten, was Schopenhauer von dem im Schleier der Majabefangenen Menschen sagt. Welt als Wille und Vorstellung I,S. 416: „Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seitenunbegränzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einemKahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend;so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelneMensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis“.Ja es wäre von Apollo zu sagen, dass in ihm dasunerschütterte Vertrauen auf jenes principium und das ruhigeDasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruckbekommen habe, und man möchte selbst Apollo als das herrlicheGötterbild des principii individuationis bezeichnen, aus dessenGebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des„Scheines“, sammt seiner Schönheit, zu uns spräche.Page: KGW='III-1.24' KSA='1.28' An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheureGrausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn erplötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird,indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen,eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausendie wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselbenZerbrechen des principii individuationis aus dem innerstenGrunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir

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einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns amnächsten noch durch die Analogie des Rausches gebrachtwird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes,

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von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnensprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvolldurchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jenedionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völligerSelbstvergessenheit hinschwindet. Auch im deutschen Mittelalterwälzten sich unter der gleichen dionysischen Gewalt immerwachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu Ort: indiesen Sanct-Johann- und Sanct-Veittänzern erkennen wir diebacchischen Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichtein Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen.Es giebt Menschen, die, aus Mangel an Erfahrung oder ausStumpfsinn, sich von solchen Erscheinungen wie von„Volkskrankheiten“, spöttisch oder bedauernd im Gefühl der eigenenGesundheit abwenden: die Armen ahnen freilich nicht, wieleichenfarbig und gespenstisch eben diese ihre „Gesundheit“ sichausnimmt, wenn an ihnen das glühende Leben dionysischerSchwärmer vorüberbraust.Page: KGW='III-1.25' KSA='1.29' Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nurder Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auchdie entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wiederihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, demMenschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahendie Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen undKränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet: unter seinemJoche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele dasBeethoven'sche Jubellied der „Freude“ in ein Gemälde und bleibemit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionenschauervoll in den Staub sinken: so kann man sich demDionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechenalle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willküroder „freche Mode“ zwischen den Menschen festgesetzt haben.Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sichJeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt,verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen

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wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollenUr-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich derMensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat dasGehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzendin die Lüfte emporzufliegen. Aus seinen Gebärden spricht dieVerzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milchund Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches:

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als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt underhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Menschist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: dieKunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung desUr-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches.Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetetund behauen, der Mensch, und zu den Meisselschlägen desdionysischen Weltenkünstlers tönt der eleusinische Mysterienruf: „Ihrstürzt nieder, Millionen? Ahnest du den Schöpfer, Welt?“ —

Aphorism id='GT-Text-2' kgw='III-1.26' ksa='1.30'

2. Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegensatz,das Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet, die aus derNatur selbst, ohne Vermittelung des menschlichenKünstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihreKunsttriebe zunächst und auf directem Wege befriedigen: einmal alsdie Bilderwelt des Traumes, deren Vollkommenheit ohne jedenZusammenhang mit der intellectuellen Höhe oder künstlerischenBildung des Einzelnen ist, andererseits als rauschvolle Wirklichkeit,die wiederum des Einzelnen nicht achtet, sondern sogardas Individuum zu vernichten und durch eine mystischeEinheitsempfindung zu erlösen sucht. Diesen unmittelbarenKunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler „Nachahmer“,und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oderdionysischer Rauschkünstler oder endlich — wie beispielsweise in dergriechischen Tragödie — zugleich Rausch- und Traumkünstler:

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als welchen wir uns etwa zu denken haben, wie er, in derdionysischen Trunkenheit und mystischen Selbstentäusserung,einsam und abseits von den schwärmenden Chören niedersinktund wie sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung,sein eigener Zustand d.h. seine Einheit mit dem innersten Grundeder Welt in einem gleichnissartigen Traumbildeoffenbart.Page: KGW='III-1.27' KSA='1.31' Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen undGegenüberstellungen nahen wir uns jetzt den Griechen, um zuerkennen, in welchem Grade und bis zu welcher Höhe jeneKunsttriebe der Natur in ihnen entwickelt gewesensind: wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältnissdes griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach demaristotelischen Ausdrucke, „die Nachahmung der Natur“ tieferzu verstehn und zu würdigen. Von den Träumen der Griechenist trotz aller Traumlitteratur derselben und zahlreichenTraumanecdoten nur vermuthungsweise, aber doch mit ziemlicher

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Sicherheit zu sprechen: bei der unglaublich bestimmten undsicheren plastischen Befähigung ihres Auges, sammt ihrer hellenund aufrichtigen Farbenlust, wird man sich nicht entbrechenkönnen, zur Beschämung aller Spätergeborenen, auch für ihreTräume eine logische Causalität der Linien und Umrisse, Farbenund Gruppen, eine ihren besten Reliefs ähnelnde Folge der Scenenvorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine Vergleichungmöglich wäre, gewiss berechtigen würde, die träumendenGriechen als Homere und Homer als einen träumendenGriechen zu bezeichnen: in einem tieferen Sinne als wenn dermoderne Mensch sich hinsichtlich seines Traumes mit Shakespearezu vergleichen wagt.Page: KGW='III-1.27' KSA='1.31' Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zusprechen, wenn die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll,welche die dionysischen Griechen von den dionysischenBarbaren trennt. Aus allen Enden der alten Welt — umdie neuere hier bei Seite zu lassen — von Rom bis Babylon können

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wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen, deren Typussich, besten Falls, zu dem Typus der griechischen verhält, wieder bärtige Satyr, dem der Bock Namen und Attribute verlieh,zu Dionysus selbst. Fast überall lag das Centrum dieser Feste ineiner überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, derenWellen über jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungenhinweg flutheten; gerade die wildesten Bestien der Naturwurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung vonWollust und Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche„Hexentrank“ erschienen ist. Gegen die fieberhaften Regungenjener Feste, deren Kenntniss auf allen Land- und Seewegen zuden Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang völliggesichert und geschützt durch die hier in seinem ganzen Stolzsich aufrichtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhauptkeiner gefährlicheren Macht entgegenhalten konnte als dieserfratzenhaft ungeschlachten dionysischen. Es ist die dorische Kunst,in der sich jene majestätisch-ablehnende Haltung des Apolloverewigt hat. Bedenklicher und sogar unmöglich wurde dieserWiderstand, als endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischenheraus sich ähnliche Triebe Bahn brachen: jetzt beschränkte sichdas Wirken des delphischen Gottes darauf, dem gewaltigenGegner durch eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versöhnung dievernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen. Diese Versöhnungist der wichtigste Moment in der Geschichte des griechischenCultus: wohin man blickt, sind die Umwälzungen diesesEreignisses sichtbar. Es war die Versöhnung zweier Gegner, mitscharfer Bestimmung ihrer von jetzt ab einzuhaltenden Grenzlinienund mit periodischer Uebersendung von Ehrengeschenken;im Grunde war die Kluft nicht überbrückt. Sehen wir aber, wiesich unter dem Drucke jenes Friedensschlusses die dionysische

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Macht offenbarte, so erkennen wir jetzt, im Vergleiche mit jenenbabylonischen Sakäen und ihrem Rückschritte des Menschenzum Tiger und Affen, in den dionysischen Orgien der Griechendie Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen.

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Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erstbei ihnen wird die Zerreissung des principii individuationis einkünstlerisches Phänomen. Jener scheussliche Hexentrank ausWollust und Grausamkeit war hier ohne Kraft: nur die wundersameMischung und Doppelheit in den Affecten der dionysischenSchwärmer erinnert an ihn — wie Heilmittel an tödtliche Gifteerinnern —, jene Erscheinung, dass Schmerzen Lust erwecken,dass der Jubel der Brust qualvolle Töne entreisst. Aus derhöchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnendeKlagelaut über einen unersetzlichen Verlust. In jenen griechischenFesten bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der Naturhervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zuseufzen habe. Der Gesang und die Gebärdensprache solcherzwiefach gestimmter Schwärmer war für die homerisch-griechischeWelt etwas Neues und Unerhörtes: und insbesondereerregte ihr die dionysische Musik Schrecken und Grausen.Wenn die Musik scheinbar bereits als eine apollinische Kunstbekannt war, so war sie dies doch nur, genau genommen, alsWellenschlag des Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur Darstellungapollinischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik desApollo war dorische Architektonik in Tönen, aber in nurangedeuteten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsamist gerade das Element, als unapollinisch, ferngehalten, das denCharakter der dionysischen Musik und damit der Musik überhauptausmacht, die erschütternde Gewalt des Tones, der einheitlicheStrom des Melos und die durchaus unvergleichliche Weltder Harmonie. Im dionysischen Dithyrambus wird der Menschzur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeitengereizt; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, dieVernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius derGattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natursymbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig,einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik desMundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder

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rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderensymbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamikund Harmonie, plötzlich ungestüm. Um diese Gesammtentfesselungaller symbolischen Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereitsauf jener Höhe der Selbstentäusserung angelangt sein, die injenen Kräften sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambischeDionysusdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden!

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Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Griecheauf ihn blicken! Mit einem Erstaunen, das um so grösser war, alssich ihm das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles doch eigentlichso fremd nicht sei, ja dass sein apollinisches Bewusstsein nurwie ein Schleier diese dionysische Welt vor ihm verdecke.

Aphorism id='GT-Text-3' kgw='III-1.30' ksa='1.34'

3. Um dies zu begreifen, müssen wir jenes kunstvolle Gebäudeder apollinischen Cultur gleichsam Stein um Stein abtragen,bis wir die Fundamente erblicken, auf die es begründetist. Hier gewahren wir nun zuerst die herrlichen olympischenGöttergestalten, die auf den Giebeln dieses Gebäudesstehen, und deren Thaten in weithin leuchtenden Reliefs dargestelltseine Friese zieren. Wenn unter ihnen auch Apollo steht, alseine einzelne Gottheit neben anderen und ohne den Ansprucheiner ersten Stellung, so dürfen wir uns dadurch nicht beirrenlassen. Derselbe Trieb, der sich in Apollo versinnlichte, hatüberhaupt jene ganze olympische Welt geboren, und in diesem Sinnedarf uns Apollo als Vater derselben gelten. Welches war dasungeheure Bedürfniss, aus dem eine so leuchtende Gesellschaftolympischer Wesen entsprang?Page: KGW='III-1.30' KSA='1.34' Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympierherantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heiligkeit, nachunleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblickenbei ihnen sucht, der wird unmuthig und enttäuscht ihnen baldden Rücken kehren müssen. Hier erinnert nichts an Askese,

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Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein üppiges, ja triumphirendesDasein zu uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist,gleichviel ob es gut oder böse ist. Und so mag der Beschauer rechtbetroffen vor diesem phantastischen Ueberschwang des Lebensstehn, um sich zu fragen, mit welchem Zaubertrank im Leibediese übermüthigen Menschen das Leben genossen haben mögen,dass, wohin sie sehen, Helena, das „in süsser Sinnlichkeitschwebende“ Idealbild ihrer eignen Existenz, ihnen entgegenlacht.Diesem bereits rückwärts gewandten Beschauer müssen wir aberzurufen: „Geh' nicht von dannen, sondern höre erst, was diegriechische Volksweisheit von diesem selben Leben aussagt, dassich hier mit so unerklärlicher Heiterkeit vor dir ausbreitet. Esgeht die alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisenSilen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe,ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist,fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste undAllervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon;

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bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachenin diese Worte ausbricht: „Elendes Eintagsgeschlecht, des ZufallsKinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, wasnicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste istfür dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zusein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich — baldzu sterben“.Page: KGW='III-1.31' KSA='1.35' Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympischeGötterwelt? Wie die entzückungsreiche Vision des gefoltertenMärtyrers zu seinen Peinigungen.Page: KGW='III-1.31' KSA='1.35' Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauberbergund zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfanddie Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhauptleben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburtder Olympischen stellen. Jenes ungeheure Misstrauen gegendie titanischen Mächte der Natur, jene über allen Erkenntnissenerbarmungslos thronende Moira, jener Geier des grossen

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Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckensloos des weisenOedipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zumMuttermorde zwingt, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes,sammt ihren mythischen Exempeln, an der die schwermüthigenEtrurier zu Grunde gegangen sind — wurde von denGriechen durch jene künstlerische Mittelwelt der Olympierfortwährend von Neuem überwunden, jedenfalls verhüllt unddem Anblick entzogen. Um leben zu können, mussten die Griechendiese Götter, aus tiefster Nöthigung, schaffen: welchen Hergangwir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der ursprünglichentitanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen apollinischenSchönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympischeGötterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosenaus dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hätte jenes soreizbar empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leidenso einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihmnicht dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinenGöttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst in'sLeben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung undVollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt entstehn,in der sich der hellenische „Wille“ einen verklärenden Spiegelvorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indemsie es selbst leben — die allein genügende Theodicee! Das Daseinunter dem hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das ansich Erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche Schmerzder homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden ausihm, vor allem auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt vonihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte,„das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das

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Zweitschlimmste, überhaupt einmal zu sterben“. Wenn die Klageeinmal ertönt, so klingt sie wieder vom kurzlebenden Achilles, vondem blättergleichen Wechsel und Wandel des Menschengeschlechts,von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist des grösstenHelden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu sehnen,

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sei es selbst als Tagelöhner. So ungestüm verlangt, auf derapollinischen Stufe, der „Wille“ nach diesem Dasein, so eins fühltsich der homerische Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zuseinem Preisliede wird.Page: KGW='III-1.33' KSA='1.37' Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von denneueren Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheitdes Menschen mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort„naiv“ in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher,sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zustandist, dem wir an der Pforte jeder Cultur, als einem Paradies derMenschheit begegnen müssten: dies konnte nur eine Zeitglauben, die den Emil Rousseau's sich auch als Künstler zudenken suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Naturerzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte. Wo unsdas „Naive“ in der Kunst begegnet, haben wir die höchsteWirkung der apollinischen Cultur zu erkennen: welche immer erstein Titanenreich zu stürzen und Ungethüme zu tödten hat unddurch kräftige Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionenüber eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarsteLeidensfähigkeit Sieger geworden sein muss. Aber wie seltenwird das Naive, jenes völlige Verschlungensein in der Schönheitdes Scheines, erreicht! Wie unaussprechbar erhaben ist deshalbHomer, der sich, als Einzelner, zu jener apollinischen Volksculturverhält, wie der einzelne Traumkünstler zur Traumbefähigungdes Volks und der Natur überhaupt. Die homerische„Naivetät“ ist nur als der vollkommene Sieg der apollinischenIllusion zu begreifen: es ist dies eine solche Illusion, wie sie dieNatur, zur Erreichung ihrer Absichten, so häufig verwendet. Daswahre Ziel wird durch ein Wahnbild verdeckt: nach diesemstrecken wir die Hände aus, und jenes erreicht die Natur durchunsre Täuschung. In den Griechen wollte der „Wille“ sich selbst,in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen; umsich zu verherrlichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst alsverherrlichenswerth empfinden, sie mussten sich in einer höheren

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Sphäre wiedersehn, ohne dass diese vollendete Welt der Anschauungals Imperativ oder als Vorwurf wirkte. Dies ist die Sphäreder Schönheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen,sahen. Mit dieser Schönheitsspiegelung kämpfte der hellenische„Wille“ gegen das dem künstlerischen correlative Talent zum

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Leiden und zur Weisheit des Leidens: und als Denkmal seinesSieges steht Homer vor uns, der naive Künstler.

Aphorism id='GT-Text-4' kgw='III-1.34' ksa='1.38'

4. Ueber diesen naiven Künstler giebt uns die Traumanalogieeinige Belehrung. Wenn wir uns den Träumenden vergegenwärtigen,wie er, mitten in der Illusion der Traumwelt und ohnesie zu stören, sich zuruft: „es ist ein Traum, ich will ihnweiter träumen“, wenn wir hieraus auf eine tiefe innere Lust desTraumanschauens zu schliessen haben, wenn wir andererseits, umüberhaupt mit dieser inneren Lust am Schauen träumen zu können,den Tag und seine schreckliche Zudringlichkeit völlig vergessenhaben müssen: so dürfen wir uns alle diese Erscheinungen etwain folgender Weise, unter der Leitung des traumdeutendenApollo, interpretiren. So gewiss von den beiden Hälften desLebens, der wachen und der träumenden Hälfte, uns die erstereals die ungleich bevorzugtere, wichtigere, würdigere, lebenswerthere,ja allein gelebte dünkt: so möchte ich doch, bei allemAnscheine einer Paradoxie, für jenen geheimnissvollen Grundunseres Wesens, dessen Erscheinung wir sind, gerade dieentgegengesetzte Werthschätzung des Traumes behaupten. Je mehrich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und inihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerdendurch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich zuder metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiendeund Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle,zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zuseiner steten Erlösung braucht: welchen Schein wir, völlig in ihm

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befangen und aus ihm bestehend, als das Wahrhaft-Nichtseiended.h. als ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Causalität,mit anderen Worten, als empirische Realität zu empfindengenöthigt sind. Sehen wir also einmal von unsrer eignen „Realität“für einen Augenblick ab, fassen wir unser empirischesDasein, wie das der Welt überhaupt, als eine in jedem Momenterzeugte Vorstellung des Ur-Einen, so muss uns jetzt der Traumals der Schein des Scheins, somit als eine noch höhereBefriedigung der Urbegierde nach dem Schein hin gelten. Ausdiesem selben Grunde hat der innerste Kern der Natur jeneunbeschreibliche Lust an dem naiven Künstler und dem naivenKunstwerke, das gleichfalls nur „Schein des Scheins“ ist. Rafael,selbst einer jener unsterblichen „Naiven“, hat uns in einemgleichnissartigen Gemälde jenes Depotenziren des Scheins zumSchein, den Urprozess des naiven Künstlers und zugleich derapollinischen Cultur, dargestellt. In seiner Transfiguration

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zeigt uns die untere Hälfte, mit dem besessenen Knaben,den verzweifelnden Trägern, den rathlos geängstigten Jüngern,die Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigenGrundes der Welt: der „Schein“ ist hier Widerschein des ewigenWiderspruchs, des Vaters der Dinge. Aus diesem Schein steigtnun, wie ein ambrosischer Duft, eine visionsgleiche neue Scheinweltempor, von der jene im ersten Schein Befangenen nichtssehen — ein leuchtendes Schweben in reinster Wonne undschmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden Anschauen. Hierhaben wir, in höchster Kunstsymbolik, jene apollinischeSchönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit desSilen, vor unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihregegenseitige Nothwendigkeit. Apollo aber tritt uns wiederum alsdie Vergöttlichung des principii individuationis entgegen, in demallein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Erlösung durchden Schein, sich vollzieht: er zeigt uns, mit erhabenen Gebärden,wie die ganze Welt der Qual nöthig ist, damit durch sie derEinzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde und

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dann, ins Anschauen derselben versunken, ruhig auf seinemschwankenden Kahne, inmitten des Meeres, sitze.Page: KGW='III-1.36' KSA='1.40' Diese Vergöttlichung der Individuation kennt, wenn sieüberhaupt imperativisch und Vorschriften gebend gedacht wird,nur Ein Gesetz, das Individuum d.h. die Einhaltung derGrenzen des Individuums, das Maass im hellenischen Sinne. Apollo,als ethische Gottheit, fordert von den Seinigen das Maass und,um es einhalten zu können, Selbsterkenntniss. Und so läuft nebender ästhetischen Nothwendigkeit der Schönheit die Forderungdes „Erkenne dich selbst“ und des „Nicht zu viel!“ her, währendSelbstüberhebung und Uebermaass als die eigentlich feindseligenDämonen der nicht-apollinischen Sphäre, daher als Eigenschaftender vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters, und derausser-apollinischen Welt d.h. der Barbarenwelt, erachtetwurden. Wegen seiner titanenhaften Liebe zu den Menschen musstePrometheus von den Geiern zerrissen werden, seiner übermässigenWeisheit halber, die das Räthsel der Sphinx löste, mussteOedipus in einen verwirrenden Strudel von Unthaten stürzen:.so interpretirte der delphische Gott die griechischeVergangenheit.Page: KGW='III-1.36' KSA='1.40' „Titanenhaft“ und „barbarisch“ dünkte dem apollinischenGriechen auch die Wirkung, die das Dionysische erregte:ohne dabei sich verhehlen zu können, dass er selbst doch zugleichauch innerlich mit jenen gestürzten Titanen und Heroenverwandt sei. Ja er musste noch mehr empfinden: sein ganzes Daseinmit aller Schönheit und Mässigung ruhte auf einem verhülltenUntergrunde des Leidens und der Erkenntniss, der ihm wiederdurch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe! Apollo

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konnte nicht ohne Dionysus leben! Das „Titanische“ und das„Barbarische“ war zuletzt eine eben solche Nothwendigkeit wiedas Apollinische! Und nun denken wir uns, wie in diese auf denSchein und die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Weltder ekstatische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderenZauberweisen hineinklang, wie in diesen das ganze Uebermaass

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der Natur in Lust, Leid und Erkenntniss, bis zum durchdringendenSchrei, laut wurde: denken wir uns, was diesem dämonischenVolksgesange gegenüber der psalmodirende Künstler des Apollo,mit dem gespensterhaften Harfenklange, bedeuten konnte! DieMusen der Künste des „Scheins“ verblassten vor einer Kunst, diein ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit des Silenrief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olympier. DasIndividuum, mit allen seinen Grenzen und Maassen, ging hier in derSelbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter undvergass die apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthülltesich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geboreneWonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus. Undso war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinischeaufgehoben und vernichtet. Aber eben so gewiss ist, dassdort, wo der erste Ansturm ausgehalten wurde, das Ansehen unddie Majestät des delphischen Gottes starrer und drohender als jesich äusserte. Ich vermag nämlich den dorischen Staat unddie dorische Kunst mir nur als ein fortgesetztes Kriegslager desApollinischen zu erklären: nur in einem unausgesetztenWiderstreben gegen das titanisch-barbarische Wesen des Dionysischenkonnte eine so trotzig-spröde, mit Bollwerken umschlosseneKunst, eine so kriegsgemässe und herbe Erziehung, ein sograusames und rücksichtsloses Staatswesen von längerer Dauer sein.Page: KGW='III-1.37' KSA='1.41' Bis zu diesem Punkte ist des Weiteren ausgeführt worden,was ich am Eingange dieser Abhandlung bemerkte: wie dasDionysische und das Apollinische in immer neuen auf einanderfolgenden Geburten, und sich gegenseitig steigernd das hellenischeWesen beherrscht haben: wie aus dem „erzenen“ Zeitalter, mitseinen Titanenkämpfen und seiner herben Volksphilosophie, sichunter dem Walten des apollinischen Schönheitstriebes diehomerische Welt entwickelt, wie diese „naive“ Herrlichkeit wiedervon dem einbrechenden Strome des Dionysischen verschlungenwird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich das Apollinischezur starren Majestät der dorischen Kunst und Weltbetrachtung

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erhebt. Wenn auf diese Weise die ältere hellenische Geschichte,im Kampf jener zwei feindseligen Principien, in vier grosseKunststufen zerfällt: so sind wir jetzt gedrängt, weiter nach demletzten Plane dieses Werdens und Treibens zu fragen, falls uns

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nicht etwa die letzterreichte Periode, die der dorischen Kunst, alsdie Spitze und Absicht jener Kunsttriebe gelten sollte: und hierbietet sich unseren Blicken das erhabene und hochgeprieseneKunstwerk der attischen Tragödie und des dramatischenDithyrambus, als das gemeinsame Ziel beider Triebe, derengeheimnissvolles Ehebündniss, nach langem vorhergehendenKampfe, sich in einem solchen Kinde — das zugleich Antigoneund Kassandra ist — verherrlicht hat.

Aphorism id='GT-Text-5' kgw='III-1.38' ksa='1.42'

5. Wir nahen uns jetzt dem eigentlichen Ziele unsrerUntersuchung, die auf die Erkenntniss des dionysisch-apollinischenGenius und seines Kunstwerkes, wenigstens auf das ahnungsvolleVerständniss jenes Einheitsmysteriums gerichtet ist. Hier fragenwir nun zunächst, wo jener neue Keim sich zuerst in derhellenischen Welt bemerkbar macht, der sich nachher bis zur Tragödieund zum dramatischen Dithyrambus entwickelt. Hierüber giebtuns das Alterthum selbst bildlich Aufschluss, wenn es als dieUrväter und Fackelträger der griechischen Dichtung Homer undArchilochus auf Bildwerken, Gemmen u. s. w. nebeneinander stellt, in der sicheren Empfindung, dass nur diese Beidengleich völlig originalen Naturen, von denen aus ein Feuerstromauf die gesammte griechische Nachwelt fortfliesse, zu erachtenseien. Homer, der in sich versunkene greise Träumer, der Typusdes apollinischen, naiven Künstlers, sieht nun staunend denleidenschaftlichen Kopf des wild durch's Dasein getriebenenkriegerischen Musendieners Archilochus: und die neuere Aesthetikwusste nur deutend hinzuzufügen, dass hier dem „objectiven“Künstler der erste „subjective“ entgegen gestellt sei. Uns ist mitdieser Deutung wenig gedient, weil wir den subjectiven Künstler

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nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art und Höheder Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven,Erlösung vom „Ich“ und Stillschweigen jedes individuellen Willensund Gelüstens fordern, ja ohne Objectivität, ohne reinesinteresseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerischeErzeugung glauben können. Darum muss unsre Aesthetik erstjenes Problem lösen, wie der „Lyriker“ als Künstler möglich ist:er, der, nach der Erfahrung aller Zeiten, immer „ich“ sagt unddie ganze chromatische Tonleiter seiner Leidenschaften undBegehrungen vor uns absingt. Gerade dieser Archilochus erschrecktuns, neben Homer, durch den Schrei seines Hasses und Hohnes,durch die trunknen Ausbrüche seiner Begierde; ist er, der erstesubjectiv genannte Künstler, nicht damit der eigentlicheNichtkünstler? Woher aber dann die Verehrung, die ihm, dem Dichter,

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gerade auch das delphische Orakel, der Herd der „objectiven“Kunst, in sehr merkwürdigen Aussprüchen erwiesen hat?Page: KGW='III-1.39' KSA='1.43' Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns Schiller durcheine ihm selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinendepsychologische Beobachtung Licht gebracht; er gesteht nämlichals den vorbereitenden Zustand vor dem Actus des Dichtensnicht etwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Causalität derGedanken, vor sich und in sich gehabt zu haben, sondern vielmehreine musikalische Stimmung ( „Die Empfindungist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand;dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalischeGemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst diepoetische Idee“). Nehmen wir jetzt das wichtigste Phänomen derganzen antiken Lyrik hinzu, die überall als natürlich geltendeVereinigung, ja Identität des Lyrikers mit demMusiker — der gegenüber unsre neuere Lyrik wie ein Götterbildohne Kopf erscheint — so können wir jetzt, auf Grund unsrerfrüher dargestellten aesthetischen Metaphysik, uns in folgenderWeise den Lyriker erklären. Er ist zuerst, als dionysischerKünstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch,

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eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einenals Musik, wenn anders diese mit Recht eine Wiederholung derWelt und ein zweiter Abguss derselben genannt worden ist; jetztaber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleichnissartigenTraumbilde, unter der apollinischen Traumeinwirkungsichtbar. Jener bild- und begrifflose Wiederschein desUrschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine,erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichniss oderExempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits in demdionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm jetzt seineEinheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumscene, diejenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust desScheines, versinnlicht. Das „Ich“ des Lyrikers tönt also aus demAbgrunde des Seins: seine „Subjectivität“ im Sinne der neuerenAesthetiker ist eine Einbildung. Wenn Archilochus, der ersteLyriker der Griechen, seine rasende Liebe und zugleich seineVerachtung den Töchtern des Lykambes kundgiebt, so ist es nichtseine Leidenschaft, die vor uns in orgiastischem Taumel tanzt:wir sehen Dionysus und die Mänaden, wir sehen den berauschtenSchwärmer Archilochus zum Schlafe niedergesunken — wie ihnuns Euripides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf hoherAlpentrift, in der Mittagssonne —: und jetzt tritt Apollo an ihnheran und berührt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch-musikalischeVerzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleichsam Bilderfunkenum sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchstenEntfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben heissen.Page: KGW='III-1.40' KSA='1.44'

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Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker istin das reine Anschauen der Bilder versunken. Der dionysischeMusiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz undUrwiederklang desselben. Der lyrische Genius fühlt aus demmystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande eine Bilder- undGleichnisswelt hervorwachsen, die eine ganz andere Färbung,Causalität und Schnelligkeit hat als jene Welt des Plastikers undEpikers. Während der Letztgenannte in diesen Bildern und nur

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in ihnen mit freudigem Behagen lebt und nicht müde wird, siebis auf die kleinsten Züge hin liebevoll anzuschauen, währendselbst das Bild des zürnenden Achilles für ihn nur ein Bild ist,dessen zürnenden Ausdruck er mit jener Traumlust am Scheinegeniesst — so dass er, durch diesen Spiegel des Scheines, gegendas Einswerden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestaltengeschützt ist —, so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichtsals er selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationenvon ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt „ich“sagen darf: nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen,empirisch-realen Menschen, sondern die einzige überhauptwahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit,durch deren Abbilder der lyrische Genius bis auf jenen Grundder Dinge hindurchsieht. Nun denken wir uns einmal, wie erunter diesen Abbildern auch sich selbst als Nichtgeniuserblickt d.h. sein „Subject“, das ganze Gewühl subjectiver, auf einbestimmtes, ihm real dünkendes Ding gerichteter Leidenschaftenund Willensregungen; wenn es jetzt scheint als ob der lyrischeGenius und der mit ihm verbundene Nichtgenius eins wäre undals ob der Erstere von sich selbst jenes Wörtchen „ich“ spräche,so wird uns jetzt dieser Schein nicht mehr verführen können, wieer allerdings diejenigen verführt hat, die den Lyriker als densubjectiven Dichter bezeichnet haben. In Wahrheit ist Archilochus,der leidenschaftlich entbrannte liebende und hassende Menschnur eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr Archilochus,sondern Weltgenius ist und der seinen Urschmerz in jenemGleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch ausspricht:während jener subjectiv wollende und begehrende MenschArchilochus überhaupt nie und nimmer Dichter sein kann. Es ist abergar nicht nöthig, dass der Lyriker gerade nur das Phänomen desMenschen Archilochus vor sich sieht als Wiederschein des ewigenSeins; und die Tragödie beweist, wie weit sich die Visionsweltdes Lyrikers von jenem allerdings zunächst stehenden Phänomenentfernen kann.

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Page: KGW='III-1.42' KSA='1.46' Schopenhauer, der sich die Schwierigkeit, die derLyriker für die philosophische Kunstbetrachtung macht, nicht

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verhehlt hat, glaubt einen Ausweg gefunden zu haben, den ich nichtmit ihm gehen kann, während ihm allein, in seiner tiefsinnigenMetaphysik der Musik, das Mittel in die Hand gegeben war, mitdem jene Schwierigkeit entscheidend beseitigt werden konnte:wie ich dies, in seinem Geiste und zu seiner Ehre, hier gethan zuhaben glaube. Dagegen bezeichnet er als das eigenthümlicheWesen des Liedes Folgendes (Welt als Wille und Vorstellung I,S. 295): „Es ist das Subject des Willens, d.h. das eigene Wollen,was das Bewusstsein des Singenden füllt, oft als ein entbundenes,befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch öfter aber als eingehemmtes (Trauer), immer als Affect, Leidenschaft, bewegterGemüthszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wirddurch den Anblick der umgebenden Natur der Singende sichseiner bewusst als Subjects des reinen, willenlosen Erkennens,dessen unerschütterliche, selige Ruhe nunmehr in Contrast trittmit dem Drange des immer beschränkten, immer noch dürftigenWollens: die Empfindung dieses Contrastes, dieses Wechselspielesist eigentlich, was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und wasüberhaupt den lyrischen Zustand ausmacht. In diesem tritt gleichsamdas reine Erkennen zu uns heran, um uns vom Wollen undseinem Drange zu erlösen: wir folgen; doch nur auf Augenblicke:immer von Neuem entreisst das Wollen, die Erinnerung anunsere persönlichen Zwecke, uns der ruhigen Beschauung; aberauch immer wieder entlockt uns dem Wollen die nächste schöneUmgebung, in welcher sich die reine willenlose Erkenntniss unsdarbietet. Darum geht im Liede und der lyrischen Stimmung dasWollen (das persönliche Interesse des Zwecks) und das reineAnschauen der sich darbietenden Umgebung wundersamgemischt durch einander: es werden Beziehungen zwischen beidengesucht und imaginirt; die subjective Stimmung, die Affectiondes Willens, theilt der angeschauten Umgebung und diese wiederumjener ihre Farbe im Reflex mit: von diesem ganzen so gemischten

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und getheilten Gemüthszustande ist das ächte Lied derAbdruck“.Page: KGW='III-1.43' KSA='1.47' Wer vermöchte in dieser Schilderung zu verkennen, dass hierdie Lyrik als eine unvollkommen erreichte, gleichsam im Sprungeund selten zum Ziele kommende Kunst charakterisirt wird, jaals eine Halbkunst, deren Wesen darin bestehen solle, dassdas Wollen und das reine Anschauen d.h. der unaesthetische undder aesthetische Zustand wundersam durch einander gemischtseien? Wir behaupten vielmehr, dass der ganze Gegensatz, nachdem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer dieKünste eintheilt, der des Subjectiven und des Objectiven,überhaupt in der Aesthetik ungehörig ist, da das Subject, daswollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nurals Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann.Insofern aber das Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem

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individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden,durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seineErlösung im Scheine feiert. Denn dies muss uns vor allem, zuunserer Erniedrigung und Erhöhung, deutlich sein, dass die ganzeKunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer Besserung undBildung wegen, aufgeführt wird, ja dass wir ebensowenig dieeigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind: wohl aber dürfenwir von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpferderselben schon Bilder und künstlerische Projectionen sind undin der Bedeutung von Kunstwerken unsre höchste Würde haben— denn nur als aesthetisches Phänomen ist dasDasein und die Welt ewig gerechtfertigt: — während freilichunser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung kaum ein andresist als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihrdargestellten Schlacht haben. Somit ist unser ganzes Kunstwissenim Grunde ein völlig illusorisches, weil wir als Wissende mitjenem Wesen nicht eins und identisch sind, das sich, als einzigerSchöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie, einen ewigenGenuss bereitet. Nur soweit der Genius im Actus der künstlerischen

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Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weisser etwas über das ewige Wesen der Kunst; denn in jenemZustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild desMährchens gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaunkann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter,Schauspieler und Zuschauer.

Aphorism id='GT-Text-6' kgw='III-1.44' ksa='1.48'

6. In Betreff des Archilochus hat die gelehrte Forschungentdeckt, dass er das Volkslied in die Litteratur eingeführthabe, und dass ihm, dieser That halber, jene einzige Stellungneben Homer, in der allgemeinen Schätzung der Griechenzukomme. Was aber ist das Volkslied im Gegensatz zu dem völligapollinischen Epos? Was anders als das perpetuum vestigiumeiner Vereinigung des Apollinischen und des Dionysischen; seineungeheure, über alle Völker sich erstreckende und in immer neuenGeburten sich steigernde Verbreitung ist uns ein Zeugniss dafür,wie stark jener künstlerische Doppeltrieb der Natur ist: der inanaloger Weise seine Spuren im Volkslied hinterlässt, wie dieorgiastischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musikverewigen. Ja es müsste auch historisch nachweisbar sein, wie jede anVolksliedern reich productive Periode zugleich auf das Stärkstedurch dionysische Strömungen erregt worden ist, welche wirimmer als Untergrund und Voraussetzung des Volksliedes zubetrachten haben.

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Page: KGW='III-1.44' KSA='1.48' Das Volkslied aber gilt uns zu allernächst als musikalischerWeltspiegel, als ursprüngliche Melodie, die sich jetzt eineparallele Traumerscheinung sucht und diese in der Dichtung ausspricht.Die Melodie ist also das Erste und Allgemeine,das deshalb auch mehrere Objectivationen, in mehreren Texten,an sich erleiden kann. Sie ist auch das bei weitem wichtigere undnothwendigere in der naiven Schätzung des Volkes. Die Melodiegebiert die Dichtung aus sich und zwar immer wieder von

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Neuem; nichts Anderes will uns die Strophenform desVolksliedes sagen: welches Phänomen ich immer mitErstaunen betrachtet habe, bis ich endlich diese Erklärung fand.Wer eine Sammlung von Volksliedern z.B. des Knaben Wunderhornauf diese Theorie hin ansieht, der wird unzählige Beispielefinden, wie die fortwährend gebärende Melodie Bilderfunken umsich aussprüht: die in ihrer Buntheit, ihrem jähen Wechsel, jaihrem tollen Sichüberstürzen eine dem epischen Scheine undseinem ruhigen Fortströmen wildfremde Kraft offenbaren. VomStandpunkte des Epos ist diese ungleiche und unregelmässigeBilderwelt der Lyrik einfach zu verurtheilen: und dies habengewiss die feierlichen epischen Rhapsoden der apollinischen Festeim Zeitalter des Terpander gethan.Page: KGW='III-1.45' KSA='1.49' In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die Spracheauf das Stärkste angespannt, die Musik nachzuahmen:deshalb beginnt mit Archilochus eine neue Welt der Poesie, dieder homerischen in ihrem tiefsten Grunde widerspricht. Hiermithaben wir das einzig mögliche Verhältniss zwischen Poesie undMusik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild, der Begriffsucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt dieGewalt der Musik an sich. In diesem Sinne dürfen wir in derSprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Hauptströmungenunterscheiden, jenachdem die Sprache die Erscheinungs- undBilderwelt oder die Musikwelt nachahmte. Man denke nureinmal tiefer über die sprachliche Differenz der Farbe, dessyntaktischen Bau's, des Wortmaterial's bei Homer und Pindar nach,um die Bedeutung dieses Gegensatzes zu begreifen; ja es wirdEinem dabei handgreiflich deutlich, dass zwischen Homer undPindar die orgiastischen Flötenweisen desOlympus erklungen sein müssen, die noch im Zeitalter des Aristoteles,inmitten einer unendlich entwickelteren Musik, zu trunknerBegeisterung hinrissen und gewiss in ihrer ursprünglichenWirkung alle dichterischen Ausdrucksmittel der gleichzeitigenMenschen zur Nachahmung aufgereizt haben. Ich erinnere hier an ein

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bekanntes, unserer Aesthetik nur anstössig dünkendes Phänomen

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unserer Tage. Wir erleben es immer wieder, wie eineBeethoven'sche Symphonie die einzelnen Zuhörer zu einer Bilderredenöthigt, sei es auch dass eine Zusammenstellung der verschiedenen,durch ein Tonstück erzeugten Bilderwelten sich rechtphantastisch bunt, ja widersprechend ausnimmt: an solchenZusammenstellungen ihren armen Witz zu üben und das dochwahrlich erklärenswerthe Phänomen zu übersehen, ist recht in derArt jener Aesthetik. Ja selbst wenn der Tondichter in Bildernüber eine Composition geredet hat, etwa wenn er eine Symphonie.als pastorale und einen Satz als „Scene am Bach“, einen anderenals „lustiges Zusammensein der Landleute“ bezeichnet, so sinddas ebenfalls nur gleichnissartige, aus der Musik geborneVorstellungen — und nicht etwa die nachgeahmten Gegenstände derMusik — Vorstellungen, die über den dionysischen Inhaltder Musik uns nach keiner Seite hin belehren können, ja diekeinen ausschliesslichen Werth neben anderen Bildern haben.Diesen Prozess einer Entladung der Musik in Bildern haben wiruns nun auf eine jugendfrische, sprachlich schöpferischeVolksmenge zu übertragen, um zur Ahnung zu kommen, wie dasstrophische Volkslied entsteht, und wie das ganze Sprachvermögendurch das neue Princip der Nachahmung der Musikaufgeregt wird.Page: KGW='III-1.46' KSA='1.50' Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmendeEffulguration der Musik in Bildern und Begriffen betrachten, sokönnen wir jetzt fragen: „als was erscheint die Musik imSpiegel der Bildlichkeit und der Begriffe?“ Sie erscheintals Wille, das Wort im Schopenhauerischen Sinnegenommen, d.h. als Gegensatz der aesthetischen, rein beschaulichenwillenlosen Stimmung. Hier unterscheide man nun so scharf alsmöglich den Begriff des Wesens von dem der Erscheinung: denn dieMusik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich Wille sein, weil sie alssolcher gänzlich aus dem Bereich der Kunst zu bannen wäre— denn der Wille ist das an sich Unaesthetische —; aber sie

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erscheint als Wille. Denn um ihre Erscheinung in Bildernauszudrücken, braucht der Lyriker alle Regungen der Leidenschaft,vom Flüstern der Neigung bis zum Grollen des Wahnsinns; unterdem Triebe, in apollinischen Gleichnissen von der Musik zureden, versteht er die ganze Natur und sich in ihr nur als das ewigWollende, Begehrende, Sehnende. Insofern er aber die Musik inBildern deutet, ruht er selbst in der stillen Meeresruhe derapollinischen Betrachtung, so sehr auch alles, was er durch das Mediumder Musik anschaut, um ihn herum in drängender und treibenderBewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch dasselbe Mediumerblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild im Zustande desunbefriedigten Gefühls: sein eignes Wollen, Sehnen, Stöhnen,jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem er die Musik sich deutet. Diesist das Phänomen des Lyrikers: als apollinischer Genius

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interpretirt er die Musik durch das Bild des Willens, während er selbst,völlig losgelöst von der Gier des Willens, reines ungetrübtesSonnenauge ist.Page: KGW='III-1.47' KSA='1.51' Diese ganze Erörterung hält daran fest, dass die Lyrik ebenso abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik selbst, inihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nichtbraucht, sondern ihn nur neben sich erträgt. Die Dichtungdes Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuerstenAllgemeinheit und Allgültigkeit bereits in der Musik lag, dieihn zur Bilderrede nöthigte. Der Weltsymbolik der Musik isteben deshalb mit der Sprache auf keine Weise erschöpfendbeizukommen, weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerzim Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sphäresymbolisirt, die über alle Erscheinung und vor aller Erscheinungist. Ihr gegenüber ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss:daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen,nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussenkehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmungder Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührungmit der Musik, während deren tiefster Sinn, durch alle lyrische

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Beredsamkeit, uns auch keinen Schritt näher gebracht werdenkann.

Aphorism id='GT-Text-7' kgw='III-1.48' ksa='1.52'

7. Alle die bisher erörterten Kunstprincipien müssen wir jetztzu Hülfe nehmen, um uns in dem Labyrinth zurecht zu finden,als welches wir den Ursprung der griechischenTragödie bezeichnen müssen. Ich denke nichts Ungereimteszu behaupten, wenn ich sage, dass das Problem dieses Ursprungsbis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt, geschweige denngelöst ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen der antikenUeberlieferung schon combinatorisch an einander genäht und wiederaus einander gerissen sind. Diese Ueberlieferung sagt uns mitvoller Entschiedenheit, dass die Tragödie aus demtragischen Chore entstanden ist und ursprünglichnur Chor und nichts als Chor war: woher wir die Verpflichtungnehmen, diesem tragischen Chore als dem eigentlichen Urdramain's Herz zu sehen, ohne uns an den geläufigen Kunstredensarten— dass er der idealische Zuschauer sei oder das Volk gegenüberder fürstlichen Region der Scene zu vertreten habe — irgendwiegenügen zu lassen. Jener zuletzt erwähnte, für manchen Politikererhaben klingende Erläuterungsgedanke — als ob das unwandelbareSittengesetz von den demokratischen Athenern in dem

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Volkschore dargestellt sei, der über die leidenschaftlichenAusschreitungen und Ausschweifungen der Könige hinaus immerRecht behalte — mag noch so sehr durch ein Wort des Aristotelesnahegelegt sein: auf die ursprüngliche Formation der Tragödieist er ohne Einfluss, da von jenen rein religiösen Ursprüngen derganze Gegensatz von Volk und Fürst, überhaupt jeglichepolitisch-sociale Sphäre ausgeschlossen ist; aber wir möchten esauch in Hinsicht auf die uns bekannte classische Form des Chors beiAeschylus und Sophokles für Blasphemie erachten, hier von derAhnung einer „constitutionellen Volksvertretung“ zu reden, vor

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welcher Blasphemie Andere nicht zurückgeschrocken sind. Eineconstitutionelle Volksvertretung kennen die antiken Staatsverfassungenin praxi nicht und haben sie hoffentlich auch in ihrer Tragödienicht einmal „geahnt“.Page: KGW='III-1.49' KSA='1.53' Viel berühmter als diese politische Erklärung des Chors istder Gedanke A. W. Schlegel's, der uns den Chor gewissermaassenals den Inbegriff und Extract der Zuschauermenge, als den„idealischen Zuschauer“ zu betrachten anempfiehlt. DieseAnsicht, zusammengehalten mit jener historischen Ueberlieferung,dass ursprünglich die Tragödie nur Chor war, erweist sich alsdas was sie ist, als eine rohe, unwissenschaftliche, dochglänzende Behauptung, die ihren Glanz aber nur durch ihreconcentrirte Form des Ausdrucks, durch die echt germanischeVoreingenommenheit für Alles, was „idealisch“ genannt wird unddurch unser momentanes Erstauntsein erhalten hat. Wir sindnämlich erstaunt, sobald wir das uns gut bekannteTheaterpublicum mit jenem Chore vergleichen und uns fragen, ob eswohl möglich sei, aus diesem Publicum je etwas dem tragischenChore Analoges herauszuidealisiren. Wir leugnen dies im Stillenund wundern uns jetzt eben so über die Kühnheit der Schlegel'schenBehauptung wie über die total verschiedene Natur desgriechischen Publicums. Wir hatten nämlich doch immergemeint, dass der rechte Zuschauer, er sei wer er wolle, sich immerbewusst bleiben müsse, ein Kunstwerk vor sich zu haben, nichteine empirische Realität: während der tragische Chor derGriechen in den Gestalten der Bühne leibhafte Existenzen zuerkennen genöthigt ist. Der Okeanidenchor glaubt wirklich denTitan Prometheus vor sich zu sehen und hält sich selbst für ebenso real wie den Gott der Scene. Und das sollte die höchsteund reinste Art des Zuschauers sein, gleich den Okeaniden denPrometheus für leiblich vorhanden und real zu halten? Und eswäre das Zeichen des idealischen Zuschauers, auf die Bühne zulaufen und den Gott von seinen Martern zu befreien? Wir hattenan ein aesthetisches Publicum geglaubt und den einzelnen

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Zuschauer für um so befähigter gehalten, je mehr er im Stande war,das Kunstwerk als Kunst d.h. aesthetisch zu nehmen; und jetztdeutete uns der Schlegel'sche Ausdruck an, dass der vollkommneidealische Zuschauer die Welt der Scene gar nicht aesthetisch,sondern leibhaft empirisch auf sich wirken lasse. O über dieseGriechen! seufzen wir; sie werfen uns unsre Aesthetik um! Daranaber gewöhnt, wiederholten wir den Schlegel'schen Spruch, sooft der Chor zur Sprache kam.Page: KGW='III-1.50' KSA='1.54' Aber jene so ausdrückliche Ueberlieferung redet hier gegenSchlegel: der Chor an sich, ohne Bühne, also die primitiveGestalt der Tragödie und jener Chor idealischer Zuschauervertragen sich nicht mit einander. Was wäre das für eineKunstgattung, die aus dem Begriff des Zuschauers herausgezogen wäre,als deren eigentliche Form der „Zuschauer an sich“ zu geltenhätte. Der Zuschauer ohne Schauspiel ist ein widersinnigerBegriff. Wir fürchten, dass die Geburt der Tragödie weder aus derHochachtung vor der sittlichen Intelligenz der Masse, noch ausdem Begriff des schauspiellosen Zuschauers zu erklären sei undhalten dies Problem für zu tief, um von so flachen Betrachtungsartenauch nur berührt zu werden.Page: KGW='III-1.50' KSA='1.54' Eine unendlich werthvollere Einsicht über die Bedeutungdes Chors hatte bereits Schiller in der berühmten Vorrede zurBraut von Messina verrathen, der den Chor als eine lebendigeMauer betrachtete, die die Tragödie um sich herum zieht, umsich von der wirklichen Welt rein abzuschliessen und sich ihrenidealen Boden und ihre poetische Freiheit zu bewahren.Page: KGW='III-1.50' KSA='1.54' Schiller kämpft mit dieser seiner Hauptwaffe gegen dengemeinen Begriff des Natürlichen, gegen die bei der dramatischenPoesie gemeinhin geheischte Illusion. Während der Tagselbst auf dem Theater nur ein künstlicher, die Architektur nureine symbolische sei und die metrische Sprache einen idealenCharakter trage, herrsche immer noch der Irrthum im Ganzen:es sei nicht genug, dass man das nur als eine poetische Freiheitdulde, was doch das Wesen aller Poesie sei. Die Einführung des

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Chores sei der entscheidende Schritt, mit dem jedem Naturalismusin der Kunst offen und ehrlich der Krieg erklärt werde.Eine solche Betrachtungsart ist es, scheint mir, für die unser sichüberlegen wähnendes Zeitalter das wegwerfende Schlagwort„Pseudoidealismus“ gebraucht. Ich fürchte, wir sind dagegen mitunserer jetzigen Verehrung des Natürlichen und Wirklichen amGegenpol alles Idealismus angelangt, nämlich in der Region derWachsfigurencabinette. Auch in ihnen giebt es eine Kunst, wiebei gewissen beliebten Romanen der Gegenwart: nur quäle manuns nicht mit dem Anspruch, dass mit dieser Kunst derSchiller-Goethesche „Pseudoidealismus“ überwunden sei.

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Page: KGW='III-1.51' KSA='1.55' Freilich ist es ein „idealer“ Boden, auf dem, nach derrichtigen Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der Chor derursprünglichen Tragödie, zu wandeln pflegt, ein Boden hochemporgehoben über die wirkliche Wandelbahn der Sterblichen.Der Grieche hat sich für diesen Chor die Schwebegerüste einesfingirten Naturzustandes gezimmert und auf sie hinfingirte Naturwesen gestellt. Die Tragödie ist auf diesemFundamente emporgewachsen und freilich schon deshalb vonAnbeginn an einem peinlichen Abkonterfeien der Wirklichkeitenthoben gewesen. Dabei ist es doch keine willkürlich zwischenHimmel und Erde hineinphantasirte Welt; vielmehr eine Weltvon gleicher Realität und Glaubwürdigkeit wie sie der Olympsammt seinen Insassen für den gläubigen Hellenen besass. DerSatyr als der dionysische Choreut lebt in einer religiöszugestandenen Wirklichkeit unter der Sanction des Mythus und desCultus. Dass mit ihm die Tragödie beginnt, dass aus ihm diedionysische Weisheit der Tragödie spricht, ist ein hier uns ebenso befremdendes Phänomen wie überhaupt die Entstehung derTragödie aus dem Chore. Vielleicht gewinnen wir einenAusgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung hinstelle,dass sich der Satyr, das fingirte Naturwesen, zu dem Culturmenschenin gleicher Weise verhält, wie die dionysische Musikzur Civilisation. Von letzterer sagt Richard Wagner, dass sie

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von der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein vomTageslicht. In gleicher Weise, glaube ich, fühlte sich dergriechische Culturmensch im Angesicht des Satyrchors aufgehoben:und dies ist die nächste Wirkung der dionysischen Tragödie,dass der Staat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischenMensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühleweichen, welches an das Herz der Natur zurückführt. Dermetaphysische Trost, — mit welchem, wie ich schon hier andeute,uns jede wahre Tragödie entlässt — dass das Leben im Grundeder Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbarmächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafterDeutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsamhinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allemWechsel der Generationen und der Völkergeschichte ewigdieselben bleiben.Page: KGW='III-1.52' KSA='1.56' Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zumzartesten und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, der mitschneidigem Blicke mitten in das furchtbare Vernichtungstreibender sogenannten Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeitder Natur geschaut hat und in Gefahr ist, sich nach einerbuddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettetdie Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich — das Leben.Page: KGW='III-1.52' KSA='1.56'

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Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seinerVernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseinsenthält nämlich während seiner Dauer ein lethargischesElement, in das sich alles persönlich in der Vergangenheit Erlebteeintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheitdie Welt der alltäglichen und der dionysischen Wirklichkeit voneinander ab. Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder insBewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden; eineasketische, willenverneinende Stimmung ist die Frucht jenerZustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeitmit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in dasWesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie

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zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesender Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oderschmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugenist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss tödtet das Handeln,zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusiondas ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile Weisheit vonHans dem Träumer, der aus zu viel Reflexion, gleichsam auseinem Ueberschuss von Möglichkeiten nicht zum Handelnkommt; nicht das Reflectiren, nein! — die wahre Erkenntniss,der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zumHandeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei demdionysischen Menschen. Jetzt verfängt kein Trost mehr, dieSehnsucht geht über eine Welt nach dem Tode, über die Götterselbst hinaus, das Dasein wird, sammt seiner gleissenden Wiederspiegelungin den Göttern oder in einem unsterblichen Jenseits,verneint. In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit siehtjetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde desSeins, jetzt versteht er das Symbolische im Schicksal der Ophelia,jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen: es ekelt ihn.Page: KGW='III-1.53' KSA='1.57' Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, alsrettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein vermagjene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde desDaseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt:diese sind das Erhabene als die künstlerische Bändigung desEntsetzlichen und das Komische als die künstlerischeEntladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor des Dithyrambusist die rettende That der griechischen Kunst; an der Mittelweltdieser dionysischen Begleiter erschöpften sich jene vorhinbeschriebenen Anwandlungen.

Aphorism id='GT-Text-8' kgw='III-1.53' ksa='1.57'

8.

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Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neueren Zeitsind Beide Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und Natürliche

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gerichteten Sehnsucht; aber mit welchem festen unerschrocknenGriffe fasste der Grieche nach seinem Waldmenschen, wieverschämt und weichlich tändelte der moderne Mensch mit demSchmeichelbild eines zärtlichen flötenden weichgearteten Hirten!Die Natur, an der noch keine Erkenntniss gearbeitet, in der dieRiegel der Cultur noch unerbrochen sind — das sah der Griechein seinem Satyr, der ihm deshalb noch nicht mit dem Affenzusammenfiel. Im Gegentheil: es war das Urbild des Menschen, derAusdruck seiner höchsten und stärksten Regungen, als begeisterterSchwärmer, den die Nähe des Gottes entzückt, als mitleidenderGenosse, in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt, alsWeisheitsverkünder aus der tiefsten Brust der Natur heraus,als Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der Natur, die derGrieche gewöhnt ist mit ehrfürchtigem Staunen zu betrachten.Der Satyr war etwas Erhabenes und Göttliches: so musste erbesonders dem schmerzlich gebrochnen Blick des dionysischenMenschen dünken. Ihn hätte der geputzte, erlogene Schäferbeleidigt: auf den unverhüllten und unverkümmert grossartigenSchriftzügen der Natur weilte sein Auge in erhabener Befriedigung;hier war die Illusion der Cultur von dem Urbilde desMenschen weggewischt, hier enthüllte sich der wahre Mensch, derbärtige Satyr, der zu seinem Gotte aufjubelt. Vor ihm schrumpfteder Culturmensch zur lügenhaften Caricatur zusammen. Auchfür diese Anfänge der tragischen Kunst hat Schiller Recht: derChor ist eine lebendige Mauer gegen die anstürmende Wirklichkeit,weil er — der Satyrchor — das Dasein wahrhaftiger, wirklicher,vollständiger abbildet als der gemeinhin sich als einzigeRealität achtende Culturmensch. Die Sphäre der Poesie liegtnicht ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeiteines Dichterhirns: sie will das gerade Gegentheil sein, derungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben deshalb denlügenhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeit desCulturmenschen von sich werfen. Der Contrast dieser eigentlichenNaturwahrheit und der sich als einzige Realität gebärdenden

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Culturlüge ist ein ähnlicher wie zwischen dem ewigen Kern derDinge, dem Ding an sich, und der gesammten Erscheinungswelt:und wie die Tragödie mit ihrem metaphysischen Troste auf dasewige Leben jenes Daseinskernes, bei dem fortwährenden Untergangeder Erscheinungen, hinweist, so spricht bereits die Symbolikdes Satyrchors in einem Gleichniss jenes Urverhältnisszwischen Ding an sich und Erscheinung aus. Jener idyllischeSchäfer des modernen Menschen ist nur ein Konterfei der ihm alsNatur geltenden Summe von Bildungsillusionen; der dionysische

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Grieche will die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft— er sieht sich zum Satyr verzaubert.Page: KGW='III-1.55' KSA='1.59' Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen jubelt dieschwärmende Schaar der Dionysusdiener: deren Macht sie selbstvor ihren eignen Augen verwandelt, so dass sie sich alswiederhergestellte Naturgenien, als Satyrn, zu erblicken wähnen. Diespätere Constitution des Tragödienchors ist die künstlerischeNachahmung jenes natürlichen Phänomens; bei der nun allerdingseine Scheidung von dionysischen Zuschauern und dionysischenVerzauberten nöthig wurde. Nur muss man sich immergegenwärtig halten, dass das Publicum der attischen Tragödiesich selbst in dem Chore der Orchestra wiederfand, dass es imGrunde keinen Gegensatz von Publicum und Chor gab: dennalles ist nur ein grosser erhabener Chor von tanzenden undsingenden Satyrn oder von solchen, welche sich durch diese Satyrnrepräsentiren lassen. Das Schlegel'sche Wort muss sich uns hier ineinem tieferen Sinne erschliessen. Der Chor ist der „idealischeZuschauer“, insofern er der einzige Schauer ist, der Schauerder Visionswelt der Scene. Ein Publicum von Zuschauern, wiewir es kennen, war den Griechen unbekannt: in ihren Theaternwar es Jedem, bei dem in concentrischen Bogen sich erhebendenTerrassenbau des Zuschauerraumes, möglich, die gesammteCulturwelt um sich herum ganz eigentlich zu übersehen und ingesättigtem Hinschauen selbst Choreut sich zu wähnen. Nachdieser Einsicht dürfen wir den Chor, auf seiner primitiven Stufe

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in der Urtragödie, eine Selbstspiegelung des dionysischenMenschen nennen: welches Phänomen am deutlichsten durch denProzess des Schauspielers zu machen ist, der, bei wahrhafterBegabung, sein von ihm darzustellendes Rollenbild zum Greifenwahrnehmbar vor seinen Augen schweben sieht. Der Satyrchorist zu allererst eine Vision der dionysischen Masse, wie wiederumdie Welt der Bühne eine Vision dieses Satyrchors ist: die Kraftdieser Vision ist stark genug, um gegen den Eindruck der„Realität“, gegen die rings auf den Sitzreihen gelagertenBildungsmenschen den Blick stumpf und unempfindlich zu machen. DieForm des griechischen Theaters erinnert an ein einsames Gebirgsthal:die Architektur der Scene erscheint wie ein leuchtendesWolkenbild, welches die im Gebirge herumschwärmendenBacchen von der Höhe aus erblicken, als die herrliche Umrahmung,in deren Mitte ihnen das Bild des Dionysus offenbar wird.Page: KGW='III-1.56' KSA='1.60' Jene künstlerische Urerscheinung, die wir hier zur Erklärungdes Tragödienchors zur Sprache bringen, ist, bei unserergelehrtenhaften Anschauung über die elementaren künstlerischenProzesse, fast anstössig; während nichts ausgemachter sein kann, alsdass der Dichter nur dadurch Dichter ist, dass er von Gestaltensich umringt sieht, die vor ihm leben und handeln und in deren

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innerstes Wesen er hineinblickt. Durch eine eigenthümlicheSchwäche der modernen Begabung sind wir geneigt, uns dasaesthetische Urphänomen zu complicirt und abstract vorzustellen.Die Metapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorischeFigur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich,an Stelle eines Begriffes, vorschwebt. Der Character ist fürihn nicht etwas aus zusammengesuchten Einzelzügen componirtesGanzes, sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendigePerson, die von der gleichen Vision des Malers sich nur durchdas fortwährende Weiterleben und Weiterhandeln unterscheidet.Wodurch schildert Homer so viel anschaulicher als alle Dichter?Weil er um so viel mehr anschaut. Wir reden über Poesie soabstract, weil wir alle schlechte Dichter zu sein pflegen. Im

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Grunde ist das aesthetische Phänomen einfach; man habe nur dieFähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel zu sehen undimmerfort von Geisterschaaren umringt zu leben, so ist man Dichter;man fühle nur den Trieb, sich selbst zu verwandeln und ausanderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist manDramatiker.Page: KGW='III-1.57' KSA='1.61' Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen Massediese künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von einer solchenGeisterschaar umringt zu sehen, mit der sie sich innerlich einsweiss. Dieser Prozess des Tragödienchors ist das dramatischeUrphänomen: sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetztzu handeln, als ob man wirklich in einen andern Leib, in einenandern Charakter eingegangen wäre. Dieser Prozess steht andem Anfang der Entwickelung des Dramas. Hier ist etwasAnderes als der Rhapsode, der mit seinen Bildern nichtverschmilzt, sondern sie, dem Maler ähnlich, mit betrachtendemAuge ausser sich sieht; hier ist bereits ein Aufgeben des Individuumsdurch Einkehr in eine fremde Natur. Und zwar tritt diesesPhänomen epidemisch auf: eine ganze Schaar fühlt sich in dieserWeise verzaubert. Der Dithyramb ist deshalb wesentlich vonjedem anderen Chorgesange unterschieden. Die Jungfrauen, die,mit Lorbeerzweigen in der Hand, feierlich zum Tempel desApollo ziehn und dabei ein Prozessionslied singen, bleiben, wersie sind, und behalten ihren bürgerlichen Namen: derdithyrambische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihrebürgerliche Vergangenheit, ihre sociale Stellung völlig vergessenist: sie sind die zeitlosen, ausserhalb aller Gesellschaftssphärenlebenden Diener ihres Gottes geworden. Alle andere Chorlyrikder Hellenen ist nur eine ungeheure Steigerung des apollinischenEinzelsängers; während im Dithyramb eine Gemeinde vonunbewussten Schauspielern vor uns steht, die sich selbst untereinander als verwandelt ansehen.Page: KGW='III-1.57' KSA='1.61' Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller dramatischen

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Kunst. In dieser Verzauberung sieht sich der dionysische Schwärmer

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als Satyr, und als Satyr wiederum schaut erden Gott d.h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue Visionausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustandes. Mitdieser neuen Vision ist das Drama vollständig.Page: KGW='III-1.58' KSA='1.62' Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tragödieals den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer vonneuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet. JeneChorpartien, mit denen die Tragödie durchflochten ist, sind alsogewissermaassen der Mutterschooss des ganzen sogenanntenDialogs d.h. der gesammten Bühnenwelt, des eigentlichen Dramas.In mehreren auf einander folgenden Entladungen strahlt dieserUrgrund der Tragödie jene Vision des Dramas aus: die durchausTraumerscheinung und insofern epischer Natur ist, andrerseitsaber, als Objectivation eines dionysischen Zustandes, nicht dieapollinische Erlösung im Scheine, sondern im Gegentheil dasZerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit demUrsein darstellt. Somit ist das Drama die apollinischeVersinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen und dadurchwie durch eine ungeheure Kluft vom Epos abgeschieden.Page: KGW='III-1.58' KSA='1.62' Der Chor der griechischen Tragödie, das Symbol dergesammten dionysisch erregten Masse, findet an dieser unsererAuffassung seine volle Erklärung. Während wir, mit derGewöhnung an die Stellung eines Chors auf der modernen Bühne,zumal eines Opernchors, gar nicht begreifen konnten, wie jenertragische Chor der Griechen älter, ursprünglicher, ja wichtigersein sollte, als die eigentliche „Action“, — wie dies doch sodeutlich überliefert war — während wir wiederum mit jenerüberlieferten hohen Wichtigkeit und Ursprünglichkeit nichtreimen konnten, warum er doch nur aus niedrigen dienendenWesen, ja zuerst nur aus bocksartigen Satyrn zusammengesetztworden sei, während uns die Orchestra vor der Scene immer einRäthsel blieb, sind wir jetzt zu der Einsicht gekommen, dass dieScene sammt der Action im Grunde und ursprünglich nur alsVision gedacht wurde, dass die einzige „Realität“ eben der

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Chor ist, der die Vision aus sich erzeugt und von ihr mit derganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und des Wortes redet.Dieser Chor schaut in seiner Vision seinen Herrn und MeisterDionysus und ist darum ewig der dienende Chor: er sieht,wie dieser, der Gott, leidet und sich verherrlicht, und handeltdeshalb selbst nicht. Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchausdienenden Stellung ist er doch der höchste, nämlich dionysischeAusdruck der Natur und redet darum, wie diese, in der

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Begeisterung Orakel- und Weisheitssprüche: als dermitleidende ist er zugleich der weise, aus dem Herzen der Weltdie Wahrheit verkündende. So entsteht denn jene phantastischeund so anstössig scheinende Figur des weisen und begeistertenSatyrs, der zugleich „der tumbe Mensch“ im Gegensatz zumGotte ist: Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe, jaSymbol derselben und zugleich Verkünder ihrer Weisheit und Kunst:Musiker, Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person.Page: KGW='III-1.59' KSA='1.63' Dionysus, der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunktder Vision, ist gemäss dieser Erkenntniss und gemäss derUeberlieferung, zuerst, in der allerältesten Periode der Tragödie,nicht wahrhaft vorhanden, sondern wird nur als vorhandenvorgestellt: d.h. ursprünglich ist die Tragödie nur „Chor“ und nicht„Drama“. Später wird nun der Versuch gemacht, den Gott alseinen realen zu zeigen und die Visionsgestalt sammt derverklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar darzustellen;damit beginnt das „Drama“ im engeren Sinne. Jetzt bekommtder dithyrambische Chor die Aufgabe, die Stimmung derZuhörer bis zu dem Grade dionysisch anzuregen, dass sie, wenn dertragische Held auf der Bühne erscheint, nicht etwa denunförmlich maskirten Menschen sehen, sondern eine gleichsam aus ihrereignen Verzückung geborene Visionsgestalt. Denken wir unsAdmet mit tiefem Sinnen seiner jüngst abgeschiedenen GattinAlcestis gedenkend und ganz im geistigen Anschauen derselbensich verzehrend — wie ihm nun plötzlich ein ähnlich gestaltetes,ähnlich schreitendes Frauenbild in Verhüllung entgegengeführt

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wird: denken wir uns seine plötzliche zitternde Unruhe, seinstürmisches Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung — sohaben wir ein Analogon zu der Empfindung, mit der derdionysisch erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreitensah, mit dessen Leiden er bereits eins geworden ist. Unwillkürlichübertrug er das ganze magisch vor seiner Seele zitternde Bilddes Gottes auf jene maskirte Gestalt und löste ihre Realitätgleichsam in eine geisterhafte Unwirklichkeit auf. Dies ist derapollinische Traumeszustand, in dem die Welt des Tages sichverschleiert und eine neue Welt, deutlicher, verständlicher,ergreifender als jene und doch schattengleicher, in fortwährendemWechsel sich unserem Auge neu gebiert. Demgemäss erkennenwir in der Tragödie einen durchgreifenden Stilgegensatz: Sprache,Farbe, Beweglichkeit, Dynamik der Rede treten in derdionysischen Lyrik des Chors und andrerseits in der apollinischenTraumwelt der Scene als völlig gesonderte Sphären des Ausdrucksaus einander. Die apollinischen Erscheinungen, in denensich Dionysus objectivirt, sind nicht mehr „ein ewiges Meer, einwechselnd Weben, ein glühend Leben“, wie es die Musik desChors ist, nicht mehr jene nur empfundenen, nicht zum Bildeverdichteten Kräfte, in denen der begeisterte Dionysusdiener

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die Nähe des Gottes spürt: jetzt spricht, von der Scene aus, dieDeutlichkeit und Festigkeit der epischen Gestaltung zu ihm, jetztredet Dionysus nicht mehr durch Kräfte, sondern als epischerHeld, fast mit der Sprache Homers.

Aphorism id='GT-Text-9' kgw='III-1.60' ksa='1.64'

9. Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tragödie,im Dialoge, auf die Oberfläche kommt, sieht einfach, durchsichtig,schön aus. In diesem Sinne ist der Dialog ein Abbild des Hellenen,dessen Natur sich im Tanze offenbart, weil im Tanze die grössteKraft nur potenziell ist, aber sich in der Geschmeidigkeit undUeppigkeit der Bewegung verräth. So überrascht uns die Sprache

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der sophokleischen Helden durch ihre apollinische Bestimmtheitund Helligkeit, so dass wir sofort bis in den innersten Grundihres Wesens zu blicken wähnen, mit einigem Erstaunen, dassder Weg bis zu diesem Grunde so kurz ist. Sehen wir aber einmalvon dem auf die Oberfläche kommenden und sichtbar werdendenCharakter des Helden ab — der im Grunde nichts mehr istals das auf eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d.h. Erscheinungdurch und durch — dringen wir vielmehr in den Mythusein, der in diesen hellen Spiegelungen sich projicirt, so erlebenwir plötzlich ein Phänomen, das ein umgekehrtes Verhältnisszu einem bekannten optischen hat. Wenn wir bei einem kräftigenVersuch, die Sonne in's Auge zu fassen, uns geblendet abwenden,so haben wir dunkle farbige Flecken gleichsam als Heilmittelvor den Augen: umgekehrt sind jene Lichtbilderscheinungen dessophokleischen Helden, kurz das Apollinische der Maske,nothwendige Erzeugungen eines Blickes in's Innere und Schrecklicheder Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur Heilung des vongrausiger Nacht versehrten Blickes. Nur in diesem Sinne dürfenwir glauben, den ernsthaften und bedeutenden Begriff der„griechischen Heiterkeit“ richtig zu fassen; während wir allerdingsden falsch verstandenen Begriff dieser Heiterkeit im Zustandeungefährdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen derGegenwart antreffen.Page: KGW='III-1.61' KSA='1.65' Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückseligeOedipus, ist von Sophokles als der edle Mensch verstandenworden, der zum Irrthum und zum Elend trotz seinerWeisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein ungeheures Leideneine magische segensreiche Kraft um sich ausübt, die noch übersein Verscheiden hinaus wirksam ist. Der edle Mensch sündigtnicht, will uns der tiefsinnige Dichter sagen: durch sein Handelnmag jedes Gesetz, jede natürliche Ordnung, ja die sittliche Welt

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zu Grunde gehen, eben durch dieses Handeln wird ein höherermagischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt aufden Ruinen der umgestürzten alten gründen. Das will uns der

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Dichter, insofern er zugleich religiöser Denker ist, sagen: alsDichter zeigt er uns zuerst einen wunderbar geschürzten Prozessknoten,den der Richter langsam, Glied für Glied, zu seinemeigenen Verderben löst; die echt hellenische Freude an dieserdialektischen Lösung ist so gross, dass hierdurch ein Zug vonüberlegener Heiterkeit über das ganze Werk kommt, der denschauderhaften Voraussetzungen jenes Prozesses überall dieSpitze abbricht. Im „Oedipus auf Kolonos“ treffen wir dieseselbe Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklärungemporgehoben; dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greisegegenüber, der allem, was ihn betrifft, rein als Leidenderpreisgegeben ist — steht die überirdische Heiterkeit, die ausgöttlicher Sphäre herniederkommt und uns andeutet, dass der Heldin seinem rein passiven Verhalten seine höchste Activitäterlangt, die weit über sein Leben hinausgreift, während seinbewusstes Tichten und Trachten im früheren Leben ihn nur zurPassivität geführt hat. So wird der für das sterbliche Augeunauflöslich verschlungene Prozessknoten der Oedipusfabel langsamentwirrt — und die tiefste menschliche Freude überkommt unsbei diesem göttlichen Gegenstück der Dialektik. Wenn wir mitdieser Erklärung dem Dichter gerecht geworden sind, so kanndoch immer noch gefragt werden, ob damit der Inhalt des Mythuserschöpft ist: und hier zeigt sich, dass die ganze Auffassung desDichters nichts ist als eben jenes Lichtbild, welches uns, nacheinem Blick in den Abgrund, die heilende Natur vorhält. Oedipusder Mörder seines Vaters, der Gatte seiner Mutter, Oedipus derRäthsellöser der Sphinx! Was sagt uns die geheimnissvolleDreiheit dieser Schicksalsthaten? Es giebt einen uralten, besonderspersischen Volksglauben, dass ein weiser Magier nur aus Incestgeboren werden könne: was wir uns, im Hinblick auf denräthsellösenden und seine Mutter freienden Oedipus, sofort so zuinterpretiren haben, dass dort, wo durch weissagende und magischeKräfte der Bann von Gegenwart und Zukunft, das starre Gesetzder Individuation, und überhaupt der eigentliche Zauber der

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Natur gebrochen ist, eine ungeheure Naturwidrigkeit — wie dortder Incest — als Ursache vorausgegangen sein muss; denn wiekönnte man die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnissezwingen, wenn nicht dadurch, dass man ihr siegreich widerstrebt, d.h.durch das Unnatürliche? Diese Erkenntniss sehe ich in jenerentsetzlichen Dreiheit der Oedipusschicksale ausgeprägt: derselbe,der das Räthsel der Natur jener doppeltgearteten Sphinxlöst, muss auch als Mörder des Vaters und Gatte der Mutter die

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heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja, der Mythus scheintuns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade diedionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der, welcherdurch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtungstürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahrenhabe. „Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Weisen:Weisheit ist ein Verbrechen an der Natur“: solche schrecklicheSätze ruft uns der Mythus zu: der hellenische Dichter aberberührt wie ein Sonnenstrahl die erhabene und furchtbare Memnonssäuledes Mythus, so dass er plötzlich zu tönen beginnt — insophokleischen Melodieen!Page: KGW='III-1.63' KSA='1.67' Der Glorie der Passivität stelle ich jetzt die Glorie der Activitätgegenüber, welche den Prometheus des Aeschylusumleuchtet. Was uns hier der Denker Aeschylus zu sagen hatte, waser aber als Dichter durch sein gleichnissartiges Bild uns nur ahnenlässt, das hat uns der jugendliche Goethe in den verwegenenWorten seines Prometheus zu enthüllen gewusst:

„Hier sitz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen, Zu geniessen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich!“

Der Mensch, in's Titanische sich steigernd, erkämpft sich selbstseine Cultur und zwingt die Götter sich mit ihm zu verbinden,

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weil er in seiner selbsteignen Weisheit die Existenz und dieSchranken derselben in seiner Hand hat. Das Wunderbarste anjenem Prometheusgedicht, das seinem Grundgedanken nach dereigentliche Hymnus der Unfrömmigkeit ist, ist aber der tiefeaeschyleische Zug nach Gerechtigkeit: das unermesslicheLeid des kühnen „Einzelnen“ auf der einen Seite, und diegöttliche Noth, ja Ahnung einer Götterdämmerung auf der andern,die zur Versöhnung, zum metaphysischen Einssein zwingendeMacht jener beiden Leidenswelten — dies alles erinnert auf dasStärkste an den Mittelpunkt und Hauptsatz der aeschyleischenWeltbetrachtung, die über Göttern und Menschen die Moira alsewige Gerechtigkeit thronen sieht. Bei der erstaunlichen Kühnheit,mit der Aeschylus die olympische Welt auf seineGerechtigkeitswagschalen stellt, müssen wir uns vergegenwärtigen, dassder tiefsinnige Grieche einen unverrückbar festen Untergrunddes metaphysischen Denkens in seinen Mysterien hatte, und dasssich an den Olympiern alle seine skeptischen Anwandelungenentladen konnten. Der griechische Künstler insbesondere empfandim Hinblick auf diese Gottheiten ein dunkles Gefühl wechselseitiger

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Abhängigkeit: und gerade im Prometheus des Aeschylusist dieses Gefühl symbolisirt. Der titanische Künstler fand in sichden trotzigen Glauben, Menschen schaffen und olympische Götterwenigstens vernichten zu können: und dies durch seine höhereWeisheit, die er freilich durch ewiges Leiden zu büssen gezwungenwar. Das herrliche „Können“ des grossen Genius, das selbst mitewigem Leide zu gering bezahlt ist, der herbe Stolz desKünstlers — das ist Inhalt und Seele der aeschyleischen Dichtung,während Sophokles in seinem Oedipus das Siegeslied desHeiligen präludirend anstimmt. Aber auch mit jener Deutung, dieAeschylus dem Mythus gegeben hat, ist dessen erstaunlicheSchreckenstiefe nicht ausgemessen: vielmehr ist die Werdelust desKünstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischenSchaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, dassich auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt. Die

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Prometheussage ist ein ursprüngliches Eigenthum der gesammtenarischen Völkergemeinde und ein Document für deren Begabungzum Tiefsinnig-Tragischen, ja es möchte nicht ohne Wahrscheinlichkeitsein, dass diesem Mythus für das arische Wesen ebendieselbe charakteristische Bedeutung innewohnt, die derSündenfallmythus für das semitische hat, und dass zwischen beidenMythen ein Verwandtschaftsgrad existiert, wie zwischen Bruderund Schwester. Die Voraussetzung jenes Prometheusmythus istder überschwängliche Werth, den eine naive Menschheit demFeuer beilegt als dem wahren Palladium jeder aufsteigendenCultur: dass aber der Mensch frei über das Feuer waltet und esnicht nur durch ein Geschenk vom Himmel, als zündendenBlitzstrahl oder wärmenden Sonnenbrand empfängt, erschien jenenbeschaulichen Ur-Menschen als ein Frevel, als ein Raub an dergöttlichen Natur. Und so stellt gleich das erste philosophischeProblem einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischenMensch und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an diePforte jeder Cultur. Das Beste und Höchste, dessen die Menschheittheilhaftig werden kann, erringt sie durch einen Frevel undmuss nun wieder seine Folgen dahinnehmen, nämlich die ganzeFluth von Leiden und von Kümmernissen mit denen die beleidigtenHimmlischen das edel emporstrebende Menschengeschlechtheimsuchen — müssen: ein herber Gedanke, der durch dieWürde, die er dem Frevel ertheilt, seltsam gegen den semitischenSündenfallmythus absticht, in welchem die Neugierde, dielügnerische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die Lüsternheit,kurz eine Reihe vornehmlich weiblicher Affectionen als derUrsprung des Uebels angesehen wurde. Das, was die arischeVorstellung auszeichnet, ist die erhabene Ansicht von der activenSünde als der eigentlich prometheischen Tugend: womitzugleich der ethische Untergrund der pessimistischen Tragödiegefunden ist, als die Rechtfertigung des menschlichen Uebels,und zwar sowohl der menschlichen Schuld als des dadurch

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verwirkten Leidens. Das Unheil im Wesen der Dinge — das der

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beschauliche Arier nicht geneigt ist wegzudeuteln —, derWiderspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm als ein Durcheinanderverschiedener Welten, z.B. einer göttlichen und einermenschlichen, von denen jede als Individuum im Recht ist, aberals einzelne neben einer andern für ihre Individuation zu leidenhat. Bei dem heroischen Drange des Einzelnen ins Allgemeine,bei dem Versuche über den Bann der Individuation hinauszuschreitenund das eine Weltwesen selbst sein zu wollen, erleideter an sich den in den Dingen verborgenen Urwiderspruch d.h. erfrevelt und leidet. So wird von den Ariern der Frevel als Mann,von den Semiten die Sünde als Weib verstanden, so wie auch derUrfrevel vom Manne, die Ursünde vom Weibe begangen wird.Uebrigens sagt der Hexenchor: „Wir nehmen das nicht so genau: Mit tausend Schritten macht's die Frau; Doch wie sie auch sich eilen kann, Mit einem Sprunge macht's der Mann.“

Page: KGW='III-1.66' KSA='1.70' Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht— nämlich die dem titanisch strebenden Individuum geboteneNothwendigkeit des Frevels — der muss auch zugleich dasUnapollinische dieser pessimistischen Vorstellung empfinden; dennApollo will die Einzelwesen gerade dadurch zur Ruhe bringen,dass er Grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass er immerwieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mit seinenForderungen der Selbsterkenntniss und des Maasses erinnert. Damitaber bei dieser apollinischen Tendenz die Form nicht zu ägyptischerSteifigkeit und Kälte erstarre, damit nicht unter demBemühen, der einzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereichvorzuschreiben, die Bewegung des ganzen See,s ersterbe, zerstörte vonZeit zu Zeit wieder die hohe Fluth des Dionysischen alle jenekleinen Zirkel, in die der einseitig apollinische „Wille“ dasHellenenthum zu bannen suchte. Jene plötzlich anschwellende Fluthdes Dionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen Wellenbergeder Individuen auf ihren Rücken, wie der Bruder des Prometheus,

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der Titan Atlas, die Erde. Dieser titanische Drang, gleichsam derAtlas aller Einzelnen zu werden und sie mit breitem Rückenhöher und höher, weiter und weiter zu tragen, ist das Gemeinsamezwischen dem Prometheischen und dem Dionysischen. Deraeschyleische Prometheus ist in diesem Betracht eine dionysischeMaske, während in jenem vorhin erwähnten tiefen Zuge nachGerechtigkeit Aeschylus seine väterliche Abstammung vonApollo, dem Gotte der Individuation und der Gerechtigkeitsgrenzen,

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dem Einsichtigen verräth. Und so möchte das Doppelwesendes aeschyleischen Prometheus, seine zugleich dionysische undapollinische Natur in begrifflicher Formel so ausgedrückt werdenkönnen: „Alles Vorhandene ist gerecht und ungerecht und inbeidem gleich berechtigt.“Page: KGW='III-1.67' KSA='1.71' Das ist deine Welt! Das heisst eine Welt!

Aphorism id='GT-Text-10' kgw='III-1.67' ksa='1.71'

10. Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die griechischeTragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysuszum Gegenstand hatte und dass der längere Zeit hindurch einzigvorhandene Bühnenheld eben Dionysus war. Aber mit dergleichen Sicherheit darf behauptet werden, dass niemals bisauf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tragische Held zu sein,sondern dass alle die berühmten Figuren der griechischen BühnePrometheus, Oedipus u.s.w. nur Masken jenes ursprünglichenHelden Dionysus sind. Dass hinter allen diesen Masken eineGottheit steckt, das ist der eine wesentliche Grund für die so oftangestaunte typische „Idealität“ jener berühmten Figuren. Es hatich weiss nicht wer behauptet, dass alle Individuen als Individuenkomisch und damit untragisch seien: woraus zu entnehmen wäre,dass die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen Bühnenicht ertragen konnten. In der That scheinen sie so empfundenzu haben: wie überhaupt jene platonische Unterscheidungund Werthabschätzung der „Idee“ im Gegensatze zum „Idol“,

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zum Abbild tief im hellenischen Wesen begründet liegt. Um unsaber der Terminologie Plato's zu bedienen, so wäre von dentragischen Gestalten der hellenischen Bühne etwa so zu reden: dereine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer Vielheit derGestalten, in der Maske eines kämpfenden Helden und gleichsamin das Netz des Einzelwillens verstrickt. So wie jetzt der erscheinendeGott redet und handelt, ähnelt er einem irrenden strebendenleidenden Individuum: und dass er überhaupt mit dieserepischen Bestimmtheit und Deutlichkeit erscheint, ist dieWirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinendionysischen Zustand durch jene gleichnissartige Erscheinung deutet. InWahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysus derMysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott,von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von denTitanen zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande alsZagreus verehrt werde: wobei angedeutet wird, dass dieseZerstückelung, das eigentlich dionysische Leiden, gleich einerUmwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, dass wir also den

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Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund allesLeidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten. Ausdem Lächeln dieses Dionysus sind die olympischen Götter, ausseinen Thränen die Menschen entstanden. In jener Existenz alszerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur einesgrausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmüthigenHerrschers. Die Hoffnung der Epopten ging aber auf eineWiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende derIndividuation ahnungsvoll zu begreifen haben: diesem kommendendritten Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang derEpopten. Und nur in dieser Hoffnung giebt es einen Strahl vonFreude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertrümmertenWelt: wie es der Mythus durch die in ewige Trauerversenkte Demeter verbildlicht, welche zum ersten Male wiedersich freut, als man ihr sagt, sie könne den Dionysus nocheinmal gebären. In den angeführten Anschauungen haben

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wir bereits alle Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischenWeltbetrachtung und zugleich damit die Mysterienlehreder Tragödie zusammen: die Grunderkenntniss vonder Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuationals des Urgrundes des Uebels, die Kunst als die freudigeHoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei,als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit.Page: KGW='III-1.69' KSA='1.73' Es ist früher angedeutet worden, dass das homerische Eposdie Dichtung der olympischen Cultur ist, mit der sie ihr eignesSiegeslied über die Schrecken des Titanenkampfes gesungen hat.Jetzt, unter dem übermächtigen Einflusse der tragischenDichtung, werden die homerischen Mythen von Neuem umgeborenund zeigen in dieser Metempsychose, dass inzwischen auch dieolympische Cultur von einer noch tieferen Weltbetrachtungbesiegt worden ist. Der trotzige Titan Prometheus hat es seinemolympischen Peiniger angekündigt, dass einst seiner Herrschaftdie höchste Gefahr drohe, falls er nicht zur rechten Zeit sich mitihm verbinden werde. In Aeschylus erkennen wir das Bündnissdes erschreckten, vor seinem Ende bangenden Zeus mit demTitanen. So wird das frühere Titanenzeitalter nachträglichwieder aus dem Tartarus ans Licht geholt. Die Philosophie derwilden und nackten Natur schaut die vorübertanzenden Mythender homerischen Welt mit der unverhüllten Miene der Wahrheitan: sie erbleichen, sie zittern vor dem blitzartigen Auge dieserGöttin — bis sie die mächtige Faust des dionysischen Künstlersin den Dienst der neuen Gottheit zwingt. Die dionysischeWahrheit übernimmt das gesammte Bereich des Mythus als Symbolikihrer Erkenntnisse und spricht diese theils in dem öffentlichenCultus der Tragödie, theils in den geheimen Begehungendramatischer Mysterienfeste, aber immer unter der alten mythischenHülle aus. Welche Kraft war dies, die den Prometheus von seinen

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Geiern befreite und den Mythus zum Vehikel dionysischerWeisheit umwandelte? Dies ist die heraklesmässige Kraft der Musik:als welche, in der Tragödie zu ihrer höchsten Erscheinung

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gekommen, den Mythus mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit zuinterpretiren weiss; wie wir dies als das mächtigste Vermögen derMusik früher schon zu charakterisiren hatten. Denn es ist dasLoos jedes Mythus, allmählich in die Enge einer angeblichhistorischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend einerspäteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen Ansprüchenbehandelt zu werden: und die Griechen waren bereits völlig aufdem Wege, ihren ganzen mythischen Jugendtraum mit Scharfsinnund Willkür in eine historisch-pragmatische Jugendgeschichteumzustempeln. Denn dies ist die Art, wie Religionenabzusterben pflegen: wenn nämlich die mythischen Voraussetzungeneiner Religion unter den strengen, verstandesmässigen Augeneines rechtgläubigen Dogmatismus als eine fertige Summe vonhistorischen Ereignissen systematisirt werden und man anfängt,ängstlich die Glaubwürdigkeit der Mythen zu vertheidigen, abergegen jedes natürliche Weiterleben und Weiterwuchern derselbensich zu sträuben, wenn also das Gefühl für den Mythus abstirbtund an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historischeGrundlagen tritt. Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt derneugeborne Genius der dionysischen Musik: und in seiner Handblühte er noch einmal, mit Farben, wie er sie noch nie gezeigt, miteinem Duft, der eine sehnsüchtige Ahnung einer metaphysischenWelt erregte. Nach diesem letzten Aufglänzen fällt er zusammen,seine Blätter werden welk, und bald haschen die spöttischenLuciane des Alterthums nach den von allen Winden fortgetragnen,entfärbten und verwüsteten Blumen. Durch die Tragödiekommt der Mythus zu seinem tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollstenForm; noch einmal erhebt er sich, wie ein verwundeterHeld, und der ganze Ueberschuss von Kraft, sammt derweisheitsvollen Ruhe des Sterbenden, brennt in seinem Auge mitletztem, mächtigem Leuchten.Page: KGW='III-1.70' KSA='1.74' Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen Sterbendennoch einmal zu deinem Frohndienste zu zwingen suchtest?Er starb unter deinen gewaltsamen Händen: und jetzt brauchtest

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du einen nachgemachten, maskirten Mythus, der sich wie der Affedes Herakles mit dem alten Prunke nur noch aufzuputzen wusste.Und wie dir der Mythus starb, so starb dir auch der Genius derMusik: mochtest du auch mit gierigem Zugreifen alle Gärten derMusik plündern, auch so brachtest du es nur zu einer nachgemachtenmaskirten Musik. Und weil du Dionysus verlassen, soverliess dich auch Apollo; jage alle Leidenschaften von ihrem

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Lager auf und banne sie in deinen Kreis, spitze und feile dir fürdie Reden deiner Helden eine sophistische Dialektik zurechtauch deine Helden haben nur nachgeahmte maskirte Leidenschaftenund sprechen nur nachgeahmte maskirte Reden.

Aphorism id='GT-Text-11' kgw='III-1.71' ksa='1.75'

11. Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen alssämmtliche ältere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb durchSelbstmord, in Folge eines unlösbaren Conflictes, also tragisch,während jene alle in hohem Alter des schönsten und ruhigstenTodes verblichen sind. Wenn es nämlich einem glücklichenNaturzustande gemäss ist, mit schöner Nachkommenschaft und ohneKrampf vom Leben zu scheiden, so zeigt uns das Ende jenerälteren Kunstgattungen einen solchen glücklichen Naturzustand:sie tauchen langsam unter, und vor ihren ersterbenden Blickensteht schon ihr schönerer Nachwuchs und reckt mit muthigerGebärde ungeduldig das Haupt. Mit dem Tode der griechischenTragödie dagegen entstand eine ungeheure, überall tief empfundeneLeere; wie einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberiusan einem einsamen Eiland den erschütternden Schrei hörten „dergrosse Pan ist todt“: so klang es jetzt wie ein schmerzlicherKlageton durch die hellenische Welt: „die Tragödie ist todt! Die Poesieselbst ist mit ihr verloren gegangen! Fort, fort mit euchverkümmerten, abgemagerten Epigonen! Fort in den Hades, damitihr euch dort an den Brosamen der vormaligen Meister einmalsatt essen könnt!“

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Page: KGW='III-1.72' KSA='1.76' Als aber nun doch noch eine neue Kunstgattung aufblühte,die in der Tragödie ihre Vorgängerin und Meisterin verehrte, dawar mit Schrecken wahrzunehmen, dass sie allerdings die Zügeihrer Mutter trage, aber dieselben, die jene in ihrem langenTodeskampfe gezeigt hatte. Diesen Todeskampf der Tragödiekämpfte Euripides; jene spätere Kunstgattung ist alsneuere attische Komödie bekannt. In ihr lebte die entarteteGestalt der Tragödie fort, zum Denkmale ihres überausmühseligen und gewaltsamen Hinscheidens.Page: KGW='III-1.72' KSA='1.76' Bei diesem Zusammenhange ist die leidenschaftlicheZuneigung begreiflich, welche die Dichter der neueren Komödie zuEuripides empfanden; so dass der Wunsch des Philemon nichtweiter befremdet, der sich sogleich aufhängen lassen mochte, nurum den Euripides in der Unterwelt aufsuchen zu können: wenner nur überhaupt überzeugt sein dürfte, dass der Verstorbeneauch jetzt noch bei Verstande sei. Will man aber in aller Kürze

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und ohne den Anspruch, damit etwas Erschöpfendes zu sagen,dasjenige bezeichnen, was Euripides mit Menander undPhilemon gemein hat und was für jene so aufregend vorbildlich wirkte:so genügt es zu sagen, dass der Zuschauer von Euripides aufdie Bühne gebracht worden ist. Wer erkannt hat, aus welchemStoffe die prometheischen Tragiker vor Euripides ihre Heldenformten und wie ferne ihnen die Absicht lag, die treue Maskeder Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen, der wird auch überdie gänzlich abweichende Tendenz des Euripides im Klaren sein.Der Mensch des alltäglichen Lebens drang durch ihn aus denZuschauerräumen auf die Scene, der Spiegel, in dem früher nurdie grossen und kühnen Züge zum Ausdruck kamen, zeigte jetztjene peinliche Treue, die auch die misslungenen Linien der Naturgewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der typische Hellene derälteren Kunst, sank jetzt unter den Händen der neueren Dichterzur Figur des Graeculus herab, der von jetzt ab alsgutmüthig-verschmitzter Haussclave im Mittelpunkte des dramatischenInteresse's steht. Was Euripides sich in den aristophanischen

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„Fröschen“ zum Verdienst anrechnet, dass er die tragische Kunstdurch seine Hausmittel von ihrer pomphaften Beleibtheit befreithabe, das ist vor allem an seinen tragischen Helden zu spüren.Im Wesentlichen sah und hörte jetzt der Zuschauer seinenDoppelgänger auf der euripideischen Bühne und freute sich, dass jenerso gut zu reden verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht:man lernte selbst bei Euripides sprechen, und dessen rühmt er sichselbst im Wettkampfe mit Aeschylus: wie durch ihn jetzt dasVolk kunstmässig und mit den schlausten Sophisticationen zubeobachten, zu verhandeln und Folgerungen zu ziehen gelernthabe. Durch diesen Umschwung der öffentlichen Sprache hat erüberhaupt die neuere Komödie möglich gemacht. Denn von jetztab war es kein Geheimniss mehr, wie und mit welchen Sentenzendie Alltäglichkeit sich auf der Bühne vertreten könne. Diebürgerliche Mittelmässigkeit, auf die Euripides alle seine politischenHoffnungen aufbaute, kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahinin der Tragödie der Halbgott, in der Komödie der betrunkeneSatyr oder der Halbmensch den Sprachcharakter bestimmthatten. Und so hebt der aristophanische Euripides zu seinem Preisehervor, wie er das allgemeine, allbekannte, alltägliche Leben undTreiben dargestellt habe, über das ein Jeder zu urtheilen befähigtsei. Wenn jetzt die ganze Masse philosophiere, mit unerhörterKlugheit Land und Gut verwalte und ihre Prozesse führe, so seidies sein Verdienst und der Erfolg der von ihm dem Volkeeingeimpften Weisheit.Page: KGW='III-1.73' KSA='1.77' An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durftesich jetzt die neuere Komödie wenden, für die Euripidesgewissermaassen der Chorlehrer geworden ist; nur dass diesmal der Chorder Zuschauer eingeübt werden musste. Sobald dieser in der

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euripideischen Tonart zu singen geübt war, erhob sich jeneschachspielartige Gattung des Schauspiels, die neuere Komödie mitihrem fortwährenden Triumphe der Schlauheit und Verschlagenheit.Euripides aber — der Chorlehrer — wurde unaufhörlichgepriesen: ja man würde sich getödtet haben, um noch mehr von

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ihm zu lernen, wenn man nicht gewusst hätte, dass die tragischenDichter eben so todt seien wie die Tragödie. Mit ihr aber hatteder Hellene den Glauben an seine Unsterblichkeit aufgegeben,nicht nur den Glauben an eine ideale Vergangenheit, sondernauch den Glauben an eine ideale Zukunft. Das Wort aus derbekannten Grabschrift „als Greis leichtsinnig und grillig“ gilt auchvom greisen Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, derLeichtsinn, die Laune sind seine höchsten Gottheiten; der fünfteStand, der des Sclaven, kommt, wenigstens der Gesinnung nach,jetzt zur Herrschaft: und wenn jetzt überhaupt noch von„griechischer Heiterkeit“ die Rede sein darf, so ist es die Heiterkeitdes Sclaven, der nichts Schweres zu verantworten, nichts Grosseszu erstreben, nichts Vergangenes oder Zukünftiges höher zuschätzen weiss als das Gegenwärtige. Dieser Schein der „griechischenHeiterkeit“ war es, der die tiefsinnigen und furchtbarenNaturen der vier ersten Jahrhunderte des Christenthums soempörte: ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernst unddem Schrecken, dieses feige Sichgenügenlassen am bequemenGenuss nicht nur verächtlich, sondern als die eigentlich antichristlicheGesinnung. Und ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass diedurch Jahrhunderte fortlebende Anschauung des griechischenAlterthums mit fast unüberwindlicher Zähigkeit jene blassrotheHeiterkeitsfarbe festhielt — als ob es nie ein sechstes Jahrhundertmit seiner Geburt der Tragödie, seinen Mysterien, seinenPythagoras und Heraklit gegeben hätte, ja als ob die Kunstwerke dergrossen Zeit gar nicht vorhanden wären, die doch — jedes fürsich — aus dem Boden einer solchen greisenhaften undsclavenmässigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht zu erklären sindund auf eine völlig andere Weltbetrachtung als ihren Existenzgrundhinweisen.Page: KGW='III-1.74' KSA='1.78' Wenn zuletzt behauptet wurde, dass Euripides den Zuschauerauf die Bühne gebracht habe, um zugleich damit den Zuschauerzum Urtheil über das Drama erst wahrhaft zu befähigen, soentsteht der Schein, als ob die ältere tragische Kunst aus einem

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Missverhältniss zum Zuschauer nicht herausgekommen sei: undman möchte versucht sein, die radicale Tendenz des Euripides, einentsprechendes Verhältniss zwischen Kunstwerk und Publicumzu erzielen, als einen Fortschritt über Sophokles hinaus zupreisen. Nun aber ist „Publicum“ nur ein Wort und durchaus keine

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gleichartige und in sich verharrende Grösse. Woher soll demKünstler die Verpflichtung kommen, sich einer Kraft zuaccomodieren, die ihre Stärke nur in der Zahl hat? Und wenn er sich,seiner Begabung und seinen Absichten nach, über jeden einzelnendieser Zuschauer erhaben fühlt, wie dürfte er vor dem gemeinsamenAusdruck aller dieser ihm untergeordneten Capacitätenmehr Achtung empfinden als vor dem relativ am höchstenbegabten einzelnen Zuschauer? In Wahrheit hat kein griechischerKünstler mit grösserer Verwegenheit und Selbstgenugsamkeitsein Publicum durch ein langes Leben hindurch behandelt alsgerade Euripides: er, der selbst da noch, als die Masse sich ihmzu Füssen warf, in erhabenem Trotze seiner eigenen Tendenzöffentlich in's Gesicht schlug, derselben Tendenz, mit der er überdie Masse gesiegt hatte. Wenn dieser Genius die geringsteEhrfurcht vor dem Pandämonium des Publicums gehabt hätte, sowäre er unter den Keulenschlägen seiner Misserfolge längst vorder Mitte seiner Laufbahn zusammengebrochen. Wir sehen beidieser Erwägung, dass unser Ausdruck, Euripides habe denZuschauer auf die Bühne gebracht, um den Zuschauer wahrhafturtheilsfähig zu machen, nur ein provisorischer war, und dasswir nach einem tieferen Verständniss seiner Tendenz zu suchenhaben. Umgekehrt ist es ja allerseits bekannt, wie Aeschylus undSophokles Zeit ihres Lebens, ja weit über dasselbe hinaus, imVollbesitze der Volksgunst standen, wie also bei diesenVorgängern des Euripides keineswegs von einem Missverhältnisszwischen Kunstwerk und Publicum die Rede sein kann. Wastrieb den reichbegabten und unablässig zum Schaffen gedrängtenKünstler so gewaltsam von dem Wege ab, über dem die Sonneder grössten Dichternamen und der unbewölkte Himmel der

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Volksgunst leuchteten? Welche sonderbare Rücksicht auf denZuschauer führte ihn dem Zuschauer entgegen? Wie konnte er auszu hoher Achtung vor seinem Publicum — sein Publicummissachten?Page: KGW='III-1.76' KSA='1.80' Euripides fühlte sich — das ist die Lösung des eben dargestelltenRäthsels — als Dichter wohl über die Masse, nicht aber überzwei seiner Zuschauer erhaben: die Masse brachte er auf dieBühne, jene beiden Zuschauer verehrte er als die allein urtheilsfähigenRichter und Meister aller seiner Kunst: ihren Weisungenund Mahnungen folgend übertrug er die ganze Welt vonEmpfindungen, Leidenschaften und Erfahrungen, die bis jetzt auf denZuschauerbänken als unsichtbarer Chor zu jeder Festvorstellungsich einstellten, in die Seelen seiner Bühnenhelden, ihrenForderungen gab er nach, als er für diese neuen Charaktere auch dasneue Wort und den neuen Ton suchte, in ihren Stimmen alleinhörte er die gültigen Richtersprüche seines Schaffens eben so wiedie siegverheissende Ermuthigung, wenn er von der Justiz desPublicums sich wieder einmal verurtheilt sah.

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Page: KGW='III-1.76' KSA='1.80' Von diesen beiden Zuschauern ist der eine — Euripides selbst,Euripides als Denker, nicht als Dichter. Von ihm könnteman sagen, dass die ausserordentliche Fülle seines kritischenTalentes, ähnlich wie bei Lessing, einen productiv künstlerischenNebentrieb wenn nicht erzeugt, so doch fortwährend befruchtethabe. Mit dieser Begabung, mit aller Helligkeit undBehendigkeit seines kritischen Denkens hatte Euripides im Theatergesessen und sich angestrengt, an den Meisterwerken seiner grossenVorgänger wie an dunkelgewordenen Gemälden Zug um Zug,Linie um Linie wiederzuerkennen. Und hier nun war ihmbegegnet, was dem in die tieferen Geheimnisse der aeschyleischenTragödie Eingeweihten nicht unerwartet sein darf: er gewahrteetwas Incommensurables in jedem Zug und in jeder Linie, einegewisse täuschende Bestimmtheit und zugleich eine räthselhafteTiefe, ja Unendlichkeit des Hintergrundes. Die klarste Figurhatte immer noch einen Kometenschweif an sich, der in's

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Ungewisse, Unaufhellbare zu deuten schien. Dasselbe Zwielicht lagüber dem Bau des Drama's, zumal über der Bedeutung desChors. Und wie zweifelhaft blieb ihm die Lösung der ethischenProbleme! Wie fragwürdig die Behandlung der Mythen! Wieungleichmässig die Vertheilung von Glück und Unglück! Selbstin der Sprache der älteren Tragödie war ihm vieles anstössig,mindestens räthselhaft; besonders fand er zu viel Pomp füreinfache Verhältnisse, zu viel Tropen und Ungeheuerlichkeiten fürdie Schlichtheit der Charaktere. So sass er, unruhig grübelnd, imTheater, und er, der Zuschauer, gestand sich, dass er seine grossenVorgänger nicht verstehe. Galt ihm aber der Verstand als dieeigentliche Wurzel alles Geniessens und Schaffens, so musste erfragen und um sich schauen, ob denn Niemand so denke wie erund sich gleichfalls jene Incommensurabilität eingestehe. Aber dieVielen und mit ihnen die besten Einzelnen hatten nur einmisstrauisches Lächeln für ihn; erklären aber konnte ihm Keiner,warum seinen Bedenken und Einwendungen gegenüber diegrossen Meister doch im Rechte seien. Und in diesem qualvollenZustande fand er den anderen Zuschauer, der dieTragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete. Mit diesem imBunde durfte er es wagen, aus seiner Vereinsamung heraus denungeheuren Kampf gegen die Kunstwerke des Aeschylus undSophokles zu beginnen — nicht mit Streitschriften, sondern alsdramatischer Dichter, der seine Vorstellung von der Tragödieder überlieferten entgegenstellt.

Aphorism id='GT-Text-12' kgw='III-1.77' ksa='1.81'

12.

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Bevor wir diesen anderen Zuschauer bei Namen nennen,verharren wir hier einen Augenblick, um uns jenen früher geschildertenEindruck des Zwiespältigen und Incommensurabeln imWesen der aeschyleischen Tragödie selbst in's Gedächtnisszurückzurufen. Denken wir an unsere eigene Befremdung demChore und dem tragischen Helden jener Tragödiegegenüber, die wir beide mit unseren Gewohnheiten ebensowenig

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wie mit der Ueberlieferung zu reimen wussten — bis wir jeneDoppelheit selbst als Ursprung und Wesen der griechischenTragödie wiederfanden, als den Ausdruck zweier in einandergewobenen Kunsttriebe, des Apollinischen und desDionysischen.Page: KGW='III-1.78' KSA='1.82' Jenes ursprüngliche und allmächtige dionysische Element ausder Tragödie auszuscheiden und sie rein und neu auf undionysischerKunst, Sitte und Weltbetrachtung aufzubauen — dies istdie jetzt in heller Beleuchtung sich uns enthüllende Tendenz desEuripides.Page: KGW='III-1.78' KSA='1.82' Euripides selbst hat am Abend seines Lebens die Frage nachdem Werth und der Bedeutung dieser Tendenz in einem Mythusseinen Zeitgenossen auf das Nachdrücklichste vorgelegt. Darfüberhaupt das Dionysische bestehn? Ist es nicht mit Gewalt ausdem hellenischen Boden auszurotten? Gewiss, sagt uns derDichter, wenn es nur möglich wäre: aber der Gott Dionysus ist zumächtig; der verständigste Gegner — wie Pentheus in den„Bacchen“ — wird unvermuthet von ihm bezaubert und läuftnachher mit dieser Verzauberung in sein Verhängniss. DasUrtheil der beiden Greise Kadmus und Tiresias scheint auch dasUrtheil des greisen Dichters zu sein: das Nachdenken der klügstenEinzelnen werfe jene alten Volkstraditionen, jene sich ewigfortpflanzende Verehrung des Dionysus nicht um, ja es gezieme sich,solchen wunderbaren Kräften gegenüber, mindestens einediplomatisch vorsichtige Theilnahme zu zeigen: wobei es aber immernoch möglich sei, dass der Gott an einer so lauen BetheiligungAnstoss nehme und den Diplomaten wie hier den Kadmusschliesslich in einen Drachen verwandle. Dies sagt uns ein Dichter,der mit heroischer Kraft ein langes Leben hindurch demDionysus widerstanden hat — um am Ende desselben mit einerGlorification seines Gegners und einem Selbstmorde seine Laufbahnzu schliessen, einem Schwindelnden gleich, der, um nur dementsetzlichen, nicht mehr erträglichen Wirbel zu entgehn, sich vomThurme herunterstürzt. Jene Tragödie ist ein Protest gegen die

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Ausführbarkeit seiner Tendenz; ach, und sie war bereitsausgeführt! Das Wunderbare war geschehn: als der Dichter widerrief,

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hatte bereits seine Tendenz gesiegt. Dionysus war bereits von dertragischen Bühne verscheucht und zwar durch eine aus Euripidesredende dämonische Macht. Auch Euripides war in gewissemSinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nichtDionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugebornerDämon, genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz: dasDionysische und das Sokratische, und das Kunstwerk dergriechischen Tragödie ging an ihm zu Grunde. Mag nun auch Euripidesuns durch seinen Widerruf zu trösten suchen, es gelingt ihm nicht:der herrlichste Tempel liegt in Trümmern; was nützt uns dieWehklage des Zerstörers und sein Geständniss, dass es derschönste aller Tempel gewesen sei? Und selbst dass Euripides zurStrafe von den Kunstrichtern aller Zeiten in einen Drachenverwandelt worden ist — wen möchte diese erbärmliche Compensationbefriedigen?Page: KGW='III-1.79' KSA='1.83' Nähern wir uns jetzt jener sokratischen Tendenz, mitder Euripides die aeschyleische Tragödie bekämpfte und besiegte.Page: KGW='III-1.79' KSA='1.83' Welches Ziel — so müssen wir uns jetzt fragen — konnte dieeuripideische Absicht, das Drama allein auf das Undionysische zugründen, in der höchsten Idealität ihrer Durchführung überhaupthaben? Welche Form des Drama's blieb noch übrig, wenn es nichtaus dem Geburtsschoosse der Musik, in jenem geheimnissvollenZwielicht des Dionysischen geboren werden sollte? Allein dasdramatisirte Epos: in welchem apollinischen Kunstgebietenun freilich die tragische Wirkung unerreichbar ist.Es kommt hierbei nicht auf den Inhalt der dargestelltenEreignisse an; ja ich möchte behaupten, dass es Goethe in seinerprojectirten „Nausikaa“ unmöglich gewesen sein würde, denSelbstmord jenes idyllischen Wesens — der den fünften Act ausfüllensollte — tragisch ergreifend zu machen; so ungemein ist dieGewalt des Episch-Apollinischen, dass es die schreckensvollstenDinge mit jener Lust am Scheine und der Erlösung durch den

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Schein vor unseren Augen verzaubert. Der Dichter des dramatisirtenEpos kann eben so wenig wie der epische Rhapsode mitseinen Bildern völlig verschmelzen: er ist immer noch ruhigunbewegte, aus weiten Augen blickende Anschauung, die die Bildervor sich sieht. Der Schauspieler in diesem dramatisirten Eposbleibt im tiefsten Grunde immer noch Rhapsode; die Weihe desinneren Träumens liegt auf allen seinen Actionen, so dass erniemals ganz Schauspieler ist.Page: KGW='III-1.80' KSA='1.84' Wie verhält sich nun diesem Ideal des apollinischen Drama'sgegenüber das euripideische Stück? Wie zu dem feierlichenRhapsoden der alten Zeit jener jüngere, der sein Wesen im platonischen„Jon“ also beschreibt: „Wenn ich etwas Trauriges sage,füllen sich meine Augen mit Thränen; ist aber das, was ich sage,

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schrecklich und entsetzlich, dann stehen die Haare meinesHauptes vor Schauder zu Berge, und mein Herz klopft.“ Hier merkenwir nichts mehr von jenem epischen Verlorensein im Scheine, vonder affectlosen Kühle des wahren Schauspielers, der gerade inseiner höchsten Thätigkeit, ganz Schein und Lust am Scheine ist.Euripides ist der Schauspieler mit dem klopfenden Herzen, mitden zu Berge stehenden Haaren; als sokratischer Denker entwirfter den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler führt er ihn aus.Reiner Künstler ist er weder im Entwerfen noch im Ausführen.So ist das euripideische Drama ein zugleich kühles und feurigesDing, zum Erstarren und zum Verbrennen gleich befähigt; es istihm unmöglich, die apollinische Wirkung des Epos zu erreichen,während es andererseits sich von den dionysischen Elementenmöglichst gelöst hat, und jetzt, um überhaupt zu wirken, neueErregungsmittel braucht, die nun nicht mehr innerhalb derbeiden einzigen Kunsttriebe, des apollinischen und des dionysischen,liegen können. Diese Erregungsmittel sind kühle paradoxeGedanken — an Stelle der apollinischen Anschauungen — undfeurige Affecte — an Stelle der dionysischen Entzückungen —und zwar höchst realistisch nachgemachte, keineswegs in denAether der Kunst getauchte Gedanken und Affecte.

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Page: KGW='III-1.81' KSA='1.85' Haben wir demnach so viel erkannt, dass es Euripidesüberhaupt nicht gelungen ist, das Drama allein auf das Apollinischezu gründen, dass sich vielmehr seine undionysische Tendenz ineine naturalistische und unkünstlerische verirrt hat, so werdenwir jetzt dem Wesen des aesthetischen Sokratismusschon näher treten dürfen; dessen oberstes Gesetz ungefähr solautet: „alles muss verständig sein, um schön zu sein“; alsParallelsatz zu dem sokratischen „nur der Wissende ist tugendhaft.“Mit diesem Kanon in der Hand maass Euripides alles Einzelneund rectificirte es gemäss diesem Princip: die Sprache, dieCharaktere, den dramaturgischen Aufbau, die Chormusik. Waswir im Vergleich mit der sophokleischen Tragödie so häufig demEuripides als dichterischen Mangel und Rückschritt anzurechnenpflegen, das ist zumeist das Product jenes eindringendenkritischen Prozesses, jener verwegenen Verständigkeit. Dereuripideische Prolog diene uns als Beispiel für die Productivitätjener rationalistischen Methode. Nichts kann unsererBühnentechnik widerstrebender sein als der Prolog im Drama desEuripides. Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange desStückes erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe, was bisjetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes geschehen werde,das würde ein moderner Theaterdichter als ein muthwilliges undnicht zu verzeihendes Verzichtleisten auf den Effect derSpannung bezeichnen. Man weiss ja alles, was geschehen wird; werwird abwarten wollen, dass dies wirklich geschieht? — da ja hierkeinesfalls das aufregende Verhältniss eines wahrsagenden

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Traumes zu einer später eintretenden Wirklichkeit stattfindet. Ganzanders reflectirte Euripides. Die Wirkung der Tragödie beruhteniemals auf der epischen Spannung, auf der anreizendenUngewissheit, was sich jetzt und nachher ereignen werde: vielmehrauf jenen grossen rhetorisch-lyrischen Scenen, in denen dieLeidenschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem breitenund mächtigen Strome anschwoll. Zum Pathos, nicht zurHandlung bereitete Alles vor: und was nicht zum Pathos vorbereitete,

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das galt als verwerflich. Das aber, was die genussvolle Hingabean solche Scenen am stärksten erschwert, ist ein dem Zuhörerfehlendes Glied, eine Lücke im Gewebe der Vorgeschichte; solange der Zuhörer noch ausrechnen muss, was diese und jenePerson bedeute, was dieser und jener Conflict der Neigungenund Absichten für Voraussetzungen habe, ist seine volleVersenkung in das Leiden und Thun der Hauptpersonen, ist dasathemlose Mitleiden und Mitfürchten noch nicht möglich. Dieaeschyleisch-sophokleische Tragödie verwandte die geistreichstenKunstmittel, um dem Zuschauer in den ersten Scenengewissermaassen zufällig alle jene zum Verständniss nothwendigen Fädenin die Hand zu geben: ein Zug, in dem sich jene edle Künstlerschaftbewährt, die das nothwendige Formelle gleichsammaskirt und als Zufälliges erscheinen lässt. Immerhin aberglaubte Euripides zu bemerken, dass während jener ersten Scenender Zuschauer in eigenthümlicher Unruhe sei, um das Rechenexempelder Vorgeschichte auszurechnen, so dass die dichterischenSchönheiten und das Pathos der Exposition für ihnverloren ginge. Deshalb stellte er den Prolog noch vor dieExposition und legte ihn einer Person in den Mund, der man Vertrauenschenken durfte: eine Gottheit musste häufig den Verlauf derTragödie dem Publicum gewissermaassen garantieren und jedenZweifel an der Realität des Mythus nehmen: in ähnlicher Weise,wie Descartes die Realität der empirischen Welt nur durch dieAppellation an die Wahrhaftigkeit Gottes und seine Unfähigkeitzur Lüge zu beweisen vermochte. Dieselbe göttliche Wahrhaftigkeitbraucht Euripides noch einmal am Schlusse seines Drama's,um die Zukunft seiner Helden dem Publicum sicher zu stellen;dies ist die Aufgabe des berüchtigten deux ex machina. Zwischender epischen Vorschau und Hinausschau liegt die dramatisch-lyrischeGegenwart, das eigentliche „Drama.“Page: KGW='III-1.82' KSA='1.86' So ist Euripides als Dichter vor allem der Wiederhall seinerbewussten Erkenntnisse; und gerade dies verleiht ihm eine sodenkwürdige Stellung in der Geschichte der griechischen Kunst.

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Ihm muss im Hinblick auf sein kritisch-productives Schaffenoft zu Muthe gewesen sein als sollte er den Anfang der Schrift

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des Anaxagoras für das Drama lebendig machen, deren ersteWorte lauten: „im Anfang war alles beisammen; da kam derVerstand und schuf Ordnung.“ Und wenn Anaxagoras mitseinem „Nous“ unter den Philosophen wie der erste Nüchterneunter lauter Trunkenen erschien, so mag auch Euripides seinVerhältniss zu den anderen Dichtern der Tragödie unter einemähnlichen Bilde begriffen haben. So lange der einzige Ordner undWalter des Alls, der Nous, noch vom künstlerischen Schaffenausgeschlossen war, war noch alles in einem chaotischen Urbreibeisammen; so musste Euripides urtheilen, so musste er die„trunkenen“ Dichter als der erste „Nüchterne“ verurtheilen. Das, wasSophokles von Aeschylus gesagt hat, er thue das Rechte, obschonunbewusst, war gewiss nicht im Sinne des Euripides gesagt: dernur so viel hätte gelten lassen, dass Aeschylus, weil erunbewusst schaffe, das Unrechte schaffe. Auch der göttliche Plato redetvom schöpferischen Vermögen des Dichters, insofern dies nichtdie bewusste Einsicht ist, zu allermeist nur ironisch und stellt esder Begabung des Wahrsagers und Traumdeuters gleich; sei dochder Dichter nicht eher fähig zu dichten als bis er bewusstlosgeworden sei, und kein Verstand mehr in ihm wohne. Euripidesunternahm es, wie es auch Plato unternommen hat, dasGegenstück des „unverständigen“ Dichters der Welt zu zeigen; seinaesthetischer Grundsatz „alles muss bewusst sein, um schön zusein“, ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem sokratischen„alles muss bewusst sein, um gut zu sein“. Demgemäss darf unsEuripides als der Dichter des aesthetischen Sokratismus gelten.Sokrates aber war jener zweite Zuschauer, der die ältereTragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete; mit ihm imBunde wagte Euripides, der Herold eines neuen Kunstschaffenszu sein. Wenn an diesem die ältere Tragödie zu Grunde ging,so ist also der aesthetische Sokratismus das mörderische Princip:insofern aber der Kampf gegen das Dionysische der älteren Kunst

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gerichtet war, erkennen wir in Sokrates den Gegner desDionysus, den neuen Orpheus, der sich gegen Dionysus erhebt und,obschon bestimmt, von den Mänaden des athenischen Gerichtshofeszerrissen zu werden, doch den übermächtigen Gott selbstzur Flucht nöthigt: welcher, wie damals, als er vor dem EdonerkönigLykurg floh, sich in die Tiefen des Meeres rettete, nämlichin die mystischen Fluthen eines die ganze Welt allmählichüberziehenden Geheimcultus.

Aphorism id='GT-Text-13' kgw='III-1.84' ksa='1.88'

13. Dass Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zu Euripideshabe, entging dem gleichzeitigen Alterthume nicht; und der

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beredteste Ausdruck für diesen glücklichen Spürsinn ist jene inAthen umlaufende Sage, Sokrates pflege dem Euripides imDichten zu helfen. Beide Namen wurden von den Anhängernder „guten alten Zeit“ in einem Athem genannt, wenn es galt,die Volksverführer der Gegenwart aufzuzählen: von derenEinflusse es herrühre, dass die alte marathonische vierschrötigeTüchtigkeit an Leib und Seele immer mehr einer zweifelhaftenAufklärung, bei fortschreitender Verkümmerung der leiblichen undseelischen Kräfte, zum Opfer falle. In dieser Tonart, halb mitEntrüstung, halb mit Verachtung, pflegt die aristophanischeKomödie von jenen Männern zu reden, zum Schrecken derNeueren, welche zwar Euripides gerne preisgeben, aber sich nichtgenug darüber wundern können, dass Sokrates als der erste undoberste Sophist, als der Spiegel und Inbegriff aller sophistischenBestrebungen bei Aristophanes erscheine: wobei es einzigeinen Trost gewährt, den Aristophanes selbst als einen lüderlichlügenhaften Alcibiades der Poesie an den Pranger zu stellen.Ohne an dieser Stelle die tiefen Instincte des Aristophanes gegensolche Angriffe in Schutz zu nehmen, fahre ich fort, die engeZusammengehörigkeit des Sokrates und des Euripides aus der

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antiken Empfindung heraus zu erweisen; in welchem Sinnenamentlich daran zu erinnern ist, dass Sokrates als Gegner dertragischen Kunst sich des Besuchs der Tragödie enthielt, undnur, wenn ein neues Stück des Euripides aufgeführt wurde, sichunter den Zuschauern einstellte. Am berühmtesten ist aber dienahe Zusammenstellung beider Namen in dem delphischenOrakelspruche, welcher Sokrates als den Weisesten unter denMenschen bezeichnet, zugleich aber das Urtheil abgab, dass demEuripides der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit gebühre.Page: KGW='III-1.85' KSA='1.89' Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophokles genannt;er, der sich gegen Aeschylus rühmen durfte, er thue das Rechteund zwar, weil er wisse, was das Rechte sei. Offenbar istgerade der Grad der Helligkeit dieses Wissens dasjenige,was jene drei Männer gemeinsam als die drei „Wissenden“ ihrerZeit auszeichnet.Page: KGW='III-1.85' KSA='1.89' Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörteHochschätzung des Wissens und der Einsicht sprach Sokrates, als ersich als den Einzigen vorfand, der sich eingestehe, nichts zuwissen; während er, auf seiner kritischen Wanderung durchAthen, bei den grössten Staatsmännern, Rednern, Dichtern undKünstlern vorsprechend, überall die Einbildung des Wissensantraf. Mit Staunen erkannte er, dass alle jene Berühmtheitenselbst über ihren Beruf ohne richtige und sichere Einsicht seienund denselben nur aus Instinct trieben. „Nur aus Instinct“: mitdiesem Ausdruck berühren wir Herz und Mittelpunkt der sokratischenTendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus eben so

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die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er seineprüfenden Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht unddie Macht des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf dieinnerliche Verkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen.Von diesem einen Punkte aus glaubte Sokrates das Daseincorrigieren zu müssen: er, der Einzelne, tritt mit der Miene derNichtachtung und der Ueberlegenheit, als der Vorläufer einerganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in eine Welt

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hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zumgrössten Glücke rechnen würden.Page: KGW='III-1.86' KSA='1.90' Dies ist die ungeheuere Bedenklichkeit, die uns jedesmal,Angesichts des Sokrates, ergreift und die uns immer und immerwieder anreizt, Sinn und Absicht dieser fragwürdigsten Erscheinungdes Alterthums zu erkennen. Wer ist das, der es wagen darf,als ein Einzelner das griechische Wesen zu verneinen, das alsHomer, Pindar und Aeschylus, als Phidias, als Perikles, als Pythiaund Dionysus, als der tiefste Abgrund und die höchste Höheunserer staunenden Anbetung gewiss ist? Welche dämonischeKraft ist es, die diesen Zaubertrank in den Staub zu schütten sicherkühnen darf? Welcher Halbgott ist es, dem der Geisterchor derEdelsten der Menschheit zurufen muss: „Weh! Weh! Du hastsie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust; sie stürzt,sie zerfällt!“Page: KGW='III-1.86' KSA='1.90' Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietet uns jenewunderbare Erscheinung, die als „Dämonion des Sokrates“bezeichnet wird. In besonderen Lagen, in denen sein ungeheurerVerstand in's Schwanken gerieth, gewann er einen festen Anhaltdurch eine in solchen Momenten sich äussernde göttliche Stimme.Diese Stimme mahnt, wenn sie kommt, immer ab. Dieinstinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich abnormenNatur nur, um dem bewussten Erkennen hier und dahindernd entgegenzutreten. Während doch bei allen productivenMenschen der Instinct gerade die schöpferisch-affirmative Kraftist, und das Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet:wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das Bewusstseinzum Schöpfer — eine wahre Monstrosität per defectum! Undzwar nehmen wir hier einen monstrosen defectus jeder mystischenAnlage wahr, so dass Sokrates als der specifischeNicht-Mystiker zu bezeichnen wäre, in dem die logische Naturdurch eine Superfötation eben so excessiv entwickelt ist wie imMystiker jene instinctive Weisheit. Andrerseits aber war es jenemin Sokrates erscheinenden logischen Triebe völlig versagt, sich

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gegen sich selbst zu kehren; in diesem fessellosen Dahinströmen

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zeigt er eine Naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergrössteninstinctiven Kräften zu unsrer schaudervollen Ueberraschungantreffen. Wer nur einen Hauch von jener göttlichen Naivetätund Sicherheit der sokratischen Lebensrichtung aus denplatonischen Schriften gespürt hat, der fühlt auch, wie das ungeheureTriebrad des logischen Sokratismus gleichsam hinter Sokratesin Bewegung ist, und wie dies durch Sokrates wie durch einenSchatten hindurch angeschaut werden muss. Dass er aber selbstvon diesem Verhältniss eine Ahnung hatte, das drückt sich indem würdevollen Ernste aus, mit dem er seine göttliche Berufungüberall und noch vor seinen Richtern geltend machte. Ihn darinzu widerlegen war im Grunde eben so unmöglich als seinen dieInstincte auflösenden Einfluss gut zu heissen. Bei diesem unlösbarenConflicte war, als er einmal vor das Forum des griechischenStaates gezogen war, nur eine einzige Form der Verurtheilunggeboten, die Verbannung; als etwas durchaus Räthselhaftes,Unrubricirbares, Unaufklärbares hätte man ihn über die Grenzeweisen dürfen, ohne dass irgend eine Nachwelt im Recht gewesenwäre, die Athener einer schmählichen That zu zeihen. Dass aberder Tod und nicht nur die Verbannung über ihn ausgesprochenwurde, das scheint Sokrates selbst, mit völliger Klarheit undohne den natürlichen Schauder vor dem Tode, durchgesetzt zuhaben: er ging in den Tod, mit jener Ruhe, mit der er nach Plato'sSchilderung als der letzte der Zecher im frühen Tagesgrauen dasSymposion verlässt; um einen neuen Tag zu beginnen; indesshinter ihm, auf den Bänken und auf der Erde, die verschlafenenTischgenossen zurückbleiben, um von Sokrates, dem wahrhaftenErotiker, zu träumen. Der sterbende Sokrates wurdedas neue, noch nie sonst geschaute Ideal der edlen griechischenJugend: vor allen hat sich der typische hellenische Jüngling, Plato,mit aller inbrünstigen Hingebung seiner Schwärmerseele vordiesem Bilde niedergeworfen.

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Aphorism id='GT-Text-14' kgw='III-1.88' ksa='1.92'

14. Denken wir uns jetzt das eine grosse Cyklopenauge desSokrates auf die Tragödie gewandt, jenes Auge, in dem nie derholde Wahnsinn künstlerischer Begeisterung geglüht hat —denken wir uns, wie es jenem Auge versagt war, in die dionysischenAbgründe mit Wohlgefallen zu schauen — was eigentlich musstees in der „erhabenen und hochgepriesenen“ tragischen Kunst, wiesie Plato nennt, erblicken? Etwas recht Unvernünftiges, mitUrsachen, die ohne Wirkungen, und mit Wirkungen, die ohneUrsachen zu sein schienen, dazu das Ganze so bunt undmannichfaltig, dass es einer besonnenen Gemüthsart widerstreben müsse,für reizbare und empfindliche Seelen aber ein gefährlicher Zunder

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sei. Wir wissen, welche einzige Gattung der Dichtkunst von ihmbegriffen wurde, die aesopische Fabel: und dies geschahgewiss mit jener lächelnden Anbequemung, mit welcher derehrliche gute Gellert in der Fabel von der Biene und der Henne dasLob der Poesie singt:

„Du siehst an mir, wozu sie nützt, Dem, der nicht viel Verstand besitzt, Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen“.

Nun aber schien Sokrates die tragische Kunst nicht einmal „dieWahrheit zu sagen“: abgesehen davon, dass sie sich an denwendet, der „nicht viel Verstand besitzt“, also nicht an denPhilosophen: ein zweifacher Grund, von ihr fern zu bleiben. WiePlato, rechnete er sie zu den schmeichlerischen Künsten, die nurdas Angenehme, nicht das Nützliche darstellen und verlangtedeshalb bei seinen Jüngern Enthaltsamkeit und strenge Absonderungvon solchen unphilosophischen Reizungen; mit solchemErfolge, dass der jugendliche Tragödiendichter Plato zu allererstseine Dichtungen verbrannte, um Schüler des Sokrates werden zukönnen. Wo aber unbesiegbare Anlagen gegen die sokratischenMaximen ankämpften, war die Kraft derselben, sammt der Wucht

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jenes ungeheuren Charakters, immer noch gross genug, um diePoesie selbst in neue und bis dahin unbekannte Stellungen zudrängen.Page: KGW='III-1.89' KSA='1.93' Ein Beispiel dafür ist der eben genannte Plato: er, der in derVerurtheilung der Tragödie und der Kunst überhaupt gewissnicht hinter dem naiven Cynismus seines Meisters zurückgebliebenist, hat doch aus voller künstlerischer Nothwendigkeit eineKunstform schaffen müssen, die gerade mit den vorhandenen undvon ihm abgewiesenen Kunstformen innerlich verwandt ist. DerHauptvorwurf, den Plato der älteren Kunst zu machen hatte,— dass sie Nachahmung eines Scheinbildes sei, also noch einerniedrigeren Sphäre als die empirische Welt ist, angehöre — durftevor allem nicht gegen das neue Kunstwerk gerichtet werden: undso sehen wir denn Plato bestrebt über die Wirklichkeit hinauszu gehn und die jener Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegendeIdee darzustellen. Damit aber war der Denker Plato auf einemUmwege ebendahin gelangt, wo er als Dichter stets heimischgewesen war und von wo aus Sophokles und die ganze ältereKunst feierlich gegen jenen Vorwurf protestirten. Wenn dieTragödie alle früheren Kunstgattungen in sich aufgesaugt hatte, sodarf dasselbe wiederum in einem excentrischen Sinne vomplatonischen Dialoge gelten, der, durch Mischung aller vorhandenenStile und Formen erzeugt, zwischen Erzählung, Lyrik, Drama,zwischen Prosa und Poesie in der Mitte schwebt und damit auchdas strenge ältere Gesetz der einheitlichen sprachlichen Form

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durchbrochen hat; auf welchem Wege die cynischen Schriftstellernoch weiter gegangen sind, die in der grössten Buntscheckigkeitdes Stils, im Hin- und Herschwanken zwischenprosaischen und metrischen Formen auch das litterarische Bild des„rasenden Sokrates“, den sie im Leben darzustellen pflegten,erreicht haben. Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn,auf dem sich die schiffbrüchige ältere Poesie sammt allen ihrenKindern rettete: auf einen engen Raum zusammengedrängt unddem einen Steuermann Sokrates ängstlich unterthänig fuhren

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sie jetzt in eine neue Welt hinein, die an dem phantastischenBilde dieses Aufzugs sich nie satt sehen konnte. Wirklich hat fürdie ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen Kunstformgegeben, das Vorbild des Roman's: der als die unendlichgesteigerte aesopische Fabel zu bezeichnen ist, in der die Poesiein einer ähnlichen Rangordnung zur dialektischen Philosophielebt, wie viele Jahrhunderte hindurch dieselbe Philosophie zurTheologie: nämlich als ancilla. Dies war die neue Stellung derPoesie, in die sie Plato unter dem Drucke des dämonischenSokrates drängte.Page: KGW='III-1.90' KSA='1.94' Hier überwächst der philosophische Gedanke dieKunst und zwingt sie zu einem engen Sich-Anklammern an denStamm der Dialektik. In dem logischen Schematismus hat sichdie apollinische Tendenz verpuppt: wie wir bei Euripidesetwas Entsprechendes und ausserdem eine Uebersetzung desDionysischen in den naturalistischen Affect wahrzunehmenhatten. Sokrates, der dialektische Held im platonischenDrama, erinnert uns an die verwandte Natur des euripideischenHelden, der durch Grund und Gegengrund seine Handlungenvertheidigen muss und dadurch so oft in Gefahr geräth, unsertragisches Mitleiden einzubüssen: denn wer vermöchte dasoptimistische Element im Wesen der Dialektik zu verkennen,das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in kühlerHelle und Bewusstheit athmen kann: das optimistische Element,das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre dionysischenRegionen allmählich überwuchern und sie nothwendig zur Selbstvernichtungtreiben muss — bis zum Todessprunge in's bürgerlicheSchauspiel. Man vergegenwärtige sich nur die Consequenzender sokratischen Sätze: „Tugend ist Wissen; es wird nurgesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche“:in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod derTragödie. Denn jetzt muss der tugendhafte Held Dialektiker sein,jetzt muss zwischen Tugend und Wissen, Glaube und Moral einnothwendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die transscendentale

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Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und

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frechen Princip der „poetischen Gerechtigkeit“ mit seinemüblichen deus ex machina erniedrigt.Page: KGW='III-1.91' KSA='1.95' Wie erscheint dieser neuen sokratisch-optimistischen Bühnenweltgegenüber jetzt der Chor und überhaupt der ganzemusikalisch-dionysische Untergrund der Tragödie? Als etwasZufälliges, als eine auch wohl zu missende Reminiscenz an denUrsprung der Tragödie; während wir doch eingesehen haben,dass der Chor nur als Ursache der Tragödie und desTragischen überhaupt verstanden werden kann. Schon bei Sophokleszeigt sich jene Verlegenheit in Betreff des Chors — ein wichtigesZeichen, dass schon bei ihm der dionysische Boden der Tragödiezu zerbröckeln beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem Chor denHauptantheil der Wirkung anzuvertrauen, sondern schränkt seinBereich dermaassen ein, dass er jetzt fast den Schauspielerncoordinirt erscheint, gleich als ob er aus der Orchestra in die Scenehineingehoben würde: womit freilich sein Wesen völlig zerstörtist, mag auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chorsseine Beistimmung geben. Jene Verrückung der Chorposition,welche Sophokles jedenfalls durch seine Praxis und, derUeberlieferung nach, sogar durch eine Schrift anempfohlen hat, ist dererste Schritt zur Vernichtung des Chors, deren Phasen inEuripides, Agathon und der neueren Komödie mit erschreckenderSchnelligkeit auf einander folgen. Die optimistischeDialektik treibt mit der Geissel ihrer Syllogismen die Musik ausder Tragödie: d.h. sie zerstört das Wesen der Tragödie, welchessich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischerZustände, als sichtbare Symbolisirung der Musik, als dieTraumwelt eines dionysischen Rausches interpretiren lässt.Page: KGW='III-1.91' KSA='1.95' Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkendeantidionysische Tendenz anzunehmen, die nur in ihm einenunerhört grossartigen Ausdruck gewinnt: so müssen wir nicht vor derFrage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung wiedie des Sokrates deute: die wir doch nicht im Stande sind,

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Angesichts der platonischen Dialoge, als eine nur auflösendenegative Macht zu begreifen. Und so gewiss die allernächste Wirkungdes sokratischen Triebes auf eine Zersetzung der dionysischenTragödie ausging, so zwingt uns eine tiefsinnige Lebenserfahrungdes Sokrates selbst zu der Frage, ob denn zwischen demSokratismus und der Kunst nothwendig nur ein antipodischesVerhältniss bestehe und ob die Geburt eines „künstlerischenSokrates“ überhaupt etwas in sich Widerspruchsvolles sei.Page: KGW='III-1.92' KSA='1.96' Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da derKunst gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines halbenVorwurfs, einer vielleicht versäumten Pflicht. Oefters kam ihm,wie er im Gefängniss seinen Freunden erzählt, ein und dieselbe

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Traumerscheinung, die immer dasselbe sagte: „Sokrates, treibeMusik!“ Er beruhigt sich bis zu seinen letzten Tagen mit derMeinung, sein Philosophieren sei die höchste Musenkunst, undglaubt nicht recht, dass eine Gottheit ihn an jene „gemeine,populäre Musik“ erinnern werde. Endlich im Gefängnissversteht er sich, um sein Gewissen gänzlich zu entlasten, auch dazu,jene von ihm gering geachtete Musik zu treiben. Und in dieserGesinnung dichtet er ein Proömium auf Apollo und bringt einigeaesopische Fabeln in Verse. Das war etwas der dämonischenwarnenden Stimme Aehnliches, was ihn zu diesen Uebungendrängte, es war seine apollinische Einsicht, dass er wie einBarbarenkönig ein edles Götterbild nicht verstehe und in der Gefahrsei, sich an einer Gottheit zu versündigen — durch sein Nichtsverstehn.Jenes Wort der sokratischen Traumerscheinung ist daseinzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen derlogischen Natur: vielleicht — so musste er sich fragen — ist dasmir Nichtverständliche doch nicht auch sofort das Unverständige?Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem derLogiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar einnothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft?

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Aphorism id='GT-Text-15' kgw='III-1.93' ksa='1.97'

15. Im Sinne dieser letzten ahnungsvollen Fragen muss nunausgesprochen werden, wie der Einfluss des Sokrates, bis aufdiesen Moment hin, ja in alle Zukunft hinaus, sich, gleich einemin der Abendsonne immer grösser werdenden Schatten, über dieNachwelt hin ausgebreitet hat, wie derselbe zur Neuschaffungder Kunst — und zwar der Kunst im bereits metaphysischen,weitesten und tiefsten Sinne — immer wieder nöthigt und, beiseiner eignen Unendlichkeit, auch deren Unendlichkeit verbürgt.Page: KGW='III-1.93' KSA='1.97' Bevor dies erkannt werden konnte, bevor die innersteAbhängigkeit jeder Kunst von den Griechen, den Griechen vonHomer bis auf Sokrates, überzeugend dargethan war, musste esuns mit diesen Griechen ergehen wie den Athenern mit Sokrates.Fast jede Zeit und Bildungsstufe hat einmal sich mit tiefemMissmuthe von den Griechen zu befreien gesucht, weil Angesichtsderselben alles Selbstgeleistete, scheinbar völlig Originelle, undrecht aufrichtig Bewunderte plötzlich Farbe und Leben zuverlieren schien und zur misslungenen Copie, ja zur Caricaturzusammenschrumpfte. Und so bricht immer von Neuem einmal derherzliche Ingrimm gegen jenes anmaassliche Völkchen hervor,das sich erkühnte, alles Nichteinheimische für alle Zeiten als„barbarisch“ zu bezeichnen: wer sind jene, fragt man sich, die,obschon sie nur einen ephemeren historischen Glanz, nur lächerlich

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engbegrenzte Institutionen, nur eine zweifelhafte Tüchtigkeitder Sitte aufzuweisen haben und sogar mit hässlichen Lasterngekennzeichnet sind, doch die Würde und Sonderstellung unterden Völkern in Anspruch nehmen, die dem Genius unter derMasse zukommt? Leider war man nicht so glücklich denSchierlingsbecher zu finden, mit dem ein solches Wesen einfachabgethan werden konnte: denn alles Gift, das Neid, Verläumdungund Ingrimm in sich erzeugten, reichte nicht hin, jeneselbstgenugsame Herrlichkeit zu vernichten. Und so schämt und fürchtetman sich vor den Griechen; es sei denn, dass Einer dieWahrheit über alles achte und so sich auch diese Wahrheit einzugestehn

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wage, dass die Griechen unsere und jegliche Cultur alsWagenlenker in den Händen haben, dass aber fast immer Wagen undPferde von zu geringem Stoffe und der Glorie ihrer Führerunangemessen sind, die dann es für einen Scherz erachten, ein solchesGespann in den Abgrund zu jagen: über den sie selbst, mit demSprunge des Achilles, hinwegsetzen.Page: KGW='III-1.94' KSA='1.98' Um die Würde einer solchen Führerstellung auch für Sokrateszu erweisen, genügt es in ihm den Typus einer vor ihmunerhörten Daseinsform zu erkennen, den Typus des theoretischenMenschen, über dessen Bedeutung und Ziel zurEinsicht zu kommen, unsere nächste Aufgabe ist. Auch dertheoretische Mensch hat ein unendliches Genügen am Vorhandenen,wie der Künstler, und ist wie jener vor der praktischen Ethikdes Pessimismus und vor seinen nur im Finsteren leuchtendenLynkeusaugen, durch jenes Genügen geschützt. Wenn nämlichder Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mitverzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nachder Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sichder theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat seinhöchstes Lustziel in dem Prozess einer immer glücklichen, durcheigene Kraft gelingenden Enthüllung. Es gäbe keineWissenschaft, wenn ihr nur um jene eine nackte Göttin und um nichtsAnderes zu thun wäre. Denn dann müsste es ihren Jüngern zuMuthe sein, wie Solchen, die ein Loch gerade durch die Erdegraben wollten: von denen ein Jeder einsieht, dass er, bei grössterund lebenslänglicher Anstrengung) nur ein ganz kleines Stückder ungeheuren Tiefe zu durchgraben im Stande sei, welches vorseinen Augen durch die Arbeit des Nächsten wieder überschüttetwird, so dass ein Dritter wohl daran zu thun scheint „wenn erauf eigne Faust eine neue Stelle für seine Bohrversuche wählt.Wenn jetzt nun Einer zur Ueberzeugung beweist, dass auf diesemdirecten Wege das Antipodenziel nicht zu erreichen sei, wer wirdnoch in den alten Tiefen weiterarbeiten wollen, es sei denn, dasser sich nicht inzwischen genügen lasse, edles Gestein zu finden

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oder Naturgesetze zu entdecken. Darum hat Lessing, derehrlichste theoretische Mensch, es auszusprechen gewagt, dass ihmmehr am Suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei: womitdas Grundgeheimniss der Wissenschaft, zum Erstaunen, ja Aergerder Wissenschaftlichen, aufgedeckt worden ist. Nun steht freilichneben dieser vereinzelten Erkenntniss, als einem Excess derEhrlichkeit, wenn nicht des Uebermuthes, eine tiefsinnigeWahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zurWelt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, andem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe desSeins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen,sondern sogar zu corrigiren im Stande sei. Dieser erhabenemetaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegebenund führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, andenen sie in Kunst umschlagen muss: auf welche eseigentlich, bei diesem Mechanismus, abgesehnist.Page: KGW='III-1.95' KSA='1.99' Schauen wir jetzt, mit der Fackel dieses Gedankens, aufSokrates hin: so erscheint er uns als der Erste, der an der Handjenes Instinctes der Wissenschaft nicht nur leben, sondern — wasbei weitem mehr ist — auch sterben konnte: und deshalb ist dasBild des sterbenden Sokrates als des durch Wissen undGründe der Todesfurcht enthobenen Menschen das Wappenschild,das über dem Eingangsthor der Wissenschaft einen Jedenan deren Bestimmung erinnert, nämlich das Dasein als begreiflichund damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen: wozu freilich,wenn die Gründe nicht reichen, schliesslich auch der Mythusdienen muss, den ich sogar als nothwendige Consequenz, ja alsAbsicht der Wissenschaft soeben bezeichnete.Page: KGW='III-1.95' KSA='1.99' Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach Sokrates, demMystagogen der Wissenschaft, eine Philosophenschule nach deranderen, wie Welle auf Welle, sich ablöst, wie eine nie geahnteUniversalität der Wissensgier in dem weitesten Bereich dergebildeten Welt und als eigentliche Aufgabe für jeden höher Befähigten

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die Wissenschaft auf die hohe See führte, von der sie niemalsseitdem wieder völlig vertrieben werden konnte, wie durch dieseUniversalität erst ein gemeinsames Netz des Gedankens über dengesammten Erdball, ja mit Ausblicken auf die Gesetzlichkeit einesganzen Sonnensystems, gespannt wurde; wer dies Alles, sammtder erstaunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart, sichvergegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen, in Sokrates deneinen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichtezu sehen. Denn dächte man sich einmal diese ganze unbezifferbareSumme von Kraft, die für jene Welttendenz verbraucht wordenist, nicht im Dienste des Erkennens, sondern auf die

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praktischen d.h. egoistischen Ziele der Individuen und Völkerverwendet, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfenund fortdauernden Völkerwanderungen die instinctiveLust zum Leben so abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit desSelbstmordes, der Einzelne vielleicht den letzten Rest vonPflichtgefühl empfinden müsste, wenn er, wie der Bewohner derFidschi-Inseln, als Sohn seine Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt:ein praktischer Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethikdes Völkermordes aus Mitleid erzeugen könnte — der übrigensüberall in der Welt vorhanden ist und vorhanden war, wo nichtdie Kunst in irgend welchen Formen, besonders als Religion undWissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes Pesthauchserschienen ist.Page: KGW='III-1.96' KSA='1.100' Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist Sokrates dasUrbild des theoretischen Optimisten, der in dem bezeichnetenGlauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissenund der Erkenntniss die Kraft einer Universalmedizin beilegtund im Irrthum das Uebel an sich begreift. In jene Gründeeinzudringen und die wahre Erkenntniss vom Schein und vomIrrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen Menschen deredelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche Beruf zu sein:so wie jener Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse vonSokrates ab als höchste Bethätigung und bewunderungswürdigste

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Gabe der Natur über alle anderen Fähigkeiten geschätzt wurde.Selbst die erhabensten sittlichen Thaten, die Regungen desMitleids, der Aufopferung, des Heroismus und jene schwer zuerringende Meeresstille der Seele, die der apollinische GriecheSophrosyne nannte, wurden von Sokrates und seinen gleichgesinntenNachfolgern bis auf die Gegenwart hin aus der Dialektik desWissens abgeleitet und demgemäss als lehrbar bezeichnet. Werdie Lust einer sokratischen Erkenntniss an sich erfahren hat undspürt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die ganze Welt derErscheinungen zu umfassen sucht, der wird von da an keinenStachel, der zum Dasein drängen könnte, heftiger empfinden alsdie Begierde, jene Eroberung zu vollenden und das Netzundurchdringbar fest zu spinnen. Einem so Gestimmten erscheint dannder platonische Sokrates als der Lehrer einer ganz neuen Formder „griechischen Heiterkeit“ und Daseinsseligkeit, welche sich inHandlungen zu entladen sucht und diese Entladung zumeist inmaeeutischen und erziehenden Einwirkungen auf edle Jünglinge,zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius, finden wird.Page: KGW='III-1.97' KSA='1.101' Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahneangespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihrim Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert. Denndie Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich vielePunkte, und während noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals

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der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so trifft doch deredle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins undunvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo erin das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schreckensieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringeltund endlich sich in den Schwanz beisst — da bricht die neueForm der Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss,die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmitteldie Kunst braucht.Page: KGW='III-1.97' KSA='1.101' Schauen wir, mit gestärkten und an den Griechen erlabtenAugen, auf die höchsten Sphären derjenigen Welt, die uns

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umfluthet, so gewahren wir die in Sokrates vorbildlich erscheinendeGier der unersättlichen optimistischen Erkenntniss in tragischeResignation und Kunstbedürftigkeit umgeschlagen: währendallerdings dieselbe Gier, auf ihren niederen Stufen, sichkunstfeindlich äussern und vornehmlich die dionysisch-tragische Kunstinnerlich verabscheuen muss, wie dies an der Bekämpfung deraeschyleischen Tragödie durch den Sokratismus beispielsweisedargestellt wurde.Page: KGW='III-1.98' KSA='1.102' Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pfortender Gegenwart und Zukunft: wird jenes „Umschlagen“ zu immerneuen Configurationen des Genius und gerade des musiktreibendenSokrates führen? Wird das über das Daseingebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen derReligion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter geflochtenwerden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischenTreiben und Wirbeln, das sich jetzt „die Gegenwart“ nennt, inFetzen zu reissen? — Besorgt, doch nicht trostlos stehen wir einekleine Weile bei Seite, als die Beschaulichen, denen es erlaubt ist,Zeugen jener ungeheuren Kämpfe und Uebergänge zu sein. Ach!Es ist der Zauber dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auchkämpfen muss!

Aphorism id='GT-Text-16' kgw='III-1.98' ksa='1.102'

16. An diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir klarzu machen gesucht, wie die Tragödie an dem Entschwinden desGeistes der Musik eben so gewiss zu Grunde geht, wie sie ausdiesem Geiste allein geboren werden kann. Das Ungewöhnlichedieser Behauptung zu mildern und andererseits den Ursprungdieser unserer Erkenntniss aufzuzeigen, müssen wir uns jetztfreien Blicks den analogen Erscheinungen der Gegenwartgegenüber stellen; wir müssen mitten hinein in jene Kämpfe treten,

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welche, wie ich eben sagte, zwischen der unersättlichen optimistischen

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Erkenntniss und der tragischen Kunstbedürftigkeit in denhöchsten Sphären unserer jetzigen Welt gekämpft werden. Ichwill hierbei von allen den anderen gegnerischen Trieben absehn,die zu jeder Zeit der Kunst und gerade der Tragödieentgegenarbeiten und die auch in der Gegenwart in dem Maassesiegesgewiss um sich greifen, dass von den theatralischen Künsten z.B.allein die Posse und das Ballet in einem einigermaassen üppigenWuchern ihre vielleicht nicht für Jedermann wohlriechendenBlüthen treiben. Ich will nur von der erlauchtestenGegnerschaft der tragischen Weltbetrachtung reden und meinedamit die in ihrem tiefsten Wesen optimistische Wissenschaft, mitihrem Ahnherrn Sokrates an der Spitze. Alsbald sollen auch dieMächte bei Namen genannt werden, welche mir eineWiedergeburt der Tragödie — und welche andere seligeHoffnungen für das deutsche Wesen! — zu verbürgenPage: KGW='III-1.99' KSA='1.103' Bevor wir uns mitten in jene Kämpfe hineinstürzen, hüllenwir uns in die Rüstung unsrer bisher eroberten Erkenntnisse. ImGegensatz zu allen denen, welche beflissen sind, die Künste auseinem einzigen Princip, als dem nothwendigen Lebensquell jedesKunstwerks abzuleiten, halte ich den Blick auf jene beidenkünstlerischen Gottheiten der Griechen, Apollo und Dionysus, geheftetund erkenne in ihnen die lebendigen und anschaulichen Repräsentantenzweier in ihrem tiefsten Wesen und ihren höchstenZielen verschiedenen Kunstwelten. Apollo steht vor mir, als derverklärende Genius des principii individuationis, durch denallein die Erlösung im Scheine wahrhaft zu erlangen ist: währendunter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann derIndividuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern desSein's, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt. Dieserungeheuere Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst alsder apollinischen und der Musik als der dionysischen Kunstklaffend aufthut, ist einem Einzigen der grossen Denker in demMaasse offenbar geworden, dass er, selbst ohne jene Anleitungder hellenischen Göttersymbolik, der Musik einen verschiedenen

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Charakter und Ursprung vor allen anderen Künsten zuerkannte,weil sie nicht, wie jene alle, Abbild der Erscheinung, sondernunmittelbar Abbild des Willens selbst sei und also zu allemPhysischen der Welt das Metaphysische, zu allerErscheinung das Ding an sich darstelle. (Schopenhauer, Welt alsWille und Vorstellung I, p. 310). Auf diese wichtigste Erkenntnissaller Aesthetik, mit der, in einem ernstern Sinne genommen,die Aesthetik erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigungihrer ewigen Wahrheit, seinen Stempel gedrückt, wenn er im

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„Beethoven“ feststellt, dass die Musik nach ganz anderenaesthetischen Principien als alle bildenden Künste und überhaupt nichtnach der Kategorie der Schönheit zu bemessen sei: obgleich eineirrige Aesthetik, an der Hand einer missleiteten und entartetenKunst, von jenem in der bildnerischen Welt geltenden Begriff derSchönheit aus sich gewöhnt habe, von der Musik eine ähnlicheWirkung wie von den Werken der bildenden Kunst zu fordern,nämlich die Erregung des Gefallens an schönenFormen. Nach der Erkenntniss jenes ungeheuren Gegensatzes fühlteich eine starke Nöthigung, mich dem Wesen der griechischenTragödie und damit der tiefsten Offenbarung des hellenischenGenius zu nahen: denn erst jetzt glaubte ich des Zaubers mächtigzu sein, über die Phraseologie unserer üblichen Aesthetik hinaus,das Urproblem der Tragödie mir leibhaft vor die Seele stellen zukönnen: wodurch mir ein so befremdlich eigenthümlicher Blickin das Hellenische vergönnt war, dass es mir scheinen musste, alsob unsre so stolz sich gebärdende classisch-hellenische Wissenschaftin der Hauptsache bis jetzt nur an Schattenspielen undAeusserlichkeiten sich zu weiden gewusst habe.Page: KGW='III-1.100' KSA='1.104' Jenes Urproblem möchten wir vielleicht mit dieser Frageberühren: welche aesthetische Wirkung entsteht, wenn jene an sichgetrennten Kunstmächte des Apollinischen und des Dionysischenneben einander in Thätigkeit gerathen? Oder in kürzerer Form:wie verhält sich die Musik zu Bild und Begriff? — Schopenhauer,dem Richard Wagner gerade für diesen Punkt eine nicht zu

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überbietende Deutlichkeit und Durchsichtigkeit der Darstellungnachrühmt, äussert sich hierüber am ausführlichsten in der folgendenStelle, die ich hier in ihrer ganzen Länge wiedergeben werde.Welt als Wille und Vorstellung I, p. 309: „Diesem allen zufolgekönnen wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die Musikals zwei verschiedene Ausdrücke derselben Sache ansehen, welcheselbst daher das allein Vermittelnde der Analogie beider ist,dessen Erkenntniss erfordert wird, um jene Analogie einzusehen.Die Musik ist demnach, wenn als Ausdruck der Welt angesehen,eine im höchsten Grad allgemeine Sprache, die sich sogar zurAllgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu deneinzelnen Dingen. Ihre Allgemeinheit ist aber keineswegs jene leereAllgemeinheit der Abstraction, sondern ganz anderer Art und istverbunden mit durchgängiger deutlicher Bestimmtheit. Sie gleichthierin den geometrischen Figuren und den Zahlen, welche als dieallgemeinen Formen aller möglichen Objecte der Erfahrung undauf alle a priori anwendbar, doch nicht abstract, sondern anschaulichund durchgängig bestimmt sind. Alle möglichen Bestrebungen,Erregungen und Aeusserungen des Willens, alle jeneVorgänge im Innern des Menschen, welche die Vernunft in den weitennegativen Begriff Gefühl wirft, sind durch die unendlich vielenmöglichen Melodien auszudrücken, aber immer in der Allgemeinheit

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blosser Form, ohne den Stoff, immer nur nach dem Ansich,nicht nach der Erscheinung, gleichsam die innerste Seele derselben,ohne Körper. Aus diesem innigen Verhältniss, welches die Musikzum wahren Wesen aller Dinge hat, ist auch dies zu erklären,dass, wenn zu irgend einer Scene, Handlung, Vorgang,Umgebung, eine passende Musik ertönt, diese uns den geheimstenSinn derselben aufzuschliessen scheint und als der richtigste unddeutlichste Commentar dazu auftritt; imgleichen, dass es Dem,der sich dem Eindruck einer Symphonie ganz hingiebt, ist, als säheer alle möglichen Vorgänge des Lebens und der Welt an sichvorüberziehen: dennoch kann er, wenn er sich besinnt, keineAehnlichkeit angeben zwischen jenem Tonspiel und den Dingen, die

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ihm vorschwebten. Denn die Musik ist, wie gesagt, darin vonallen anderen Künsten verschieden, dass sie nicht Abbild derErscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objectität des Willens,sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zuallem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinungdas Ding an sich darstellt. Man könnte demnach die Weltebensowohl verkörperte Musik, als verkörperten Willen nennen:daraus also ist es erklärlich, warum Musik jedes Gemälde, jajede Scene des wirklichen Lebens und der Welt, sogleich inerhöhter Bedeutsamkeit hervortreten lässt; freilich um so mehr, jeanaloger ihre Melodie dem innern Geiste der gegebenen Erscheinungist. Hierauf beruht es, dass man ein Gedicht als Gesang,oder eine anschauliche Darstellung als Pantomime, oder beidesals Oper der Musik unterlegen kann. Solche einzelne Bilder desMenschenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik untergelegt,sind nie mit durchgängiger Nothwendigkeit ihr verbunden oderentsprechend; sondern sie stehen zu ihr nur im Verhältniss einesbeliebigen Beispiels zu einem allgemeinen Begriff: sie stellen inder Bestimmtheit der Wirklichkeit Dasjenige dar, was die Musikin der Allgemeinheit blosser Form aussagt. Denn die Melodiensind gewissermaassen, gleich den allgemeinen Begriffen, einAbstractum der Wirklichkeit. Diese nämlich, also die Welt dereinzelnen Dinge, liefert das Anschauliche, das Besondere undIndividuelle, den einzelnen Fall, sowohl zur Allgemeinheit derBegriffe, als zur Allgemeinheit der Melodien, welche beideAllgemeinheiten einander aber in gewisser Hinsicht entgegengesetztsind; indem die Begriffe nur die allererst aus der Anschauungabstrahirten Formen, gleichsam die abgezogene äussere Schale derDinge enthalten, also ganz eigentlich Abstracta sind; die Musikhingegen den innersten aller Gestaltung vorhergängigen Kern,oder das Herz der Dinge giebt. Dies Verhältniss liesse sich rechtgut in der Sprache der Scholastiker ausdrücken, indem man sagte:die Begriffe sind die universalia post rem, die Musik aber giebtdie universalia ante rem, und die Wirklichkeit die universalia in

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re. Dass aber überhaupt eine Beziehung zwischen einerComposition und einer anschaulichen Darstellung möglich ist, beruht,wie gesagt, darauf, dass beide nur ganz verschiedene Ausdrückedesselben innern Wesens der Welt sind. Wann nun im einzelnenFall eine solche Beziehung wirklich vorhanden ist, also derComponist die Willensregungen, welche den Kern einer Begebenheitausmachen, in der allgemeinen Sprache der Musik auszusprechengewusst hat: dann ist die Melodie des Liedes, die Musik der Operausdrucksvoll. Die vom Componisten aufgefundene Analogiezwischen jenen beiden muss aber aus der unmittelbaren Erkenntnissdes Wesens der Welt, seiner Vernunft unbewusst, hervorgegangenund darf nicht, mit bewusster Absichtlichkeit, durchBegriffe vermittelte Nachahmung sein: sonst spricht die Musik nichtdas innere Wesen, den Willen selbst aus; sondern ahmt nur seineErscheinung ungenügend nach; wie dies alle eigentlich nachbildendeMusik thut“.Page: KGW='III-1.103' KSA='1.107' Wir verstehen also, nach der Lehre Schopenhauer's, die Musikals die Sprache des Willens unmittelbar und fühlen unserePhantasie angeregt, jene zu uns redende, unsichtbare und doch solebhaft bewegte Geisterwelt zu gestalten und sie in einem analogenBeispiel uns zu verkörpern. Andrerseits kommt Bild und Begriff,unter der Einwirkung einer wahrhaft entsprechenden Musik, zueiner erhöhten Bedeutsamkeit. Zweierlei Wirkungen pflegt alsodie dionysische Kunst auf das apollinische Kunstvermögenauszuüben: die Musik reizt zum gleichnissartigenAnschauen der dionysischen Allgemeinheit, die Musik lässtsodann das gleichnissartige Bild in höchster Bedeutsamkeithervortreten. Aus diesen an sich verständlichen undkeiner tieferen Beobachtung unzugänglichen Thatsachenerschliesse ich die Befähigung der Musik, den Mythus d.h. dasbedeutsamste Exempel zu gebären und gerade den tragischenMythus: den Mythus, der von der dionysischen Erkenntniss inGleichnissen redet. An dem Phänomen des Lyrikers habe ichdargestellt, wie die Musik im Lyriker darnach ringt, in apollinischen

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Bildern über ihr Wesen sich kund zu geben: denken wir uns jetzt,dass die Musik in ihrer höchsten Steigerung auch zu einer höchstenVerbildlichung zu kommen suchen muss, so müssen wir fürmöglich halten, dass sie auch den symbolischen Ausdruck für ihreeigentliche dionysische Weisheit zu finden wisse; und wo anders werdenwir diesen Ausdruck zu suchen haben, wenn nicht in der Tragödieund überhaupt im Begriff des Tragischen?Page: KGW='III-1.104' KSA='1.108' Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach dereinzigen Kategorie des Scheines und der Schönheit begriffen wird, istdas Tragische in ehrlicher Weise gar nicht abzuleiten; erst aus demGeiste der Musik heraus verstehen wir eine Freude an der

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Vernichtung des Individuums. Denn an den einzelnen Beispieleneiner solchen Vernichtung wird uns nur das ewige Phänomen derdionysischen Kunst deutlich gemacht, die den Willen in seinerAllmacht gleichsam hinter dem principio individuationis, dasewige Leben jenseit aller Erscheinung und trotz aller Vernichtungzum Ausdruck bringt. Die metaphysische Freude amTragischen ist eine Uebersetzung der instinctiv unbewusstendionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der Held, die höchsteWillenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er dochnur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seineVernichtung nicht berührt wird. „Wir glauben an das ewigeLeben“, so ruft die Tragödie; während die Musik die unmittelbareIdee dieses Lebens ist. Ein ganz verschiednes Ziel hat dieKunst des Plastikers: hier überwindet Apollo das Leiden desIndividuums durch die leuchtende Verherrlichung derEwigkeit der Erscheinung, hier siegt die Schönheit über dasdem Leben inhärirende Leiden, der Schmerz wird in einemgewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelogen. In derdionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet unsdieselbe Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an: „Seidwie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungendie ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, andiesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!“

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Aphorism id='GT-Text-17' kgw='III-1.105' ksa='1.109'

17. Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust desDaseins überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht in denErscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wirsollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergangebereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken derIndividualexistenz hineinzublicken — und sollen doch nichterstarren: ein metaphysischer Trost reisst uns momentan aus demGetriebe der Wandelgestalten heraus. Wir sind wirklich inkurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessenunbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, dieVernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, beidem Uebermaass von unzähligen, sich in's Leben drängendenund stossenden Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeitdes Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stacheldieser Qualen in dem selben Augenblicke durchbohrt, wo wirgleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein einsgeworden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieserLust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht undMitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als Individuen,sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir

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verschmolzen sind.Page: KGW='III-1.105' KSA='1.109' Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie sagt unsjetzt mit lichtvoller Bestimmtheit, wie das tragische Kunstwerkder Griechen wirklich aus dem Geiste der Musik herausgeborenist: durch welchen Gedanken wir zum ersten Male dem ursprünglichenund so erstaunlichen Sinne des Chors gerecht gewordenzu sein glauben. Zugleich aber müssen wir zugeben, dass dievorhin aufgestellte Bedeutung des tragischen Mythus dengriechischen Dichtern, geschweige den griechischen Philosophen, niemalsin begrifflicher Deutlichkeit durchsichtig geworden ist; ihreHelden sprechen gewissermaassen oberflächlicher als sie handeln; derMythus findet in dem gesprochnen Wort durchaus nicht seineadäquate Objectivation. Das Gefüge der Scenen und die anschaulichen

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Bilder offenbaren eine tiefere Weisheit, als der Dichterselbst in Worte und Begriffe fassen kann: wie das Gleiche auchbei Shakespeare beobachtet wird, dessen Hamlet z.B. in einemähnlichen Sinne oberflächlicher redet als er handelt, so dass nichtaus den Worten heraus, sondern aus dem vertieften Anschauenund Ueberschauen des Ganzen jene früher erwähnte Hamletlehrezu entnehmen ist. In Betreff der griechischen Tragödie, die unsfreilich nur als Wortdrama entgegentritt, habe ich sogarangedeutet, dass jene Incongruenz zwischen Mythus und Wort unsleicht verführen könnte, sie für flacher und bedeutungsloserzu halten, als sie ist, und demnach auch eine oberflächlichereWirkung für sie vorauszusetzen, als sie nach den Zeugnissen derAlten gehabt haben muss: denn wie leicht vergisst man, dass, wasdem Wortdichter nicht gelungen war, die höchste Vergeistigungund Idealität des Mythus zu erreichen, ihm als schöpferischemMusiker in jedem Augenblick gelingen konnte! Wir freilichmüssen uns die Uebermacht der musikalischen Wirkung fast aufgelehrtem Wege reconstruiren, um etwas von jenem unvergleichlichenTroste zu empfangen, der der wahren Tragödie zu eigensein muss. Selbst diese musikalische Uebermacht aber würden wirnur, wenn wir Griechen wären, als solche empfunden haben:während wir in der ganzen Entfaltung der griechischen Musik— der uns bekannten und vertrauten, so unendlich reicherengegenüber — nur das in schüchternem Kraftgefühle angestimmteJünglingslied des musikalischen Genius zu hören glauben. DieGriechen sind, wie die ägyptischen Priester sagen, die ewigenKinder, und auch in der tragischen Kunst nur die Kinder, welchenicht wissen, welches erhabene Spielzeug unter ihren Händenentstanden ist und — zertrümmert wird.Page: KGW='III-1.106' KSA='1.110' Jenes Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher undmythischer Offenbarung, welches von den Anfängen der Lyrik bis zurattischen Tragödie sich steigert, bricht plötzlich, nach eben ersterrungener üppiger Entfaltung, ab und verschwindet gleichsam

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von der Oberfläche der hellenischen Kunst: während die aus

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diesem Ringen geborne dionysische Weltbetrachtung in denMysterien weiterlebt und in den wunderbarsten Metamorphosen undEntartungen nicht aufhört, ernstere Naturen an sich zu ziehen.Ob sie nicht aus ihrer mystischen Tiefe einst wieder als Kunstemporsteigen wird?Page: KGW='III-1.107' KSA='1.111' Hier beschäftigt uns die Frage, ob die Macht, an derenEntgegenwirken die Tragödie sich brach, für alle Zeit genug Stärkehat, um das künstlerische Wiedererwachen der Tragödie und dertragischen Weltbetrachtung zu verhindern. Wenn die alte Tragödiedurch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismusder Wissenschaft aus ihrem Gleise gedrängt wurde, so wäreaus dieser Thatsache auf einen ewigen Kampf zwischen dertheoretischen und der tragischen Weltbetrachtungzu schliessen; und erst nachdem der Geist der Wissenschaftbis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf universaleGültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist,dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu hoffen sein: fürwelche Culturform wir das Symbol des musiktreibendenSokrates, in dem früher erörterten Sinne, hinzustellen hätten.Bei dieser Gegenüberstellung verstehe ich unter dem Geiste derWissenschaft jenen zuerst in der Person des Sokrates an's Lichtgekommenen Glauben an die Ergründlichkeit der Natur und andie Universalheilkraft des Wissens.Page: KGW='III-1.107' KSA='1.111' Wer sich an die nächsten Folgen dieses rastlos vorwärtsdringendenGeistes der Wissenschaft erinnert, wird sich sofortvergegenwärtigen, wie durch ihn der Mythus vernichtet wurdeund wie durch diese Vernichtung die Poesie aus ihrem natürlichenidealen Boden, als eine nunmehr heimathlose, verdrängt war.Haben wir mit Recht der Musik die Kraft zugesprochen, denMythus wieder aus sich gebären zu können, so werden wir denGeist der Wissenschaft auch auf der Bahn zu suchen haben, wo erdieser mythenschaffenden Kraft der Musik feindlich entgegentritt.Dies geschieht in der Entfaltung des neuerenattischen Dithyrambus, dessen Musik nicht mehr das innere

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Wesen, den Willen selbst aussprach, sondern nur die Erscheinungungenügend, in einer durch Begriffe vermittelten Nachahmungwiedergab: von welcher innerlich entarteten Musik sich diewahrhaft musikalischen Naturen mit demselben Widerwillen abwandten,den sie vor der kunstmörderischen Tendenz des Sokrateshatten. Der sicher zugreifende Instinct des Aristophanes hatgewiss das Rechte erfasst, wenn er Sokrates selbst, die Tragödie desEuripides und die Musik der neueren Dithyrambiker in dem

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gleichen Gefühle des Hasses zusammenfasste und in allen dreiPhänomenen die Merkmale einer degenerirten Cultur witterte.Durch jenen neueren Dithyrambus ist die Musik in frevelhafterWeise zum imitatorischen Conterfei der Erscheinung z.B. einerSchlacht, eines Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrermythenschaffenden Kraft gänzlich beraubt worden. Denn wennsie unsere Ergetzung nur dadurch zu erregen sucht, dass sie unszwingt, äusserliche Analogien zwischen einem Vorgange desLebens und der Natur und gewissen rhythmischen Figuren undcharakteristischen Klängen der Musik zu suchen, wenn sich unserVerstand an der Erkenntniss dieser Analogien befriedigen soll,so sind wir in eine Stimmung herabgezogen, in der eine Empfängnissdes Mythischen unmöglich ist; denn der Mythus will als eineinziges Exempel einer in's Unendliche hinein starrendenAllgemeinheit und Wahrheit anschaulich empfunden werden. Diewahrhaft dionysische Musik tritt uns als ein solcher allgemeinerSpiegel des Weltwillens gegenüber: jenes anschauliche Ereigniss,das sich in diesem Spiegel bricht, erweitert sich sofort für unserGefühl zum Abbilde einer ewigen Wahrheit. Umgekehrt wirdein solches anschauliches Ereigniss durch die Tonmalerei desneueren Dithyrambus sofort jedes mythischen Charakters entkleidet;jetzt ist die Musik zum dürftigen Abbilde der Erscheinunggeworden und darum unendlich ärmer als die Erscheinung selbst:durch welche Armuth sie für unsere Empfindung die Erscheinungselbst noch herabzieht, so dass jetzt z.B. eine derartig musikalischimitirte Schlacht sich in Marschlärm, Signalklängen u.s.w.

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erschöpft, und unsere Phantasie gerade bei diesen Oberflächlichkeitenfestgehalten wird. Die Tonmalerei ist also in jederBeziehung das Gegenstück zu der mythenschaffenden Kraft der wahrenMusik: durch sie wird die Erscheinung noch ärmer als sie ist,während durch die dionysische Musik die einzelne Erscheinung sichzum Weltbilde bereichert und erweitert. Es war ein mächtigerSieg des undionysischen Geistes, als er, in der Entfaltung desneueren Dithyrambus, die Musik sich selbst entfremdet und siezur Sclavin der Erscheinung herabgedrückt hatte. Euripides, derin einem höhern Sinne eine durchaus unmusikalische Naturgenannt werden muss, ist aus eben diesem Grunde leidenschaftlicherAnhänger der neueren dithyrambischen Musik und verwendetmit der Freigebigkeit eines Räubers alle ihre Effectstücke undManieren.Page: KGW='III-1.109' KSA='1.113' Nach einer anderen Seite sehen wir die Kraft dieses undionysischen,gegen den Mythus gerichteten Geistes in Thätigkeit, wennwir unsere Blicke auf das Ueberhandnehmen derCharakterdarstellung und des psychologischen Raffinements in derTragödie von Sophokles ab richten. Der Charakter soll sich nichtmehr zum ewigen Typus erweitern lassen, sondern imGegentheil so durch künstliche Nebenzüge und Schattirungen, durch

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feinste Bestimmtheit aller Linien individuell wirken, dass derZuschauer überhaupt nicht mehr den Mythus, sondern die mächtigeNaturwahrheit und die Imitationskraft des Künstlersempfindet. Auch hier gewahren wir den Sieg der Erscheinung über dasAllgemeine und die Lust an dem einzelnen gleichsam anatomischenPräparat, wir athmen bereits die Luft einer theoretischenWelt, welcher die wissenschaftliche Erkenntniss höher gilt als diekünstlerische Wiederspiegelung einer Weltregel. Die Bewegungauf der Linie des Charakteristischen geht schnell weiter: währendnoch Sophokles ganze Charactere malt und zu ihrer raffinirtenEntfaltung den Mythus ins Joch spannt, malt Euripides bereitsnur noch grosse einzelne Charakterzüge, die sich in heftigenLeidenschaften zu äussern wissen; in der neuern attischen Komödie

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giebt es nur noch Masken mit einem Ausdruck, leichtsinnigeAlte, geprellte Kuppler, verschmitzte Sclaven in unermüdlicherWiederholung. Wohin ist jetzt der mythenbildende Geist derMusik? Was jetzt noch von Musik übrig ist, das ist entwederAufregungs- oder Erinnerungsmusik d.h. entweder ein Stimulanzmittelfür stumpfe und verbrauchte Nerven oder Tonmalerei. Fürdie erstere kommt es auf den untergelegten Text kaum noch an:schon bei Euripides geht es, wenn seine Helden oder Chöre erst zusingen anfangen, recht lüderlich zu; wohin mag es bei seinenfrechen Nachfolgern gekommen sein?Page: KGW='III-1.110' KSA='1.114' Am allerdeutlichsten aber offenbart sich der neue undionysischeGeist in den Schlüssen der neueren Dramen. In deralten Tragödie war der metaphysische Trost am Ende zu spürengewesen, ohne den die Lust an der Tragödie überhaupt nicht zuerklären ist; am reinsten tönt vielleicht im Oedipus auf Kolonosder versöhnende Klang aus einer anderen Welt. Jetzt, als derGenius der Musik aus der Tragödie entflohen war, ist, imstrengen Sinne, die Tragödie todt: denn woher sollte man jetzt jenenmetaphysischen Trost schöpfen können? Man suchte daher flacheiner irdischen Lösung der tragischen Dissonanz; der Held,nachdem er durch das Schicksal hinreichend gemartert war, erntete ineiner stattlichen Heirat, in göttlichen Ehrenbezeugungen einenwohlverdienten Lohn. Der Held war zum Gladiator geworden,dem man, nachdem er tüchtig geschunden und mit Wunden überdecktwar, gelegentlich die Freiheit schenkte. Der deus ex machinaist an Stelle des metaphysischen Trostes getreten. Ich will nichtsagen, dass die tragische Weltbetrachtung überall und völlig durchden andrängenden Geist des Undionysischen zerstört wurde: wirwissen nur, dass sie sich aus der Kunst gleichsam in die Unterwelt,in einer Entartung zum Geheimcult, flüchten musste. Aber aufdem weitesten Gebiete der Oberfläche des hellenischen Wesenswüthete der verzehrende Hauch jenes Geistes, welcher sich injener Form der „griechischen Heiterkeit“ kundgiebt, von derbereits früher, als von einer greisenhaft unproductiven Daseinslust,

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die Rede war; diese Heiterkeit ist ein Gegenstück zu derherrlichen „Naivetät“ der älteren Griechen, wie sie, nach dergegebenen Charakteristik, zu fassen ist als die aus einem düsterenAbgrunde hervorwachsende Blüthe der apollinischen Cultur, als derSieg, den der hellenische Wille durch seine Schönheitsspiegelungüber das Leiden und die Weisheit des Leidens davonträgt. Dieedelste Form jener anderen Form der „griechischen Heiterkeit“,der alexandrinischen, ist die Heiterkeit des theoretischenMenschen: sie zeigt dieselben charakteristischen Merkmale,die ich soeben aus dem Geiste des Undionysischen ableitete — dasssie die dionysische Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie denMythus aufzulösen trachtet, dass sie an Stelle eines metaphysischenTrostes eine irdische Consonanz, ja einen eigenen deus exmachina setzt, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel,d.h. die im Dienste des höheren Egoismus erkannten undverwendeten Kräfte der Naturgeister, dass sie an eine Correcturder Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaftgeleitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den einzelnenMenschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zubannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: „Ich will dich:du bist werth erkannt zu werden“.

Aphorism id='GT-Text-18' kgw='III-1.111' ksa='1.115'

18. Es ist ein ewiges Phänomen: immer findet der gierige Willeein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seineGeschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen.Diesen fesselt die sokratische Lust des Erkennens und der Wahn,durch dasselbe die ewige Wunde des Daseins heilen zu können,jenen umstrickt der vor seinen Augen wehende verführerischeSchönheitsschleier der Kunst, jenen wiederum der metaphysischeTrost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Lebenunzerstörbar weiterfliesst: um von den gemeineren und fast nochkräftigeren Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereit

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hält, zu schweigen. Jene drei Illusionsstufen sind überhaupt nurfür die edler ausgestatteten Naturen, von denen die Last undSchwere des Daseins überhaupt mit tieferer Unlust empfundenwird und die durch ausgesuchte Reizmittel über diese Unlusthinwegzutäuschen sind. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was wirCultur nennen: je nach der Proportion der Mischungen haben wireine vorzugsweise sokratische oder künstlerischeoder tragische Cultur: oder wenn man historische Exemplificationen

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erlauben will: es giebt entweder eine alexandrinischeoder eine hellenische oder eine buddhaistische Cultur.Page: KGW='III-1.112' KSA='1.116' Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischenCultur befangen und kennt als Ideal den mit höchstenErkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaftarbeitenden theoretischen Menschen, dessen Urbild undStammvater Sokrates ist. Alle unsere Erziehungsmittel habenursprünglich dieses Ideal im Auge: jede andere Existenz hat sichmühsam nebenbei emporzuringen, als erlaubte, nicht als beabsichtigteExistenz. In einem fast erschreckenden Sinne ist hier einelange Zeit der Gebildete allein in der Form des Gelehrtengefunden worden; selbst unsere dichterischen Künste haben sich ausgelehrten Imitationen entwickeln müssen, und in demHaupteffect des Reimes erkennen wir noch die Entstehung unsererpoetischen Form aus künstlichen Experimenten mit einer nichtheimischen, recht eigentlich gelehrten Sprache. Wie unverständlichmüsste einem ächten Griechen der an sich verständliche moderneCulturmensch Faust erscheinen, der durch alle Facultätenunbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und dem Teufelergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben Sokrates zustellen haben, um zu erkennen, dass der moderne Mensch dieGrenzen jener sokratischen Erkenntnisslust zu ahnen beginnt undaus dem weiten wüsten Wissensmeere nach einer Küste verlangt.Wenn Goethe einmal zu Eckermann, mit Bezug auf Napoleon,äussert: „Ja mein Guter, es giebt auch eine Productivität derThaten“, so hat er, in anmuthig naiver Weise, daran erinnert,

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dass der nicht theoretische Mensch für den modernen Menschenetwas Unglaubwürdiges und Staunenerregendes ist, so dass eswieder der Weisheit eines Goethe bedarf, um auch eine sobefremdende Existenzform begreiflich, ja verzeihlich zu finden.Page: KGW='III-1.113' KSA='1.117' Und nun soll man sich nicht verbergen, was im Schoosse diesersokratischen Cultur verborgen liegt! Der unumschränkt sichwähnende Optimismus! Nun soll man nicht erschrecken, wenn dieFrüchte dieses Optimismus reifen, wenn die von einer derartigenCultur bis in die niedrigsten Schichten hinein durchsäuerteGesellschaft allmählich unter üppigen Wallungen und Begehrungenerzittert, wenn der Glaube an das Erdenglück Aller, wenn derGlaube an die Möglichkeit einer solchen allgemeinen Wissensculturallmählich in die drohende Forderung eines solchenalexandrinischen Erdenglückes, in die Beschwörung eines Euripideischendeus ex machina umschlägt! Man soll es merken: die alexandrinischeCultur braucht einen Sclavenstand, um auf die Dauerexistieren zu können: aber sie leugnet, in ihrer optimistischenBetrachtung des Daseins, die Nothwendigkeit eines solchenStandes und geht deshalb, wenn der Effect ihrer schönenVerführungs- und Beruhigungsworte von der „Würde des Menschen“ und der

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„Würde der Arbeit“ verbraucht ist, allmählich einer grauenvollenVernichtung entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einenbarbarischen Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zubetrachten gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondernfür alle Generationen Rache zu nehmen. Wer wagt es, solchendrohenden Stürmen entgegen, sicheren Muthes an unsere blassenund ermüdeten Religionen zu appelliren, die selbst in ihrenFundamenten zu Gelehrtenreligionen entartet sind: so dass derMythus, die nothwendige Voraussetzung jeder Religion, bereitsüberall gelähmt ist, und selbst auf diesem Bereich jeneroptimistische Geist zur Herrschaft gekommen ist, den wir als denVernichtungskeim unserer Gesellschaft eben bezeichnet haben.Page: KGW='III-1.113' KSA='1.117' Während das im Schoosse der theoretischen Culturschlummernde Unheil allmählich den modernen Menschen zu ängstigen

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beginnt, und er, unruhig, aus dem Schatze seiner Erfahrungennach Mitteln greift, um die Gefahr abzuwenden, ohne selbst andiese Mittel recht zu glauben; während er also seine eigenenConsequenzen zu ahnen beginnt: haben grosse allgemeinangelegte Naturen, mit einer unglaublichen Besonnenheit, dasRüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewusst, um die Grenzenund die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen unddamit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung unduniversale Zwecke entscheidend zu leugnen: bei welchemNachweise zum ersten Male jene Wahnvorstellung als solche erkanntwurde, welche, an der Hand der Causalität, sich anmaasst, dasinnerste Wesen der Dinge ergründen zu können. Der ungeheurenTapferkeit und Weisheit Kant's und Schopenhauer'sist der schwerste Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen derLogik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum derUntergrund unserer Cultur ist. Wenn dieser an die Erkennbarkeit undErgründlichkeit aller Welträthsel, gestützt auf die ihmunbedenklichen aeternae veritates, geglaubt und Raum, Zeit undCausalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinsterGültigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlichnur dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der Maja, zureinzigen und höchsten Realität zu erheben und sie an die Stelledes innersten und wahren Wesens der Dinge zu setzen und diewirkliche Erkenntniss von diesem dadurch unmöglich zu machen,d.h., nach einem Schopenhauer'schen Ausspruche, den Träumernoch fester einzuschläfern (W. a. W. u. V. I, p. 498). Mit dieserErkenntniss ist eine Cultur eingeleitet, welche ich als eine tragischezu bezeichnen wage: deren wichtigstes Merkmal ist, dass an dieStelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird,die sich, ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkungen derWissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde derWelt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischerLiebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht.

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Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser

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Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug insUngeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter,die stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoctrinenjenes Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzenund Vollen „resolut zu leben“: sollte es nicht nöthig sein, dass dertragische Mensch dieser Cultur, bei seiner Selbsterziehung zumErnst und zum Schrecken, eine neue Kunst, die Kunst desmetaphysischen Trostes, die Tragödie als die ihm zugehörige Helenabegehren und mit Faust ausrufen muss:

Und sollt' ich nicht, sehnsüchtiger Gewalt, In's Leben ziehn die einzigste Gestalt?

Page: KGW='III-1.115' KSA='1.119' Nachdem aber die sokratische Cultur von zwei Seiten auserschüttert ist und das Scepter ihrer Unfehlbarkeit nur noch mitzitternden Händen zu halten vermag, einmal aus Furcht vorihren eigenen Consequenzen, die sie nachgerade zu ahnen beginnt,sodann weil sie selbst von der ewigen Gültigkeit ihresFundamentes nicht mehr mit dem früheren naiven Zutrauen überzeugtist: so ist es ein trauriges Schauspiel, wie sich der Tanz ihresDenkens sehnsüchtig immer auf neue Gestalten stürzt, um sie zuumarmen, und sie dann plötzlich wieder, wie Mephistopheles dieverführerischen Lamien, schaudernd fahren lässt. Das ist ja dasMerkmal jenes „Bruches“, von dem Jedermann als von demUrleiden der modernen Cultur zu reden pflegt, dass der theoretischeMensch vor seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt esnicht mehr wagt sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseinsanzuvertrauen: ängstlich läuft er am Ufer auf und ab. Er will nichtsmehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichenGrausamkeit der Dinge. Soweit hat ihn das optimistische Betrachtenverzärtelt. Dazu fühlt er, wie eine Cultur, die auf dem Princip derWissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde gehen muss, wenn sieanfängt, unlogisch zu werden d.h. vor ihren Consequenzenzurück zu fliehen. Unsere Kunst offenbart diese allgemeine Noth:umsonst dass man sich an alle grossen productiven Perioden und

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Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst dass man die ganze„Weltlitteratur“ zum Troste des modernen Menschen um ihn versammeltund ihn mitten unter die Kunststile und Künstler allerZeiten hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einenNamen gebe: er bleibt doch der ewig Hungernde, der „Kritiker“ohne Lust und Kraft, der alexandrinische Mensch, der im GrundeBibliothekar und Corrector ist und an Bücherstaub undDruckfehlern elend erblindet.

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19. Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Culturnicht schärfer bezeichnen, als wenn man sie die Cultur derOper nennt: denn auf diesem Gebiete hat sich diese Cultur miteigener Naivetät über ihr Wollen und Erkennen ausgesprochen,zu unserer Verwunderung, wenn wir die Genesis der Oper unddie Thatsachen der Opernentwicklung mit den ewigenWahrheiten des Apollinischen und des Dionysischen zusammenhalten.Ich erinnere zunächst an die Entstehung des stilo rappresentativound des Recitativs. Ist es glaublich, dass diese gänzlichveräusserlichte, der Andacht unfähige Musik der Oper von einer Zeit mitschwärmerischer Gunst, gleichsam als die Wiedergeburt allerwahren Musik, empfangen und gehegt werden konnte, aus dersich soeben die unaussprechbar erhabene und heilige MusikPalestrina's erhoben hatte? Und wer möchte andrerseits nur diezerstreuungssüchtige Üppigkeit jener Florentiner Kreise und dieEitelkeit ihrer dramatischen Sänger für die so ungestüm sichverbreitende Lust an der Oper verantwortlich machen? Dass inderselben Zeit, ja in demselben Volke neben dem GewölbebauPalestrinischer Harmonien, an dem das gesammte christliche Mittelaltergebaut hatte, jene Leidenschaft für eine halbmusikalischeSprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer im Wesen desRecitativs mitwirkenden ausserkünstlerischenTendenz zu erklären.

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Page: KGW='III-1.117' KSA='1.121' Dem Zuhörer, der das Wort unter dem Gesange deutlichvernehmen will, entspricht der Sänger dadurch, dass er mehr sprichtals singt und dass er den pathetischen Wortausdruck in diesemHalbgesange verschärft: durch diese Verschärfung des Pathoserleichtert er das Verständniss des Wortes und überwindet jeneübrig gebliebene Hälfte der Musik. Die eigentliche Gefahr, dieihm jetzt droht, ist die, dass er der Musik einmal zur Unzeit dasÜbergewicht ertheilt, wodurch sofort Pathos der Rede undDeutlichkeit des Wortes zu Grunde gehen müsste: während er andrerseitsimmer den Trieb zu musikalischer Entladung und zuvirtuosenhafter Präsentation seiner Stimme fühlt. Hier kommt ihmder „Dichter“ zu Hülfe, der ihm genug Gelegenheiten zulyrischen Interjectionen, Wort- und Sentenzenwiederholungen u.s.w.zu bieten weiss: an welchen Stellen der Sänger jetzt in dem reinmusikalischen Elemente, ohne Rücksicht auf das Wort, ausruhenkann. Dieser Wechsel affectvoll eindringlicher, doch nur halbgesungener Rede und ganz gesungener Interjection, der im Wesendes stilo rappresentativo liegt, dies rasch wechselnde Bemühen,

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bald auf den Begriff und die Vorstellung, bald auf den musikalischenGrund des Zuhörers zu wirken, ist etwas so gänzlichUnnatürliches und den Kunsttrieben des Dionysischen und desApollinischen in gleicher Weise so innerlich Widersprechendes, dassman auf einen Ursprung des Recitativs zu schliessen hat, derausserhalb aller künstlerischen Instincte liegt. Das Recitativ istnach dieser Schilderung zu definiren als die Vermischung desepischen und des lyrischen Vortrags und zwar keinesfalls dieinnerlich beständige Mischung, die bei so gänzlich disparatenDingen nicht erreicht werden konnte, sondern die äusserlichste mosaikartigeConglutination, wie etwas Derartiges im Bereich der Naturund der Erfahrung gänzlich vorbildlos ist. Dies war abernicht die Meinung jener Erfinder des Recitativs:vielmehr glauben sie selbst und mit ihnen ihr Zeitalter,dass durch jenen stilo rappresentativo das Geheimniss der antikenMusik gelöst sei, aus dem sich allein die ungeheure Wirkung eines

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Orpheus, Amphion, ja auch der griechischen Tragödie erklärenlasse. Der neue Stil galt als die Wiedererweckung der wirkungsvollstenMusik, der altgriechischen: ja man durfte sich, bei derallgemeinen und ganz volksthümlichen Auffassung der homerischenWelt als der Urwelt, dem Traume überlassen, jetzt wiederin die paradiesischen Anfänge der Menschheit hinabgestiegen zusein, in der nothwendig auch die Musik jene unübertroffneReinheit, Macht und Unschuld gehabt haben müsste, von der dieDichter in ihren Schäferspielen so rührend zu erzählen wussten. Hiersehen wir in das innerlichste Werden dieser recht eigentlichmodernen Kunstgattung, der Oper: ein mächtiges Bedürfnisserzwingt sich hier eine Kunst, aber ein Bedürfniss unaesthetischerArt: die Sehnsucht zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitlicheExistenz des künstlerischen und guten Menschen. Das Recitativgalt als die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen; die Operals das wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroischguten Wesens, das zugleich in allen seinen Handlungen einemnatürlichen Kunsttriebe folgt, das bei allem, was es zu sagen hat,wenigstens etwas singt, um, bei der leisesten Gefühlserregung,sofort mit voller Stimme zu singen. Es ist für uns jetzt gleichgültig,dass mit diesem neugeschaffnen Bilde des paradiesischenKünstlers die damaligen Humanisten gegen die alte kirchlicheVorstellung vom an sich verderbten und verlornen Menschenankämpften: so dass die Oper als das Oppositionsdogma vomguten Menschen zu verstehen ist, mit dem aber zugleich einTrostmittel gegen jenen Pessimismus gefunden war, zu dem geradedie Ernstgesinnten jener Zeit, bei der grauenhaften Unsicherheitaller Zustände, am stärksten gereizt waren. Genug, wenn wirerkannt haben, wie der eigentliche Zauber und damit die Genesisdieser neuen Kunstform in der Befriedigung eines gänzlichunaesthetischen Bedürfnisses liegt, in der optimistischen Verherrlichungdes Menschen an sich, in der Auffassung des Urmenschen

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als des von Natur guten und künstlerischen Menschen: welchesPrincip der Oper sich allmählich in eine drohende und entsetzliche

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Forderung umgewandelt hat, die wir, im Angesicht dersocialistischen Bewegungen der Gegenwart, nicht mehr überhörenkönnen. Der „gute Urmensch“ will seine Rechte: welcheparadiesischen Aussichten!Page: KGW='III-1.119' KSA='1.123' Ich stelle daneben noch eine eben so deutliche Bestätigungmeiner Ansicht, dass die Oper auf den gleichen Principien mitunserer alexandrinischen Cultur aufgebaut ist. Die Oper ist dieGeburt des theoretischen Menschen, des kritischen Laien, nichtdes Künstlers: eine der befremdlichsten Thatsachen in derGeschichte aller Künste. Es war die Forderung recht eigentlichunmusikalischer Zuhörer, dass man vor allem das Wortverstehen müsse: so dass eine Wiedergeburt der Tonkunst nur zuerwarten sei, wenn man irgend eine Gesangesweise entdeckenwerde, bei welcher das Textwort über den Contrapunkt wie derHerr über den Diener herrsche. Denn die Worte seien um soviel edler als das begleitende harmonische System, um wie vieldie Seele edler als der Körper sei. Mit der laienhaftunmusikalischen Rohheit dieser Ansichten wurde in den Anfängen derOper die Verbindung von Musik, Bild und Wort behandelt; imSinne dieser Aesthetik kam es auch in den vornehmenLaienkreisen von Florenz, durch hier patronisirte Dichter und Sänger,zu den ersten Experimenten. Der kunstohnmächtige Menscherzeugt sich eine Art von Kunst, gerade dadurch, dass er derunkünstlerische Mensch an sich ist. Weil er die dionysische Tiefeder Musik nicht ahnt, verwandelt er sich den Musikgenuss zurverstandesmässigen Wort- und Tonrhetorik der Leidenschaft imstilo rappresentativo und zur Wohllust der Gesangeskünste; weiler keine Vision zu schauen vermag, zwingt er den Maschinistenund Decorationskünstler in seinen Dienst; weil er das wahreWesen des Künstlers nicht zu erfassen weiss, zaubert er vor sichden „künstlerischen Urmenschen“ nach seinem Geschmack hind.h. den Menschen, der in der Leidenschaft singt und Versespricht. Er träumt sich in eine Zeit hinein, in der die Leidenschaftausreicht, um Gesänge und Dichtungen zu erzeugen: als ob je

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der Affect im Stande gewesen sei, etwas Künstlerisches zuschaffen. Die Voraussetzung der Oper ist ein falscher Glaubeüber den künstlerischen Prozess und zwar jener idyllische Glaube,dass eigentlich jeder empfindende Mensch Künstler sei. Im Sinnedieses Glaubens ist die Oper der Ausdruck des Laienthums inder Kunst, das seine Gesetze mit dem heitern Optimismus destheoretischen Menschen dictirt.Page: KGW='III-1.120' KSA='1.124'

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Sollten wir wünschen, die beiden eben geschilderten, bei derEntstehung der Oper wirksamen Vorstellungen unter einenBegriff zu vereinigen, so würde uns nur übrig bleiben, von eineridyllischen Tendenz der Oper zu sprechen: wobeiwir uns allein der Ausdrucksweise und Erklärung Schillers zubedienen hätten. Entweder, sagt dieser, ist die Natur und dasIdeal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, diesesals unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstandder Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erstegiebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitesterBedeutung. Hier ist nun sofort auf das gemeinsame Merkmaljener beiden Vorstellungen in der Operngenesis aufmerksam zumachen, dass in ihnen das Ideal nicht als unerreicht, die Naturnicht als verloren empfunden wird. Es gab nach dieser Empfindungeine Urzeit des Menschen, in der er am Herzen der Naturlag und bei dieser Natürlichkeit zugleich das Ideal derMenschheit, in einer paradiesischen Güte und Künstlerschaft, erreichthatte: von welchem vollkommnen Urmenschen wir alleabstammen sollten, ja dessen getreues Ebenbild wir noch wären:nur müssten wir Einiges von uns werfen, um uns selbst wiederals diesen Urmenschen zu erkennen, vermöge einer freiwilligenEntäusserung von überflüssiger Gelehrsamkeit, von überreicherCultur. Der Bildungsmensch der Renaissance liess sich durch seineopernhafte Imitation der griechischen Tragödie zu einem solchenZusammenklang von Natur und Ideal, zu einer idyllischenWirklichkeit zurückgeleiten, er benutzte diese Tragödie, wie Danteden Virgil benutzte, um bis an die Pforten des Paradieses geführt

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zu werden: während er von hier aus selbständig noch weiterschritt und von einer Imitation der höchsten griechischenKunstform zu einer „Wiederbringung aller Dinge“, zu einerNachbildung der ursprünglichen Kunstwelt des Menschen überging.Welche zuversichtliche Gutmüthigkeit dieser verwegenenBestrebungen, mitten im Schoosse der theoretischen Cultur! — einzignur aus dem tröstenden Glauben zu erklären, dass „der Menschan sich“ der ewig tugendhafte Opernheld, der ewig flötendeoder singende Schäfer sei, der sich endlich immer als solchenwiederfinden müsse, falls er sich selbst irgendwann einmal wirklichauf einige Zeit verloren habe, einzig die Frucht jenesOptimismus, der aus der Tiefe der sokratischen Weltbetrachtung hierwie eine süsslich verführerische Duftsäule emporsteigt.Page: KGW='III-1.121' KSA='1.125' Es liegt also auf den Zügen der Oper keinesfalls jenerelegische Schmerz eines ewigen Verlustes, vielmehr die Heiterkeitdes ewigen Wiederfindens, die bequeme Lust an einer idyllischenWirklichkeit, die man wenigstens sich als wirklich in jedemAugenblicke vorstellen kann: wobei man vielleicht einmal ahnt,dass diese vermeinte Wirklichkeit nichts als ein phantastischläppisches Getändel ist, dem jeder, der es an dem furchtbaren

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Ernst der wahren Natur zu messen und mit den eigentlichenUrscenen der Menschheitsanfänge zu vergleichen vermöchte, mitEkel zurufen müsste: Weg mit dem Phantom! Trotzdem würdeman sich täuschen, wenn man glaubte, ein solches tändelndesWesen, wie die Oper ist, einfach durch einen kräftigen Anruf,wie ein Gespenst, verscheuchen zu können. Wer die Opervernichten will, muss den Kampf gegen jene alexandrinische Heiterkeitaufnehmen, die sich in ihr so naiv über ihre Lieblingsvorstellungausspricht, ja deren eigentliche Kunstform sie ist.Was ist aber für die Kunst selbst von dem Wirken einerKunstform zu erwarten, deren Ursprünge überhaupt nicht imaesthetischen Bereiche liegen, die sich vielmehr aus einer halbmoralischen Sphäre auf das künstlerische Gebiet hinübergestohlen hatund über diese hybride Entstehung nur hier und da einmal

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hinwegzutäuschen vermochte? Von welchen Säften nährt sich diesesparasitische Opernwesen, wenn nicht von denen der wahrenKunst? Wird nicht zu muthmaassen sein, dass, unter seinenidyllischen Verführungen, unter seinen alexandrinischenSchmeichelkünsten, die höchste und wahrhaftig ernst zu nennende Aufgabeder Kunst — das Auge vom Blick in's Grauen der Nacht zuerlösen und das Subject durch den heilenden Balsam des Scheinsaus dem Krampfe der Willensregungen zu retten — zu einerleeren und zerstreuenden Ergetzlichkeitstendenz entarten werde?Was wird aus den ewigen Wahrheiten des Dionysischen und desApollinischen, bei einer solchen Stilvermischung, wie ich sie amWesen des stilo rappresentativo dargelegt habe? wo die Musikals Diener, das Textwort als Herr betrachtet, die Musik mit demKörper, das Textwort mit der Seele verglichen wird? wo dashöchste Ziel bestenfalls auf eine umschreibende Tonmalereigerichtet sein wird, ähnlich wie ehedem im neuen attischenDithyrambus? wo der Musik ihre wahre Würde, dionysischerWeltspiegel zu sein, völlig entfremdet ist, so dass ihr nur übrig bleibt,als Sclavin der Erscheinung, das Formenwesen der Erscheinungnachzuahmen und in dem Spiele der Linien und Proportioneneine äusserliche Ergetzung zu erregen. Einer strengen Betrachtungfällt dieser verhängnissvolle Einfluss der Oper auf die Musikgeradezu mit der gesammten modernen Musikentwicklungzusammen; dem in der Genesis der Oper und im Wesen der durchsie repräsentirten Cultur lauernden Optimismus ist es inbeängstigender Schnelligkeit gelungen, die Musik ihrer dionysischenWeltbestimmung zu entkleiden und ihr einen formenspielerischen,vergnüglichen Charakter aufzuprägen: mit welcher Veränderungnur etwa die Metamorphose des aeschyleischen Menschen in denalexandrinischen Heiterkeitsmenschen verglichen werden dürfte.Page: KGW='III-1.122' KSA='1.126' Wenn wir aber mit Recht in der hiermit angedeutetenExemplification das Entschwinden des dionysischen Geistes mit einerhöchst auffälligen, aber bisher unerklärten Umwandlung und

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Degeneration des griechischen Menschen in Zusammenhang

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gebracht haben — welche Hoffnungen müssen in uns aufleben,wenn uns die allersichersten Auspicien den umgekehrtenProzess, das allmähliche Erwachen desdionysischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt, verbürgen!Es ist nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Heraklesewig im üppigen Frohndienste der Omphale erschlafft. Aus demdionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Machtemporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Culturnichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zuentschuldigen ist, vielmehr von dieser Cultur als dasSchrecklich-Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feindselige empfundenwird, die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich inihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, vonBeethoven zu Wagner zu verstehen haben. Was vermag dieerkenntnisslüsterne Sokratik unserer Tage günstigsten Falls mitdiesem aus unerschöpflichen Tiefen emporsteigenden Dämon zubeginnen? Weder von dem Zacken- und Arabeskenwerk derOpernmelodie aus, noch mit Hülfe des arithmetischen Rechenbrettsder Fuge und der contrapunktischen Dialektik will sichdie Formel finden lassen, in deren dreimal gewaltigem Licht manjenen Dämon sich unterwürfig zu machen und zum Reden zuzwingen vermöchte. Welches Schauspiel, wenn jetzt unsereAesthetiker, mit dem Fangnetz einer ihnen eignen „Schönheit“,nach dem vor ihnen mit unbegreiflichem Leben sich tummelndenMusikgenius schlagen und haschen, unter Bewegungen, die nachder ewigen Schönheit ebensowenig als nach dem Erhabenenbeurtheilt werden wollen. Man mag sich nur diese Musikgönnereinmal leibhaft und in der Nähe besehen, wenn sie so unermüdlichSchönheit! Schönheit! rufen, ob sie sich dabei wie die im Schoossedes Schönen gebildeten und verwöhnten Lieblingskinder derNatur ausnehmen oder ob sie nicht vielmehr für die eigneRohheit eine lügnerisch verhüllende Form, für die eigne empfindungsarmeNüchternheit einen aesthetischen Vorwand suchen: wobeiich z.B. an Otto Jahn denke. Vor der deutschen Musik aber mag

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sich der Lügner und Heuchler in Acht nehmen: denn gerade sieist, inmitten aller unserer Cultur, der einzig reine, lautere undläuternde Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in derLehre des grossen Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge indoppelter Kreisbahn bewegen: alles, was wir jetzt Cultur, Bildung,Civilisation nennen, wird einmal vor dem untrüglichen RichterDionysus erscheinen müssen.Page: KGW='III-1.124' KSA='1.128' Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellenströmenden Geiste der deutschen Philosophie, durch

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Kant und Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedneDaseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweisihrer Grenzen, zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eineunendlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragenund der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die inBegriffe gefasste dionysische Weisheit bezeichnenkönnen: wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischender deutschen Musik und der deutschen Philosophie, wenn nichtauf eine neue Daseinsform, über deren Inhalt wir uns nur aushellenischen Analogien ahnend unterrichten können? Denn diesenunausmessbaren Werth behält für uns, die wir an derGrenzscheide zweier verschiedener Daseinsformen stehen, dashellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene Uebergänge und Kämpfezu einer classisch-belehrenden Form ausgeprägt sind: nur dasswir gleichsam in umgekehrter Ordnung die grossenHauptepochen des hellenischen Wesens analogisch durcherleben und zumBeispiel jetzt aus dem alexandrinischen Zeitalter rückwärts zurPeriode der Tragödie zu schreiten scheinen. Dabei lebt in uns dieEmpfindung, als ob die Geburt eines tragischen Zeitalters für dendeutschen Geist nur eine Rückkehr zu sich selbst, ein seligesSichwiederfinden zu bedeuten habe, nachdem für eine lange Zeitungeheure von aussen her eindringende Mächte den in hülfloserBarbarei der Form dahinlebenden zu einer Knechtschaft unterihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich darf er, nach seinerHeimkehr zum Urquell seines Wesens, vor allen Völkern kühn

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und frei, ohne das Gängelband einer romanischen Civilisation,einherzuschreiten wagen: wenn er nur von einem Volkeunentwegt zu lernen versteht, von dem überhaupt lernen zu könnenschon ein hoher Ruhm und eine auszeichnende Seltenheit ist,von den Griechen. Und wann brauchten wir diese allerhöchstenLehrmeister mehr als jetzt, wo wir die Wiedergeburt derTragödie erleben und in Gefahr sind, weder zu wissen, wohersie kommt, noch uns deuten zu können, wohin sie will?

Aphorism id='GT-Text-20' kgw='III-1.125' ksa='1.129'

20. Es möchte einmal, unter den Augen eines unbestochenenRichters, abgewogen werden, in welcher Zeit und in welchenMännern bisher der deutsche Geist von den Griechen zu lernenam kräftigsten gerungen hat; und wenn wir mit Zuversichtannehmen, dass dem edelsten Bildungskampfe Goethe's, Schiller'sund Winckelmann's dieses einzige Lob zugesprochen werdenmüsste, so wäre jedenfalls hinzuzufügen, dass seit jener Zeit undden nächsten Einwirkungen jenes Kampfes, das Streben aufeiner gleichen Bahn zur Bildung und zu den Griechen zu kommen,

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in unbegreiflicher Weise schwächer und schwächer geworden ist.Sollten wir, um nicht ganz an dem deutschen Geist verzweifelnzu müssen, nicht daraus den Schluss ziehen dürfen, dass in irgendwelchem Hauptpunkte es auch jenen Kämpfern nicht gelungensein möchte, in den Kern des hellenischen Wesens einzudringenund einen dauernden Liebesbund zwischen der deutschen und dergriechischen Cultur herzustellen? So dass vielleicht einunbewusstes Erkennen jenes Mangels auch in den ernsteren Naturenden verzagten Zweifel erregte, ob sie, nach solchen Vorgängern,auf diesem Bildungswege noch weiter wie jene und überhauptzum Ziele kommen würden. Deshalb sehen wir seit jener Zeitdas Urtheil über den Werth der Griechen für die Bildung in derbedenklichsten Weise entarten; der Ausdruck mitleidigerUeberlegenheit ist in den verschiedensten Feldlagern des Geistes und

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des Ungeistes zu hören; anderwärts tändelt eine gänzlichwirkungslose Schönrednerei mit der „griechischen Harmonie“, der„griechischen Schönheit“, der „griechischen Heiterkeit“. Undgerade in den Kreisen, deren Würde es sein könnte, aus demgriechischen Strombett unermüdet, zum Heile deutscher Bildung,zu schöpfen, in den Kreisen der Lehrer an den höheren Bildungsanstaltenhat man am besten gelernt, sich mit den Griechen zeitigund in bequemer Weise abzufinden, nicht selten bis zu einemsceptischen Preisgeben des hellenischen Ideals und bis zu einergänzlichen Verkehrung der wahren Absicht aller Alterthumsstudien.Wer überhaupt in jenen Kreisen sich nicht völlig in demBemühen, ein zuverlässiger Corrector von alten Texten oder einnaturhistorischer Sprachmikroskopiker zu sein, erschöpft hat, dersucht vielleicht auch das griechische Alterthum, neben anderenAlterthümern, sich „historisch“ anzueignen, aber jedenfalls nachder Methode und mit den überlegenen Mienen unserer jetzigengebildeten Geschichtsschreibung. Wenn demnach die eigentlicheBildungskraft der höheren Lehranstalten wohl noch niemalsniedriger und schwächlicher gewesen ist, wie in der Gegenwart, wennder „Journalist“, der papierne Sclave des Tages, in jeder Rücksichtauf Bildung den Sieg über den höheren Lehrer davongetragenhat, und Letzterem nur noch die bereits oft erlebte Metamorphoseübrig bleibt, sich jetzt nun auch in der Sprechweise desJournalisten, mit der „leichten Eleganz“ dieser Sphäre, alsheiterer gebildeter Schmetterling zu bewegen — in welcher peinlichenVerwirrung müssen die derartig Gebildeten einer solchenGegenwart jenes Phänomen anstarren, das nur etwa aus dem tiefstenGrunde des bisher unbegriffnen hellenischen Genius analogisch zubegreifen wäre, das Wiedererwachen des dionysischen Geistes unddie Wiedergeburt der Tragödie? Es giebt keine andereKunstperiode, in der sich die sogenannte Bildung und die eigentlicheKunst so befremdet und abgeneigt gegenübergestanden hätten, alswir das in der Gegenwart mit Augen sehn. Wir verstehen es,warum eine so schwächliche Bildung die wahre Kunst hasst; denn

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sie fürchtet durch sie ihren Untergang. Aber sollte nicht eine ganzeArt der Cultur, nämlich jene sokratisch-alexandrinische, sichausgelebt haben, nachdem sie in eine so zierlich-schmächtige Spitze,wie die gegenwärtige Bildung ist, auslaufen konnte! Wenn essolchen Helden, wie Schiller und Goethe, nicht gelingen durfte,jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in den hellenischenZauberberg führt, wenn es bei ihrem muthigsten Ringen nichtweiter gekommen ist als bis zu jenem sehnsüchtigen Blick, den dieGoethische Iphigenie vom barbarischen Tauris aus nach derHeimat über das Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcherHelden zu hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, an einer ganzanderen, von allen Bemühungen der bisherigen Cultur unberührtenSeite die Pforte von selbst aufthäte — unter dem mystischenKlange der wiedererweckten Tragödienmusik.Page: KGW='III-1.127' KSA='1.131' Möge uns Niemand unsern Glauben an eine nochbevorstehende Wiedergeburt des hellenischen Alterthums zu verkümmernsuchen; denn in ihm finden wir allein unsre Hoffnung füreine Erneuerung und Läuterung des deutschen Geistes durch denFeuerzauber der Musik. Was wüssten wir sonst zu nennen, wasin der Verödung und Ermattung der jetzigen Cultur irgendwelche tröstliche Erwartung für die Zukunft erwecken könnte?Vergebens spähen wir nach einer einzigen kräftig geästetenWurzel, nach einem Fleck fruchtbaren und gesunden Erdbodens:überall Staub, Sand, Erstarrung, Verschmachten. Da möchte sich eintrostlos Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, alsden Ritter mit Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet hat,den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blicke, derseinen Schreckensweg, unbeirrt durch seine grausen Gefährten,und doch hoffnungslos, allein mit Ross und Hund zu nehmenweiss. Ein solcher Dürerscher Ritter war unser Schopenhauer: ihmfehlte jede Hoffnung, aber er wollte die Wahrheit. Es giebt nichtSeinesgleichen.Page: KGW='III-1.127' KSA='1.131' Aber wie verändert sich plötzlich jene eben so düster geschilderteWildniss unserer ermüdeten Cultur, wenn sie der

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dionysische Zauber berührt! Ein Sturmwind packt alles Abgelebte,Morsche, Zerbrochne, Verkümmerte, hüllt es wirbelnd in einerothe Staubwolke und trägt es wie ein Geier in die Lüfte.Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem Entschwundenen: denn wassie sehen, ist wie aus einer Versenkung an's goldne Lichtgestiegen, so voll und grün, so üppig lebendig, so sehnsuchtsvollunermesslich. Die Tragödie sitzt inmitten dieses Ueberflusses anLeben, Leid und Lust, in erhabener Entzückung, sie horcht einemfernen schwermüthigen Gesange — er erzählt von den Müttern

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des Seins, deren Namen lauten: Wahn, Wille, Wehe. — Ja, meineFreunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an dieWiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschenist vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zurHand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sichschmeichelnd zu euren Knien niederlegen. Jetzt wagt es nur,tragische Menschen zu sein: denn ihr sollt erlöst werden. Ihr solltden dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten!Rüstet euch zu hartem Streite, aber glaubt an die Wunder euresGottes!

Aphorism id='GT-Text-21' kgw='III-1.128' ksa='1.132'

21. Von diesen exhortativen Tönen in die Stimmung zurückgleitend,die dem Beschaulichen geziemt, wiederhole ich, dass nur vonden Griechen gelernt werden kann, was ein solches wundergleichesplötzliches Aufwachen der Tragödie für den innersten Lebensgrundeines Volkes zu bedeuten hat. Es ist das Volk dertragischen Mysterien, das die Perserschlachten schlägt: und wiederumbraucht das Volk, das jene Kriege geführt hat, die Tragödie alsnothwendigen Genesungstrank. Wer würde gerade bei diesemVolke, nachdem es durch mehrere Generationen von den stärkstenZuckungen des dionysischen Dämon bis in's Innerste erregtwurde, noch einen so gleichmässig kräftigen Erguss des einfachstenpolitischen Gefühls, der natürlichsten Heimatsinstincte, der

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ursprünglichen männlichen Kampflust vermuthen? Ist es doch beijedem bedeutenden Umsichgreifen dionysischer Erregungenimmer zu spüren, wie die dionysische Lösung von den Fesseln desIndividuums sich am allerersten in einer bis zur Gleichgültigkeit,ja Feindseligkeit gesteigerten Beeinträchtigung der politischenInstincte fühlbar macht, so gewiss andererseits der staatenbildendeApollo auch der Genius des principii individuationis ist und Staatund Heimatssinn nicht ohne Bejahung der individuellen Persönlichkeitleben können. Von dem Orgiasmus aus führt für einVolk nur ein Weg, der Weg zum indischen Buddhaismus, der, umüberhaupt mit seiner Sehnsucht in's Nichts ertragen zu werden,jener seltnen ekstatischen Zustände mit ihrer Erhebung überRaum, Zeit und Individuum bedarf: wie diese wiederum einePhilosophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche Unlust derZwischenzustände durch eine Vorstellung zu überwinden. Ebenso nothwendig geräth ein Volk, von der unbedingten Geltungder politischen Triebe aus, in eine Bahn äusserster Verweltlichung,deren grossartigster, aber auch erschrecklichster Ausdruck dasrömische imperium ist.Page: KGW='III-1.129' KSA='1.133'

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Zwischen Indien und Rom hingestellt und zu verführerischerWahl gedrängt, ist es den Griechen gelungen, in classischerReinheit eine dritte Form hinzuzuerfinden, freilich nicht zu langemeigenen Gebrauche, aber eben darum für die Unsterblichkeit.Denn dass die Lieblinge der Götter früh sterben, gilt in allenDingen, aber eben so gewiss, dass sie mit den Göttern dann ewigleben. Man verlange doch von dem Alleredelsten nicht, dass esdie haltbare Zähigkeit des Leders habe; die derbe Dauerhaftigkeit, wie sie z.B. dem römischen Nationaltriebe zu eigen war,gehört wahrscheinlich nicht zu den nothwendigen Prädicaten derVollkommenheit. Wenn wir aber fragen, mit welchem Heilmitteles den Griechen ermöglicht war, in ihrer grossen Zeit, bei derausserordentlichen Stärke ihrer dionysischen und politischenTriebe, weder durch ein ekstatisches Brüten, noch durch einverzehrendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre sich zu

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erschöpfen, sondern jene herrliche Mischung zu erreichen, wie sieein edler, zugleich befeuernder und beschaulich stimmender Weinhat, so müssen wir der ungeheuren, das ganze Volkslebenerregenden, reinigenden und entladenden Gewalt der Tragödieeingedenk sein; deren höchsten Werth wir erst ahnen werden,wenn sie uns, wie bei den Griechen, als Inbegriff allerprophylaktischen Heilkräfte, als die zwischen den stärksten und an sichverhängnissvollsten Eigenschaften des Volkes waltende Mittlerinentgegentritt.Page: KGW='III-1.130' KSA='1.134' Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmus in sichhinein, so dass sie geradezu die Musik, bei den Griechen, wie beiuns, zur Vollendung bringt, stellt dann aber den tragischenMythus und den tragischen Helden daneben, der dann, einemmächtigen Titanen gleich, die ganze dionysische Welt auf seinenRücken nimmt und uns davon entlastet: während sie andrerseitsdurch denselben tragischen Mythus, in der Person des tragischenHelden, von dem gierigen Drange nach diesem Dasein zu erlösenweiss, und mit mahnender Hand an ein anderes Sein und an einehöhere Lust erinnert, zu welcher der kämpfende Held durchseinen Untergang, nicht durch seine Siege sich ahnungsvollvorbereitet. Die Tragödie stellt zwischen die universale Geltung ihrerMusik und den dionysisch empfänglichen Zuhörer ein erhabenesGleichniss, den Mythus, und erweckt bei jenem den Schein, alsob die Musik nur ein höchstes Darstellungsmittel zur Belebungder plastischen Welt des Mythus sei. Dieser edlen Täuschungvertrauend darf sie jetzt ihre Glieder zum dithyrambischen Tanzebewegen und sich unbedenklich einem orgiastischen Gefühle derFreiheit hingeben, in welchem sie als Musik an sich, ohne jeneTäuschung, nicht zu schwelgen wagen dürfte. Der Mythus schütztuns vor der Musik, wie er ihr andrerseits erst die höchste Freiheitgiebt. Dafür verleiht die Musik, als Gegengeschenk, demtragischen Mythus eine so eindringliche und überzeugende

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metaphysische Bedeutsamkeit, wie sie Wort und Bild, ohne jene einzigeHülfe, nie zu erreichen vermögen; und insbesondere überkommt

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durch sie den tragischen Zuschauer gerade jenes sichere Vorgefühleiner höchsten Lust, zu der der Weg durch Untergang undVerneinung führt, so dass er zu hören meint, als ob der innersteAbgrund der Dinge zu ihm vernehmlich spräche.Page: KGW='III-1.131' KSA='1.135' Habe ich dieser schwierigen Vorstellung mit den letztenSätzen vielleicht nur einen vorläufigen, für Wenige sofort verständlichenAusdruck zu geben vermocht, so darf ich gerade an dieserStelle nicht ablassen, meine Freunde zu einem nochmaligenVersuche anzureizen und sie zu bitten, an einem einzelnen Beispieleunsrer gemeinsamen Erfahrung sich für die Erkenntniss desallgemeinen Satzes vorzubereiten. Bei diesem Beispiele darf ich michnicht auf jene beziehn, welche die Bilder der scenischen Vorgänge,die Worte und Affecte der handelnden Personen benutzen, umsich mit dieser Hülfe der Musikempfindung anzunähern; denndiese alle reden nicht Musik als Muttersprache und kommen auch,trotz jener Hülfe, nicht weiter als in die Vorhallen derMusikperception, ohne je deren innerste Heiligthümer berühren zudürfen; manche von diesen, wie Gervinus, gelangen auf diesemWege nicht einmal in die Vorhallen. Sondern nur an diejenigenhabe ich mich zu wenden, die, unmittelbar verwandt mit derMusik, in ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit denDingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in Verbindungstehen. An diese ächten Musiker richte ich die Frage, ob siesich einen Menschen denken können, der den dritten Act von„Tristan und Isolde“ ohne alle Beihülfe von Wort und Bild reinals ungeheuren symphonischen Satz zu percipiren im Stande wäre,ohne unter einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflügelzu verathmen? Ein Mensch, der wie hier das Ohr gleichsam an dieHerzkammer des Weltwillens gelegt hat, der das rasendeBegehren zum Dasein als donnernden Strom oder als zartestenzerstäubten Bach von hier aus in alle Adern der Welt sich ergiessenfühlt, er sollte nicht jählings zerbrechen? Er sollte es ertragen, inder elenden gläsernen Hülle des menschlichen Individuums, denWiederklang zahlloser Lust- und Weherufe aus dem „weiten

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Raum der Weltennacht“ zu vernehmen, ohne bei diesem Hirtenreigender Metaphysik sich seiner Urheimat unaufhaltsamzuzuflüchten? Wenn aber doch ein solches Werk als Ganzes percipirtwerden kann, ohne Verneinung der Individualexistenz, wenneine solche Schöpfung geschaffen werden konnte, ohne ihrenSchöpfer zu zerschmettern — woher nehmen wir die Lösung einessolchen Widerspruches?Page: KGW='III-1.132' KSA='1.136'

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Hier drängt sich zwischen unsre höchste Musikerregung undjene Musik der tragische Mythus und der tragische Held, imGrunde nur als Gleichniss der alleruniversalsten Thatsachen, vondenen allein die Musik auf directem Wege reden kann. Als Gleichnisswürde nun aber der Mythus, wenn wir als rein dionysischeWesen empfänden, gänzlich wirkungslos und unbeachtet nebenuns stehen bleiben, und uns keinen Augenblick abwendig davonmachen, unser Ohr dem Wiederklang der universalia ante rem zubieten. Hier bricht jedoch die apollinische Kraft, aufWiederherstellung des fast zersprengten Individuums gerichtet, mitdem Heilbalsam einer wonnevollen Täuschung hervor: plötzlichglauben wir nur noch Tristan zu sehen, wie er bewegungslos unddumpf sich fragt: „die alte Weise; was weckt sie mich?“ Und wasuns früher wie ein hohles Seufzen aus dem Mittelpunkte des Seinsanmuthete, das will uns jetzt nur sagen, wie „öd und leer dasMeer.“ Und wo wir athemlos zu erlöschen wähnten, im krampfartigenSichausrecken aller Gefühle, und nur ein Weniges uns mitdieser Existenz zusammenknüpfte, hören und sehen wir jetztnur den zum Tode verwundeten und doch nicht sterbendenHelden, mit seinem verzweiflungsvollen Rufe: „Sehnen! Sehnen! ImSterben mich zu sehnen, vor Sehnsucht nicht zu sterben!“ Undwenn früher der Jubel des Horns nach solchem Uebermaass undsolcher Ueberzahl verzehrender Qualen fast wie der Qualenhöchste uns das Herz zerschnitt, so steht jetzt zwischen uns unddiesem „Jubel an sich“ der jauchzende Kurwenal, dem Schiffe, dasIsolden trägt, zugewandt. So gewaltig auch das Mitleiden in unshineingreift, in einem gewissen Sinne rettet uns doch das

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Mitleiden vor dem Urleiden der Welt, wie das Gleichnissbild desMythus uns vor dem unmittelbaren Anschauen der höchstenWeltidee, wie der Gedanke und das Wort uns vor dem ungedämmtenErgusse des unbewussten Willens rettet. Durch jene herrlicheapollinische Täuschung dünkt es uns, als ob uns selbst dasTonreich wie eine plastische Welt gegenüber träte, als ob auch in ihrnur Tristan's und Isoldens Schicksal, wie in einem allerzartestenund ausdrucksfähigsten Stoffe, geformt und bildnerischausgeprägt worden sei.Page: KGW='III-1.133' KSA='1.137' So entreisst uns das Apollinische der dionysischen Allgemeinheitund entzückt uns für die Individuen; an diese fesselt es unsreMitleidserregung, durch diese befriedigt es den nach grossen underhabenen Formen lechzenden Schönheitssinn; es führt an unsLebensbilder vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem Erfassendes in ihnen enthaltenen Lebenskernes. Mit der ungeheuren Wuchtdes Bildes, des Begriffs, der ethischen Lehre, der sympathischenErregung reisst das Apollinische den Menschen aus seinerorgiastischen Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über dieAllgemeinheit des dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne,dass er ein einzelnes Weltbild, z.B. Tristan und Isolde, sehe und

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es, durch die Musik, nur noch besser und innerlichersehen solle. Was vermag nicht der heilkundige Zauber desApollo, wenn er selbst in uns die Täuschung aufregen kann, als obwirklich das Dionysische, im Dienste des Apollinischen, dessenWirkungen zu steigern vermöchte, ja als ob die Musik sogarwesentlich Darstellungskunst für einen apollinischen Inhalt sei?Page: KGW='III-1.133' KSA='1.137' Bei jener prästabilirten Harmonie, die zwischen demvollendeten Drama und seiner Musik waltet, erreicht das Dramaeinen höchsten, für das Wortdrama sonst unzugänglichen Gradvon Schaubarkeit. Wie alle lebendigen Gestalten der Scene in denselbständig bewegten Melodienlinien sich zur Deutlichkeit dergeschwungenen Linie vor uns vereinfachen, ertönt uns dasNebeneinander dieser Linien in dem mit dem bewegten Vorgange aufzarteste Weise sympathisirenden Harmonienwechsel: durch

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welchen uns die Relationen der Dinge in sinnlich wahrnehmbarer,keinesfalls abstracter Weise, unmittelbar vernehmbar werden,wie wir gleichfalls durch ihn erkennen, dass erst in diesen Relationendas Wesen eines Charakters und einer Melodienlinie sich reinoffenbare. Und während uns so die Musik zwingt, mehr undinnerlicher als sonst zu sehen, und den Vorgang der Scene wie einzartes Gespinnst vor uns auszubreiten, ist für unser vergeistigtes,in's Innere blickendes Auge die Welt der Bühne eben sounendlich erweitert als von innen heraus erleuchtet. Was vermöchte derWortdichter Analoges zu bieten, der mit einem viel unvollkommnerenMechanismus, auf indirectem Wege, vom Wort und vomBegriff aus, jene innerliche Erweiterung der schaubaren Bühnenweltund ihre innere Erleuchtung zu erreichen sich abmüht?Nimmt nun zwar auch die musikalische Tragödie das Wort hinzu,so kann sie doch zugleich den Untergrund und die Geburtsstättedes Wortes danebenstellen und uns das Werden des Wortes, voninnen heraus, verdeutlichen.Page: KGW='III-1.134' KSA='1.138' Aber von diesem geschilderten Vorgang wäre doch eben sobestimmt zu sagen, dass er nur ein herrlicher Schein, nämlich jenevorhin erwähnte apollinische Täuschung sei, durch derenWirkung wir von dem dionysischen Andrange und Uebermaasseentlastet werden sollen. Im Grunde ist ja das Verhältniss derMusik zum Drama gerade das umgekehrte: die Musik ist dieeigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee,ein vereinzeltes Schattenbild derselben. Jene Identität zwischender Melodienlinie und der lebendigen Gestalt, zwischen derHarmonie und den Charakterrelationen jener Gestalt ist in einementgegengesetzten Sinne wahr, als es uns, beim Anschauen dermusikalischen Tragödie, dünken möchte. Wir mögen die Gestaltuns auf das Sichtbarste bewegen, beleben und von innen herausbeleuchten, sie bleibt immer nur die Erscheinung, von der es keineBrücke giebt, die in die wahre Realität, in's Herz der Welt führte.

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Aus diesem Herzen heraus aber redet die Musik; und zahlloseErscheinungen jener Art dürften an der gleichen Musik vorüberziehn,

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sie würden nie das Wesen derselben erschöpfen, sondernimmer nur ihre veräusserlichten Abbilder sein. Mit dempopulären und gänzlich falschen Gegensatz von Seele und Körper istfreilich für das schwierige Verhältniss von Musik und Dramanichts zu erklären und alles zu verwirren; aber die unphilosophischeRohheit jenes Gegensatzes scheint gerade bei unserenAesthetikern, wer weiss aus welchen Gründen, zu einem gernbekannten Glaubensartikel geworden zu sein, während sie übereinen Gegensatz der Erscheinung und des Dinges an sich nichtsgelernt haben oder, aus ebenfalls unbekannten Gründen, nichtslernen mochten.Page: KGW='III-1.135' KSA='1.139' Sollte es sich bei unserer Analysis ergeben haben, dass dasApollinische in der Tragödie durch seine Täuschung völlig denSieg über das dionysische Urelement der Musik davongetragenund sich diese zu ihren Absichten, nämlich zu einer höchstenVerdeutlichung des Drama's, nutzbar gemacht habe, so wäre freilicheine sehr wichtige Einschränkung hinzuzufügen: in demallerwesentlichsten Punkte ist jene apollinische Täuschung durchbrochenund vernichtet. Das Drama, das in so innerlich erleuchteterDeutlichkeit aller Bewegungen und Gestalten, mit Hülfe derMusik, sich vor uns ausbreitet, als ob wir das Gewebe amWebstuhl im Auf- und Niederzucken entstehen sehen — erreicht alsGanzes eine Wirkung, die jenseits aller apollinischenKunstwirkungen liegt. In der Gesammtwirkung derTragödie erlangt das Dionysische wieder das Uebergewicht; sieschliesst mit einem Klange, der niemals von dem Reiche derapollinischen Kunst her tönen könnte. Und damit erweist sich dieapollinische Täuschung als das, was sie ist, als die während derDauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der eigentlichendionysischen Wirkung: die doch so mächtig ist, am Schluss dasapollinische Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mitdionysischer Weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst undseine apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich dasschwierige Verhältniss des Apollinischen und des Dionysischen in

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der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zusymbolisiren: Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aberschliesslich die Sprache des Dionysus: womit das höchste Ziel derTragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist.

Aphorism id='GT-Text-22' kgw='III-1.136' ksa='1.140'

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22. Mag der aufmerksame Freund sich die Wirkung einer wahrenmusikalischen Tragödie rein und unvermischt, nach seinenErfahrungen vergegenwärtigen. Ich denke das Phänomen dieserWirkung nach beiden Seiten hin so beschrieben zu haben, dass er sichseine eignen Erfahrungen jetzt zu deuten wissen wird. Er wirdsich nämlich erinnern, wie er, im Hinblick auf den vor ihm sichbewegenden Mythus, zu einer Art von Allwissenheit sich gesteigertfühlte, als ob jetzt die Sehkraft seiner Augen nicht nur eineFlächenkraft sei, sondern in's Innere zu dringen vermöge, und alsob er die Wallungen des Willens, den Kampf der Motive, denanschwellenden Strom der Leidenschaften, jetzt, mit Hülfe derMusik, gleichsam sinnlich sichtbar, wie eine Fülle lebendigbewegter Linien und Figuren vor sich sehe und damit bis in diezartesten Geheimnisse unbewusster Regungen hinabtauchenkönne. Während er so einer höchsten Steigerung seiner aufSichtbarkeit und Verklärung gerichteten Triebe bewusst wird, fühlter doch eben so bestimmt, dass diese lange Reihe apollinischerKunstwirkungen doch nicht jenes beglückte Verharren inwillenlosem Anschauen erzeugt, das der Plastiker und der epischeDichter, also die eigentlich apollinischen Künstler, durch ihreKunstwerke bei ihm hervorbringen: das heisst die in jenemAnschauen erreichte Rechtfertigung der Welt der individuatio, alswelche die Spitze und der Inbegriff der apollinischen Kunst ist.Er schaut die verklärte Welt der Bühne und verneint sie doch. Ersieht den tragischen Helden vor sich in epischer Deutlichkeit undSchönheit und erfreut sich doch an seiner Vernichtung. Erbegreift bis in's Innerste den Vorgang der Scene und flüchtet sichgern in's Unbegreifliche. Er fühlt die Handlungen des Helden

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als gerechtfertigt und ist doch noch mehr erhoben, wenn dieseHandlungen den Urheber vernichten. Er schaudert vor denLeiden, die den Helden treffen werden und ahnt doch bei ihneneine höhere, viel übermächtigere Lust. Er schaut mehr und tieferals je und wünscht sich doch erblindet. Woher werden wir diesewunderbare Selbstentzweiung, dies Umbrechen der apollinischenSpitze, abzuleiten haben, wenn nicht aus dem dionysischenZauber, der, zum Schein die apollinischen Regungen auf's Höchstereizend, doch noch diesen Ueberschwang der apollinischen Kraftin seinen Dienst zu zwingen vermag. Der tragischeMythus ist nur zu verstehen als eine Verbildlichung dionysischerWeisheit durch apollinische Kunstmittel; er führt die Welt derErscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst verneint und wiederin den Schooss der wahren und einzigen Realität zurückzuflüchtensucht; wo sie dann, mit Isolden, ihren metaphysischenSchwanengesang also anzustimmen scheint: In des Wonnemeeres wogendem Schwall,

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in der Duft-Wellen tönendem Schall, in des Weltathems wehendem All — ertrinken — versinken — unbewusst — höchste Lust!So vergegenwärtigen wir uns, an den Erfahrungen des wahrhaftaesthetischen Zuhörers, den tragischen Künstler selbst, wie er,gleich einer üppigen Gottheit der individuatio, seine Gestaltenschafft, in welchem Sinne sein Werk kaum als „Nachahmung derNatur“ zu begreifen wäre — wie dann aber sein ungeheurerdionysischer Trieb diese ganze Welt der Erscheinungenverschlingt, um hinter ihr und durch ihre Vernichtung eine höchstekünstlerische Urfreude im Schoosse des Ur-Einen ahnen zulassen. Freilich wissen von dieser Rückkehr zur Urheimat, von demBruderbunde der beiden Kunstgottheiten in der Tragödie und vonder sowohl apollinischen als dionysischen Erregung des Zuhörers

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unsere Aesthetiker nichts zu berichten, während sie nicht müdewerden, den Kampf des Helden mit dem Schicksal, den Sieg dersittlichen Weltordnung oder eine durch die Tragödie bewirkteEntladung von Affecten als das eigentlich Tragische zucharakterisiren: welche Unverdrossenheit mich auf den Gedankenbringt, sie möchten überhaupt keine aesthetisch erregbarenMenschen sein und beim Anhören der Tragödie vielleicht nur alsmoralische Wesen in Betracht kommen. Noch nie, seit Aristoteles,ist eine Erklärung der tragischen Wirkung gegeben worden, ausder auf künstlerische Zustände, auf eine aesthetische Thätigkeitder Zuhörer geschlossen werden dürfte. Bald soll Mitleid undFurchtsamkeit durch die ernsten Vorgänge zu einer erleichterndenEntladung gedrängt werden, bald sollen wir uns bei dem Siegguter und edler Principien, bei der Aufopferung des Helden imSinne einer sittlichen Weltbetrachtung erhoben und begeistertfühlen; und so gewiss ich glaube, dass für zahlreiche Menschengerade das und nur das die Wirkung der Tragödie ist, so deutlichergiebt sich daraus, dass diese alle, sammt ihren interpretirendenAesthetikern, von der Tragödie als einer höchsten Kunst nichtserfahren haben. Jene pathologische Entladung, die Katharsis desAristoteles, von der die Philologen nicht recht wissen, ob sie unterdie medicinischen oder die moralischen Phänomene zu rechnensei, erinnert an eine merkwürdige Ahnung Goethe's. „Ohne einlebhaftes pathologisches Interesse“, sagt er, „ist es auch mirniemals gelungen, irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, undich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohlauch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein, dass dashöchste Pathetische auch nur aesthetisches Spiel bei ihnen gewesenwäre, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muss, um einsolches Werk hervorzubringen?“ Diese so tiefsinnige letzte Fragedürfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Erfahrungen, bejahen,

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nachdem wir gerade an der musikalischen Tragödie mit Staunenerlebt haben, wie wirklich das höchste Pathetische doch nur einaesthetisches Spiel sein kann: weshalb wir glauben dürfen, dass

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erst jetzt das Urphänomen des Tragischen mit einigem Erfolg zubeschreiben ist. Wer jetzt noch nur von jenen stellvertretendenWirkungen aus ausseraesthetischen Sphären zu erzählen hat undüber den pathologisch-moralischen Prozess sich nicht hinausgehobenfühlt, mag nur an seiner aesthetischen Natur verzweifeln:wogegen wir ihm die Interpretation Shakespeare's nach derManier des Gervinus und das fleissige Aufspüren der „poetischenGerechtigkeit“ als unschuldigen Ersatz anempfehlen.Page: KGW='III-1.139' KSA='1.143' So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch deraesthetische Zuhörer wieder geboren, an dessen Stelle bisher inden Theaterräumen ein seltsames Quidproquo, mit halb moralischenund halb gelehrten Ansprüchen, zu sitzen pflegte, der „Kritiker“.In seiner bisherigen Sphäre war Alles künstlich und nurmit einem Scheine des Lebens übertüncht. Der darstellendeKünstler wusste in der That nicht mehr, was er mit einem solchen,kritisch sich gebärdenden Zuhörer zu beginnen habe und spähtedaher, sammt dem ihn inspirirenden Dramatiker oderOperncomponisten, unruhig nach den letzten Resten des Lebens indiesem anspruchsvoll öden und zum Geniessen unfähigen Wesen. Ausderartigen „Kritikern“ bestand aber bisher das Publicum; derStudent, der Schulknabe, ja selbst das harmloseste weiblicheGeschöpf war wider sein Wissen bereits durch Erziehung undJournale zu einer gleichen Perception eines Kunstwerks vorbereitet.Die edleren Naturen unter den Künstlern rechneten bei einemsolchen Publicum auf die Erregung moralisch-religiöser Kräfte,und der Anruf der „sittlichen Weltordnung“ trat vikarirend ein,wo eigentlich ein gewaltiger Kunstzauber den ächten Zuhörerentzücken sollte. Oder es wurde vom Dramatiker eine grossartigere,mindestens aufregende Tendenz der politischen undsocialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der Zuhörerseine kritische Erschöpfung vergessen und sich ähnlichen Affectenüberlassen konnte, wie in patriotischen oder kriegerischen Momenten,oder vor der Rednerbühne des Parlaments oder bei der Verurtheilungdes Verbrechens und des Lasters: welche Entfremdung

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der eigentlichen Kunstabsichten hier und da geradezu zu einemCultus der Tendenz führen musste. Doch hier trat ein, was beiallen erkünstelten Künsten von jeher eingetreten ist, eine reissendschnelle Depravation jener Tendenzen, so dass zum Beispiel dieTendenz, das Theater als Veranstaltung zur moralischen Volksbildungzu verwenden, die zu Schiller's Zeit ernsthaft genommenwurde, bereits unter die unglaubwürdigen Antiquitäten einer

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überwundenen Bildung gerechnet wird. Während der Kritikerin Theater und Concert, der Journalist in der Schule, die Pressein der Gesellschaft zur Herrschaft gekommen war, entartete dieKunst zu einem Unterhaltungsobject der niedrigsten Art, und dieaesthetische Kritik wurde als das Bindemittel einer eiteln,zerstreuten, selbstsüchtigen und überdies ärmlich-unoriginalenGeselligkeit benutzt, deren Sinn jene Schopenhauerische Parabel vonden Stachelschweinen zu verstehen giebt; so dass zu keiner Zeitso viel über Kunst geschwatzt und so wenig von der Kunstgehalten worden ist. Kann man aber mit einem Menschen nochverkehren, der im Stande ist, sich über Beethoven und Shakespearezu unterhalten? Mag Jeder nach seinem Gefühl diese Fragebeantworten: er wird mit der Antwort jedenfalls beweisen, was ersich unter „Bildung“ vorstellt, vorausgesetzt dass er die Frageüberhaupt zu beantworten sucht und nicht vor Ueberraschungbereits verstummt ist.Page: KGW='III-1.140' KSA='1.144' Dagegen dürfte mancher edler und zarter von der NaturBefähigte, ob er gleich in der geschilderten Weise allmählich zumkritischen Barbaren geworden war, von einer eben so unerwartetenals gänzlich unverständlichen Wirkung zu erzählen haben, dieetwa eine glücklich gelungene Lohengrinaufführung auf ihnausübte: nur dass ihm vielleicht jede Hand fehlte, die ihn mahnendund deutend anfasste, so dass auch jene unbegreiflich verschiedenartigeund durchaus unvergleichliche Empfindung, die ihn damalserschütterte, vereinzelt blieb und wie ein räthselhaftes Gestirnnach kurzem Leuchten erlosch. Damals hatte er geahnt, was deraesthetische Zuhörer ist.

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Aphorism id='GT-Text-23' kgw='III-1.141' ksa='1.145'

23. Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr er demwahren aesthetischen Zuhörer verwandt ist oder zur Gemeinschaftder sokratisch-kritischen Menschen gehört, der mag sich nuraufrichtig nach der Empfindung fragen, mit der er das auf der Bühnedargestellte Wunder empfängt: ob er etwa dabei seinenhistorischen, auf strenge psychologische Causalität gerichtetenSinn beleidigt fühlt, ob er mit einer wohlwollenden Concessiongleichsam das Wunder als ein der Kindheit verständliches, ihmentfremdetes Phänomen zulässt oder ob er irgend etwas Anderesdabei erleidet. Daran nämlich wird er messen können, wie weiter überhaupt befähigt ist, den Mythus, das zusammengezogeneWeltbild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der Erscheinung,das Wunder nicht entbehren kann. Das Wahrscheinliche istaber, dass fast Jeder, bei strenger Prüfung, sich so durch denkritisch-historischen Geist unserer Bildung zersetzt fühlt um nur

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etwa auf gelehrtem Wege, durch vermittelnde Abstractionen,sich die einstmalige Existenz des Mythus glaublich zu machen.Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischenNaturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizontschliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab. AlleKräfte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erstdurch den Mythus aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet.Die Bilder des Mythus müssen die unbemerkt allgegenwärtigendämonischen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seeleheranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und seineKämpfe deutet: und selbst der Staat kennt keine mächtigerenungeschriebnen Gesetze als das mythische Fundament, das seinenZusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischenVorstellungen verbürgt.Page: KGW='III-1.141' KSA='1.145' Man stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythengeleiteten Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte,las abstracte Recht, den abstracten Staat: man vergegenwärtige

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sich das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelteSchweifen der künstlerischen Phantasie: man denke sich eineCultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alleMöglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmerlichzu nähren verurtheilt ist — das ist die Gegenwart, als dasResultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus.Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd,unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlendnach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegensten Alterthümernnach ihnen graben müsste. Worauf weist das ungeheurehistorische Bedürfniss der unbefriedigten modernen Cultur, dasUmsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das verzehrendeErkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf denVerlust der mythischen Heimat, des mythischen Mutterschoosses?Man frage sich, ob das fieberhafte und so unheimliche Sichregendieser Cultur etwas Anderes ist, als das gierige Zugreifen undNach-Nahrung-Haschen des Hungernden — und wer möchteeiner solchen Cultur noch etwas geben wollen, die durch alles, wassie verschlingt, nicht zu sättigen ist und bei deren Berührung sichdie kräftigste, heilsamste Nahrung in „Historie und Kritik“ zuverwandeln pflegt?Page: KGW='III-1.142' KSA='1.146' Man müsste auch an unserem deutschen Wesen schmerzlichverzweifeln, wenn es bereits in gleicher Weise mit seiner Culturunlösbar verstrickt, ja eins geworden wäre, wie wir das an demcivilisirten Frankreich zu unserem Entsetzen beobachten können;und das, was lange Zeit der grosse Vorzug Frankreichs und dieUrsache seines ungeheuren Uebergewichts war, eben jenesEinssein von Volk und Cultur, dürfte uns, bei diesem Anblick,nöthigen, darin das Glück zu preisen, dass diese unsere so fragwürdige

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Cultur bis jetzt mit dem edeln Kerne unseres Volkscharaktersnichts gemein hat. Alle unsere Hoffnungen strecken sich vielmehrsehnsuchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus, dass unter diesemunruhig auf und nieder zuckenden Culturleben und Bildungskrampfeeine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft verborgen

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liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich gewaltigeinmal bewegt und dann wieder einem zukünftigen Erwachenentgegenträumt. Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformationhervorgewachsen: in deren Choral die Zukunftsweise der deutschenMusik zuerst erklang. So tief, muthig und seelenvoll, soüberschwänglich gut und zart tönte dieser Choral Luther's, alsder erste dionysische Lockruf, der aus dichtverwachsenemGebüsch, im Nahen des Frühlings, hervordringt. Ihm antwortete inwetteiferndem Wiederhall jener weihevoll übermüthige Festzugdionysischer Schwärmer, denen wir die deutsche Musik dankenund denen wir die Wiedergeburt des deutschenMythus danken werden!Page: KGW='III-1.143' KSA='1.147' Ich weiss, dass ich jetzt den theilnehmend folgenden Freundauf einen hochgelegenen Ort einsamer Betrachtung führen muss,wo er nur wenige Gefährten haben wird, und rufe ihm ermuthigendzu, dass wir uns an unseren leuchtenden Führern, denGriechen, festzuhalten haben. Von ihnen haben wir bis jetzt, zurReinigung unserer aesthetischen Erkenntniss, jene beiden Götterbilderentlehnt, von denen jedes ein gesondertes Kunstreich fürsich beherrscht und über deren gegenseitige Berührung und Steigerungwir durch die griechische Tragödie zu einer Ahnung kamen.Durch ein merkwürdiges Auseinanderreissen beider künstlerischenUrtriebe musste uns der Untergang der griechischen Tragödieherbeigeführt erscheinen: mit welchem Vorgange eine Degenerationund Umwandlung des griechischen Volkscharakters imEinklang war, uns zu ernstem Nachdenken auffordernd, wienothwendig und eng die Kunst und das Volk, Mythus und Sitte,Tragödie und Staat, in ihren Fundamenten verwachsen sind.Jener Untergang der Tragödie war zugleich der Untergang desMythus. Bis dahin waren die Griechen unwillkürlich genöthigt,alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzuknüpfen, ja es nur durchdiese Anknüpfung zu begreifen: wodurch auch die nächste Gegenwartihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitloserscheinen musste. In diesen Strom des Zeitlosen aber tauchte

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sich eben so der Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last undder Gier des Augenblicks Ruhe zu finden. Und gerade nur so vielist ein Volk — wie übrigens auch ein Mensch — werth, als es aufseine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag:denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste

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innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit undvon der wahren, d.h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens.Das Gegentheil davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sichhistorisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sichherum zu zertrümmern: womit gewöhnlich eine entschiedeneVerweltlichung, ein Bruch mit der unbewussten Metaphysik seinesfrüheren Daseins, in allen ethischen Consequenzen, verbundenist. Die griechische Kunst und vornehmlich die griechische Tragödiehielt vor Allem die Vernichtung des Mythus auf: man musstesie mit vernichten, um, losgelöst von dem heimischen Boden,ungezügelt in der Wildniss des Gedankens, der Sitte und der Thatleben zu können. Auch jetzt noch versucht jener metaphysischeTrieb, sich eine, wenngleich abgeschwächte Form der Verklärungzu schaffen, in dem zum Leben drängenden Sokratismus derWissenschaft: aber auf den niederen Stufen führte derselbe Trieb nurzu einem fieberhaften Suchen, das sich allmählich in einPandämonium überallher zusammengehäufter Mythen und Superstitionenverlor: in dessen Mitte der Hellene dennoch ungestillten Herzenssass, bis er es verstand, mit griechischer Heiterkeit und griechischemLeichtsinn, als Graeculus, jenes Fieber zu maskiren oder inirgend einem orientalisch dumpfen Aberglauben sich völlig zubetäuben.Page: KGW='III-1.144' KSA='1.148' Diesem Zustande haben wir uns, seit der Wiedererweckungdes alexandrinisch-römischen Alterthums im fünfzehnten Jahrhundert,nach einem langen schwer zu beschreibenden Zwischenacte,in der auffälligsten Weise angenähert. Auf den Höhen dieselbeüberreiche Wissenslust, dasselbe ungesättigte Finderglück,dieselbe ungeheure Verweltlichung, daneben ein heimatlosesHerumschweifen, ein gieriges Sichdrängen an fremde Tische, eine

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leichtsinnige Vergötterung der Gegenwart oder stumpf betäubteAbkehr, Alles sub specie saeculi, der „Jetztzeit“: welche gleichenSymptome auf einen gleichen Mangel im Herzen dieser Culturzu rathen geben, auf die Vernichtung des Mythus. Es scheintkaum möglich zu sein, mit dauerndem Erfolge einen fremdenMythus überzupflanzen, ohne den Baum durch dieses Ueberpflanzenheillos zu beschädigen: welcher vielleicht einmal stark undgesund genug ist, jenes fremde Element mit furchtbarem Kampfewieder auszuscheiden, für gewöhnlich aber siech und verkümmertoder in krankhaftem Wuchern sich verzehren muss. Wir halten soviel von dem reinen und kräftigen Kerne des deutschen Wesens,dass wir gerade von ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzterfremder Elemente zu erwarten wagen und es für möglicherachten, dass der deutsche Geist sich auf sich selbst zurückbesinnt.Vielleicht wird Mancher meinen, jener Geist müsse seinenKampf mit der Ausscheidung des Romanischen beginnen: wozuer eine äusserliche Vorbereitung und Ermuthigung in dersiegreichen Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten Krieges

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erkennen dürfte, die innerliche Nöthigung aber in dem Wetteifersuchen muss, der erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, Luther'sebensowohl als unserer grossen Künstler und Dichter, stets werthzu sein. Aber nie möge er glauben, ähnliche Kämpfe ohne seineHausgötter, ohne seine mythische Heimat, ohne ein „Wiederbringen“aller deutschen Dinge, kämpfen zu können! Und wennder Deutsche zagend sich nach einem Führer umblicken sollte, derihn wieder in die längst verlorne Heimat zurückbringe, derenWege und Stege er kaum mehr kennt — so mag er nur demwonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, derüber ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will.

Aphorism id='GT-Text-24' kgw='III-1.145' ksa='1.149'

24. Wir hatten unter den eigenthümlichen Kunstwirkungen dermusikalischen Tragödie eine apollinische Täuschung hervorzuheben,

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durch die wir vor dem unmittelbaren Einssein mit derdionysischen Musik gerettet werden sollen, während unsremusikalische Erregung sich auf einem apollinischen Gebiete und aneiner dazwischengeschobenen sichtbaren Mittelwelt entladenkann. Dabei glaubten wir beobachtet zu haben, wie eben durchdiese Entladung jene Mittelwelt des scenischen Vorgangs,überhaupt das Drama, in einem Grade von innen heraus sichtbar undverständlich wurde, der in aller sonstigen apollinischen Kunstunerreichbar ist: so dass wir hier, wo diese gleichsam durch denGeist der Musik beschwingt und emporgetragen war, die höchsteSteigerung ihrer Kräfte und somit in jenem Bruderbunde desApollo und des Dionysus die Spitze ebensowohl der apollinischenals der dionysischen Kunstabsichten anerkennen mussten.Page: KGW='III-1.146' KSA='1.150' Freilich erreichte das apollinische Lichtbild gerade bei derinneren Beleuchtung durch die Musik nicht die eigenthümlicheWirkung der schwächeren Grade apollinischer Kunst; was dasEpos oder der beseelte Stein vermögen, das anschauende Augezu jenem ruhigen Entzücken an der Welt der individuatio zuzwingen, das wollte sich hier, trotz einer höheren Beseeltheit undDeutlichkeit, nicht erreichen lassen. Wir schauten das Drama anund drangen mit bohrendem Blick in seine innere bewegte Weltder Motive — und doch war uns, als ob nur ein Gleichnissbildan uns vorüberzöge, dessen tiefsten Sinn wir fast zu errathenglaubten und das wir, wie einen Vorhang, fortzuziehen wünschten,um hinter ihm das Urbild zu erblicken. Die hellste Deutlichkeitdes Bildes genügte uns nicht: denn dieses schien eben sowohlEtwas zu offenbaren als zu verhüllen; und während es mit seinergleichnissartigen Offenbarung zum Zerreissen des Schleiers, zur

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Enthüllung des geheimnissvollen Hintergrundes aufzufordernschien, hielt wiederum gerade jene durchleuchtete Allsichtbarkeitdas Auge gebannt und wehrte ihm, tiefer zu dringen.Page: KGW='III-1.146' KSA='1.150' Wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu müssen undzugleich über das Schauen hinaus sich zu sehnen, wird sich schwerlichvorstellen, wie bestimmt und klar diese beiden Prozesse bei

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der Betrachtung des tragischen Mythus nebeneinander bestehenund nebeneinander empfunden werden: während die wahrhaftaesthetischen Zuschauer mir bestätigen werden, dass unter deneigenthümlichen Wirkungen der Tragödie jenes Nebeneinanderdie merkwürdigste sei. Man übertrage sich nun dieses Phänomendes aesthetischen Zuschauers in einen analogen Prozess imtragischen Künstler, und man wird die Genesis des tragischenMythus verstanden haben. Er theilt mit der apollinischenKunstsphäre die volle Lust am Schein und am Schauen undzugleich verneint er diese Lust und hat eine noch höhereBefriedigung an der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt. DerInhalt des tragischen Mythus ist zunächst ein episches Ereignissmit der Verherrlichung des kämpfenden Helden: woher stammt aberjener an sich räthselhafte Zug, dass das Leiden im Schicksale desHelden, die schmerzlichsten Ueberwindungen, die qualvollstenGegensätze der Motive, kurz die Exemplification jener Weisheitdes Silen, oder, aesthetisch ausgedrückt, das Hässliche undDisharmonische, in so zahllosen Formen, mit solcher Vorliebe immervon Neuem dargestellt wird und gerade in dem üppigsten undjugendlichsten Alter eines Volkes, wenn nicht gerade an diesemAllen eine höhere Lust percipirt wird?Page: KGW='III-1.147' KSA='1.151' Denn dass es im Leben wirklich so tragisch zugeht, würdeam wenigsten die Entstehung einer Kunstform erklären; wennanders die Kunst nicht nur Nachahmung der Naturwirklichkeit,sondern gerade ein metaphysisches Supplement derNaturwirklichkeit ist, zu deren Ueberwindung neben sie gestellt.Der tragische Mythus, sofern er überhaupt zur Kunst gehört, nimmtauch vollen Antheil an dieser metaphysischen Verklärungsabsichtder Kunst überhaupt: was verklärt er aber, wenn er dieErscheinungswelt unter dem Bilde des leidenden Helden vorführt?Die „Realität“ dieser Erscheinungswelt am wenigsten, denn er sagtuns gerade: „Seht hin! Seht genau hin! Dies ist euer Leben!Dies ist der Stundenzeiger an eurer Daseinsuhr!“Page: KGW='III-1.147' KSA='1.151' Und dieses Leben zeigte der Mythus, um es vor uns damit

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zu verklären? Wenn aber nicht, worin liegt dann die aesthetischeLust, mit der wir auch jene Bilder an uns vorüberziehen

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lassen? Ich frage nach der aesthetischen Lust und weiss recht wohl,dass viele dieser Bilder ausserdem mitunter noch eine moralischeErgetzung, etwa unter der Form des Mitleides oder einessittlichen Triumphes, erzeugen können. Wer die Wirkung desTragischen aber allein aus diesen moralischen Quellen ableitenwollte, wie es freilich in der Aesthetik nur allzu lange üblich war,der mag nur nicht glauben, etwas für die Kunst damit gethanzu haben: die vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangenmuss. Für die Erklärung des tragischen Mythus ist es gerade dieerste Forderung, die ihm eigenthümliche Lust in der reinaesthetischen Sphäre zu suchen, ohne in das Gebiet des Mitleids,der Furcht, des Sittlich-Erhabenen überzugreifen. Wie kann dasHässliche und das Disharmonische, der Inhalt des tragischen Mythus,eine aesthetische Lust erregen?Page: KGW='III-1.148' KSA='1.152' Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen Anlauf ineine Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen, indem ich denfrüheren Satz wiederhole, dass nur als ein aesthetischesPhänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint: inwelchem Sinne uns gerade der tragische Mythus zu überzeugen hat,dass selbst das Hässliche und Disharmonische ein künstlerischesSpiel ist, welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mitsich selbst spielt. Dieses schwer zu fassende Urphänomen derdionysischen Kunst wird aber auf directem Wege einzig verständlichund unmittelbar erfasst in der wunderbaren Bedeutungder musikalischen Dissonanz: wie überhaupt dieMusik, neben die Welt hingestellt, allein einen Begriff davongeben kann, was unter der Rechtfertigung der Welt als einesaesthetischen Phänomens zu verstehen ist. Die Lust, die dertragische Mythus erzeugt, hat eine gleiche Heimat, wie die lustvolleEmpfindung der Dissonanz in der Musik. Das Dionysische, mitseiner selbst am Schmerz percipirten Urlust, ist der gemeinsameGeburtsschooss der Musik und des tragischen Mythus.

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Page: KGW='III-1.149' KSA='1.153' Sollte sich nicht inzwischen dadurch, dass wir die Musikrelationder Dissonanz zu Hülfe nahmen, jenes schwierige Problemder tragischen Wirkung wesentlich erleichtert haben? Verstehenwir doch jetzt, was es heissen will, in der Tragödie zugleichschauen zu wollen und sich über das Schauen hinaus zu sehnen:welchen Zustand wir in Betreff der künstlerisch verwendetenDissonanz eben so zu charakterisiren hätten, dass wir hörenwollen und über das Hören uns zugleich hinaussehnen. JenesStreben in's Unendliche, der Flügelschlag der Sehnsucht, beider höchsten Lust an der deutlich percipirten Wirklichkeit,erinnern daran, dass wir in beiden Zuständen ein dionysischesPhänomen zu erkennen haben, das uns immer von Neuem wiederdas spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualweltals den Ausfluss einer Urlust offenbart, in einer ähnlichen Weise,

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wie wenn von Heraklit dem Dunklen die weltbildende Krafteinem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und hersetzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft.Page: KGW='III-1.149' KSA='1.153' Um also die dionysische Befähigung eines Volkes richtigabzuschätzen, dürften wir nicht nur an die Musik des Volkes,sondern eben so nothwendig an den tragischen Mythus diesesVolkes als den zweiten Zeugen jener Befähigung zu denkenhaben. Es ist nun, bei dieser engsten Verwandtschaft zwischenMusik und Mythus, in gleicher Weise zu vermuthen, dass miteiner Entartung und Depravation des Einen eine Verkümmerungder Anderen verbunden sein wird: wenn anders in der Schwächungdes Mythus überhaupt eine Abschwächung des dionysischenVermögens zum Ausdruck kommt. Ueber Beides dürfteuns aber ein Blick auf die Entwicklung des deutschen Wesens nichtin Zweifel lassen: in der Oper wie in dem abstracten Charakterunseres mythenlosen Daseins, in einer zur Ergetzlichkeitherabgesunkenen Kunst, wie in einem vom Begriff geleiteten Leben,hatte sich uns jene gleich unkünstlerische, als am Leben zehrendeNatur des sokratischen Optimismus enthüllt. Zu unserem Trosteaber gab es Anzeichen dafür, dass trotzdem der deutsche Geist

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in herrlicher Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraftunzerstört, gleich einem zum Schlummer niedergesunknen Ritter, ineinem unzugänglichen Abgrunde ruhe und träume: aus welchemAbgrunde zu uns das dionysische Lied emporsteigt, um uns zuverstehen zu geben, dass dieser deutsche Ritter auch jetzt nochseinen uralten dionysischen Mythus in selig-ernsten Visionenträumt. Glaube Niemand, dass der deutsche Geist seinemythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er so deutlich nochdie Vogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzählen. EinesTages wird er sich wach finden, in aller Morgenfrische einesungeheuren Schlafes: dann wird er Drachen tödten, die tückischenZwerge vernichten und Brünnhilde erwecken — und Wotan'sSpeer selbst wird seinen Weg nicht hemmen können!Page: KGW='III-1.150' KSA='1.154' Meine Freunde, ihr, die ihr an die dionysische Musik glaubt,ihr wisst auch, was für uns die Tragödie bedeutet. In ihr habenwir, wiedergeboren aus der Musik, den tragischen Mythus —und in ihm dürft ihr Alles hoffen und das Schmerzlichstevergessen! Das Schmerzlichste aber ist für uns alle — die langeEntwürdigung, unter der der deutsche Genius, entfremdet vonHaus und Heimat, im Dienst tückischer Zwerge lebte. Ihrversteht das Wort — wie ihr auch, zum Schluss, meine Hoffnungenverstehen werdet.

Aphorism id='GT-Text-25' kgw='III-1.150' ksa='1.154'

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25. Musik und tragischer Mythus sind in gleicher Weise Ausdruckder dionysischen Befähigung eines Volkes und von einanderuntrennbar. Beide entstammen einem Kunstbereiche, das jenseitsdes Apollinischen liegt; beide verklären eine Region, in derenLustaccorden die Dissonanz eben so wie das schreckliche Weltbildreizvoll verklingt; beide spielen mit dem Stachel der Unlust,ihren überaus mächtigen Zauberkünsten vertrauend; beide rechtfertigendurch dieses Spiel die Existenz selbst der „schlechtestenWelt.“ Hier zeigt sich das Dionysische, an dem Apollinischen

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gemessen, als die ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhauptdie ganze Welt der Erscheinung in's Dasein ruft: in derenMitte ein neuer Verklärungsschein nöthig wird, um die belebteWelt der Individuation im Leben festzuhalten. Könnten wir unseine Menschwerdung der Dissonanz denken — und was ist sonstder Mensch? — so würde diese Dissonanz, um leben zu können,eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleierüber ihr eignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht desApollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen desschönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick dasDasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben desnächsten Augenblicks drängen.Page: KGW='III-1.151' KSA='1.155' Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von demdionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel demmenschlichen Individuum in's Bewusstsein treten, als von jenerapollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann,so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strengerwechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit,zu entfalten genöthigt sind. Wo sich die dionysischen Mächte soungestüm erheben, wie wir dies erleben, da muss auch bereitsApollo, in eine Wolke gehüllt, zu uns herniedergestiegen sein;dessen üppigste Schönheitswirkungen wohl eine nächste Generationschauen wird.Page: KGW='III-1.151' KSA='1.155' Dass diese Wirkung aber nöthig sei, dies würde Jeder amsichersten, durch Intuition, nachempfinden, wenn er einmal, seies auch im Traume, in eine althellenische Existenz sichzurückversetzt fühlte: im Wandeln unter hohen ionischen Säulengängen,aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch reine und edleLinien abgeschnitten ist, neben sich Wiederspiegelungen seinerverklärten Gestalt in leuchtendem Marmor, rings um sich feierlichschreitende oder zart bewegte Menschen, mit harmonischtönenden Lauten und rhythmischer Gebärdensprache — würdeer nicht, bei diesem fortwährenden Einströmen der Schönheit,zu Apollo die Hand erhebend ausrufen müssen: „Seliges Volk

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der Hellenen! Wie gross muss unter euch Dionysus sein, wennder delische Gott solche Zauber für nöthig hält, um eurendithyrambischen Wahnsinn zu heilen!“ — Einem so Gestimmten dürfteaber ein greiser Athener, mit dem erhabenen Auge des Aeschyluszu ihm aufblickend, entgegnen: „Sage aber auch dies, du wunderlicherFremdling: wie viel musste dies Volk leiden, um so schönwerden zu können! Jetzt aber folge mir zur Tragödie und opferemit mir im Tempel beider Gottheiten!“

Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes StückTitlepage

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Unzeitgemässe Betrachtungen von Dr. Friedrich Nietzsche ordentl. Professor der classischen Philologie an der Universität Basel. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller.

Leipzig. Verlag von E. W. Fritzsch

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Aphorism id='UBDS-Text-1' kgw='III-1.155' ksa='1.159'

1. Die öffentliche Meinung in Deutschland scheint es fast zuverbieten, von den schlimmen und gefährlichen Folgen desKrieges, zumal eines siegreich beendeten Krieges zu reden: umso williger werden aber diejenigen Schriftsteller angehört, welchekeine wichtigere Meinung als jene öffentliche kennen und deshalbwetteifernd beflissen sind, den Krieg zu preisen und den mächtigen